13. Kapitel Tvinnr

Der einstige Einschlagkrater des Todessterns — und mittlerweile waren sie sicher, daß es sich bei dem kreisrunden Becken um so etwas handeln müsse — war nunmehr die Hauptstadt von Harruels Königreich geworden. Die Territorialausdehnung von Stadt und Reich waren identisch, und der Kraterrand bildete die Grenze für beide. Harruel hatte seinem Reich den Namen ‚Yissou‘ gegeben und die Stadt ‚Yissoucity‘ getauft.

In Salamans Meinung war beides eine absurde Benennung. „Man sollte Königreiche nicht nach Göttern nennen“, sagte er in der gemeinsamen Hütte zu Weiawala. „Es wäre viel vernünftiger gewesen, wenn er die Stadt nach sich selbst benannt hätte, und das Königreich ebenso, was er wahrscheinlich sowieso lieber getan hätte, wenn er den Mut dazu gehabt hätte. Das wäre wenigstens ehrlich.“

„Aber indem er dem Reich den Namen Yissous gibt, stellt er es unter Yissous besonderen Schutz“, warf Weiawala sanft widersprechend ein.

„Als wäre Yissou nicht der Beschützer aller, die ihn lieben, ob mit oder ohne solche kleinen Aufmerksamkeiten von uns.“ Salaman lächelte. „Aber Harruel ist in jüngster Zeit sehr fromm geworden. Wenn man mit ihm redet, heißt es immer nur Yissou-dies und Yissou-das, und Emakkis-schenke-uns-Rat-und-Führung, und Friit-soll-schützen! Das bringt er nach jedem zweiten Wort hervor! Aber diese ganze Frömmigkeit macht sich nicht besonders gut von der Zunge einer mörderischen Bestie wie Harruel, muß ich schon sagen.“

„Salaman!“

„Das sag ich zu dir. Nur zu dir.“ Und er vollzog spöttische Unterwerfungsgesten in die Luft, als hätte Harruel soeben die Hütte betreten. „Einen schönen guten Tag, Euer Majestät! Möge Yissous Balsam auf Euch ruhen, Majestät! Was für ein prächtiger Tag ist doch heute in Yissoucity, Euer Majestät!“

„Salaman!“

Lachend umfing er sie von hinten und legte ihr die Hände auf die Brüste und küßte sie auf den weichen pelzigen Nacken.

„Yissoucity, ha! Ein dummer Name — ausgedacht von einem König, der ein Tor ist!“

Und es war nicht weit her mit dem Königreich, und auch nicht mit der City. Im grünen Zentrum des Kraters, dieser dichtbewaldeten Stelle, an der Salamans Argumentation zufolge vor langer Zeit der Todesstern niedergestürzt war, standen nun sieben primitive schiefe Holzhütten, die von Rebsträngen zusammengehalten wurden. Dies war Yissoucity. Jedes der verbandelten fünf Paare hatte einen wackeligen Schuppen für sich, auch der Einzelgänger Lakkamai hatte einen. Das siebte „Bauwerk“ war keineswegs eleganter als der Rest, aber es war der Königliche Palast und Regierungssitz. Hier thronte Harruel jeden Tag eine oder zwei Stunden in Staatsgeschäften, obgleich es wenig Königliches für ihn zu tun gab. Streitfälle, die einer höchstrichterlichen Schlichtung bedurft hätten, ergaben sich nur selten in einer Sozialgemeinschaft von elf Erwachsenen und einer Handvoll Kindern, und bislang hatten sich auch noch keine Gesandtschaften aus fernen Reichen eingefunden, die man mit formellem Pomp hätte empfangen müssen. Doch da thronte er und spielte König inmitten dieser Ansammlung von Schuppen, die so taten, als wären sie eine Stadt.

Kein sehr prächtiger König, nein, und kein sehr großes Reich. Und von wegen Stadt. Und dennoch, dachte Salaman, haben wir in so kurzer Zeit eigentlich doch schon ganz schön viel erreicht. Yissoucity war nun etwas mehr als zwei Jahre alt. Sie hatten das Unterholz größtenteils gerodet und Häuser, naja, Behausungen gebaut, und sie hatten Fleischtiere zusammengetrieben, die nunmehr auf einer weiten Koppel lebten, so daß man sie leicht fangen und schlachten konnte, wenn man Fleisch brauchte. Eine aus hohen Baumstämmen gefertigte Palisade war zu mehr als der Hälfte fertiggestellt und sollte um den gesamten Rand des alten Kraters verlaufen. Harruel sagte, sie diene zum Schutz gegen Feinde oder wilde Tiere, und vielleicht sah er ja auch wirklich nichts weiter dahinter. Gewiß würde sich der Zaun als nützlich erweisen, sollten jemals Feinde kommen. Doch Salaman erblickte darin auch eine Demonstration der Souveränität, eine Deklaration der Grenzen der königlichen Macht Harruels.

Und Salaman träumte von einem Tag, an dem unter seiner eigenen Oberherrschaft dieser Holzzaun durch eine Mauer aus Stein ersetzt werden würde. Aber dieser Tag lag noch in weiter Ferne, leider. Für derartige Großprojekte war der Stamm noch viel zu klein. Fünf Männer genügten nicht zum Bau gewaltiger Steinwälle. Außerdem war Harruel ja noch König. Und Harruel war seine Holzpalisade beeindruckend genug.

„Komm mit!“ winkte Salaman Weiawala zu. „Die Luft hier drin ist dumpf. Steigen wir auf den Berg.“

Hinter der Grasweide lag eine erhöhte Stelle, südlich von der Kraterwand, an welche Salaman sich oft begab, um nachzudenken. Von hier aus konnte er die ganze Stadt überblicken, und den Wald dahinter, durch den sie auf dem Marsch von Vengiboneeza hergekommen waren, und wenn er sich auf die andere Seite wandte, konnte er die dunkle Horizontlinie der See weit drüben im Westen erspähen. Gewöhnlich begab er sich allein hierher, doch hin und wieder nahm er Weiawala mit sich. Manchmal kopulierten sie dann dort oder tvinnerten sogar. An diesem erhöhten Platz wehten stets frische leichte Winde, und Salaman fühlte sich hier stärker lebendig als irgendwo sonst.

Ohne zu sprechen schritten sie durch die kleine Hauptstadt und an der Viehkoppel vorbei zu dem Schlängelpfad, der den südlichen Kraterrand hinaufzog.

„Was denkst du denn?“ fragte Weiawala nach einer Weile.

„An die Zukunft.“

„Wie kannst du an die Zukunft denken? Die Zukunft ist doch noch nicht geschehen, also was wäre da zum darüber Nachdenken?“

Er lächelte freundlich, ließ sie aber ohne Antwort.

„Salaman?“ begann sie wenig später erneut, während sie den Hang hinaufkletterten. „Wirst du mir etwas sagen?“

„Was denn, Liebste?“

„Tut es dir jemals leid, daß du aus Vengiboneeza fortgegangen bist?“

„Leid? Nein, nicht eine Minute lang.“

„Obwohl wir es hier mit dem Harruel zu tun haben?“

„Ach, Harruel ist schon ganz in Ordnung. Er ist der König, den wir nötig hatten.“ Salaman blieb stehen und blickte zurück auf das erbärmliche Häuflein grobgezimmerter Hütten, die ihre Stadt waren, und zu der halbvollendeten Palisade auf dem Kamm. Seine Hände ruhten sacht auf Weiawalas Schultern, und er streichelte ihr üppiges Fell. Sie trat einen Schritt zurück und kuschelte sich an ihn.

Nach einer Weile sagte sie: „Doch Harruel ist so eitel und aufgeblasen und so grob. Du verachtest ihn, Salaman, ich weiß es. Du hältst ihn für grobschlächtig und überheblich.“

Er nickte. Was sie sagte, entsprach natürlich der Wahrheit. Harruel war heftig, gewalttätig und grob und außerdem ein ziemlicher Dummkopf. Aber er war für den zeitweiligen Zweck der perfekte Mann gewesen, die absolut richtige Führergestalt an diesem geschichtlichen Schnittpunkt. Sein Mut war groß, und er verfügte über Schlauheit und Entschlußkraft und Ehrgeiz — und sehr großen Stolz. Ohne ihn hätte es niemals ein Yissoucity gegeben, auch nicht unter anderem Namen, und sie alle würden noch dort hinten zwischen den zerstörten Palästen Vengiboneezas ein bequemes faules Leben führen — ein Volk ohne Ziel, in träger endloser Erwartung der großen Dinge, die das Schicksal ihnen in den Schoß fallen lassen sollte.

Harruel hatte immerhin den Mut besessen und mit einer derartig richtungslosen Existenz der Selbsttäuschung gebrochen. Er hatte sich Koshmars Griff entwunden und hier etwas Neues, Nützliches und Notwendiges ins Leben gerufen.

„Harruel ist in Ordnung“, wiederholte er. „Soll er ruhig König sein! Soll er ruhig den Dingen Namen geben, wie es ihm gefällt! Dieses Vorrecht hat er sich verdient.“

Er zupfte an Weiawalas Hand, und sie setzten den Aufstieg fort.

Harruel würde nicht für alle Zeit König sein, das wußte Salaman.

Früher oder später würden die Götter ihn rufen, auf daß er ausruhe; und vielleicht war dies ja schon früher, möglicherweise, und nicht erst später. Seine Grobschlächtigkeit, seine Gewalttätigkeit und diese dumme Dickschädeligkeit mußten ihm früher oder später den Hals brechen. Und dann, dachte Salaman, wird Salaman an der Reihe und wird hier König sein, sofern Salaman da irgendwie mitzureden hatte. Salaman und die Söhne des Salaman — auf immer und ewiglich von da an. Sofern es dabei nach Salaman gehen würde!

Sie erreichten den Kraterrand und kletterten über die gerundete Spitze. Die Palisadenwand reichte noch nicht bis hierher. Zurückblickend, konnte er Yissoucity kaum noch erkennen, wie sie da genau im Herzen der Senke drunten lag. Die paar kleinen Hütten verloren sich in dem ringsum andrängenden Grün.

Aber Salaman war sich auch sicher, daß die Stadt nicht lange ein Haufen brüchiger Holzhütten bleiben werde. Eines Tages würde sich dort unten wahrlich eine großartige Stadt ausbreiten: so groß und so großartig wie Vengiboneeza vielleicht. Doch würde es keine Stadt aus zweiter Hand sein wie Vengiboneeza, das von den längst verschwundenen Saphiräugigen erbaut und als Ruinenberg von einem opportunistischen Rudel späterer Neusiedler übernommen worden war. Nein, schwor sich Salaman, die neue Stadt würde Kunde geben von der schweren Plackerei und dem Schweiß und der schlauen Planung ihrer eigenen Bewohner, die sich zu Herren über alle umliegenden Regionen erheben würden, und dann über die Provinzen jenseits von diesen und eines Tages, sofern es den Göttern gefiel, über die ganze Welt. Die Stadt des Yissou würde die Hauptstadt eines Großreiches, eines Imperiums, sein. Und die Sohnessöhne Salamans sollten Herrscher sein in diesem Reich.

Nun, da er den Krater hinter sich gelassen hatte, strebte er rasch auf seinen privaten Hochsitz zu. Nach kurzem rief Weiawala: „So warte doch auf mich, Salaman, ich kann nicht so rasch laufen!“ Er merkte, daß sie weit zurückgefallen war, und so hielt er inne, bis sie ihn eingeholt hatte. Zuweilen vergaß er, wie groß seine Ausdauer war und wie rasch und zielstrebig er sich bewegen konnte, wenn er auf etwas hinauswollte.

„Du hast es immer dermaßen eilig“, sagte sie.

„Ja. So ist das wohl.“

Er legte ihr den Arm um die Hüfte und fegte sie mit sich den Hang hinauf.

Es war die Zeit, in der Salaman zu seinem Recht kommen sollte. Er war siebzehn Jahre alt, fast achtzehn, ein starker Jungkrieger in vollem Saft.

Im Kokon war er nur einer unter vielen gewesen, hatte herumgespielt mit Fußboxen und Ringen, Höhlensegeln und so und hatte sich gefragt, ob das Kopulieren tatsächlich so angenehm sein könnte, wie die älteren Jungen andeuteten. Doch obwohl sein Geist scharf war und er die Dinge klar und präzise erkannte, gab es für ihn keinen Anreiz, den anderen seine Intelligenz zu beweisen, dafür um so mehr Grund, sie verborgen zu halten. So durchlebte er eine ganz und gar nicht außergewöhnliche Knabenzeit und erstrebte weder etwas besonders noch erwartete er das Besondere. Damals hatte er geglaubt, so werde sein Leben bis ans Ende seiner ihm bestimmten Tage sein, ein langer angenehmer Reigen einander gleichender Tage.

Aber dann war die Zeit des Auszugs gekommen, der lange Marsch über die Steppen. In diesem Jahr war Salaman in seine Mannheit eingetreten und war zu seiner vollen Kraft erblüht; denn war er auch von kerniger Statur, so doch breit in den Schultern, hatte kräftige Arme und steckte voller Energie und Durchhaltevermögen. Vielleicht war von allen Kriegern nur Konya stärker — und selbstverständlich Harruel. Doch in der fremdartigen neuen Welt außerhalb des Kokons durchlief Salaman eine geistig-seelische Blütezeit. Er begann sich nach einer Zeit zu sehnen, in der er ein bedeutender Mann im Stamm sein würde, geehrt und geachtet. Jedoch fiel er keinem auf, weil er so ruhig war.

Manche von den Männern waren wortkarg und ruhig. Salaman vermutete, weil sie nichts zu sagen wußten. Konya war ein solcher, auch Lakkamai. Aber Salamans Stummheit hatte einen anderen Grund. Es könnte gefährlich werden, so hatte er schon immer geargwöhnt, wenn er seine Fähigkeiten zu früh an den Tag brächte, jedenfalls angesichts der allgemeinen gewaltsamen Entwicklung der Dinge zur jetzigen Zeit.

Das Beispiel Sachkors stand ihm nur zu deutlich vor Augen. Auch Sachkor war intelligent gewesen; und Sachkor war jetzt tot. Intelligenz genügte also allein nicht — man brauchte auch Weisheit und Klugheit —, und Sachkor, als er im Alleingang auszog, um das Helmvolk aufzuspüren, es dann mit sich in die Stadt zurückzubringen und sich dann noch als Vermittler zwischen den beiden Stämmen aufführen zu wollen, Sachkor hatte nicht gerade große Klugheit bewiesen.

Sachkor war zu früh zu weit gegangen. Er hatte sich als zu gescheit und als zu ehrgeizig gezeigt. Und eben diese Gescheitheit und Gewandtheit hatten ihn für Harruel zu einer direkten Bedrohung werden lassen. Auch Hresh war gescheit, weitaus klüger als irgendwer sonst, doch er war kein Krieger, hielt sich abseits, tat nur Dinge, die außer Hresh keinen interessierten; keiner brauchte zu befürchten, daß Hresh eines Tages nach der höchsten Macht greifen würde. Aber Sachkor war ein Krieger, und sobald er die Behelmten in die Stadt geführt hatte, hatte er sich in direkte Gegnerschaft zu Harruel begeben. Und zusätzlich war Sachkor nicht gescheit genug gewesen, sich in der Kreun-Sache zurückzuhalten und Harruel nicht herauszufordern. Keiner, der sich blindlings in einen Kampf mit Harruel einließ, hatte besonders gute Chancen, lang genug zu leben, daß sein Pelz weiß werden konnte.

Darum hatte Salaman es in Vengiboneeza vorgezogen, das Ressort Klugheit dem Hresh und das Heldenfach dem Sachkor zu überlassen. Unauffällig hatte er sich Harruel nützlich zu machen gewußt, und als es zu dem Bruch mit Koshmar kam, hatte er sich rasch auf Harruels Seite geschlagen. Inzwischen war es soweit gekommen, daß Harruel auf ihn angewiesen war, weil er die meiste Denkarbeit für ihn erledigte. Gewissermaßen war Salaman so etwas wie der Alte Mann dieses neuen Stammes geworden, den Harruel begründet hatte. Jedoch ließ Salaman es sich höchlichst angelegen sein, niemals den Eindruck aufkommen zu lassen, daß er ein Rivale für Harruel sein könnte; er blieb stets der getreue Gefolgsmann, der stumme Stellvertreter. Salaman hatte sehr wenig Ahnung von Geschichte — das war Hreshs persönliches Studiengebiet gewesen —, doch stellte er sich vor, daß es bei plötzlichen Machtwechseln gewiß oft die stillen Stellvertreter waren, die in die höchsten Ränge aufrückten.

Solche Gedanken behielt Salaman allerdings für sich und teilte sie mit niemandem. Nicht einmal zu Weiawala hatte er ein Wort über seine Erwartungen in den künftigen Jahren verloren, obwohl sie möglicherweise während ihrer Tvinnr-Erlebnisse einen Teil der Wahrheit aufgeschnappt haben mochte. Doch selbst dabei versuchte er seine Pläne vor ihr zu kaschieren. Seine Parole lautete: Vorsicht.

Sie hatten die angestrebte Höhe nun erreicht. Weiawala stand um ihn geschlungen bei ihm, während er zum Meer hinüberstarrte. Offenbar war sie kopulationswillig.

Die Sonne war hell und stand hoch, die Luft war klar, fast leuchtete sie vor Durchsichtigkeit. Der Himmel war ein scharfes Blau. Stark und süß wehte der Wind aus dem Süden, warm und trocken. Vielleicht würde er an Stärke zunehmen und das Land versengen, doch hier und jetzt war es ein sanfter und freundlicher Wind, ein Wind für die Liebe.

Alle Welt lag an diesem Tag vor ihm ausgebreitet.

Salaman stellte sich vor, daß er alles sehen könnte, die Ruinenstädte der Großen Welt, die Pockennarben der Krater der Todessterneinschläge, die kahlen Ebenen, durchzogen von Eisflüssen, die schrecklichen Wabenbauten, in denen die Hjjk lebten. Und darübergelagert die neue junge Welt, den Neuen Frühling, seine Welt, die Welt seines Volkes. Er sah eine Vision dessen in umfassender Vielfältigkeit, alles wachsend, drängend, vor Leben berstend. Es fand eine wundersame Genesung statt, nach der entsetzlichen Zeit der Todessterne. Und er war mittendrin, er und seine Söhne und die Söhne seiner Söhne, die Großen im künftigen Weltenreich des Yissou.

