11. Kapitel Der Traum, der nicht enden wollte

Hinterher erhob sich Hresh und stand eine Weile neben dem Lager und blickte auf die schlafende Torlyri hinab. Sie lächelte in ihrem Schlummer. Er hatte befürchtet, er könnte sie womöglich verletzt haben, als sein Bewußtsein in voller Stärke in das ihrige eindrang. Aber nein: Sie würde nun ein Weilchen schlafen und dann wieder aufwachen.

Allein stieg er die Wendeltreppe hinauf und verließ den Tempel. Es war besser, er war nicht mehr da, wenn sie erwachte. Es hätte sie vielleicht beschämen können, wenn sie ihn beim Aufwachen noch an ihrer Seite gefunden hätte, wie wenn sie Tvinnr-Partner wären. Sie brauchte ein wenig Zeit, um zu sich selbst zurückzufinden und ihre Ausgeglichenheit wiederzugewinnen. Er wußte, daß die unerwartete Wucht ihrer Vereinigung eine starke Wirkung auf sie gehabt hatte.

Was Hresh selbst betraf, so war seine erste Tvinnr-Erfahrung sowohl lustvoll wie auch erleuchtend gewesen.

Eine Lust, ganz ohne Zweifel, in Torlyris warmer Umarmung zu liegen, ihre sanfte Seele mit der seinigen verschmelzen zu fühlen, in diesen merkwürdigen köstlichen Zustand der Kommunion überzugehen. Nun endlich verstand er, warum Tvinnr solch hohe Wertschätzung genoß, warum man es für eine Wonne erachtete, die noch viel stärker war als sogar die Kopulation.

Aber auch eine Erleuchtung war ihm zuteil geworden: Er hatte Torlyri zeit seines Lebens gekannt, doch nun erkannte er, daß er sie nur ganz beiläufig und oberflächlich gekannt hatte. Eine gute Frau, eine freundliche Frau, sanft und liebevoll gegenwärtig im Stamm — die die Riten vollzog, mit den Göttern redete und allen Bedürftigen Trost und Labsal spendete, eine Art Mutter für alle. Ja, so war Torlyri. Doch nun hatte Hresh erkannt, daß es andere Wesenszüge in ihr gab. In ihr ruhte große Stärke, eine erstaunliche Festigkeit der Seele. Angesichts ihrer körperlichen Kraft — sie war beinahe so stark wie ein Krieger, und in mancher Hinsicht sogar stärker — hätte er damit rechnen müssen. Solche Kraft war oft die Spiegelung innerlicher Stärke, doch er hatte sich von Torlyris Wärme, ihrer Sanftheit, ihrer Mütterlichkeit dermaßen täuschen lassen, daß er dies nicht bemerkt hatte.

Daneben aber gab es auch gewöhnliche, menschliche Aspekte an Torlyri. Sie war nicht einfach nur Ritenvollzieherin und Trostspenderin, sondern außerdem auch eine Person mit privater Existenz, mit persönlichen Ängsten, Zweifeln, Bedürfnissen und Schmerzen. Und darüber nachzudenken hatte Hresh sich bisher nicht die Mühe gemacht. Beim Tvinnr mit ihr, gerade jetzt vor wenigen Minuten jedoch, hatte er ihr heftiges Verlangen nach einem Stammeskrieger entdeckt — nach Lakkamai, vermutlich; Torlyri und Lakkamai steckten in letzter Zeit beständig beisammen —, und er hatte herausgefunden, wie vielschichtig und kompliziert ihre Beziehung zu Koshmar war, und noch etwas. eine Leere in ihr, eine Ödnis, die damit zusammenhing, daß sie kein Kind geboren hatte. Sie war die Mutter für den ganzen Stamm und dennoch niemandes leibliche wirkliche Mutter, und dies schien sie zu bedrücken, wahrscheinlich auf derart verdeckte Weise, daß sie sich dessen selbst nicht bewußt war. Hresh aber erkannte dies jetzt, und dieses Wissen hatte ihn verändert. Er begann zu begreifen, wie schwierig und verwickelt das Erwachsensein ist. Es gab dermaßen viele Lebensaspekte, die einfach nicht leicht und glatt einzuordnen waren, sondern die umherzuckten und unterschwellige Störungen bewirkten, wenn man einmal erwachsen war. Dies war — vielleicht — die wichtigste Lehre, die er aus seinem Erst-Tvinnr mitnahm.

Also — Lust und Erleuchtung. Aber war es nicht auch irgendwie ein wenig enttäuschend gewesen? Doch, das ebenfalls. Es war nicht die erschütternde, Furcht und Ehrfurcht einflößende Erfahrung gewesen, auf die er gehofft hatte. Das Erlebnis war hinter seinen Erwartungen zurückgeblieben, jedoch nur, weil er im Besitz des Wundersteins war. Beim Tvinnr erreichte man nur die Seele einer einzelnen anderen Person; mit der Hilfe des Barak Dayir hingegen kam man in Berührung mit der Seele der Welt. Schon bei seinen frühen unbeholfenen Versuchen mit dem Wunderstein war er hoch über die Wolken hinausgestiegen, er hatte über Meere hinweggeschaut, er hatte in die Zeiten vor der Ankunft der Todessterne hinabgespäht. Was bedeutete im Vergleich damit schon das Tvinnr?

Er machte sich klar, daß er ungerecht dachte. Der Barak Dayir eröffnete ihm nahezu unbegreifliche Weiten. Aber Tvinnr — das war eine ganz intime, persönliche Kleinwelt. Jedoch das eine bedeutete nicht die Negation des anderen. Und wenn er beim Tvinnr eine leise Enttäuschung verspürt hatte, so nur deshalb, weil der Wunderstein ihn bereits gelehrt hatte, wie er die Grenzen seines eigenen Denkens und Bewußtseins überschreiten konnte. Ohne diese Vorerlebnisse wäre ihm das Tvinnrerlebnis vermutlich als eine überwältigende Erfahrung erschienen. Aber der Wunderstein hatte ihn offenbar dafür untauglich gemacht, ihm sozusagen den Gaumen verdorben. Dennoch bestand kaum Anlaß, das Tvinnr auf die leichte Schulter zu nehmen. Es war etwas ganz Außergewöhnliches, etwas Erstaunliches.

Er nahm sich vor, so bald wie möglich ein weiteres Tvinnr zu veranstalten. Und zwar mit Taniane.

Dieser Gedanke sprang ihm mit derartiger Heftigkeit ins Gehirn und kam so urplötzlich, daß ihm davon die Luft wegblieb, wie wenn jemand ihm einen fürchterlichen Hieb zwischen die Schulterblätter versetzt hätte. Seine Kehle wurde strohtrocken, der Atem ging ihm stockend. Sein Herz begann zu hämmern und dumpf zu dröhnen wie eine Trommel, und so laut, daß es die anderen unbedingt hören müßten, glaubte er. Tvinnr mit Taniane! Was für eine erstaunliche Idee!

Für ihn war das Mädchen ein Rätsel. Schon seit langem hatte er eine Art mysteriöser Verbindung und Hingezogenheit zu ihr verspürt. Aber furchtsam hatte er sich dagegen gewehrt, weil es eine Ablenkung von seinen wesentlichen Aufgaben bedeutet hätte; und überdies hatte er auch befürchtet, er könnte dadurch zu etwas Üblem verführt werden.

Sie war inzwischen Frau, und eine schöne Frau, und außerdem verfügte sie auch noch über eine ungewöhnlich hohe Intelligenz. Und ehrgeizig war sie auch. Sie träumte davon, eines Tages Koshmars Rang als Stammeshäuptling einzunehmen, daran gab es wohl kaum Zweifel. Jeder mit nur einem Quentchen Grips mußte das erkennen, wenn er sah, mit welch neiderfülltem Blick sie Koshmar betrachtete. Und manchmal ertappte Hresh sie auch dabei, wie sie ihn aus der Ferne beobachtete, wie sie dabei so seltsam starrte, wie die Frauen es tun, wenn ein Mann sie interessiert. Und manchmal schaute auch er selber sie sich ganz fest an, aus der Ferne, und wenn er glaubte, sie habe ihn nicht bemerkt. Oft betrug sie sich kindisch ihm gegenüber und kokett. Sie lief ihm nach, sie verlangte, daß er sie auf seine Expeditionen in die Ruinen mitnehme, sie beschoß ihn mit Fragen, deren Beantwortung durch ihn für sie von höchster Wichtigkeit zu sein schien. Er wußte nicht so recht, wie er sich das alles deuten solle. Gelegentlich kam ihm der Gedanke, daß sie nur mit ihm spiele und daß sie eigentlich und wirklich an Haniman interessiert sei.