Plötzlich sagte Weiawala: „Nettin kriegt schon wieder ein Kind, stell dir vor!“

Ihre Rede zerstörte sein Traumgespinst, so wie ein Vogelkreischen im Morgengrauen tiefen heiteren Schlaf durchstößt. Er spürte Zorn in sich aufwallen. Flüchtig bedauerte er, daß er sie heute mit hierher genommen hatte; aber dann beruhigte er sich und rang sich ein Lächeln und ein Nicken ab. Weiawala war seine Liebste; Weiawala war seine Genossin. Ich muß sie hinnehmen, wie sie eben ist, sagte er sich. Auch wenn sie mich stört und ablenkt.

„Das erste, was ich höre. Gute Nachricht.“

„Ja. Der Stamm wächst jetzt rasch, Salaman.“

Und so war es. Weiawala hatte bereits einen Knaben zur Welt gebracht, dem sie den Namen Chham gaben, und Galihine hatte ein Mädchen namens Therista geboren, und Thaloin hatte dem Stamm einen neuen Ahurimin geschenkt. Und nun schwoll Nittins Bauch schon wieder an.

Nur Minbain war zu Harruels unverhohlenem Mißvergnügen nicht wieder schwanger geworden, seit man sich in Yissoucity niedergelassen hatte. Vielleicht ist sie schon zu alt, überlegte sich Salaman. Manchmal konnte man Harruel, wenn er zuviel Samtbeerwein getrunken hatte, mit ihr zanken und brüllend einen weiteren Sohn von ihr fordern hören. Aber man zeugt eben keine Söhne, indem man seine Partnerin anbrüllt, wie Salaman mehr als einmal zu Weiawala gesagt hatte.

Außerdem fand Salaman es sowieso ziemlich kurzsichtig von Harruel, unbedingt auf einem weiteren Sohn zu beharren. Was die Stadt in diesem Entwicklungsstadium nötig brauchte, waren mehr gebärfähige Weiber. Ein einziger Mann allein konnte in einer einzigen Woche ein ganzes Rudel Kinder zeugen, wenn er sich ein wenig Mühe gab. Schließlich brauchte ein Mann ja nicht länger als einen Augenblick, um ein Kind in eine Frau hineinzupumpen. Aber jedes Weib konnte bestenfalls pro Jahr nur ein Kind hervorbringen. Also blieb das Jahreswachstum des Stammes durch die Anzahl der Frauen begrenzt; und deshalb, überlegte Salaman, brauchen wir dringend mehr Frauen und müssen Töchter zeugen, nicht Söhne, daß wir in der folgenden Generation über sehr viel mehr Gebärmütter verfügen.

Aber vielleicht war dies eine für Harruel zu komplizierte Vorstellung. Oder er wollte einfach mehr Söhne haben, damit sie ihm seinen Thron bewahren halfen. Möglich, daß es dies war. Harruels kleiner Knabe, Samnibolon, wies bereits Anzeichen von ungewöhnlicher Kraft auf: ein künftiger Krieger, ohne Zweifel. Und Harruel machte sich vielleicht Sorgen wegen seiner alten Tage und wartete ungeduldig auf noch ein paar derartige Brocken wie Samnibolon als Schutz und Stütze für seine Greisenjahre.

Weiawala schob ihren Arm unter den seinen. Salaman spürte die Hitze ihres Schenkels auf seinem Fell. Dann streifte ihn ihr Sensororgan sanft.

Nein, sie will nicht kopulieren, dachte er. Sie will tvinnern.

Salaman war davon nicht begeistert. Aber schließlich konnte er es ihr kaum verweigern.

Tvinnern war bislang das schwächste Glied in ihrer Verbindung gewesen. Weiawala war eine großartige Kopulationspartnerin, aber lausig im Tvinnr, so einfältig war ihre Seele. Da war nichts, keine Fülle, keine Weite. Wäre er in Vengiboneeza geblieben, er hätte sich aller Wahrscheinlichkeit nach zwar trotzdem mit ihr verehelicht, doch für sein Tvinnern hätte er sich doch wohl lieber an jemanden wie Taniane gewandt. Die besaß Feuer — und Tiefe. Doch hier gab es keine Taniane, und Harruel versuchte die Bildung von Tvinnr-Beziehungen der alten Art in Yissoucity möglichst zu verhindern, denn die Bevölkerung war so gering, daß zu befürchten war, derartige Beziehungen, die herkömmlicherweise ja extramarital stattzufinden pflegten, könnten zu Feindseligkeit und Zerwürfnissen führen. Ab und zu hatte Salaman mit Galihine getvinnert, und die besaß einen Hauch von Geistesfunkeln, nach dem ihn verlangte; aber dies war eben nur selten geschehen. Wenn er nun überhaupt tvinnerte, dann mit Weiawala, wenn auch ohne große Begeisterung. Und so berührte er sie nun, Sensororgan gegen Sensororgan, um die Aufforderung dankend zu erwidern.

Doch als er mit ihr in Kontakt kam, fühlte Salaman etwas Seltsames, etwas Beunruhigendes, etwas äußerst Unvertrautes, das aus großer Ferne an seine erweckten Sinne drang.

„Hast du das gespürt?“ fragte er und zog sich von ihr zurück.

„Was denn?“

„Ein Laut. Wie Donner. Als unsere Sensororgane sich berührten.“

„Ich hab nichts gespürt, bloß dich ganz nah bei mir, Salaman.“

„Ein Dröhnen im Himmel. Oder in der Erde. Ich war nicht sicher, woher. Und ein bedrohliches Gefühl — wie von einer Gefahr.“

„Ich hab aber nichts gemerkt, Salaman.“

Wieder berührte er ihr Sensororgan mit dem seinen.

„Nun? Spürst du.?“

„Still, Weiawala!“

„Ich muß doch sehr bitten!“

„Bitte! Stör jetzt nicht und laß mich hören!“

Sie verzog beleidigt das Gesicht und nickte kurz. In der endlich eingetretenen Stille lauschte er erneut, zapfte die Energien ihres Sensororgans an, um die Reichweite und Empfindlichkeit seines eigenen zu verstärken.

Donner in den Hügeln im Süden? Aber der Tag war doch hell und klar.

Trommeln?

Tierhufe auf der Erde? Eine gewaltige dahinziehende Herde?

Es war alles zu schwach und undeutlich. Er fing nur einen Hauch auf, ganz schwach, eine zarte Vibration, eine Empfindung, daß etwas nicht in Ordnung sei. Vielleicht würde er über sein Zweites Gesicht mehr herausfinden. Doch Weiawala begann die Geduld zu verlieren. Ihr Sensororgan glitt an dem seinen auf und ab und überlagerte seine Wahrnehmungen mit ihrem wildflutenden dumpfen Verlangen. Vielleicht bilde ich mir das Ganze ja nur ein, dachte er. Vielleicht fange ich nichts weiter auf als Ameisen, die durch einen unterirdischen Tunnel in der Nähe marschieren. Und er verdrängte die Sache aus seinem Kopf.

In diesem Augenblick, in dem Weiawala sich heiß und bebend an ihn schmiegte, konnte er unmöglich sich irgendwelchen Besorgnissen wegen eines fernen Donners an einem hellen Sonnentag oder wegen des eingebildeten Trommelns ferner Hufe hingeben. Tvinnern, jedes, sogar dieses lauwarme mit der breiseeligen Weiawala, war etwas Unwiderstehliches. Er wandte sich ihr zu. Nebeneinander sanken sie zur Erde. Seine Arme umschlangen sie, die Sensororgane stießen zueinander, und ihr Bewußtsein strömte in die Vereinigung hinüber.

Torlyri entdeckte Hresh in seinem Gemach im Tempel, wo er über den Chronikbänden brütete. Sie gab ein warnendes Hüsteln von sich, als sie eintrat — man drang nicht überraschend bei dem Chronisten ein, wenn er die Heiligen Bücher aus der Lade genommen hatte —, und er blickte beinahe schuldbewußt zu ihr hin und verdeckte in merkwürdiger Hast das Buch. Wie wenn ich mir anmaßen möchte, den Geheimnissen des Chronisten nachzuspionieren! dachte Torlyri. „Was gibt es?“ fragte er scharf.

„Störe ich dich? Ich kann später wiederkommen.“

„Ich habe nur gerade ein paar unbedeutende historische Einzelheiten eingetragen“, sagte Hresh. „Nichts von Bedeutung.“ Seine Stimme klang leicht, übertrieben beiläufig. „Also, was kann ich für dich tun, Torlyri?“

„Also ja.“ Sie trat ein paar Schritte näher zu ihm hin. „Lehre mich die Worte, die das Helmvolk spricht. Zeig mir, wie man mit den Beng redet.“

Seine Augen wurden groß. „Ach! Aber sicher.“

„Willst du das tun?“

„Ja“, sagte Hresh. „Ja, das will ich, Torlyri. Gewiß. Nur laß mich erst noch ein paar Wochen länger.“

„Jetzt!“ sagte sie.

„Ach“, sagte er noch einmal, als hätte sie ihm einen Stoß unter das Herz versetzt, und bedachte sie mit einem derart bestürzten Blick, daß sie lächeln mußte.

Torlyri erteilte in der Regel keine Befehle, darum hatte ihn offenbar ihr frischer Ton überrascht. Sie stand da und betrachtete ihn ernst und fest und war nicht bereit, ein Quentchen ihres so plötzlich errungenen Vorteils wieder preiszugeben. Hresh schaute unbehaglich drein und schien seine Antwort mit bei ihm ungewohnter Sorgfalt zu erwägen, als sondere er erst diese Möglichkeit aus, dann jene. Und sie betrachtete ihn weiter mit untypischer Festigkeit, stand sehr dicht neben ihm, so daß er sich ihrer ganzen Größe und Kraft sinnlich bewußt wurde.

Schließlich sagte er ein wenig bedrückt: „Also schön. Ich denke, ich beherrsche die Sprache inzwischen soweit. Vielleicht kann ich sie dir auf vernünftige Art übertragen. Ja. Ja, ich glaube, ich werde es können.“

„Jetzt?“

„Du meinst, jetzt, in diesem Augenblick?“

„Ja“, sagte sie. „Es sei denn, du hast gerade vordringliche Pflichten.“

Auch darüber dachte er lange nach. Dann sagte er nach einer ausgedehnten Pause: „Nein. Wir können es jetzt tun, Torlyri.“

„Ich bin dir sehr dankbar. Wird es lang dauern?“

„Nein. Nicht lange.“

„Sehr gut. Sollen wir es hier drin tun?“

„Nein“, sagte Hresh. „In deiner Tvinnr-Kammer.“

„Was?“

„Wir werden es beim Tvinnern tun. Das ist die schnellste Methode. Und die beste, meinst du nicht?“

Und nun war Torlyri an der Reihe, verstört zu sein. Aber als die Opferpriesterin hatte sie ja schon mit Hresh getvinnert; sie hatte das mit allen im Stamm getan; für sie war es nicht weiter schwierig. Also nahm sie ihn mit in ihr Tvinnr-Gemach, und wieder betteten sie sich zueinander und umarmten sich, und ihre Sensororgane verflochten sich, und sie wurden eins in ihren Seelen. An jenem seinem Erst-Tvinnr-Tag hatte Torlyri in Hresh eine große Fremdheit und Seltsamkeit wahrgenommen und die Kompliziertheit seines Denkens gespürt, und eine Einsamkeit in ihm, die er vermutlich sich selbst nicht eingestand; und nun spürte sie all dies erneut, aber viel intensiver, so als leide er Schmerzen. Sie vergaß ihr Verlangen und wollte Hresh in Liebe und Wärme einhüllen und seinen Kummer lindern, doch war dies etwas, das er nicht zu erlauben beabsichtigte. Sie hatten an diesem Tag andere Aufgaben zu erfüllen. Und so wuchtete er hastig eine Barriere nieder, um seine persönlichen Gefühle abzuschirmen — Torlyri hatte nicht gewußt, daß es möglich sei, dies zu tun, sich dermaßen vollständig vom Tvinnr-Partner abzuschotten; doch natürlich war Hresh ja nicht wie andere Leute — und dann, verborgen hinter dieser undurchdringlichen Wand, griff er zu ihr herüber, benutzte die Tvinnr-Vereinigung als Brücke und begann sie ganz nüchtern und sachlich in der Sprache der Beng zu unterrichten.

Als später der Bann gebrochen und ihre Seelen wieder getrennt waren, redete er zu ihr in der Bengsprache, und sie verstand ihn und antwortete ihm in eben dieser Sprache.

„So, das war’s“, sagte er. „Nun kannst du also die Sprache ebenfalls.“

Dieser schlaue Hresh! Natürlich beherrschte er die Zunge der Beng schon eine ganze Weile vollkommen. Das war ihr auf einmal klar. Koshmar hatte recht gehabt: Hresh hatte sie alle nur hingehalten, hatte nur vorgegeben, daß er weiteres Studium benötige, damit er der einzige bleibe, der im Besitz des Geheimnisses war. Torlyri hatte schon früher festgestellt, daß er sich gern an solche kleine Geheimnisse klammerte. Aber vielleicht lag es im Wesen der Chronisten, aus ihrem Wissen Rätsel und Geheimnisse zu machen? Damit der Stamm um so stärker von ihnen und ihrem Spezialwissen abhängig ist, dachte sie.

Aber andererseits hatte er sich ja nicht geweigert, sie zu unterrichten. Und jetzt hatte sie erreicht, wozu sie zu ihm gekommen war. Nun hatte sie sich das Rüstzeug verschafft und konnte das tun, wovor sie sich scheußlich fürchtete: Sie konnte zu dem Beng mit der vernarbten Schulter gehen und ihm erklären, wie sehr es sie nach ihm verlangte und — war dies Wirklichkeit? Konnte es sein? — daß sie ihn liebte.

Als die Sache mit Torlyri erledigt war, kehrte Hresh in sein Privatgemach zurück. Dort saß er still eine Weile, fast ohne zu denken, da und gewährte seinem Geist Erholung nach dem Energieabfluß, den er ihm zugemutet hatte. Dann stand er auf und trat ins Freie. Der Tempelplatz war leer. Die spätnachmittägliche Sonne stand an diesem Sommertag noch hoch im Westen, aber sie sah verquollen und kraftlos aus, während sie dem Meer entgegensank.

Ziellos begann er rasch von der Siedlung aus nordwärts zu wandern.

Die Tage waren lang dahin, in denen er sich die Mühe machte, Koshmar noch um ihre Erlaubnis zu bitten, ehe er sich auf Forschungsarbeit in Vengiboneeza begab, oder gar einen Krieger als Schutzbegleitung anforderte. Inzwischen ging er, wann immer es ihm beliebte, wohin immer es ihm beliebte. Ungewöhnlich allerdings war, daß er die Siedlung zu so fortgeschrittener Tagesstunde verließ. Seit geraumer Zeit schon hatte er keine Nacht mehr außerhalb verbracht. Während er jedoch heute immer weiter dahinwanderte und während die Schatten immer länger wuchsen, wurde ihm allmählich bewußt, daß es ja Nacht wurde und daß er dennoch immer noch weiter fortstrebte. Aber dies schien weiter nicht wichtig zu sein. Und er wanderte weiter.

Auch nach all den Jahren, die Hresh inmitten der Ruinen zugebracht hatte, war es klar, daß er kaum das ganze Vengiboneeza erforscht haben konnte. Der Bezirk, in den er jetzt vorstieß (seiner Vermutung nach: Friit Praheurt — oder vielleicht Friit Thaggoran), war ihm fast vollkommen unbekannt. Die Gebäude waren in schlechtem Erhaltungszustand, erdbebengeschädigt, verschoben, eingestürzte Fassaden zuhauf, hochgekantete Fundamente, und er mußte sich vorsichtig einen Weg über Gipsberge, verwuchtete Platten und nicht mehr identifizierbare Bildwerkhaufen suchen. Ab und zu entdeckte er Anzeichen, daß die Beng sich hier zu schaffen gemacht hatten: Fetzchen farbiger Bänder, um einen Pfad zu markieren; den sternzackigen grellgelben Farbklecks, den sie auf die Wände von Gebäuden pinselten, die sie für ‚Heiligtümer‘ hielten; gelegentlich auch duftende Dunghaufen von ihren Zinnobären. Aber von den Beng selber sah er nichts.

Bei Einbruch der Nacht hockte er auf einem hohen pyramidenförmigen Hügel zertrümmerter Alabastersäulen, die vielleicht einst den Portikus zu einem verfallenen Tempel mit weitausladenden Seitenflügeln gebildet haben mochten, der vor ihm lag. Kleine Pelztiere mit langen schmalen Leibern und kurzen geschäftig hastenden Beinchen huschten in seiner Nähe umher und waren völlig unbeeindruckt und furchtlos. Sie wirkten harmlos. Eines rannte ihm bis zum Knie herauf, und dort saß es eine lange Weile, reckte den Kopf und spähte gescheit ringsum, saß aber sonst ganz still. Als Hresh es zu streicheln versuchte, lief es davon.

Die Dunkelheit nahm zu. Doch Hresh machte keine Anstalten zur Heimkehr. Er überlegte, ob er die Nacht hier verbringen könne.

Koshmar wird eine Stinkwut auf mich haben, dachte er.

Torlyri wird sich ganz schwere Sorgen machen. Und vielleicht auch Taniane.

Er zuckte die Achseln. Koshmars Verärgerungen spielten für ihn keine Rolle mehr. Wenn Torlyri über sein Verschwinden bekümmert war, nun, sie würde es rasch vergessen und vergeben, sobald er zurückkehrte. Und was Taniane betraf — Taniane, die würde wahrscheinlich nicht einmal bemerken, wenn er an diesem Abend nicht in die Siedlung zurückkehrte. Dachte er. Und so verdrängte er sämtliche drei Frauen aus seinem Bewußtsein. Und er verdrängte alles andere und jeden anderen aus dem Bewußtsein: das Volk, die Beng, die Große Welt, die Menschlichen und die Todessterne. Er saß nur da und war still und sah zu, wie die Sterne nach und nach auftauchten. Ruhe wuchs in ihm herauf. Es war fast wie bei einer Trance.

Aber als dann die Nacht wirklich hereingebrochen war, erblickte er aus dem Augenwinkel eine flüchtige helle Bewegung und war sofort wieder hellwach. Sein Herz hämmerte, und der Atem ging hastig und stoßweise.