Und das wäre wahrlich unerträglich quälend gewesen — für einen Haniman als ihren Favoriten abzublitzen. Nein, das war ein Risiko, das einzugehen er keine Lust hatte.

Heute jedoch schien alles anders zu sein. Er hatte seine erste Tvinnr-Erfahrung hinter sich, und die ganze komplizierte Welt der Erwachsenen lag offen vor ihm. Er mochte ja der ‚Alte Mann‘ des Stammes sein, aber schließlich war er daneben auch noch ein junger Mann, und er sehnte sich nach Taniane.

Also begab er sich auf die Suche nach ihr.

Es war in der Mitte des Nachmittags, und es hatte aufgeklart und die Sonne schien. Das Himmelsdach schien auf und nieder zu schwingen, als hinge es an Schnüren. Die Ränder aller Dinge, die Hresh sah, wirkten verblüffend scharf, die Begrenzungen zwischen einem Objekt und dem nächsten waren wie mit dem Messer geschnitten. Die Farben vibrierten und pulsierten. Es war, als hätte das Tvinnr seine Seele für inendlich viele starke neue Eindrücke geöffnet.

Aus einer Seitengasse tauchte Orbin auf und kam pfeifend auf Hresh zugeschlendert.

Hresh hielt ihn an. „Hast du Taniane gesehen?“

„Da drüben.“ Orbin wies auf ein Gebäude, in dem einige der jüngeren Funde der Sucher aufbewahrt wurden. Dann wollte er weiterschlendern, blieb aber stehen und warf Hresh einen zweiten prüfenden Blick zu. „Stimmt was nicht?“

„Was nicht stimmen? Wieso?“ Hresh war ziemlich aufgeregt. „Was meinst du damit, was nicht in Ordnung?“

„Deine Augen sind so komisch.“

„Das bildest du dir bloß ein, Orbin.“

Orbin zuckte die Achseln. „Hm, vielleicht.“

Und er begann wieder zu pfeifen. Und mit einem Lächeln, das unangenehm wissend und hochmütig war, strolchte er davon.

Bin ich wirklich dermaßen leicht zu durchschauen? fragte sich Hresh. Mit einem einzigen Blick auf mich kann Orbin alles herauslesen, was in mir vorgeht?

Er lief eilig zu dem Lagerhaus der Sucher, wo er auf Konya und Praheurt und Taniane stieß, aber zu seiner großen Erleichterung war Haniman nicht dabei. Sie standen allesamt über ein unvertrautes Fundexemplar von Maschine gebeugt, von der in merkwürdigen Winkeln Arm- und Beingliedmaßen aus Metall hervorstrebten, und sie stocherten zaghaft daran herum.

„Hresh!“ rief Praheurt laut. „Komm mal her und schau dir an, was Konya und Haniman mitgebracht haben von.“

„Später“, sagte Hresh. „Taniane, ich möchte mit dir reden. Willst du?“

„Aber sicher.“ Sie blickte zu ihm auf. „Worum geht’s denn, Hresh?“

„Vielleicht — draußen?“

„Wieso, können wir nicht hier reden?“

„Bitte, nein. Draußen!“

„Also, wenn du darauf bestehst.“ Sie schaute verwundert drein und machte eine Handbewegung zu Praheurt und Konya, als wollte sie ihnen bedeuten, daß sie gleich zurückkehren wolle. Hresh geleitete sie ins Freie.

Der warme Windhauch war betäubend. Hresh war ganz benommen von der Schönheit des dichten Fells von Taniane und von dem gespenstischen Glanz und Schimmer ihrer seltsamen Augen. Sie standen schweigend da, während er nach Worten suchte, nach einem Anfang. Verstohlen spähte er umher, um sich zu vergewissern, daß kein Haniman irgendwo in der Nähe lauerte.

„Also die Sekunde Zeit hättest du dir schon nehmen und dir anschauen können, was wir heute gefunden haben“, sagte sie. „Wir sind uns zwar nicht sicher, was es ist, aber.“

„Ach, vergiß das jetzt mal“, sagte er mit gepreßter Stimme. „Taniane. ich habe heute mein Erst-Tvinnr gemacht.“

Sie sah überrascht, ja vielleicht sogar ein wenig beunruhigt drein, weil er damit so direkt herausplatzte. Ihr Blick war gesenkt, unter den Lidern verborgen. Aber dann verwandelte sich ihr Gesichtsausdruck. Es breitete sich ein nicht völlig unbefangenes Lächeln über ihre Züge, und sie sagte — mit vielleicht etwas zu betonter Begeisterung: „Oh, Hresh, wie wahnsinnig ich mich für dich freue! Es war ein sehr schönes Tvinnr, nicht wahr?“

Er nickte. Irgendwie lief die Sache nicht in die erwünschte Richtung. Also schwieg er weiter.

„Was wolltest du mir denn sagen, Hresh?“

Er holte tief Luft. „Ich will mit dir tvinnern, Taniane“, blubberte er hervor.

„Tvinnern — mit dir?“

„Ja. Gleich jetzt.“

Einen Entsetzensaugenblick lang glaubte Hresh, Taniane könne in schallendes Gelächter ausbrechen. Aber nein, nein, ihre Augen waren weit aufgerissen, die Lippen entblößten die Zähne, in ihrer Kehle zeigte sich eine seltsame Schluckbewegung.

Sie sieht aus, wie wenn sie Angst hätte, dachte er.

„Jetzt?“ sagte sie. „Gleich? Tvinnern?“

Und nun konnte er natürlich nicht mehr kneifen. „Ja. Komm mit! Wir können weit in die Stadt hineingehen. Ich kenn da einen guten Platz, ich zeige ihn dir.“

Er griff nach ihr, und sie wich vor ihm zurück.

„Nein — bitte, nicht, Hresh. Nicht — du machst mir angst.“

„Aber das will ich doch gar nicht. Komm, tvinnere mit mir, Taniane!“

Sie wirkte schockiert, oder vielleicht war sie auch beleidigt, oder nur ganz einfach verärgert, er hätte nicht sagen können, was genau mit ihr los war.

„So hab ich dich ja noch nie gesehen. Hast du den Verstand verloren? Ja, ganz bestimmt, das muß es sein. Du bist verrückt geworden.“

„Aber, ich habe doch bloß gesagt.“

Sie blitzte ihn wütend an. „Wenn du nicht verrückt bist, dann mußt du ja wohl glauben, daß ich es bin. Du kannst doch nicht einfach so auf jemand zukommen und ihn bitten, er soll mit dir tvinnern, Hresh! Weißt du das denn nicht? Und dieser wilde Blick in deinen Augen. Du solltest dich mal selber sehen!“ Taniane schauderte zusammen und machte mit den Händen eine abwehrende, nein mehr, eine ihn fortjagende Bewegung. „Geh weg von mir! Bitte. Bitte! Laß mich bitte in Ruhe, Hresh!“ Und nun war da auch ein Schluchzen in ihrer Stimme, und sie wich noch weiter von ihm zurück.

Und Hresh stand wie gelähmt da, war entsetzt und fühlte sich elend. Das bleierne Gefühl, alles falsch gemacht zu haben, bemächtigte sich seiner mehr und mehr. Er erkannte, wie überstürzt und vorschnell er gewesen war, wie plump, wie dümmlich. Und damit hatte er alles verspielt, an diesem einen Tag, der ein Tag gewaltiger Freude hätte sein sollen.

Was bin ich doch für ein Narr! dachte er.

Dort stand sie, zehn Schritt von ihm entfernt, stand ebenso erstarrt und bewegungslos und stierte ihn an, als hätte er sich plötzlich in eine Bestie der Wildnis verwandelt, in ein abscheuliches Untier mit geifernden Lefzen und flammenden Augen. Er sehnte sich danach, daß sie sich einfach umdrehen und davonlaufen möchte, daß sie ihn mit seiner Schmach und seiner Beschämung allein lassen möchte, doch sie blieb immer nur weiter dort wie festgewurzelt stehen und starrte ihn auf diese merkwürdige Weise an.

Und dann, während er gleichfalls starr dastand und am liebsten in Grund und Boden versunken wäre, ertönte von weither, vom Stadttor vielleicht, ein heiseres Geschrei und erlöste ihn zunächst einmal von weiteren Qualen.