Er stand auf und blickte sich um. Ja, ganz gewiß, da bewegte sich etwas: dort drüben, nahe dem Fundament der Tempelruine. Zuerst glaubte er, es handle sich um ein kleines kugeliges Tier, das hervorgekommen war, um Witterung von einer möglichen Beute aufzunehmen, doch dann sah er im weißen Schein des Sternenlichts den Metallschimmer und die Gelenkbeine. Was war das? Irgendeine Art Mechanischer? Aber die waren doch alle tot! Und das da sah den Mechanischen aus der Großen Welt nicht im geringsten ähnlich, die er in seinen Visionen erblickt hatte, aber auch nicht wie jene toten und verrostenden Mechanischen damals auf dem Berghang während des langen Trecks nach Westen. Die damals waren riesige, furchteinflößende Wesen. Aber dies hier hatte beinahe etwas Komisches an sich. ein kleines wuselndes Ding, vielleicht halb so groß wie er selbst, kugelig, und es bewegte sich mit feierlich ernster Zielstrebigkeit auf merkwürdigen kleinen Metallstäbchen vorwärts.

Dann sah er ein zweites dieser Dinger. Und noch eines. Und dann wühlte ein Halbdutzend sich durch die trümmerübersäte Straße. Ruhig trat Hresh auf sie zu. Sie beachteten ihn gar nicht. Auf ihrer Oberseite waren kleine Globuskeln angebracht und verstrahlten scharfe Lichtstrahlen, die umherzuckten, als suchten sie etwas. Hin und wieder blieb eines der Dinger stehen und stocherte mit Metallarmen, die wie Peitschen aus dem Leib schossen, in den Ruinen herum. Manchmal griff einer zwischen zwei Trümmerblöcke, als wolle er an einer darunter verborgenen Sache etwas richten oder reparieren.

Hresh hielt die Luft an. Schon seit langem hatte er überall in Vengiboneeza Anzeichen dafür entdeckt, daß Reparaturarbeiten irgendwie die ganze Zeit über durchgeführt würden — daß die Stadt, trotz all ihrer Zerstörungen, noch immer und dennoch von unsichtbaren Kräften umsorgt wurde, von irgendwelchen Gespensterkräften, von Kräften der Großen Welt, die hinter den Kulissen auf sture und unbeirrbare Weise wirkten, um den Ort wieder funktionstüchtig zu machen. Eigentlich war seine Vermutung logisch, dachte er. Ein großer Teil der Stadt befand sich in einem betrüblichen Zustand, aber doch keineswegs in einem derart furchtbaren Verfallszustand, wie man dies nach einer dermaßen langen Zeitspanne hätte erwarten müssen, und einige Stadtbezirke schienen fast gar nicht beschädigt zu sein. Also, er, Hresh, konnte sich durchaus vorstellen, daß da irgendwelche Wesen in der Stadt umherwuselten und versuchten, die Stadt wieder zusammenzukleistern. Aber es gab keinen handfesten Beweis dafür, daß es derartige Geschöpfe gebe. Keiner hatte jemals eines gesehen, und natürlich hatten sich auch nur wenige im Volk die Mühe gemacht, darüber auch nur spekulativ nachzudenken, denn falls solche Wesen gegenwärtig wären, würden sie ja höchstwahrscheinlich Geister sein, also Anlaß zu Angst und Schrecken.

Aber — da waren sie. Kleine rundliche Maschinen, die in den Trümmern herumstocherten.

Auch sie schenkten ihm ebenso wenig Aufmerksamkeit wie die kurzbeinigen Pelztierchen es getan hatten. Er näherte sich ihnen von hinten und beobachtete sie bei ihrer Arbeit. Ja, es war eindeutig, sie versuchten aufzuräumen, Ordnung zu schaffen: sie saugten die Steinstaubwolken in sich hinein, sie schoben große Tragbalken und Blöcke zu ordentlichen Haufen zusammen, sie stützten Bögen und Türeinfassungen ab. Dann berührte einer von ihnen, während Hresh hingerissen zusah, mit einem metallenen Auswuchs eine rote Steintür, die schrägwinkelig im Boden saß, und die Tür glitt beiseite wie auf gutgeölten Gleitschienen. Von drinnen strömte scharfes Licht. Hresh spähte an dem kleinen Mechanischen vorbei und erblickte einen hell erleuchteten unterirdischen Raum, in welchem in Reihen angeordnet allerhand funkelnde Maschinen standen, die anscheinend durchaus funktionstüchtig waren. Es war ein erregender, ein fast unerträglich quälender Anblick für ihn: eine neue Schatzkammer aus den Tagen der Großen Welt, und er hatte nichts von ihr gewußt! Er beugte sich vor und spähte fasziniert.

Dann berührte ihn eine Hand von hinten — und er sprang vor Furcht und Verblüffung in die Luft, und dann spürte er, wie man ihn packte und festhielt.

Eine rauhe Bengstimme bellte: „Wer bist du? Was hast du hier zu schaffen?“

Hresh wand sich in dem Griff und erblickte einen ziemlich beleibten Krieger des Helmvolks, ein Pfannkuchengesicht, finster und beinahe so erschreckend in seiner dummen Bedrohlichkeit wie Harruel. Auf dem Kopf trug er einen monströsen Bronzekegel als Helm, von dem gewaltige abstruse Metallgeweihe hervorsprangen, die schrecklich hoch in die Luft ragten. Die scharlachroten Augen des Mannes waren böse und furchterregend, seine Lippen zornig zusammengepreßt. Und hinter ihm erhob sich der ungeschlachte Riesenleib eines Zinnobären.

„Ich bin Hresh vom Stamme des Koshmar-Volkes“, sagte Hresh mit so fester Stimme, wie er es nur konnte, obwohl seine Stimme selbst ihm in den eigenen Ohren keineswegs als besonders sicher erschien.

„Du hast hier nichts zu suchen“, lautete die barsche, eisige Antwort.

„Aber hier ist das Heiligtum des Gottes Dawinno, zu dem ich eine heilige Wallfahrt gelobt habe. Ich möchte dich bitten, wegzugehen und mich meine Gebete verrichten zu lassen.“

„Es gibt keinen Gott Dawinno. Und Leute deiner Gattung dürfen hier nicht herkommen.“

„Auf wessen Befehl?“

„Auf Befehl des Hamok Trei, König der Beng. Ich bin dir heute abend durch die halbe Stadt gefolgt, aber du wirst nicht wieder fremdes Gebiet betreten. Dein Leben ist verwirkt.“

„Verwirkt?“

Der Beng hatte einen Speer, und an seinem Leibgurt hing in einer Scheide ein kurzes Breitschwert. Hresh blickte starr vor sich hin und versuchte seine Angst zu verhehlen. Der Beng war doppelt so groß wie er, also wäre ein wie immer gearteter Kampf nicht in Frage gekommen, sogar wenn Hresh bewaffnet gewesen wäre, was nicht der Fall war. Kehrtmachen und fliehen, das war wohl ebenso illusorisch und dumm. Aber vielleicht konnte er diesen Krieger mit dem Zweiten Gesicht verwirren, aber auch dies war eine riskante und unsichere Sache. Dennoch, hier sterben zu sollen, allein, von der Hand eines Fremden. und nur weil er an einen Ort gegangen war, an dem Hamok Trei ihn nicht haben wollte.

Hresh richtete sein Sensororgan auf und schickte sich an, es einzusetzen. Fest richtete er seinen Blick auf die unerbittlichen Scharlachaugen des Behelmten. Der Beng hob seinen Speer.

Wenn er mich damit berührt, dachte Hresh, dann will ich ihn mit all meiner Stärke strafen. Und es ist mir gleich, ob ich ihn dabei töte oder nicht.

Aber dies war nicht nötig. Der Behelmte wies mit einer raschen brüsken Bewegung mit dem Speer auf Hresh und danach über seine Schulter, einigermaßen vage in Richtung auf die Siedlung des Helmvolkes. Er hatte also weiter nichts im Sinn, als Hresh vor den Hamok Trei zu führen. „Du wirst mit mir reiten“, sagte er und wies auf seinen Zinnobären. Und so einfach, als wäre Hresh aus Luft, hob ihn der Beng mit einer Hand hoch und setzte ihn zwischen den voluminösen Buckeln des Riesentieres ab. Dann sprang er ebenfalls herauf und berührte mit seinem Sensororgan den Schädel des Zinnobären am Hinterkopf. Und das gewaltige rote Vieh setzte sich mit langsamen qualvollen Schaukelbewegungen, die Hresh augenblicklich Magenkrämpfe verursachten, in Richtung auf die Beng-Siedlung in Gang.

Doch es erschien dann Noum om Beng, nicht Hamok Trei, und saß in jener Nacht zu Gericht. Der gebrechliche Alte, den Hreshs Fänger aus seinen Gemächern holte, kam verwirrt dahergestolpert. Doch als man ihm die Situation erklärt hatte, begann er zu lachen.

„Du darfst nicht an verbotene Orte gehen, Junge“, sagte der Chronist der Beng, und gab Hresh einen sanften Backenstreich. „Hast du die Markierungen nicht gesehen?“

Hresh antwortete nicht. Er war nicht willens, sich von den Verbotsschildern der Beng in seinen Streifzügen durch die Stadt behindern zu lassen.

Noum om Beng schlug ihn erneut, noch leichter diesmal, wie das Streicheln mit einer Feder war es. Dann wandte er sich ab. Dem Krieger, der Hresh gefangen genommen hatte, befahl er brüsk: „Bring den Knaben zu seinem Volk zurück.“

Im kaltschimmernden Licht des mitternächtlichen Mondes fand Hresh sich wieder in seiner Siedlung ein. Alles schlief, außer Moarn, der Wachdienst hatte. Während der Beng-Krieger davonritt, blickte Moarn Hresh ohne besonderes Interesse an.

Es währte lange, bis der Schlaf zu Hresh kam, und dann träumte er von kleinen schimmernden mechanischen Geschöpfen, die wie stumme Heerscharen durch endlose zerstörte Straßen rollten, und von seltsamen geheimnisvollen Objekten, die in den Tiefen der Erde verborgen lagen.

Am nächsten Morgen machte er sich für den mächtigen Zorn Koshmars bereit, der auf ihn niederfallen würde. Aber zu seiner Erleichterung — und irgendwie auch zu seiner Kümmernis — schien keiner seine Abwesenheit überhaupt bemerkt zu haben.

Hundertmal hatte Torlyri die Worte geprobt. Doch als sie sich nun der Siedlung der Behelmten näherte, waren sie aus ihrem Kopf wie fortgeblasen, und sie fühlte sich völlig verloren, durcheinander und verwirrt und war nicht einmal fähig, ihre eigene Sprache richtig zu sprechen, geschweige denn die der Beng.

Seit dem Tvinnr mit Hresh waren drei Tage verstrichen. Doch erst heute hatte sie genug Mut fassen und diesen Gang antreten können. Es war ein heißer, feuchter Morgen, ein hartnäckiger schwüler Wind fegte graue Staubwolken in den ausgetrockneten Straßen auf und wirbelte sie ärgerlich um Torlyri herum. Immer wieder dachte sie daran, lieber wieder umzukehren. Ihr Besuch erschien ihr auf einmal als völliger Wahnsinn. Nie im Leben würde es ihr gelingen, sich verständlich zu machen. Doch auch wenn es möglich wäre und wenn es ihr gelingen sollte, den Mann zu finden, den sie treffen wollte, wozu sollte das gut sein? Sie würde nichts als Schmerz davon haben, dessen war sie sich sicher, und Schmerz und Kummer hatte sie bereits zur Genüge erfahren.

Angespannt und mit verkniffenem Gesicht zwang sie sich zum Weitergehen. Die lange enge Zufahrt zwischen den zerstörten weißen Häuserfassaden hinab, die in den Bezirk Dawinno Galihine führte. Am Eingang zur Beng-Siedlung tauchte ein behelmter Wachposten auf und blickte sie forschend an.

„Wirst du erwartet?“ fragte er. „Was ist dein Geschäft? Wen zu sprechen bist du hier?“

Er sprach in der scharfen bellenden Bengzunge. Seine Worte hätten für Torlyri unverständliches Kauderwelsch sein müssen. Und doch hatte sie keinerlei Mühe, hren Sinn zu begreifen. Also hatte es geklappt! Hresh hatte sie — getreulich seinem Wort — tatsächlich die fremde Sprache verstehen gelehrt!

Aber ob sie sie auch selbst nun zu sprechen vermochte?

Ihr fielen keine Worte ein. Sie steckten tief in ihrem Gehirn und wollten ihr nicht auf die Lippen steigen. Ich bin gekommen, um den Mann mit der Narbe auf der Schulter zu besuchen, das hatte sie sagen wollen. Aber sie fand es einfach unmöglich, sich zu überwinden und diesem Posten da so etwas zu sagen. Sie war an diesem Tag schüchtern wie ein junges Mädchen; und die Stimme des Mannes hatte für ihre Ohren kalt und feindselig geklungen, und seine Worte waren wie eine Abfuhr, eine Zurückweisung für sie gewesen, obwohl sie wahrscheinlich nichts weiter als eine Routinebefragung darstellten. Furcht überkam sie. Die Entschlossenheit, die sie hierher geführt hatte, war nie besonders fest gewesen, und jetzt kam sie ihr völlig abhanden. Sie war gar nicht gekommen, um jemanden zu besuchen; das Ganze war ein Irrtum; und sie hatte hier nichts zu suchen. Ohne zu antworten machte sie kehrt und wollte weggehen.

„Warte!“ sagte der Beng. „Wohin willst du, Weib?“

Sie rang mit sich selbst und blieb stehen. Noch immer brachte sie kein Wort hervor.

Schließlich gelang es ihr nur dies zu stammeln: „Bitte. bitte.“

Sie merkte, daß sie bengisch gesprochen hatte. Wie seltsam das war, daß sie diese fremden Wörter verwendet hatte! Nun mach schon, dachte sie. Sag das übrige auch noch. Ich bin gekommen, um den Mann mit der Narbe auf der Schulter zu besuchen. Nein, sie konnte es noch immer nicht sagen, nicht zu diesem finster blickenden Fremden — und zu gar keinem. Sie konnte es ja kaum zu sich selber sagen.

„Du bist die Opferfrau?“

Torlyri blickte ihn groß an. „Du kennst mich?“

„Alle kennen dich, ja. Warte hier! Genau hier an dieser Stelle, Priesterin. Hast du mich verstanden?“ Er zeigte auf den Boden. „Hier. Stehenbleiben!“

Sie nickte.

Aber ich kann ja ihre Sprache sprechen! dachte sie verwundert. Und ich verstehe, was er zu mir sagt. Und dann mache ich den Mund auf, und herauskommen ihre Wörter.

Der Posten machte scharf kehrt und verschwand in der Beng-Siedlung.

Und Torlyri stand da und zitterte. Er will, daß ich hier warte, sagte sie sich. Warte — worauf? Auf wen? Was soll ich nur tun?

Warte sagte eine Stimme tief in ihrem Innern.

Die Minuten glitten dahin, und der Wachposten kehrte nicht zurück. Der heiße staubgeschwängerte Wind wehte mit solcher Wucht durch die Schlucht der leeren alten Gebäude, daß sie sich mit den Händen das Gesicht gegen ihn schützen mußte. Und wieder dachte sie daran, sich still und rasch zu entfernen, ehe jemand herankam. Und wieder zögerte sie. Sie wollte weder bleiben noch fortgehen. Und nun begann ihre eigene Unentschlossenheit ihr Spaß zu bereiten und sie zum Spott zu reizen. Du, in deinem Alter! sagte sie sich. Solche Befürchtungen? Solch eine lächerliche Schüchternheit? Wie eine kleine Göre. Wie ein ganz kleines junges dummes Mädchen!

„Opferfrau! Hier ist er, Opferpriesterin!“

Der Wachposten war zurückgekehrt. Und an seiner Seite war er. Sie hatte nicht zu fragen brauchen; der Posten hatte Bescheid gewußt. Wie ausgesprochen peinlich! Aber auch — um wieviel einfacher für sie.

Der Posten trat zurück, der andere kam näher. Torlyri sah die Narbenschulter, sah seine wunderschönen forschenden roten Augen, den hohen gewölbten Goldhelm. Sie begann zu zittern und befahl sich erzürnt, damit aufzuhören. Niemand hatte ihr diesen Augenblick auf gezwungen. Sie selbst hatte ihn so gewollt. Nur sich allein konnte sie bestenfalls beschuldigen.

Und im nächsten Augenblick merkte sie, daß sie gleich zu weinen beginnen würde. Trotzdem gelang es ihr nicht, sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Ihre Furcht war zu gewaltig. Hier stand ihre Seele auf dem Spiel. Solange keiner von beiden die Sprache des anderen verstehen oder sprechen konnte, war der kleine Flirt, den Torlyri sich erlaubte, durchaus ungefährlich, nicht mehr als ein unschuldiges Spiel, ein angenehmer Zeitvertreib. Sie konnte noch immer so tun, als wäre da gar nichts zwischen ihnen beiden, daß nichts versprochen und nichts gewagt worden war, nichts war geschehen und verbindlich. Und wahrlich, dem war so. Leider.

Doch nun, daß sie die Bengsprache verstand.

Nun, da sie ausdrücken konnte, was sie auf dem Herzen hatte.

Der Wind blies nun noch heißer und heftiger, so daß die schwere Staubfracht, die er mit sich trug, den Himmel über Dawinno Galihine verdunkelte. Torlyri hatte den Eindruck, der Wind würde — falls er nur noch um ein weniges stärker werden sollte — diese wackeligen Bauten niederwehen, die den Stürmen und Erdbeben von siebenmal hunderttausend Jahren standgehalten hatten.

Der Narbenschultrige starrte sie seltsam an, als sei er über ihr Kommen erstaunt, und dabei hatte sie doch bereits viele Male zuvor der Beng-Siedlung Besuche abgestattet. Lange sagte er kein Wort. Und sie auch nicht.

Schließlich sagte er: „Opferfrau?“

„Torlyri ist mein Name.“

„Torlyri. Es ist ein sehr schöner Name. Du verstehst, was ich zu dir sage?“

„Wenn du langsam sprichst. Und du? Verstehst du auch mich?“

„Du sprichst unsere Worte sehr schön. Sehr schön. Deine Stimme ist so weich.“ Er lächelte und hob beide Hände an die Seiten seines Helmes und ließ sie dort für einen Augenblick liegen, als sei er unentschlossen. Dann schnürte er hastig den Kinnriemen auf und nahm den Helm ab. Sie hatte ihn noch nie mit unbedecktem Haupt gesehen, ja, sie hatte noch nie irgendeinen der Beng-Männer ohne Kopfschmuck erblickt. Die Verwandlung war beunruhigend. Auf einmal erschien ihr sein Kopf seltsam klein und seine Statur wie geschrumpft, auch wenn er — von der ungewohnten Färbung des Fells und der Augen abgesehen — nun genauso aussah wie irgendein Mann in Torlyris eigenem Stamm.