„Die Behelmten! Die Helmleute kommen! Die Behelmten kommen!“

Koshmar lag im Halbschlummer in ihrer Bettkammer, als sich das Alarmgeschrei erhob. Es war ein schlechter, ein bedrückter Tag für sie gewesen, der schlimmste in einer ganzen Reihe von schlechten Tagen. Nicht einmal das Ende der Regen und der Übergang zu diesem klaren Trockenwetter hatte sie aus ihrer düster-dumpfigen Niedergedrücktheit emporheben können. Ihre Seele war geschwollen von einem Gedanken: Torlyri und Lakkamai, Lakkamai und Torlyri.

Dabei sollte sich doch deswegen gar nichts ändern müssen. Tausendmal hatte sie sich das vorgebetet. Torlyri würde immer und ewig ihre Tvinnr-Partnerin bleiben. Und Tvinnr war die einzig wahre, einzig echte Verschmelzung. Wenn Torlyri nun auf einmal ein Verlangen nach der Kopulation verspürte, oder sogar nach einer Zeugungspartnerschaft — obwohl, wer hätte je davon gehört, daß eine Opferpriesterin sich einen Mann genommen hätte? —, also, selbst dies sollte eigentlich nichts ändern. Torlyri würde trotz allem noch immer ihren Tvinnr-Partner nötig haben. Und dieser Partner, der würde sie sein. Koshmar!

Würde sie das wirklich sein?

Es war unter Zeugungspaaren üblich, daß der geschlechtliche Partner auch der Tvinnr-Partner sei. Im übrigen Stammesvolk kopulierte man (oder auch nicht), mit jedem, zu dem man Lust verspürte, aber daneben hatte man eben seinen ganz eigenen und persönlichen Tvinnr-Partner.

Doch dies war das Gesetz des Kokons gewesen. Und nun lebten sie im Neuen Frühling.

Mit all ihrer Seelenkraft hatte es Koshmar danach verlangt, die Frau zu sein, die den Stamm aus dem Kokon in den Neuen Frühling führen würde. Nun, dies hatte sie getan, und was hatte es ihr eingetragen? Nichts als Verwirrung, Zweifel und Elend? Da lag sie, am hellichten Nachmittag, in sich verkrochen und verzweifelt, auf ihrem Bett, während um die Türme von Vengiboneeza blitzende silberne Sonnenspeere tanzten. Und sie? Stunde um Stunde brütete und brütete sie. In diesem Augenblick jetzt schien ihr die Zukunft nur aus unlösbaren Rätseln und Verzweiflung zu bestehen. Nie hatte sie sich dermaßen hoffnungslos gefühlt.

Eine heisere Stimme vor ihrem Fenster krächzte: „Die Behelmten! Das Helmvolk! Die Behelmten kommen!“

Und fast ehe der Sinn des Gebrülls ihr bewußt werden konnte, war Koshmar von ihrem Bett aufgesprungen, und ihr Herz pochte heftig, ihr Fell sträubte sich stachlig, ihr Körper und ihr Geist waren in voller Kampfbereitschaft.

Eine wilde wütende Freude quoll in ihr auf. Versuchte ein feindlicher Stamm einzudringen? Na gut! Sollen sie nur kommen. Denen würde sie es schon besorgen. Ihr war das gerade recht. Es war besser, mit den Waffen gegen einen Feind zu kämpfen, als sich hier in aberwitzigen elendigen Grübeleien zu vergraben.

Sie wählte aus ihrem Maskenarsenal die Nialli-Maske, welche die wildeste und grimmigste von allen war. Nialli, so ging die Sage, war ein Häuptling gewesen, in deren Herzen sich der Mut von zehn Kriegern versammelt hatte. Die Maske war ein blitzendes schwarzgrünes Ding, halb so breit wie lang, und mit sechs scharfen blutroten Stacheln bestückt, die auf allen Seiten steil hervorragten. Das Ding lastete schrecklich schwer auf Koshmars Wangenknochen. Schmale Sehschlitze ermöglichten ihr eine gewisse Sicht.

Sie warf sich eine gelbe Rangschärpe um die Schultern. Sie ergriff ihren Häuptlingsspeer. Und sie lief auf die Straßenkreuzung hinaus, die vor dem Tempelturm lag.

Wild und wie verrückt liefen die Leute vom Volk in sämtliche Richtungen.