Der Posten, der sich etwas abseits herumgetrieben hatte, hustete demonstrativ und wandte sich ab. Torlyri begriff, daß die Helmabnahme irgendwie eine Art Einladung zur Vertraulichkeit darstellen mußte oder vielleicht ein gar noch bedeutungsschwangerer Akt der Verpflichtung und Preisgabe sein konnte. Das Zittern, das verflogen war, ohne daß sie es bemerkt hätte, begann von neuem.

Er sprach: „Mein Name lautet Trei Husathirn. Willst du mit mir in mein Haus kommen?“

Sie setzte an, ihm zu sagen ja, und gern. Doch sie hielt sich im Zaum. Gut, sie verstand die Sprache der Beng — oder doch immerhin so bruchstückhaft, wie Hresh sie erlernen und sie ihr hatte beibringen können —, aber woher sollte sie die versteckten Bedeutungen hinter den Wortbedeutungen wissen? Was bedeutete „Willst du mit mir in mein Haus kommen?“ wirklich? War es eine Aufforderung zur Kopulation? Zum Tvinnern? Vielleicht sogar zur Ehelichkeit? Yissou, steh mir bei, wenn dem so ist, dachte sie, wenn er annimmt, ich verpflichte mich und gelobe mich ihm an als seine eheliche Gefährtin, wo ich doch nichts weiter von ihm weiß als seinen Namen! Oder bedeutete der Satz weiter nichts als eine Feststellung, daß man ja nicht in einer glühend heißen, staubigen windgepeitschten Straße stehen müsse, wenn man an einem weitaus angenehmeren Ort gemütlich bei Wein und Gebäck sitzen könne?

Sie stand da, blickte ihm forschend ins Gesicht und betete um göttliche Leitung.

In dieses Schweigen hinein sprach er — und er klingt irgendwie verletzt, dachte sie, obwohl ja der Tonfall der Bengsprache dermaßen heftig ist, daß man da nicht sicher sein kann: „Du willst also nicht mit mir kommen?“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Dann laß uns gehen.“

„Du mußt aber verstehen — ich kann nicht lange bleiben.“

„Natürlich. Nur eine kleine Weile.“

Er wandte sich zum Gehen; doch sie blieb immer noch bewegungslos stehen.

„Torlyri?“ sagte er und streckte die Hand nach ihr aus, ohne sie allerdings zu berühren.

Ohne seinen Helm wirkte er seltsam verletzlich. Sie wünschte sich, er möge ihn wieder aufsetzen. Es war nämlich der Helm gewesen, durch den er zuerst ihre Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte; dieser schlichte schimmernde goldene Kuppelhelm, mit dem feinen Blattzierat, so ganz anders als die alptraumhaften gespenstischen Monstrositäten, welche die meisten seiner männlichen Stammesgenossen bevorzugten. Ja, sein Helm war es gewesen und dann — etwas in seinen Augen, und die Art, wie er lächelte, und seine Haltung. Aber von dem Mann hinter diesen Augen wußte sie ja noch immer gar nichts.

„Torlyri?“ bat er fast kläglich.

„Also schön. Ein kurzer Besuch.“

„Du willst also! Nakhaba!“ In seinem Entzücken glühten seine unheimlichen roten Augen wie Feuersonnen. „Ein kurzer Besuch, o ja! Komm, komm mit! Ich habe etwas für dich, Torlyri, ein Geschenk, etwas Kostbares, ganz speziell für dich. Also, komm!“

Rasch schritt er am Wachposten vorbei und wandte sich nicht einmal um, ob sie ihm auch folge. Der Posten machte eine Handbewegung, die sie nicht deuten konnte, die ihr aber freundlich vorkam: vielleicht ein heiliges Segenszeichen — oder aber vielleicht auch nur eine harmlose Obszönität, Torlyri schlug das Yissou-Zeichen zu ihm hin, dann lief sie hinter Trei Husathirn drein.

Sein Haus, wie er es genannt hatte, war ein einziger Raum. Er lag im Erdgeschoß eines baufälligen Palastes der Saphiräugigen, einem Gebäude aus weißem Stein, dessen gefügte Blöcke von einem geheimnisvollen gelben Feuer im Innern zu glühen schienen. Trei Husathirns Wohnung war ein karg ausgestatteter Ort: ein Stapel von Fellen diente als Bettlager, ein schlichter Standaltar oder dergleichen in einer Nische, an der Wand ein paar Speere und Wurfstöcke, einige kleine Korbtruhen, die Kleidung oder andere persönliche Gegenstände enthalten mochten.

Torlyri entdeckte nirgends Anzeichen für die Gegenwart einer Frau in dieser Einrichtung. Daraufhin überkam sie eine heftige freudige Erleichterung; und dann war sie beschämt, weil sie solch große Erleichterung verspürte.

Trei Husathirn kniete vor seinem Altar nieder und flüsterte einige Worte, die sie nicht hören konnte, dann legte er mit sichtlicher Ehrerbietung seinen Helm in die Altarnische. Und dann erhob er sich und trat auf sie zu, und sie standen da, von Angesicht zu Angesicht, und keiner sprach ein Wort.

Sie dachte an all die Worte, die sie ihm zu sagen sich vorgenommen hatte, sobald sie endlich einmal allein sein sollten, nun da sie sich endlich angemessen mit ihm unterhalten konnte, und sie erkannte nun mit einem Schlag, wie aberwitzig die kleine Rede war, die sie sich zusammengebastelt hatte. Ihm von Liebe reden? Wie? Mit welchem Recht?

Sie waren einander Fremde. Bei den gelegentlichen Begegnungen, wenn Angehörige des einen Stammes zu Gast bei dem anderen weilten, hatte es ihnen Spaß gemacht, einander zu beäugen, einander zuzublinzeln, zu grinsen und auf Gegenstände zu deuten und zu lachen, weil ihnen etwas auf einmal lustig vorgekommen war, und nur die Götter mochten wissen, warum. Aber nichts war je zwischen ihnen vorgegangen. Nichts. Bis vor wenigen Minuten hatte sie nicht einmal seinen Namen gekannt. Und er hatte weiter nichts von ihr gewußt, als daß sie die Opferfrau ihres Stammes sei, und auch das war vielleicht für ihn ohne irgendeine reale Bedeutung. Und nun standen sie da, von Angesicht zu Angesicht, und waren stumm und hatten alle beide nicht die geringste Vorstellung davon, was sie als nächstes tun oder sprechen sollten.

Zu ihrem Entsetzen hob sich Torlyris Hand zu seiner rechten Schulter und fuhr zart über die lange schmale Narbe, die von dem fleischigen Teil seines Oberarms bis seitlich an den Hals verlief. Dort waren die Pelzhaare ausgegangen, und die glatte rosigsilberne Haut fühlte sich seltsam an — wie feines altes Pergament. Als ihr bewußt wurde, was sie tat, wich sie hastig zurück, als hätte sie ihre Hand in eine Feuerlohe gesteckt.

„Von den Hjjk“, sagte er. „Als ich ein Junge war. Ihre Schnäbel, sehr scharf. Drei von ihnen sind dafür gestorben.“

„Es tut mir ja so leid.“

„Oh, es ist lange her. Ich denke selten daran.“

Das Zittern überkam sie wieder. Torlyri zwang sich zur Beherrschung. Seine Augen ruhten ohne Schwanken auf ihrem Gesicht, auf ihren Augen, und sie zwang sich, seinem Blick standzuhalten. Sie waren beide fast gleich groß, aber schließlich war sie ja ziemlich hochgewachsen für eine Frau. Er strahlte eine große Kraft aus. Eindeutig — er war ein Krieger, und gewiß ein tapferer.

Und nun war er an der Reihe und berührte sie. Sacht fuhr er mit den Fingern über die scharfe weiße Spirale, die von ihrer rechten Schulter über die Brust bis zur Hüfte durch ihr Fell verlief, und dann strich er mit der Hand über den seitenverkehrten Streifen an ihrer linken Flanke.

„Sehr schön“, sagte er. „Dieses Weiß. Nie habe ich etwas Vergleichbares gesehen.“

„Es. es ist nicht weit verbreitet bei uns.“

„Du hast ein Kind, Torlyri? Mit diesem Weiß?“

„Ich habe keine Kinder. Nein.“

„Einen Mann? Du hast einen Mann?“

Sie sah den gespannten Ausdruck in seinem Gesicht.

Am einfachsten wäre es gewesen, wenn sie ihm erzählt hätte, was schließlich die reine Wahrheit war: Nein, ich habe keinen Mann. Doch war dies nur ein Teil der Wahrheit, doch sie wollte dringend, daß er mehr erfahre. „Ich hatte einmal für eine Weile einen Mann“, sagte sie. „Aber er ging fort.“

„Ach.“

„Er ging weit fort. Ich werde ihn nie wiedersehen.“

„Das tut mir sehr leid, Torlyri.“

Sie brachte ein zuckendes Lächeln zustande. „Ach, wirklich?“

„Es tut mir leid, daß du verletzt worden bist, ja. Nicht, daß der Mann fortgezogen ist. Nein, das könnte ich nicht behaupten.“

„Ach“, sagte diesmal sie.

Dann waren sie wieder stumm, doch nun war es ein anderes Schweigen als das vorherige verlegene und steife.

Dann sagte sie: „Es war in meinem Stamm niemals Brauch, daß die Opferfrau sich einem Gefährten verbindet, aber als wir dann aus dem Kokon auszogen, veränderte sich alles und es kamen neue Sitten auf. Und mir wurde bewußt, daß auch ich wie alle anderen mich nach einem Gefährten sehnte, und so nahm ich mir denn einen. Aber ich hatte meinen Mann nur für kurze Zeit, und all dies geschah erst kürzlich. Du verstehst, was ich dir sage, Trei Husathirn? Den Großteil meines Lebens habe ich ohne Mann verbracht, und es hat mich nicht gestört. Und dann hatte ich einen Mann, und ich glaube, ich war glücklich mit ihm; und dann hat er mich verlassen, und das tat sehr weh. Es gibt Zeiten, da glaube ich, es wäre mir besser geschehen, wenn ich nie einen Mann gehabt hätte, als daß ich einen hatte, um ihn dann so zu verlieren.“

„Nein“, sagte er. „Wie kannst du so sprechen? Du hast doch Liebe erfahren, oder? Der Mann geht fort, doch das Wissen um die Liebe, die du erlebt hast, kann nie fortgehen. Oder würdest du lieber die Liebe niemals in deinem Leben erfahren haben?“

„Oh, ich habe Liebe erfahren, eine andere Art Liebe als die zwischen ihm und mir. Die Liebe Koshmars, meiner. “ Sie brach ab, denn sie merkte, daß sie das Bengwort für Tvinnr-Partner nicht kannte. „Meine Freundin“, sagte sie schließlich halbherzig. „Und die Liebe meines ganzen Stammes. Ich weiß, daß ich von den Leuten sehr geliebt werde, und ich liebe sie alle auch.“

„Das ist nicht dieselbe Art von Liebe.“

„Vielleicht. Vielleicht.“ Sie holte tief Luft. „Und du? Hast du eine Frau, Trei Husathirn?“

„Ich hatte einst eine, ja.“

„Ach.“

„Sie ist tot. Die Hjjk.“

„Zur selben Zeit wie dies?“ Sie zeigte auf die Narbe.

„In einem späteren Kampf. Viel später.“

„Hattet ihr viele Kämpfe mit den Hjjk?“

Trei Husathirn zuckte die Achseln. „Sie sind überall. Sie fügten uns Leiden zu, und ich glaube, auch wir machten sie leiden. Obwohl sie scheinbar keinerlei Schmerz zu fühlen scheinen, weder in ihren Körpern noch in der Seele.“ Er schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht, als verursache es ihm Brechreiz, wenn er über die Hjjk reden mußte. „Aber ich sagte dir, ich habe ein Geschenk für dich, Torlyri.“

„Ja. Aber es wäre nicht nötig.“

„Bitte“, sagte er. Er suchte in einem seiner Flechtkörbe herum und holte einen Helm hervor; nicht einen von der scheußlich abschreckenden Sorte, sondern einen kleineren, wie Torlyri sie bei manchen Bengfrauen gesehen hatte. Er war aus einem schimmernden roten Metall gefertigt und auf Hochglanz poliert und spiegelte hell, beinahe wie ein Spiegel, war dabei jedoch in der Linie zierlich und angenehm, ein Stumpfkegel mit zwei gerundeten Spitzen und einem komplizierten Schlängelmuster, das von Meisterhand ins Metall geschnitten war. Schüchtern reichte er ihr den Helm hin. Sie starrte das Kleinod an, ohne es entgegenzunehmen.

„Es ist wunderschön“, sagte sie. „Aber das könnte ich nicht annehmen.“

„Du wirst es. Bitte!“

„Es ist viel zu wertvoll.“

„Es ist sehr wertvoll. Deshalb schenke ich es dir.“

„Was bedeutet es“, fragte Torlyri nach einer Pause, „wenn eine Frau von einem Mann einen Helm annimmt?“

Trei Husathirn blickte verlegen drein. „Daß sie Freunde sind.“

„Aha“, sagte sie. Sie hatte von Koshmar als von ihrer Freundin gesprochen. „Und Freundschaft zwischen Mann und Frau? Was bedeutet dies?“

Er wirkte noch verlegener. „Es bedeutet. es bedeutet. du mußt das verstehen. es. bedeutet. ach, Torlyri, muß ich es denn sagen, muß ich? Du weißt es doch! Du weißt!“

„Ich habe mich einem Mann als freundliche Freundin gegeben, und er hat mich verletzt.“

„Das geschieht. Aber nicht immer.“

„Wir sind aus verschiedenen Stämmen — es gibt keinen Präzedenzfall.“

„Du sprichst unsere Sprache. Du wirst auch unsere Art erlernen.“ Wieder hielt er ihr den schimmernden Helm hin. „Zwischen uns schwingt etwas. Das weißt du. Das weißt du von Anfang an. Auch als wir noch nicht miteinander sprechen konnten, war da etwas. Dieser Helm ist dein, Torlyri. Viele Jahre lang bewahrte ich ihn in diesem Korb auf, jetzt aber gebe ich ihn dir. Nimm ihn! Bitte!“

Und nun zitterte er. Das konnte sie nicht ertragen. Sacht nahm sie den Helm aus seinen Händen und hielt ihn sich über das Haupt, als wolle sie ihn anprobieren, aber dann, ohne daß er ihr Fell berührt hätte, nahm sie ihn und drückte ihn gegen ihren Busen und legte ihn dann sorgsam beiseite.

„Ich danke dir“, flüsterte sie. „Ich will ihn bis ans Ende meines Lebens ehren und hochschätzen.“

Wieder berührte sie seine Narbe. Leicht und liebevoll. Seine Hand legte sich auf den weißen Streifen, der an ihrer linken Schulter begann und wanderte dann über ihren Leib bis zur Brust, und dort hielt sie inne. Sie bewegte sich auf ihn zu. Und dann nahm er sie in seine Arme und zog sie zu den aufgeschichteten Fellen.

Unter dem heißen beißenden Wind aus dem Süden fühlte Taniane, wie sich in ihrem Herzen ein heftiges körperliches und seelisches Verlangen zu rühren begann.

Ihr ganzer Unterleib und ihre Schenkel und bis tief hinein in ihre weiblichen Teile waren von einem pulsierenden Drängen erfüllt, das weiter nicht schwer zu begreifen war. Es würde ihr guttun, heute zu kopulieren. Vielleicht war Haniman irgendwo greifbar in der Nähe, sonst würde sie auch mit Orbin vorliebnehmen. Orbin sagte nie nein.

Aber dann verspürte sie auch diese Spannung in der Stirn und in den unteren Nackenwirbeln und tiefer hinab, das ganze Rückgrat entlang, und dies sprach eher zugunsten eines Tvinnr. Sie hatte schon lange nicht mehr getvinnert. Ja eigentlich tat sie es sowieso ziemlich selten, einfach weil ihr dazu ein Partner fehlte, der ihren Geist anrühren konnte. Doch heute schien ihr Verlangen und ihr Bedürfnis wirklich dringlich zu sein. Aber vielleicht verwechsle ich es bloß mit dem Verlangen nach einer Kopulation, und vielleicht verschwindet dieser andere Druck, sobald ich die Lust gefunden, die mein Körper ersehnt?

Aber noch etwas anderes beunruhigte sie, und es war weder Kopulationsverlangen noch Tvinnr-Verlangen: Es war eine Ruhelosigkeit, ein tiefliegendes Gefühl der Ungeduld und des Unbehagens, das aus keiner eindeutigen Wurzel zu entspringen schien. Sie spürte es in den Zähnen, hinter den Augen, in der Magengrube; aber sie wußte, dies waren nur die äußeren Erscheinungen eines seelischen Schmerzes. Das Gefühl war ihr nicht unvertraut, doch war es heute intensiver als gewöhnlich, als habe es der unablässige, zum Wahnsinn treibende trockene Sturmwind zu brennender Hitze angefacht. Irgendwie stand das in Zusammenhang mit dem Abzug Harruels und seiner Gefolgsleute — inzwischen hatte Taniane sich zu der Überzeugung verstiegen, daß sie in fernen Ländern voller Wunder die allertollsten Abenteuer erleben müßten, während sie hier sinnlos im staubigen zerbröckelnden Vengiboneeza in der Falle saß. Und es hatte auch etwas zu tun mit der sich immer mehr ausbreitenden Nähe der Beng. Die Beng gaben sich als Freund, aber es war eine Freundschaft von merkwürdiger Art. Auf ihre freundliche Weise hatten sie langsam, doch stetig fast sämtliche Bezirke der Stadt ganz in Besitz genommen, als wären sie die Herren der Stadt und Koshmars Stamm nichts weiter als eine verlotterte armselige Bande von Eindringlingen, die die Beng liebenswürdigerweise hier duldeten. Koshmars Passivität, ihr Stillhalten angesichts dieser Ausbreitung ärgerte Taniane gleichfalls. Koshmar hatte sich überhaupt nicht darum bemüht, mit diesen Beng zu verhandeln. Sie hatte nichts unternommen, der Ausdehnung ihrer Macht entgegenzuwirken. Sie zuckte bloß die Achseln und ließ diese Leute tun, was ihnen gefiel.

Koshmar schien überhaupt schon lange kaum noch sie selber zu sein. Taniane hatte den Eindruck, daß der Abfall Harruels sie wohl zerstört haben mußte. Und wie es aussah, gab es da auch noch irgendwelche Schwierigkeiten zwischen Koshmar und Torlyri. Man traf Torlyri in jüngster Zeit kaum noch jemals in der Siedlung an, denn sie verbrachte die meiste Zeit fern bei den Beng. Es ging das Gerücht, daß Torlyri sich einen bengischen Liebhaber gesucht habe. Wieso tolerierte Koshmar so etwas? Was war denn bloß los mit Koshmar? Wenn es ihr an der Kraft mangelte, weiterhin Häuptling zu sein, warum trat sie dann nicht ab und machte jemandem mit ein bißchen mehr Mumm Platz? Außerdem war Koshmar inzwischen bereits jenseits des ehemaligen Grenzalters. Wenn der Stamm noch im Kokon lebte, dachte Taniane, wäre Koshmar inzwischen in ihren Tod hinausgegangen, und ich wäre höchstwahrscheinlich jetzt Stammeshäuptling. Doch die Altersbegrenzung gab es nicht mehr, und Koshmar weigerte sich, die Macht aus den Händen zu geben.

Taniane hegte kein Verlangen danach, Koshmar gewaltsam zu stürzen, außerdem glaubte sie auch nicht, daß sie im Volk Unterstützung finden würde, sollte sie es versuchen, obschon sie die einzige Frau im Stamm mit dem richtigen Alter und dem rechten Geist und Mut war, um Häuptling zu werden. Aber geschehen mußte etwas. Wir brauchen eine neue Führung, dachte sie, und zwar bald. Und die _ neue Führung, sagte sie sich, muß Mittel und Wege finden, um die Übergriffe der Beng zum Stillstand zu bringen.

Sie überquerte den Platz und trat in das Lagerhaus, in dem die Artefakte aus der großen Welt aufbewahrt wurden. Sie hoffte, Haniman hier zu finden, um das einfachste der Bedürfnisse zu erledigen, die ihr an diesem Morgen zu schaffen machten.

Doch statt Hanimans stieß sie auf Hresh, der trübsinnig zwischen den rätselhaften uralten Gerätschaften umherstapfte, die er und seine Sucher gesammelt hatten und die man seit der Ankunft der Beng weitgehend vernachlässigt hatte. Er blickte von irgendeinem Kram auf, sprach sie jedoch nicht an.

„Stör ich?“ fragte sie.

„Nicht sonderlich. Willst du irgendwas?“

„Ich war auf der Suche nach. naja, das spielt keine Rolle. Du siehst bedrückt aus, Hresh.“

„Genau wie du.“

„Es ist dieser Mistwind. Ob der je wieder aufhört zu blasen, was meinst du?“

Er zuckte die Achseln. „Er wird aufhören, wenn er aufhört. Im Norden hängt Regen, und diese trockne Luft strömt darauf zu.“

„Du durchschaust so viele Dinge, Hresh.“

Er wandte das Gesicht ab und sagte: „Ich begreife kaum überhaupt etwas.“

„Irgendwas macht dich aber wirklich elend.“ Sie schob sich näher an ihn heran. Mit hängenden Schultern stand er da und sagte nichts, spielte nur uninteressiert mit einem silbrigen komplizierten Gerät herum, dessen Funktionszweck bislang keiner hatte bestimmen können. Wie mager er ist, dachte sie. Wie wenig stabil! Und auf einmal quoll ihr das Herz über vor heftiger Liebe zu ihm. Sie erkannte, daß effektiv er vielleicht sich vor ihr fürchtete, er, dessen große Weisheit und rätselhaften Geisteskräfte sie als dermaßen furchteinflößend empfunden hatte. Sie hätte gern den Arm um ihn gelegt, so wie Torlyri es gewohnt war zu tun, um ihn zu trösten und ihn dann in eine warme Umarmung zu ziehen. Doch er war durch einen Vorhang von Kummer entzogen, hinter dem er sich verbarg.

Sie sagte: „So erzähl mir doch, was dich beunruhigt.“

„Hab ich gesagt, irgendwas täte dies?“

„Das kann ich dir am Gesicht ablesen.“

Ärgerlich schüttelte er den Kopf. „Laß mich in Ruhe, Taniane! Suchst du Haniman? Ich weiß nicht, wo er ist. Möglich, daß er mit Orbin unten am Wasser zum Fischen ist, oder.“

„Ich bin nicht wegen Haniman hergekommen“, sagte sie. Und dann hörte sie sich zu ihrer eigenen großen Überraschung hinzufügen: „Ich hab dich gesucht, Hresh.“

„Mich? Was hast du denn mit mir im Sinn?“

In ihrer Verzweiflung improvisierte sie: „Könntest du mich ein paar Worte der Bengsprache lehren? Was meinst du? Nur ein bißchen davon?“

„Was, du auch?“

„Hat dich denn schon jemand darum gebeten?“

„Torlyri. Dieser Beng, den sie da hat, der mit der Narbe, mit dem sie immer so herumgealbert und geflirtet hat — sie liebt ihn, hast du das nicht gewußt? Vor ein paar Tagen ist sie zu mir gekommen und hat einen ganz merkwürdigen komischen Ausdruck in den Augen gehabt. Lehre mich bengisch, sagte sie. Du mußt mir das Beng beibringen. Sofort mußt du es mich lehren. Sie hat darauf bestanden. Hast du jemals erlebt, daß Torlyri hartnäckig etwas gefordert hätte?“

„Und du, was hast du getan?“

„Ich habe ihr beigebracht, wie man auf bengisch spricht.“

„Hast du tatsächlich? Ich dachte immer, du kannst selber noch nicht genug davon, um anderen mehr als ein paar Worte beizubringen.“

„Nein“, sagte Hresh mit sehr leiser Stimme. „Ich habe gelogen. Ich spreche die Bengsprache wie ein Beng. Ich habe den Barak Dayir benutzt, um es vom Alten Mann ihres Stammes zu erlernen. Aber ich behielt das alles für mich, so war das Ganze. Nur, Torlyri konnte ich die Bitte nicht verweigern, als sie mich dermaßen dringlich bat. Und nun spricht also auch sie bengisch.“

„Und ich bin die nächste, die es lernen wird.“

Hresh wirkte ganz aufgeregt und unendlich verlegen.

„Taniane — bitte — Taniane.“

„Bitte, was? Es ist deine Pflicht, mich zu unterrichten, Hresh. Uns alle zu unterrichten. Diese Leute sind unsere Feinde. Und wir müssen in der Lage sein, sie zu verstehen, wenn wir uns mit ihnen auseinandersetzen wollen, verstehst du denn das nicht?“

„Sie sind nicht unsere Feinde“, sagte Hresh.

„Ja, das versuchen sie die ganze Zeit uns glauben zu machen. Nun, vielleicht sind sie’s, oder sie sind es nicht, aber wie sollen wir je herausfinden, was sie sind, wenn wir nicht dahinterkommen, was sie sagen? Und du bist der einzige, der das weiß — außer jetzt auch noch Torlyri, vermutlich. Aber was ist, wenn dir etwas geschähe? Du kannst dieses Wissen einfach nicht länger für dich behalten, Hresh. Besonders, wo du ja jetzt eingestanden hast, daß du es lehren kannst. Wir müssen alle bengisch sprechen und sie verstehen lernen, und nicht etwa bloß, damit wir losrennen können wie Torlyri, um uns einen Geliebten unter den Beng zu angeln. Unser Überleben hängt davon ab. Oder bist du da anderer Ansicht?“

„Vielleicht. Ja, ich denke schon.“

„Also, dann bring es mir bei! Ich will gleich heute damit anfangen. Wenn du glaubst, ich brauche dazu Koshmars Erlaubnis, dann komm, gehen wir sofort zu Koshmar. Du müßtest auch sie unterrichten. Und dann auch alle anderen von einiger Bedeutung im Stamm.“

Hresh schwieg. Er sah ganz verloren und ängstlich aus.

„Was ist denn? Was stimmt denn nicht?“ fragte Taniane. „Ist es so schrecklich, daß ich Beng lernen will?“

Ohne sie anzublicken, sagte Hresh mit leiser Elendsstimme: „Um es zu lernen, muß man tvinnern.“

Tanianes Augen blitzten. „Na und? Wo liegt da die Schwierigkeit?“

„Ich hab dich einmal gebeten, mit mir zu tvinnern, und du hast mich abgewiesen.“

Also das war es. Einen Augenblick lang war sie verlegen. Dann erkannte sie, daß er ja noch viel verlegener war als sie, und sie sagte lächelnd und so sanft, wie sie es nur über die Lippen bringen konnte: „Das war nur wegen der Form, in der du mich gebeten hast, Hresh. Da du da einfach so angeschwirrt bist, kaum hatte dir Torlyri gezeigt, wie man es macht, und zu mir gesagt hast: Na, los, Taniane, gehn wir die Geschichte gleich mal an! Das hat mich beleidigt, hast du das denn nicht verstanden? Wir sind dreizehn Jahre miteinander aufgewachsen und haben beide auf den Tag gewartet, an dem wir alt genug für das Tvinnr sein würden, und dann kommst du an, Hresh, und du hast es verdorben durch deine blöde, ungehobelte, plumpe.“

„Ich weiß“, sagte er mißmutig. „Du brauchst es mir nicht noch mal unter die Nase zu reiben.“

Sie bedachte ihn mit einem lebhaften koketten Blick. „Aber auch wenn ich damals nein gesagt habe, dann hieß das ja nicht zwangsläufig, daß ich dich auch beim nächstenmal abweisen würde, wenn du mich bittest.“

Hresh schien den Blick nicht bemerkt zu haben. „Das hat mir Koshmar auch gesagt“, antwortete er im selben bleiernen Ton wie zuvor.

„Du hast darüber mit Koshmar gesprochen?“ fragte Taniane und mühte sich, ihr Lachen hinunterzuschlucken.

„Ja. Sie schien das alles schon zu wissen. Und sie sagte, ich soll dich eben noch einmal bitten.“

„Nun, Koshmar hat recht.“

Hresh starrte sie an. Kalt sagte er: „Du willst damit andeuten, daß du jetzt, wo du etwas Besonderes dabei zu gewinnen erwartest, wenn du mit mir tvinnerst, jetzt wärst du dazu bereit, stimmt das?“

„Hresh, du bist der widerlichste und ärgerlichste Kerl, der mir je begegnet ist!“

„Aber, was ich sage, ist wahr.“

„Du liegst in höchstem Maße schief. Das Ganze hat überhaupt nichts damit zu tun, ob und daß du mir Beng beibringen sollst. Ich habe seit damals immer nur darauf gewartet, daß du dich wieder an mir interessiert zeigst.“

„Aber Haniman.“

„Dawinno hole den Haniman! Er ist weiter nichts als jemand, mit dem ich kopuliere! Du bist der Tvinnr-Partner, den ich mir wünsche, Hresh! Wie kann jemand nur so furchtbar dumm sein? Warum zwingst du mich, diese ganzen Dinge auszusprechen, sie sind doch eindeutig klar!“

„Du willst es also meintwegen? Für mich selber — nicht weil ich dir beim Tvinnern die Bengsprache beibringen kann?“

„Ja.“

„Ja, aber warum hast du das dann denn nicht gesagt, Taniane?“

Sie warf die Hände in Verzweiflung in die Luft. „Oh. du!“

Er schwieg lange. Sein Gesicht schien völlig ausdruckslos geworden zu sein.

Schließlich fragte er ruhig: „Ich war wohl sehr blöde, ja?“

„Ja, wirklich sehr blöde.“

„Ja. Ja, das stimmt wohl.“ Ruhig blickte er sie einen weiteren langen stillen Augenblick lang an. Dann sprach er: „Kopuliere mit mir, Taniane.“

„Kopulieren? Nicht tvinnern?“

„Zuerst die Kopulation. Ich habe noch nie mit jemandem kopuliert, weißt du?“

„Nein. ah. das wußte ich nicht.“

„Also, willst du? Auch wenn ich es vielleicht nicht besonders gut mache?“

„Aber natürlich will ich, Hresh. Und du wirst es genausogut machen wie irgendwer sonst.“

„Und hinterher würde ich gern mit dir tvinnern, Taniane. Ja?“

Sie nickte und lächelte. „Ja.“

„Aber nicht bloß, um dich die Bengsprache zu lehren. Sondern nur um mit dir zu tvinnern. Und später — beim nächstenmal — kann ich dir dann Beng beibringen, in Ordnung?“

„Versprichst du es?“

„Ja. Ja. Ja.

„Jetzt?“ fragte sie.

„O ja. Ja, jetzt.“

Im hellen klaren Morgen zog Salaman zu seiner Grabstelle, um weiterzubuddeln. Er hatte zwar schon längst jede echte Hoffnung aufgegeben, dort jemals auf etwas Nützliches zu stoßen, doch die Arbeit dort hatte den Vorteil, daß er dabei konzentriert denken konnte.

Er hatte kaum fünf Minuten gegraben, als sich ein breiter Schatten über ihn legte, und als er aufblickte, sah er Harruel droben stehen, die Hände in die Hüften gestemmt, und zu ihm herabspähen. Der König schwankte in bedenklicher Weise vor und zurück, als werde er gleich in die Grube stürzen. Ziemlich früh am Tag, dermaßen betrunken zu sein, dachte Salaman, selbst für Harruel.

„Hast du’s noch immer nicht aufgegeben, wie?“ fragte Harruel und lachte. „Bei Dawinno, sei besser vorsichtig, oder du gräbst dort unten noch mal einen Eisfresser aus!“

„Die Eisfresser sind alle fort“, sagte Salaman, ohne seinen Arbeitsrhythmus zu unterbrechen. „Viel zu warm für Eisfresser in unseren Tagen. Nimm dir eine Schaufel, Harruel! Und komm runter und grab ein bißchen! Die Arbeit wird dir guttun.“

„Pah! Glaubst du denn, ich hab nichts Besseres zu tun?“

Salaman gab darauf keine Antwort. Harruel zu necken, das war immer ein riskantes Spielchen. Und er war so weit gegangen, wie er es wagte. Also bückte er sich wieder über sein Werk, und nach einer Weile hörte er den König langsam unter Schnaufen und Grunzen davontaumeln.

Salamans Graben war eine lange gewundene Ausschachtung, die kreuz und quer wie eine riesenhafte dunkle Schlange durch den Mittelpunkt von Yissou City verlief, an der Rückseite des Königlichen Palastes entlang, dann zwischen den Häusern von Konya und Galihine und Salaman und Weiawala hindurch, und darauf im Bogen um Lakkamais Domizil herum. Der Graben war tiefer als ein Mann groß ist und etwa so breit wie die Schulterbreite eines Mannes.

Das meiste hatte Salaman selbst gegraben — gelegentlich hatten Konya und Lakkamai ihm geholfen — in seiner unablässigen Suche nach irgendeinem Überrest des Todessternes, der seiner Überzeugung nach hier niedergefallen war. Seit den Gründungstagen der Stadt war es ihm fast täglich gelungen, eine oder zwei Stunden für diese Arbeit abzuzweigen. Er grub dann meist eine Weile, behutsam, gedankenverloren, dann trug er die ausgehobene Erde zum Beginn des Grabens, damit dieser nicht den Fußgängerverkehr der Hauptstadt total lahmlegte. Dadurch wurde er zur Zielscheibe von ziemlich viel Spott und mehr als nur ein wenig Bissigkeit. Doch er fuhr stetig in seinen Ausgrabungen fort.

Den anderen redete Salaman ein, daß ein Stück von einem echten Todesstern ein heiliger Talisman sein würde, der alle Arten von Übel abwehren könnte. Und nach einiger Zeit glaubte er es sogar selbst. Hauptzweck seiner Grabarbeiten aber war es, sich selbst den Beweis zu liefern, daß der Krater tatsächlich durch den Aufprall eines niederstürzenden Sternes geformt worden sei. Theorien erfordern die Verifizierung, sagte Salaman sich stets immer wieder selbst. Man durfte sich nicht auf bloße Vermutungen stützen. Und darum grub er weiter. Er träumte davon, daß seine Schaufel gegen etwas Metallisches stoße und er eine gewaltige Masse, einen erstarrten Eisenklumpen in der Erde dicht am Stadtrand fände und den anderen zuriefe: Kommt und schaut! Kommt und schaut!

Aber bisher hatte er noch nichts gefunden, nur Steine und die dicken Wurzeln von Bäumen und ab und zu Überreste toter Tiere, die irgendein Aasfresser dort vergraben hatte. Vielleicht ruhte der Todesstern so tief im Boden, daß er nicht hoffen durfte in fünf Lebenszeiten bis zu ihm hinuntergraben zu können; oder, wie er von Anfang an vermutet hatte, die Todessterne hatten aus einem nicht dauerhaften Material bestanden, waren Feuerbälle gewesen oder Kugeln aus Eis, die ihre entsetzlichen Schäden anrichteten, aber keine Reste zurückließen. Die eine Hypothese, die er nicht zu akzeptieren bereit war, weil er überzeugt war, daß sie falsch sei, bestand darin, daß dieser gewaltige kreisförmige Krater mit seiner so regelmäßigen Gestalt und dermaßen offensichtlich ein Fremdelement in dem sonst glatten kahlen Tal, von irgend etwas anderem als einem Todesstern hätte gebildet worden sein können. Eine ganze Hochzivilisation war durch die Einwirkung dieser niederstürzenden Sterne vernichtet worden; Salaman zweifelte nicht daran, daß sie schreckliche Narben zurückgelassen haben müßten, und daß diese Narben sich als Krater von dieser Gestalt zeigen müßten, in dem Harruel Yissou City zu errichten beschlossen hatte.

An diesem Morgen beschäftigten die Todessterne Salaman während des Grabens allerdings nicht vordringlich. Heute ging ihm eine seltsame Botschaft aus der weiten Ferne — sofern es sich um eine Botschaft gehandelt hatte — nicht aus dem Sinn, die zu ihm gedrungen war, während er und Weiawala droben auf dem Hochsitz, südlich vom Krater, ihre Sensororgane zusammengelegt hatten.

Dieses hartnäckige trommelnde Pulsieren. Dieses Stampfen, dieser rumpelnde Lärm. Die furchteinflößende Tiefenströmung einer Bedrohung. Alles nur in seiner Phantasie? Nein. Nein. Das Signal war schwach gewesen; die Entfernung mußte sehr groß sein; doch Salaman war sicher, daß er nicht geträumt hatte. Es war schwach gewesen, aber wirklich. Dort draußen war etwas in Bewegung, ein Zucken in der riesigen Weite des Kontinents. Vielleicht stellte dies eine Bedrohung für ihre Stadt dar. Vielleicht war es nötig, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.

Voll Furcht, zitternd, naß vom eigenen Schweiß, grub er wie ein Wahnsinniger mehr als eine Stunde lang und hackte auf die Erde ein, als lägen dort sämtliche Antworten begraben. Am ganzen Leib war er mit feuchtem Sand bedeckt. Sein Fell wurde davon ganz verklumpt. Er knirschte ihm zwischen den Zähnen, und er spuckte und spuckte, ohne sich davon befreien zu können. Er grub mit derart irrsinniger Wut, daß der Aushub hinter ihm in weitem Bogen davonspritzte. Es kümmerte ihn kaum, wohin er die Erde schleuderte. Nach einiger Zeit machte er eine Pause; das Herz pochte heftig, die Augen schwammen vor Erschöfung. Er stützte sich auf sein Grabscheit und begann nachzudenken.

Hresh würde wissen, was man tun müßte, sagte er sich.

Nehmen wir mal an, du besprichst die Sache mit Hresh. Also, welchen Rat würde Hresh dir geben? Ich hab da eine Nachricht aufgefangen, aber sie war unklar. Es könnte sich um etwas von sehr hoher Wichtigkeit handeln, doch das kann ich nicht feststellen, weil ich sie nicht klar entziffern kann. Sag du mir, was du tun würdest.

Und Hresh würde sagen: Wenn eine Botschaft unklar ist, Salaman, beleuchte sie mit einem helleren Licht!

Ja. Hresh hatte auf alles eine kluge Antwort.

Salaman ließ die Schaufel fallen und kletterte aus dem Graben. Erstaunt blickte er auf die Schusselarbeit zurück, die er an diesem Morgen geleistet hatte, die unebene, gezackte Schnittkante, der Dreck überall verteilt. Mißbilligend schüttelte er den Kopf. Das muß ich später wieder in Ordnung bringen, dachte er. Später.

So müde er war, er zwang sich zu laufen. Er bog um Lakkamais Haus, überrollte dabei fast den erstaunten Bruikkos und sprintete auf dem Pfad zum Südrand des Kraters los. Eine dämonische Energie steuerte ihn. Er fühlte Yissou auf seiner rechten Schulter hocken, und Dawinno auf der linken, und sie ergossen ihre Kraft in ihn; und da war der Gott der Heilung, Friit, und der lief direkt vor ihm her und lockte ihn weiter. Stolpernd, kletternd, keuchend schaffte Salaman es bis zum Kraterrand, setzte darüber hinweg, kam wieder zu Atem und rannte dann gehetzt weiter den Pfad zu seinem Hochstand hinauf, seinem persönlichen Ausguck.

Die Erde lag in ihrer ganzen grünen Herrlichkeit unter ihm ausgebreitet.

Er spähte zu den sonnenbestrahlten Südbergen und gönnte sich eine kurze Rast, um Atem zu schöpfen und seine Energien zu sammeln. Dann erhob er sein Sensororgan und sandte sein Zweites Gesicht aus, diese besondere Wahrnehmungsfähigkeit, mit der alle Leute von seiner Art begabt waren und auf die sie zurückgreifen konnten. Sein Sensor organ wurde so steif wie eine Kopulationsrute. Er richtete es auf den leuchtenden Horizont und ließ seine ganze Energie hineinströmen.

Und wieder hörte er dieses pochende, pulsierende Geräusch: ein leises undeutliches Dröhnen, das in den fernen Bergen widerhallte.

Vermittels des Zweiten Gesichts näherte Salaman sich dem Saum eines Begreifens, was dieses Geräusch sei — aber es war wirklich nur eine vage Ahnung. Er sah einen farbigen Blitz, ein Fetzchen grellen schmerzenden Scharlachrots. Was hatte dies zu bedeuten? Danach andere Farben: gelb und schwarz, gelb, schwarz, gelb, schwarz, pulsierend, stoßend, abwechselnd und sich beständig wieder und immer wieder ablösend.

Und mit diesen Empfindungswahrnehmungen überkam ihn ein tiefes Entsetzen und Angst, und er stürzte davon zu Boden, und bebend lag er auf dem Bauch da und grub die Finger tief in den üppigen lehmigen Grund, wie um sich dort festzuklammern.

Etwas kommt von dort auf uns zu, etwas Furchtbares. Doch was? Was? Er hatte die Botschaft unter ein helleres Licht gehalten, doch das Licht war noch immer nicht hell genug. Er jedoch glühte nun von erfinderischen Einfallen. Das Tvinnr allein hatte ihm nicht ausreichende Deutlichkeit seiner Vision verschaffen können; das Zweite Gesicht ebenfalls nicht, obschon dabei die Wahrnehmung vertieft gewesen war. Doch wenn er Tvinnr und Zweites Gesicht verband und gleichzeitig einsetzen würde.

Sofort war Salaman wieder auf den Beinen und rannte den Kraterhang hinab und in die Stadt zurück. Bei seiner wilden überstürzten Talfahrt löste er allerart kleineres Geröll und sogar größere Brocken vom Grund, so daß ihn eine Minilawine begleitete und er sich mehrfach die Knöchel überanstrengte; wovon er sich allerdings nur kurz aufhalten ließ. Ihm war bewußt, daß eine Art Wahnsinn ihn befallen hatte, daß die Glut der Götter in ihn eingedrungen war.

„Weiawala!“ brüllte er, als er die Mitte ihrer kleinen Stadt erreicht hatte. „Weiawala! Wo bist du? Weiawala!“

Sie trat aus dem Haus von Bruikkos und Thaloin und schaute sich stirnrunzelnd um. Als sie ihn erblickte, bedeckte sie den Mund mit der Hand.

„Was ist denn dir geschehen, Salaman? So wie jetzt habe ich dich ja noch nie gesehen! Du bist ja vollkommen schweißnaß — und überall voller Dreck.“

„Das spielt jetzt keine Rolle.“ Er packte sie am Handgelenk. „Komm! Komm mit mir!“

„Bist du verrückt geworden?“

„Komm! Rauf zum Hochstand!“

Und er begann sie fortzuzerren. Jetzt trat Thaloin aus dem Haus, blinzelte gegen die Sonne und betrachtete erstaunt die Szene, die sich da vor ihr abspielte. Ihr Anblick gab Salaman die Inspiration zu einem Experiment. Wenn ein Tvinnr-Partner eine Mentaltransmission aus weiter Ferne verstärken konnte, dann wäre es vielleicht möglich, daß zwei eine weit größere Aufnahmekapazität ergeben würden. Und mit raschem Griff packte er auch Thaloin und begann beide Frauen zum Kraterpfad zu zerren.

„Laß doch los, du!“ rief Thaloin. „Was hast du denn.?“

Thaloin fest im Griff der einen, Weiawala in dem der andern Hand, schleppte er sie hinter sich her. Das Lärmen und wütende Gezeter zog Zuschauer an — Lakkamai, Minbain, das Kind Samnibolon —, die einander verwirrte Blicke zuwarfen. Als Salaman am Königlichen Palast vorbeikam, trat Harruel aus der Hintertür, brütend, mißgelaunt und mit düsterem Gesicht, schwankend und taumelnd, im Hendsstadium, kurz vor dem Schwinden seiner Trunkenheit. Er wies auf Salaman und lachte heiser und verquollen.

„Zwei auf einmal, Salaman? Zwei? Nur ein König hat das Recht auf zwei Weiber gleichzeitig! Also — gib mir mal die. gib mir die da.“

Harruel grapschte nach Weiawala. Fluchend rammte ihm Salaman die Schulter gegen die Brust. Harruel riß die Augen weit auf. Verdutzt schrie er auf und taumelte mit wirbelnden Armen rückwärts, dem Rand des Salamanischen Grabens zu. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte hinein. Salaman blickte sich nicht nach ihm um. Er packte nur Weiawala und Thaloin fester und zog sie mit sich fort, hinauf und immer höher den steinigen Pfad zum Kraterrand hinan. Er wußte, daß er für die zwei Frauen zu rasch voraneilte: sie stolperten und rutschten und fielen immer wieder hin, aber er zerrte sie weiter und schleppte sie immer höher hinauf. Thaloin war viel kürzer als Weiawala und konnte kaum Schritt halten, doch er legte immer wieder eine kleine Pause ein und half ihr weiter. Die. Frauen leisteten keinen Widerstand. Wahrscheinlich waren sie zu der Überzeugung gelangt, sie seien einem Verrückten in die Hände geraten und es wäre für sie am sichersten, wenn sie auf seine Wünsche eingingen.

Als sie am Hochstand angelangt waren, warf Salaman sie an der Auslugstelle zu Boden und warf sich dann neben sie. Alle drei lagen so eine Weile keuchend, pfeifend und nach Luft ringend da.

„Und jetzt werden wir tvinnern“, sagte Salaman schließlich.

Weiawala glotzte erstaunt. „Du — und ich — und Thaloin — sollen tvinnern?“

„Ja, alle drei zusammen.“

Thaloin stieß ein Wimmern aus. Salaman funkelte sie an.

„Alle drei!“ sagte er noch einmal, drängend wie unter dem Zwang des Wahnsinns. „Dies ist wichtig für die Sicherheit der Stadt! Also los, tvinnert mit mir und gebt mir eure Energie und gebt mir euer Zweites Gesicht gleich dazu! Los, tvinnert! Tvinnert!“ Die beiden Frauen lagen wie gelähmt da und bebten schweigend. Salaman griff nach Weiawalas Sensororgan und wickelte es um seines, und darüber legte er das von Thaloin. Mit so weicher und verführerischer Stimme, wie es ihm möglich war, sagte er: „Bitte! Tut, wie ich euch heiße! Überlaßt euch dem Tvinnr!“

Aber sie waren zu verschreckt und zu erschöpft, als daß sie so schnell auf seine Wünsche hätten eingehen können, wie er es wollte. Doch er streichelte sie, er liebkoste sie, er stimulierte und erregte sie an ihren Geschlechtsteilen, als beabsichtige er, mit ihnen zu kopulieren, nicht zu tvinnern; und nach einer Weile fühlte er, wie die Vereinigung mit Weiawala einsetzte, und wie dann sich Thaloin schüchtern und verängstigt ihm ebenfalls anschloß.

Ein Tvinnr mit zwei Partnern zugleich? Hätte jemand sich so etwas jemals träumen können? Bilderfluten überschwemmten Salaman, verwirrten ihn zunächst, machten ihn ganz hilflos. Doch er zwang sich dazu, sie auseinander zu sortieren und sich unter ihnen zurechtzufinden. Nach und nach schwand die Verwirrung. In ihm breitete sich das göttergleiche Gefühl aus, allsehend zu sein.

„Jetzt das Zweite Gesicht“, drängte er. „Setzt euer Zweites Gesicht ein! Ja, so ist es recht.“

Und er sah.

Mit Hilfe der beiden Frauen konnte er seine Wahrnehmungssonden bis in die Himmel senden und weiter, bis weit nach Süden und Norden und Osten und Westen. Es war ein wundersames und ein sinnenverwirrendes Gefühl. Was vordem ein dumpfes Grollen gewesen war, hatte sich zu einem schrecklichen Donnern verstärkt, ein mächtiges hämmerndes Trommeln, das wie ein unablässiges starkes Beben der Erde war. Und es kam nicht von den Bergen im Süden her, sondern weit aus dem Norden, wie er erkannte: was er da vordem aufgefangen hatte, war nur der Widerhall der Botschaft gewesen, die vom Hochland im Süden zurückgeworfen wurde.

Er sah die großen roten Tiere des Beng-Volkes, diese gewaltigen Zottelbestien, die sie Zinnobären nannten — eine gigantisch große Herde von Tausenden und Abertausenden, eine brodelnde rote See von Zinnobären, eine wogende rote Masse riesenhafter stampfender Geschöpfe, die ganze Hügel überrollten und ganze Täler ausfüllten — unterwegs, auf dem Marsch, eine erschreckende riesige Masse von amoklaufenden mächtigen Tieren in weiter Ferne, die nach Süden drängte — auf Yissou-City zu.

Und mitten unter ihnen, die großen Tiere vorantreibend.

Hjjk-Leute! Eine kolossale Heerschar der gelbschwarzen Insektenartigen, die in nichtzählbaren Massen anrückten. Salaman sah die unzähligen kugeligen Facettenaugen blitzen, und er hörte das scheußliche Knacken ihrer grausamen Kiefer.

Die Hjjk waren im Anmarsch. mit ihren Zinnobären... und sie würden alles, was sich ihnen in den Weg stellte, niederwalzen und vernichten. Und sie kamen in diese Richtung gezogen.

Für Taniane war es das merkwürdigste Tvinnr, das sie jemals gehabt hatte. Sie hatten es direkt hinterher gemacht, nachdem sie kopuliert hatten, und das war wohl keine ganz so großartige Idee gewesen; denn obwohl Hresh für einen, der von sich behauptete, es nie zuvor getan zu haben, durchaus annehmbar als Kopulationspartner war, schien er doch dermaßen damit beschäftigt, alles richtig zu machen, so daß seine Befangenheit schließlich für Taniane etwas peinlich und problematisch geworden war. Und vielleicht war davon ein Rest dann in ihr Tvinnern übergeflossen. Als sie sich seinem Geist aufgetan hatte, war er mit einer atemberaubenden seelischen Flutwelle über sie hereingebrochen, doch beinahe sofort hatte sie gespürt, daß er etwas zurückhielt, daß er Sperren aufbaute und ihr bestimmte Bereiche seiner Seele vorzuenthalten gedachte. Aber das war keine anständige Art des Tvinnr. Und dennoch und trotzdem, trotz dieser rätselhaft unerklärlichen Zurückhaltung seinerseits, war es für sie eine überwältigende Vereinigung gewesen, stark, heftig und unvergeßlich. Sie wußte, daß sie nur einen Bruchteil seines Wesens erfahren hatte. Aber dieser Bruchteil war bei weitem mehr, als sie jemals von irgendeinem anderen Tvinnr-Partner erhalten hatte.

Danach lagen sie still im Tvinnr-Gemach und lauschten den Stößen des heißen Windes, der durch die Straßen fuhr.

Nach einiger Zeit sagte sie: „Darf ich dir etwas anvertrauen, Hresh?“

„Ist es etwas, das zu erfahren mich freut?“

„Da bin ich mir nicht sicher.“

Er zögerte. „Ach, sag es dennoch!“

Sie fuhr ihm sacht mit der Hand über den weichen Pelz auf der Unterseite seines Armes. „Du wirst es aber nicht falsch aufnehmen, ja?“

„Wie könnte ich das vorher wissen?“

„Also gut. Na schön! Was ich dir sagen wollte, ist, daß du — also — irgendwie löst du in mir drin Dinge aus, Hresh, die so mächtig sind, daß sie mir Angst einjagen. Mehr nicht.“

„Ich weiß nicht, wie ich das verstehen soll.“

„In einem guten Sinn. Ehrlich.“

„Hoffentlich“, sagte er und legte ihr seinerseits die Hand auf den Arm und streichelte sie genauso wie sie ihn; und danach schwiegen sie wieder eine Zeitlang. Ihr Kopf ruhte an seiner Brust, und sie konnte sein Herz schlagen fühlen — laut wie eine Trommel in seinem Leib.

„Hat dir Torlyri nicht beigebracht, daß du beim Tvinnr überhaupt nichts zurückhalten darfst?“ fragte Taniane später.

„Und? Habe ich etwas zurückgehalten?“

„Es ist mir jedenfalls so vorgekommen.“

„Die Sache ist für mich noch ziemlich neu, Taniane.“

„Ach, kaum viel neuer als für mich. Aber ich weiß, wie ein Tvinnr sein sollte, und darum weiß ich, daß du dich vor mir versteckt hast, oder doch wenigstens einen Teil von dir. Und das hat mich geschmerzt, Hresh, weil ich das Gefühl haben mußte, daß du mir nicht vertraust, ja, sogar daß du mich auf irgendeine Art. benutzt hast.“

„Nein!“

„Ich will dir keinen Kummer machen. Ich versuch bloß dir irgendwie zu sagen, wie ich mich dabei so gefühlt habe — damit es beim nächstenmal besser geht. ich will nämlich, daß es ein nächstes Mal gibt, Hresh, das begreifst du doch, daß ich das will, ja? Und ein übernächstes Mal und immer weiter.“

„Ich habe mich nicht zurückgehalten, Taniane.“

„Also gut. Vielleicht habe ich es nicht richtig begriffen.“

Er entzog sich ihr, richtete sich auf dem Ellbogen auf und blickte sie direkt an. „Wenn ich überhaupt etwas vor dir verborgen habe“, sagte er, „dann das, was ich über die Welt, über das Volk, über die Beng, die Große Welt herausgefunden habe — Dinge, die ich noch immer überprüfe, Dinge, die mich durcheinandergeschüttelt haben wie ein Erdbeben, Taniane — Dinge von so gewaltiger Bedeutung, daß ich gerade erst am Anfang stehe, sie zu erfassen. Sie liegen ganz dicht da, am Rand meiner Seele, und vielleicht wollte ich sie dir nicht übertragen, als wir tvinner-ten, weil. weil. ach, ich weiß nicht — weil ich vielleicht glaubte, es würde dir weh tun, wenn du etwas von diesen Dingen erfährst, und darum habe ich sie zurückgehalten.“

„Sag es mir!“ forderte sie.

„Ich bin nicht sicher, ob ich.“

„Sag es mir!“

Er blickte sie prüfend an. Nach einer Weile sprach er: „Damals, als ich den Barak Dayir benutzt habe, damit wir beide in dieses langgestreckte Gebäude aus dunkelgrünem Stein eindringen konnten, wo wir die Geister der Träumeträumer sahen, wie sie herumschwebten — weißt du noch, Taniane?“

„Aber natürlich!“

„Was meinst du, was dieses Gebäude war?“

„Ein Tempel“, sagte sie. „Ein Tempel aus der Großen Welt.“

„Aber wessen Tempel?“

Sie zog die Brauen zusammen. „Der Tempel der Träumeträumer.“

„Und wer waren diese Träumeträumer?“ fragte Hresh.

Sie gab ihm nicht sogleich eine Antwort. Zögernd fragte sie: „Du willst doch wissen, was ich damals wirklich dachte, nicht wahr?“

„Ja.“

„Aber lach mich nicht aus, wenn ich es dir sage.“

„Ganz bestimmt nicht.“

Sie sagte: „Ich habe geglaubt, daß die Träumeträumer jene Menschen waren, von denen in den Chroniken steht. Nicht wir. Und daß es genauso ist, wie die Künstlichen der Saphiräugigen gesagt haben, als wir nach Vengiboneeza kamen — daß wir uns irren, wenn wir uns für Menschliche halten, weil wir nichts weiter sind als irgendeine Art von intelligenten Tieren. Daß wir nicht Teil der Großen Welt waren, überhaupt nicht. Und das glaube ich seit jenem Tag, als wir in diesem Gebäude waren. Aber ich weiß, daß ich mich irren muß. Das kann doch nicht wahr sein, oder? Es ist doch weiter nichts als ein Haufen aberwitziger Unsinn, Hresh? Die Träumeträumer sind vielleicht von irgendeinem anderen Stern gekommen. Und wir sind menschliche Wesen, ganz so, wie wir dies immer geglaubt haben.“

„Nein, wir sind nicht Menschliche.“

„Nicht?“

„Ich habe den Beweis gesehen. Man kann daran nicht herumdeuteln. Überall in den Ruinen der Großen Welt siehst du Abbilder und Statuen der Sechs Völker. und wir sind nicht unter ihnen! Aber die Träumeträumer sind da vertreten. Und es gab einen Ort in Alt-Vengiboneeza — ich habe ihn geschaut, Taniane, in einer der Visionen, die mir die Maschine aus der Großen Welt ermöglichte —, an dem man alle möglichen Tiergattungen eingesperrt hatte, nicht zivilisierte Geschöpfe, sondern nur wilde Tiere. Und dort hatten sie einen Käfig, und in dem befanden sich unsere Vorfahren. Beinahe genauso wie wir waren sie — und in einem Käfig! Zur Schau gestellt! Nichts weiter als Tiere.“

„Nein, Hresh!“

„Oh, sehr intelligente Tiere. So gescheit, daß sie für uns Kokons bauten, als der Lange Winter kam — oder vielleicht haben wir die Kokons sogar selbst eingerichtet, da bin ich mir noch gar nicht sicher —, damit wir dort den Winter überdauern könnten. Und Dawinno hat uns verändert, uns mit mehr Intelligenz begabt, uns dermaßen intelligent gemacht, daß wir die Schriften der Chroniken fehlinterpretieren und uns für menschliche Wesen halten konnten. Für die Menschlichen. Aber das waren wir nicht, und ich weiß es. Und der Alte Mann der Beng weiß es gleichfalls. Seine Leute haben nie auch nur einen Augenblick lang geglaubt, sie wären etwas wie die Menschlichen, die in den Tagen der Großen Welt lebten.“

„Aber wenn die Menschlichen, wie es in den Chroniken heißt, das Erbe der Erde antreten sollen, nun da der Winter vorbei ist.“

„Nein“, unterbrach Hresh. „Die Menschlichen sind alle dahin und tot. Ich vermute, sie sind allesamt im Langen Winter zugrunde gegangen, außer unserem Ryyig, dem Träumerräumer, und der war vielleicht der letzte Menschliche. Nein, uns ist die Erde als Erbe zugesprochen, Taniane. Doch um dieses Erbe antreten zu können, müssen wir erst zu Menschlichen werden.“

„Da kann ich dir nicht folgen. Wenn wir nicht menschlich sind, wie könnten wir.?“

„Indem wir leben wie Menschen. Wir tun es ja schon jetzt — beinahe. Wir haben eine Sprache, wir haben eine Schrift, eine Tradition und Geschichte. Wir können bauen. Wir können unsere Kinder unterrichten. All dies sind Eigenschaften der Menschlichen, den Tieren fehlen sie. Tiere funktionieren durch Instinkt in dem, was sie tun. Unser Tun ist von Wissen, Kenntnis und Überlegung bestimmt. Verstehst du? Nicht bloß die Träumeträumer waren Menschliche, Taniane! Alle Sechs Völker der Großen Welt waren es! Die Menschlichen waren Menschen und die Saphiräugigen auch, und die Vegetalischen.“

„Die Hjjk etwa auch, Hresh?“

Hresh zögerte. „Also, wenn menschlich mit zivilisiert gleichzusetzen ist, dann ja. Wenn es bedeutet, daß man über die Fähigkeiten verfügt, zu lernen, etwas zu gestalten und zu schaffen, die Welt zu verändern. Nach diesem Maßstab sind sogar die Hjjk menschlich. Eben eine andere Art Mensch, mehr nicht. Und auch wir werden Menschen sein. Die neuen Menschen, die allerneueste Form von Menschen. Wenn wir wachsen und bauen und — denken. Wir müssen von hier fort, weg von diesem Vengiboneeza, das als erstes, und wir müssen etwas schaffen und aufbauen, das wirklich eigenständig unser ist! Wir können uns einfach nicht weiter in diesen Ruinentrümmern verstecken. Wir müssen ein eigenes Vengiboneeza erbauen, eine Zivilisation, die nicht nur zusammengeklittert ist aus den Trümmern und dem Schutt der vorhergegangenen. Verstehst du, was ich dir klarmachen will?“

„Ja. Ich. ich glaube, ich verstehe, Hresh. Es ist fast genau wie das, was Harruel gesagt hat.“

„Ja. Irgendwo hatte er begriffen, und dann ist er aufgebrochen, um das zu tun, was wir tun müssen. Und so grobschlächtig, dumm und brutal er sein mag, zumindest hat er begonnen, etwas aufzubauen. Und das ist auch unsere Aufgabe. Wir müssen beides begreifen — die Vergangenheit und die Zukunft. Das nämlich sind die wirklich Menschlichen — Leute, die etwas weitertragen, die Verbindungen herstellen zwischen dem Gewesenen und dem Kommenden. Und darum ist es für uns wichtig, die Erforschung dieser Ruinen abzuschließen, damit wir dabei alles entdecken, was aus der Großen Welt für uns künftig vielleicht noch von Nutzen sein kann. Und dann müssen wir es mitnehmen, wenn wir aus Vengiboneeza fortziehen, und es umsetzen für unsere eigenen Zwecke, um das aufzubauen, was wir zu bauen haben.“ Und nun lächelte Hresh. „Seit die Beng hier eingezogen sind, haben wir uns nicht viel um unsere Suche gekümmert, nicht wahr? Aber vor ein paar Nächten war ich allein unterwegs. Ich habe ganz am anderen Ende der Stadt ein neues Lagerhaus entdeckt. Die Beng haben mich erwischt, ehe ich hineinkonnte — ich bin mir nicht sicher, ob sie schon wissen, was es dort alles gibt, aber auf jeden Fall wollen sie uns von dort fernhalten. Und so etwas können wir natürlich nicht durchgehen lassen. Komm, wir gehen zusammen dorthin! Und dann schauen wir uns einmal an, was es dort drinnen gibt. Ja? Alles klar, Taniane?“

„Alles klar, sicher“, sagte sie. „Wann?“

„In einem Tag, in zweien. Bald.“

„Ja. Bald.“

Er streckte die Arme nach ihr aus, und sie dachte schon, er wolle erneut tvinnern; doch er wollte sie nur umarmen, und danach sprang er sogleich auf und streckte ihr die Hand hin, um auch ihr aufzuhelfen. Er müsse dringend Koshmar sprechen, sagte er. Die Sachen müßten diskutiert werden. Und außerdem stünden noch weitere wichtige Aufgaben an. Immer Aufgaben, immer Dinge, die er besprechen mußte. Und schon war er fort, und sie stand allein da und konnte nur den Kopf schütteln.

Hresh, dachte sie bei sich. wie seltsam du doch bist, Hresh! Aber — wie wundervoll, voller Wunder!

Der Kopf wirbelte ihr. Nicht-menschlich — wir müssen uns zu Menschlichen machen, uns vermenschlichen — wir müssen aufbauen — in Berührung sein mit der Vergangenheit und der Zukunft gleichermaßen.

Dann wanderte sie zum Hauptplatz der Siedlung und stand einfach so da und versuchte, ruhiger zu werden. Jemand näherte sich ihr von hinten. Haniman.

„Du komm und tvinnre mit mir“, flüsterte er.

„Nein.“

„Immer sagst du nein.“

„Bitte laß mich in Ruhe, Haniman!“

„Dann komm wenigstens kopulieren.“

„Nein!“

„Nicht einmal das?“

„Laß mich zufrieden, ja!“

„Was ist denn los, Taniane? Du wirkst so bedrückt.“

„Bin ich.“

„Aber sag mir doch, was dich bekümmert.“

„Laß mich in Ruhe!“ sagte sie.

„Ich will doch bloß versuchen, was zu tun, damit du dich besser fühlst. Das ist eine alte Sitte bei uns Menschen, weißt du nicht? Frau in Not — Mann kommt und bietet Notnagel.“

Sie funkelte ihn zornig und erbittert an. „Wir sind keine Menschen!“ schrie sie.

„Was?“

„Hresh sagt es. Und er hat die Beweise dafür. Wir sind nichts weiter als Tiere, genau wie die Wächter am Tor es gesagt haben. Die Träumeträumer waren die Menschlichen, und sie sind jetzt alle tot. Du bist weiter nichts als ein Affe mit einem größeren Gehirn, und ich ebenso, Haniman. Geh doch und frag Hresh, wenn du mir nicht glaubst! Und jetzt geh weg und laß mich in Frieden, ja? Laß mich in Ruhe! Laßt mich alle in Ruhe!“

Haniman konnte sie nur verdattert anstarren.

Dann wich er rückwärts von ihr fort. Taniane, eine Hand auf den Mund gepreßt, schaute ihm nach.

Im Dämmer der Kapelle, in den Rauchschwaden des schwelenden Feuers sah Koshmar maskierte Gestalten vor sich auftauchen. Diese da, mit dem schrecklich kriegerischen Schnabel, war Lirridon. Das war Nialli, die schwarz-grüne Maske mit der Wehr blutroter Stacheln. Und hier Sismoil, gesichtslos, rätselhaft. Und da, Thekmur. Und dort Yanla. Und hier York.

Sie klammerte sich an die Altarkante, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ein eisiger Schweiß war ihr am Leib ausgebrochen, und hinter ihrem Brustbein verspürte sie einen brennenden Schmerz. Ihre Kehle war ausgetrocknet, und sie wußte, daß diesen Durst nicht einmal ein Ozean würde stillen können.

„Koshmar“, sagte Thekmur. „Arme traurige Koshmar.“

„Arme bemitleidenswerte Koshmar“, sagte Lirridon.

„Wir weinen Tränen um dich, Koshmar“, sagte Nialli.

Sie blickte starr zu den überheblichen Gestalten hin, die vor ihr auf und ab stolzierten, und schüttelte erbost den Kopf. Das Letzte, was sie sich von ihren dahingeschiedenen Vorgängerinnen erwartete, wäre Mitleid gewesen.

„Nein!“ sagte sie, und ihre Stimme drang kaum aus ihrer Kehle, war nur ein heiseres hohles Röcheln. „Derlei dürft ihr mir nicht sagen!“

„Komm, geselle dich zu uns, Koshmar!“ sagte Yanla, die vor so vielen Jahren Häuptling gewesen war, daß nichts als ihr Name und ihre Maske die Erinnerung an sie am Leben erhielt. „Komm und bette dich in unsere Arme! Du warst lang genug Führerin und Häuptling.“

„Nein!“

„Ruhe dich aus bei uns!“ sagte York. „Schlafe in unserem Schoß und erfahre die Freude des Friedens für immer!“

„Nein!!!“

Thekmur, die ihr wie eine zweite Mutter gewesen war, kniete an Koshmars Seite nieder und sprach weich: „Wir kamen zum Tag unseres Todes, und wir gingen hinaus in die Kälte und legten uns nieder am ödeisigen Ort zum Tode. Was klammerst du dich so keck und wild an dein Leben, Koshmar? Du hast das Grenzalter erreicht und es überschritten, Koshmar. Und deine Müdigkeit ist gewaltig. Ruhe du nun aus, Koshmar!“

„Der Winter ist vorbei. Es gibt keinen eisigen Ort des Sterbens mehr. Hier — in der Zeit des Neuen Frühlings — hat das Grenzalter keine zwingende Bedeutung mehr.“

„Der Neue Frühling?“ fragte Sismoil. „Glaubst du denn, er sei wahrlich erschienen? Wahrlich und wirklich, der Neue Frühling?“

„Ja! Ich glaube es, ja!“

„Schlafe du nun, Koshmar! Und laß ein andres Weib wachen über dein Volk und es führen. Du hast die Hälfte deines Stammes verloren.“

„Nein! Nicht die Hälfte! Bloß ein paar Leute!“

„Die Beng rücken eurer Siedlung immer näher.“

„Ich werde die Beng niedermetzeln!“

„Ein jüngeres Weib wartet und wetzt ihren Witz für die Macht. Gib sie preis, übergib sie ihr, Koshmar!“

„Wenn ihre Zeit gekommen ist, nicht früher!“

„Ihre Zeit ist gekommen.“

„Nein. Nein und nein.“

„So schlafe du nun, Koshmar.“

„Nein, das denn wirklich noch nicht. Dawinno soll euch holen! Ich bin noch ziemlich lebendig, merkt ihr das denn nicht? Und ich herrsche! Ich bin der Führer!“

Koshmar war aufgesprungen und fuchtelte wütend mit den Armen, um die Rauchschwaden zu vertreiben, von denen das kleine Gemach erfüllt war. Doch dies kam sie teuer zu stehen: der dumpfe Schmerz unter ihrem Brustbein verstärkte sich auf bestürzende Weise heftig und stach tief in ihr Inneres, hart und scharf wie ein Stahl. Doch sie war nicht bereit, dieses Mißgeschick zur Kenntnis zu nehmen und sichtbar werden zu lassen. Sie stieß die auf Drehzapfen ruhende Steintür der Kapelle auf, ließ frische Luft hereinströmen, und die bläßlichen Gestalten der toten Stammeshäuptlinge wurden dünner, durchsichtig und verschwanden schließlich ganz. Mit ersticktem Husten taumelte Koshmar ins Tageslicht hinaus. Sie griff nach einem verwitterten Steinstück der Balustrade und klammerte sich dort fest, bis die krampfartigen Schwindelgefühle wieder vergingen.

Nie wieder betrete ich dieses Heiligtum, schwor sie sich. Sollen doch die Toten tot bleiben und unter sich. Ich brauche ihr Weisheitsgeraune nicht.

Langsam schritt sie an den sechs zerstörten und den fünf intakten Bögen vorbei, über den Platz mit den rosa Marmorplatten, die fünf Treppenfluchten aus Megalithen hinan. Sie wandelte an dem Stumpf des eingestürzten schwarzen Turmes vorbei, und dann nach Süden und Westen durch die Stadt in Richtung auf die Beng-Siedlung zu. Hin und wieder sah sie einen der Zinnobären, der allein umherstreifte und das Unkraut aus den zerbröckelnden Pflastersteinen zupfte. Über die Dächer sauste eine Affenhorde an ihr vorbei, kreischend wie üblich, und sie aus sicherer Entfernung mit Gegenständen bewerfend. Sie bedachte sie nur mit einem Blick voller Abscheu. Zweimal sah sie Behelmte in einiger Entfernung, Männer, die schweigend ihren unerforschlichen Aufgaben oblagen; nicht einer gab zu erkennen, daß er ihr Nahen irgendwie zur Kenntnis genommen hätte.

Sie war noch immer ein gutes Stück von der Beng-Siedlung entfernt, in einem Bereich voll riesenhafter umgestürzter Standbilder und spiegelheller Kioske, die zu silbrigen Scherbenhaufen zusammengesunken waren, als sie weit vor sich die schlanke Gestalt Hreshs erblickte. Er kam auf sie zugelaufen und brüllte und rief ihren Namen.

„Was ist denn?“ fragte sie. „Warum bist du mir hier heraus nachgefolgt?“

Er ließ sich auf der Schulter einer umgestürzten marmornen Kolossalstatue nieder und blickte erwartungsvoll zu ihr herauf. „Um mit dir zu reden, Koshmar.“

„Hier?“

„Ich möchte nicht, daß irgend jemand vom Volk uns zuhört.“

Koshmar bedachte ihn mit einem strengen abweisenden Blick. „Also wenn dies wieder irgendso ein neuer phantastischer Plan ist, den du mir vorlegen möchtest, dann solltest du vielleicht wissen, bevor du damit anfängst, daß du mich gerade in einem Moment erwischst, in dem ich allein und ungestört sein will, also triffst du mich in höchst unzugänglicher Laune an. In einer äußerst unzugänglichen.“

„Also, ich nehme an, das werde ich dann ja wohl riskieren müssen. Ich wollte mit dir darüber sprechen, daß wir diese Stadt verlassen müssen.“

„Du?“ Ihre Augen begannen zornig zu funkeln. „Hast du vor wegzulaufen? Zu Harruel, ja?“

„Aber nein, nicht zu Harruel. Nein. Und auch nicht bloß ich allein, Koshmar. Wir alle.“

„Alle?“ Der heiße stechende Schmerz unter dem Brustbein kehrte zurück. Sie hätte gern mit der Hand dagegen gedrückt. Aber dies würde Hresh auf ihre Zwangslage aufmerksam gemacht haben. Also beherrschte sie sich sehr mühsam. „Was für Torheiten sind das jetzt schon wieder? Ich habe dich doch gewarnt, daß du mich mit verrückten neuen Plänen verschonen sollst.“

„Darf ich trotzdem sprechen, Koshmar?“

„Sprich!“

„Ich möchte dich an den Tag erinnern, als wir vor Jahren hier in Vengiboneeza eingezogen sind. Wie die Künstlichen der Saphiräugigen uns verspottet haben und mich einen ‚kleinen Affen‘ nannten und uns erklärten, wir seien etwas anderes als richtige menschliche Wesen.“

„Wir gaben die angemessene Antwort, und die Torhüter haben uns als Menschliche akzeptiert und uns eingelassen.“

„Akzeptiert, ja. Aber sie haben niemals zugestanden, daß wir Menschliche von der Art der Großen Welt seien. ‚Ihr seid jetzt die Menschen‘, das haben sie gesagt. Weißt du nicht mehr, Koshmar?“

„Das Ganze ist sehr lästig, Hresh.“

„Was würdest du sagen, wenn ich dir berichte, ich habe unumstößliche Beweise dafür gefunden, daß die Wächter die Wahrheit gesprochen haben? Daß die Träumeträumer die wirklichen Menschlichen der Großen Welt gewesen sind, daß unsere Art damals kaum mehr war als Tiere?“

„Absurder Unsinn, Junge!“

„Ich habe die Beweise.“

„Absurde Beweise. Ich sagte damals, daß es möglicherweise vielerlei Arten von Menschlichen gegeben haben könnte, daß aber wir die einzige Art sind, die noch existiert. Und deshalb gehört die Welt mit Recht uns. Es besteht keine Notwendigkeit, Hresh, das Ganze wieder durchzuhecheln. Überhaupt, was hat es damit zu tun, daß wir aus Vengiboneeza fortziehen sollen?“

„Weil“, dozierte Hresh, „wenn wir menschliche Wesen sind und wenn wir die einzigen sind, die es noch gibt, wir von diesem Ort hier weichen sollten, um uns eine eigene Stadt zu erbauen, wie Menschen dies tun, anstatt als Okkupanten in den Ruinen irgendeines anderen uralten Volkes zu hausen.“

„Das ist das gleiche Argument, das auch Harruel vorgebracht hat. Es war Hochverrat, und es hat den Stamm gespalten. Wenn du glaubst, was er glaubt, dann solltest du fortgehen und bei ihm leben, wo immer er und seine Gefolgschaft sich aufhalten mögen. Willst du dies? Dann geh! Geh, Hresh!“

„Ich will, daß wir allesamt weggehen. Damit wir menschlich werden können.“

„Wir sind menschlich!“

„Dann sollten wir fortziehen, damit wir unserem Schicksal gemäß als Menschen leben können. Verstehst du denn nicht, Koshmar, der Unterschied zwischen Menschen und Tieren ist doch der, daß die Tiere einfach nur von einem Tag zum anderen leben, wohingegen die Menschen.“

„Genug!“ sagte Koshmar sehr ruhig. „Die Diskussion ist beendet.“

„Koshmar, ich.“

„Schluß!“ Sie legte die Hand auf die Brust und preßte sie fest dagegen und begann zu reiben. Der Schmerz war so heftig, daß sie sich am liebsten zusammengekrümmt und ihre Knie umklammert hätte, doch sie zwang sich, aufrecht sitzen zu bleiben. „Ich bin hier herausgegangen, um allein zu sein und über Dinge nachzudenken, die mich betreffen“, sagte sie. „Du hast dich mir trotzdem aufgedrängt, mich in meiner Privatsphäre gestört, obwohl ich dich bat, es nicht zu tun, und hast allen möglichen alten Unsinn hervorgezerrt, der für unsere jetzigen Lage von keinerlei Bedeutung ist. Wir sind keine Affen. Dieses schnatternde Gezücht auf den Dächern, das sind Affen, und sie sind keine Verwandten von uns. Und wir werden aus Vengiboneeza fortziehen, ja, wenn die Götter mir verkünden, daß unsere Zeit dafür gekommen ist. Es mir verkünden, Hresh, nicht dir! Ist dies klar? Gut. Gut. Und jetzt laß mich in Ruhe!“

„Aber.“

„Laß mich in Ruhe, Hresh!“

„Wie du wünschst“, sagte er und wandte sich um und ging langsam zur Siedlung zurück.

Als er außer Sichtweite war, krümmte Koshmar sich zusammen. Sie fröstelte, und Welle um Welle wallte der Schmerz durch ihren Leib. Nach einer kleinen Weile vergingen die Krämpfe, und sie richtete sich schweißgebadet auf, und das Hämmern in ihrem Herzen wurde allmählich schwächer.

Der Junge meint es gut, dachte sie. Er ist so ernsthaft, so eindringlich mit erhabenen Dingen wie Schicksal und Ziel beschäftigt. Und höchstwahrscheinlich hatte er sogar recht, daß das Volk von hier fortziehen sollte, um die Erfüllung seiner Geschicke anderwärts zu suchen. Ob wir nun Menschliche sind oder Affen, dachte Koshmar, und sie zweifelte nicht im geringsten daran, was das Volk sei, es kann uns nichts Gutes bringen, wenn wir noch viele Jahre länger hierbleiben in Vengiboneeza. Soviel war klar. Irgendwann müssen wir weiterziehen und müssen uns einen eigenen Ort bauen.

Aber nicht jetzt schon. Jetzt fortziehen, das würde den Sieg der Beng bedeuten. Der Abzug des Volkes durfte nicht mit dem Anschein des Makels behaftet sein, daß er unter dem von den Beng ausgeübten Zwang erfolgte, denn dies würde ein Schandfleck sein auf dem Ehrenschild des Volkes und dem ihrer eigenen Führerschaft bis ans Ende aller Zeiten. Man würde Hresh zu dieser Einsicht bewegen müssen. Und jeden anderen gleichfalls, den es ungeduldig zum Aufbruch drängte.

Taniane? Es könnte sein, daß sie dem Hresh diesen Floh ins Ohr gesetzt hat, dachte Koshmar. Taniane war ein ungeduldiges Kind, sie glühte vor Ehrgeiz. Es könnte sogar sein, daß sie sich bereitmachte, einen zweiten Abfall, eine neue Spaltung des Stammes anzuführen. Taniane und Hresh waren in jüngster Zeit ziemlich dicke Verbündete geworden. Und, spekulierte Koshmar weiter, vielleicht ist Hresh nur deshalb heute zu mir gekommen, um mir eine versteckte Warnung zukommen zu lassen, daß ich eine veränderte Politik zu dulden beginnen muß, weil es sonst einen gewaltsamen Wechsel gegen meinen Willen geben wird.

Nichts wird unter Zwang und gegen meinen Willen geschehen, dachte Koshmar wütend. Nichts!

Dann schloß sie die Augen und verkroch sich wieder in sich selbst und hockte nur so da.

Ich bin so furchtbar müde, dachte sie.

Sie ruhte, ließ ihren Kopf ganz leer werden, ließ ihren Geist in das lindernde Dunkel der Leere entschweben. Lange Zeit später blinzelte sie und richtete sich wieder auf, und sie sah, daß noch ein weiterer Besucher sich eingestellt hatte. Die klar erkennbare weißgestreifte Gestalt Torlyris kam winkend und lächelnd auf sie zu.

„Ach, hier bist du“, rief Torlyri. „Hresh hat mir gesagt, daß du hier irgendwo sein müßtest.“

Auch du? dachte Koshmar. Bist du gekommen, um mich mit dieser Sache zu plagen?

„Irgendwelche Probleme?“ fragte sie.

Torlyri blickte erstaunt drein. „Probleme? Nein, gar nichts. Die Sonne scheint hell. Alles ist in Ordnung. Aber du bist schon einen halben Tag lang fort. Ich habe dich vermißt, dich gesucht, Koshmar. Ich habe mich danach gesehnt, bei dir zu sein, deine Nähe zu spüren. Um die Wonne des mit dir Zusammenseins wieder zu genießen, die stets die höchste Lust meines Lebens gewesen ist.“

Koshmar gewann keine Wonne aus Torlyris Worten.

Sie klangen ihr bleiern in den Ohren, sie klangen unaufrichtig, ja ausgesprochen verlogen. Es fiel ihr schmerzlich schwer, Torlyri für unaufrichtig zu halten, die doch allezeit das Inbild von Liebe und Wahrheit gewesen war; doch Koshmar begriff, daß Torlyri jetzt aus einem Gefühl schuldhaften Unbehagens so zu ihr rede und nicht bestimmt von dem Gefühl, das sie einst für Koshmar gehegt hatte. Dies war nun zu Ende. Torlyri hatte sich verändert. Lakkamai hatte sie verändert, und ihr Behelmter hatte das Werk vollendet.

Sie sprach: „Ich mußte ziemlich ernst über einiges nachdenken, Torlyri. Also ging ich weg, um allein zu sein.“

„Aber ich hab mir Sorgen gemacht. Du wirkst in letzter Zeit so müde.“

„Ach, tat ich das? Ich hab mich aber nie besser gefühlt.“

„Koshmar, Liebe.“

„Sehe ich krank aus? Hat mein Fell den Glanz verloren? Ist die Glut aus meinen Augen geschwunden?“

„Ich sagte nur, du wirktest müde“, sagte Torlyri. „Nicht, daß du krank bist.“

„Ach ja, das stimmt.“

„Komm, laß uns hier ein Weilchen zusammen sitzenbleiben!“ sagte Torlyri. Sie sank auf einen glatten rosaroten Marmorblock, der am anderen Ende sich zu einem grinsenden Gesicht eines Saphiräugigen aufwölbte, ganz zähnefletschende Kieferbacken, und lud Koshmar ein, sich neben sie zu setzen. Ihre Hand ruhte sacht auf Koshmars Handgelenk, das sie zärtlich streichelte.

„Ist da etwas, das du mir sagen möchtest?“ fragte Koshmar nach einer Weile.

„Ich will nur bei dir sein. Schau doch, wie prachtvoll dieser Tag ist! Je weiter wir in den Neuen Frühling kommen, desto höher und höher steigt die Sonne am Himmel empor.“

„Ja, so ist es.“

„Kreun trägt ein Ungeborenes, das Kind des Moarn. Bonlai trägt jetzt auch ein Kind von Orbin. Der Stamm beginnt zu wachsen.“

„Ja. Gut.“

„Praheurt und Shatalgit werden bald ihr Zweites bekommen. Sie haben Hresh gebeten, es nach deiner Mutter zu taufen, Lissiminimar, wenn es ein Mädchen wird.“

„Ah. Wird mich freuen, den Namen wieder zu hören“, sagte Koshmar.

Sie fragte sich, wie die Dinge dieser Tage zwischen Torlyri und ihrem Behelmten stehen mochten. Sie wagte nie, sie danach zu fragen. Irgendwie war es ihr gelungen, die Beziehung zu Lakkamai zu ertragen, sogar daß sie mit Lakkamai kopulierte; aber ein Mann wie Lakkamai, der kaum je ein Wort sprach und der innerlich so völlig leer zu sein schien, konnte ja auch kaum eine Bedrohung für Koshmar sein. Nein, zwischen Torlyri und Lakkamai war weiter nichts als körperliche Lust gewesen. Aber diese neue Affäre da, die mit dem Behelmten — diese Munterkeit und Lebenslust, wenn sie und er zusammen waren, ihre Bewegungen, das Leuchten in ihren Augen — und die langen Stunden, die sie drüben in der Beng-Siedlung zubrachte — nein, nein, das war etwas anderes, etwas viel, viel Tieferes.

Ich habe sie an ihn verloren, dachte Koshmar.

Nach einem weiteren Schweigen sagte Torlyri: „Die Beng möchten uns wieder zu einem ihrer Feste einladen, nächste Woche. Ich überbringe hiermit die Aufforderung von Hamok Trei. Sie möchten, daß wir alle kommen; und sie wollen ihre ältesten Weinkrüge kredenzen und die besten ihrer Fleischtiere schlachten. Es gilt, den Ehrentag ihres Gottes Nakhaba zu feiern, der der höchste unter ihren Göttern ist, wie ich glaube.“

„Was kümmert es mich, wie die Beng ihre Götter benennen?“ sagte Koshmar scharf. „Ihre Götter existieren nicht. Ihre Götter sind Hirngespinste.“

„Koshmar.“

„Es wird für uns kein gemeinsames Feiern mit den Beng geben, Torlyri!“

„Aber — Koshmar.“

Sie drehte sich abrupt herum und starrte der Opferpriesterin ins Gesicht. Ein Gedanke war ihr plötzlich gekommen, dermaßen überstürzt, daß ihr der Kopf wirbelte davon und sie hastig zu atmen begann. Sie sprach: „Was würdest du dazu sagen, wenn ich dir mitteilte, daß wir in zwei, drei Wochen aus Vengiboneeza fortziehen werden, spätestens in einem Mond?“

„Was?“

Ja, und deshalb werden wir alle unsere ganze Zeit dafür einsetzen müssen, um mit unseren Vorbereitungen für den Wegzug zurande zu kommen. Wir werden keine Zeit übrig haben für Feste mit den Beng.“

„Wegziehen — aus Vengiboneeza.?“

„Ja. Denn hier wartet auf uns nichts außer Ärger und Unruhe, Torlyri. Das weißt du doch. Ich weiß es. Hresh kam zu mir und sprach: ‚Zieh du hinweg! Zieh fort!‘ Ich wollte nichts davon hören. Doch dann erkannten meine Augen die Wahrheit. Und der Weg, den ich gehen muß, wurde klar. Ich fragte mich, was wir tun müßten, um uns zu retten, und die Antwort ward mir — daß wir von diesem Ort hier fortgehen müssen. Hier lauert der Tod, Torlyri. Da, schau! Siehst du, wie der steinerne Saphiräugige uns angrinst? Er lacht über uns. Wir kamen hierher, nur um ein wenig herumzugraben und ein paar nützliche, brauchbare Dinge aus der früheren Welt zu finden, und wir sind hier hängengeblieben — wieviele Jahre sind es nun schon? In einer Stadt, die nie die unsrige war. In einer Stadt, die uns sogar in ihren Steinen verspottet. Und jetzt ist es außerdem noch eine Stadt voller anmaßender Fremdlinge, die lächerliche Kleidung tragen und nichtexistierende Götter anbeten.“

In Torlyris dunklen Augen zitterte Erschrecken. Koshmar sah es und begriff mit einem Gefühl des Elends, daß ihre List erfolgreich gewesen war, daß sie die Wahrheit aus Torlyri hervorgelockt hatte, diese Wahrheit, die sie so gefürchtet hatte, aber auch so verzweifelt zu erfahren genötigt war.

„Sprichst du im Ernst?“ stammelte Torlyri.

„Ich lasse den Marschbefehl gerade formulieren und werde ihn sehr bald verkünden. Wir werden alles mitnehmen, was irgend von Wert für uns sein könnte, alle diese seltsamen Gerätschaften, die Hresh und seine Sucher angesammelt haben, und dann ziehen wir davon, in das warme Südland, wie wir es schon vor einem Jahr hätten tun sollen. Harruel hatte recht. In dieser Stadt lauert Giftiges. Er hat mich nicht bewegen können, dies zu erkennen, und darum ist er davongezogen. Nun, Harruel ist ein Hitzkopf, und Harruel ist auch ein Tor; aber in diesem Fall hatte er einen klareren Durchblick als ich. Unsere Zeit in Vengiboneeza ist vorbei, Torlyri.“

Torlyri saß da wie betäubt.

Mit plötzlich aufsteigender Energie griff Koshmar nach ihr. Eine Leidenschaft, wie sie sie seit Wochen, seit Monden nicht mehr gefühlt hatte, begann in ihr aufzulodern. Mit heiserer Stimme bat sie: „Komm nun, Torlyri, Geliebte, liebe, liebe Torlyri! Wir sind hier ganz allein. Komm und laß uns tvinnern — es ist so lange her, so lange, nicht wahr, Torlyri — und dann kehren wir in die Siedlung zurück.“

„Koshmar.“, setzte Torlyri an und konnte nicht weitersprechen.

„Wollen wir tvinnern?“

Torlyris Lippen und Nasenflügel bebten. In den Augenwinkeln standen ihr Tränen.

Mit leiser gedämpfter Stimme sagte sie: „Ja, ich will mit dir tvinnern, wenn es das ist, was du wünschst.“

„Ist es denn nicht auch, was du wünschst? Du hast doch gesagt, daß du nach mir gesucht hast, wegen der Lust, in meiner Nähe zu sein. Und gibt es denn eine bessere Art, mir nahe zu sein, als wenn wir tvinnern?“

Torlyri hielt den Blick zu Boden gesenkt. „Ich habe heute schon getvinnert“, sagte sie. „Es war — meine Pflicht, du verstehst —, jemand kam zu mir, der den Trost der Opferfrau brauchte, und ich darf dies doch niemals verweigern — und. und.“

„Und nun bist du zu müde, es so bald erneut zu tun.“

„Ja. Genau dies ist es.“

Koshmar blickte sie fest an. Torlyri wandte sich beiseite.

Sie will nicht mit mir tvinnern, dachte Koshmar, weil dann ihre Seele offen für mich daliegt und ich sehen kann, wie tief sie diesen Behelmten liebt. Ist es das?

Nein. Nein. Denn wir haben ja vor gar nicht allzu langer Zeit getvinnert, und ich weiß ja schon, was sie für diesen Behelmten empfindet, und sie weiß auch, daß ich das erkannt habe. Es ist etwas anderes, das sie vor mir verbergen möchte, ja, das muß es sein. Etwas Neues, etwas noch Schwerwiegenderes. Und ich glaube, ich kann erraten, was es ist.

„Also gut“, sagte Koshmar. „Ich nehme an, ich werde den Nachmittag überleben, ohne zu tvinnern.“

Sie erhob sich und bedeutete Torlyri, desgleichen zu tun.

„Koshmar, werden wir wirklich in ein paar Wochen aus Vengiboneeza fortziehen?“ fragte Torlyri.

„In einem Mond, so ungefähr. Vielleicht in sechs Wochen.“

„Vorhin hast du gesagt, höchstens ein Mond.“

„Wir werden ziehen, wenn wir dazu bereit sind. Wenn wir für die Vorbereitungen einen Mond brauchen, dann ziehen wir in einem Mond. Dauert es zwei Monde, dann eben erst in zweien.“

„Aber unser Aufbruch ist beschlossene Sache?“

„Nichts könnte mich in meinem festen Entschluß dazu wankend machen.“

„Ach“, sagte Torlyri und wandte sich ab, als hätte Koshmar ihr einen Schlag versetzt. „Dann ist alles aus.“

„Was meinst du damit?“

„Bitte, laß mich, Koshmar!“

Koshmar nickte. Nun verstand sie auf einmal alles genau. Torlyri wollte nicht mit ihr tvinnern, denn da war etwas, das Torlyri ihr nicht einzugestehen wagte, und dies war: Wenn das Volk tatsächlich aus Vengiboneeza davonziehen sollte, dann würde sie, Torlyri nicht mit ihnen ziehen. Sie gedachte bei ihrem Behelmten zu bleiben; denn sie konnte sich mit Sicherheit ausmalen, daß Koshmar dem Behelmten gewiß nicht erlauben würde, mit dem Volk zu ziehen, sofern dieser überhaupt so etwas zu tun wünschen mochte.

Ich habe Torlyri auf immer und ewig verloren, dachte Koshmar.

Sie schritten schweigend nebeneinander zur Siedlung zurück.

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