„Haltet ein!“ brüllte Koshmar. „Allesamt — stillgestanden! Her zu mir! Hierher!“

Sie erwischte die junge Weiawala am Handgelenk, als diese an ihr vorbeirannte. Das Mädchen schien vor Entsetzen halb von Sinnen, und Koshmar mußte sie heftig rütteln und schütteln, ehe sie sich einigermaßen wieder unter Kontrolle bekam. Aus ihr brachte Koshmar schließlich bruchstückhaft heraus, was vorging. Eine Heerschar häßlicher Fremder, die auf furchtbaren tierischen Ungeheuern ritten, waren durch das Südtor in die Stadt eingezogen, drüben an jenem Ort, wo die Mechanischen der Saphiräugigen plaziert waren. Sie führten Sachkor als Gefangenen mit sich. Und sie strebten hierher, auf die Siedlung zu.

„Wo sind die Krieger?“ fragte Koshmar.

Konya, erklärte einer, war bereits zum Tor. Staip und Orbin waren zu ihm geeilt. Auch Hresh war bei ihnen, wahrscheinlich auch Praheurt. Lakkamai war angeblich im Anrücken. Keiner hatte Harruel gesehen. Koshmar sah Minbain in der Menge und schrie ihr zu: „Wo ist dein Mann?“ Aber Minbain wußte es nicht. Boldirinthe sagte, sie habe gesehen, wie Harruel, mürrisch und düster, wie so oft in jüngster Zeit, am frühen Morgen allein in die Berge aufgebrochen war.

Koshmar fauchte und spuckte. Die Feinde vor dem Tor, und ihr kräftigster und kundigster Krieger schlich sich in die Berge, um dort zu schmollen! Und dann noch eben jener, der ein solches Theater veranstaltet hatte, daß man Tag und Nacht Wache und Ausschau halten müsse gegen einen Angriff der Behelmten. und wo war er jetzt, wo die Behelmten wirklich kamen?

Nun was! Wenn nötig, sagte sie sich, kann ich auch ohne Harruel zurechtkommen.

Sie schwenkte ihren Speer über dem Haupt. „Die Frauen und Kinder — in den Tempel, und verbarrikadiert die Pforten des Allerheiligsten hinter euch! Die übrigen — mir nach! Salaman! Thhrouk! Moarn!“ Sie schaute sich verwundert um. Wieso war Torlyri nicht da? Sie konnte nur mit Mühe sehen unter der Nialli-Maske; die scharf vorspringenden Stachelstrahlen verhinderten die Sicht zu beiden Seiten fast ganz. Aber es war eine schreckeinflößende Maske. „Torlyri?“ fragte sie. „Hat jemand Torlyri gesehen?“ Denn Torlyri war im Kampf so viel wert wie irgendein Mann.

Dann erinnerte sie sich, daß Torlyri ja mit Hresh fortgegangen war, um ihm seine Erst-Tvinnr-Initiation zu erteilen. Ja, schön und gut, aber Hresh war ja angeblich drunten an der Pforte, um die Eindringlinge abzuwehren. Also, wo war Torlyri? Und wie kam Hresh dazu, sein unersetzliches Leben am Tor aufs Spiel zu setzen? Jedenfalls, sie durfte nicht noch mehr Zeit verlieren. Koshmar wandte sich zu Threyne, die mit vor Angst glasigen Augen dastand und ihr Kind an sich preßte, und scheuchte sie zornig zum Tempel. „Lauf schon! Versteck dich! Wenn du Torlyri dort triffst, sag ihr, sie kann mich am Südportal finden. Und sag ihr, sie soll ihren Speer mitbringen!“

Dann rannte Koshmar über den Großen Boulevard in Richtung auf den Platz am Tor zu.

Auf halber Strecke gewahrte sie ihre Krieger, die in Reih und Glied quer den Boulevard absperrten: Orbin, Konya, Staip, Lakkamai, Praheurt. Auch der alte Anijang war dabei — und Hresh. Sie blickten gen Süden und standen unbeweglich wie Statuen, völlig ohne Bewegung und dermaßen weit auseinander, daß sie als Verteidigungslinie praktisch nutzlos waren. Koshmar begriff nicht, warum sie sich dermaßen blöd aufgestellt hatten.

Als sie dann jedoch näher herankam, blieb auch sie plötzlich stehen und starrte verblüfft zum Südtor.

Ober den Boulevard kam langsam ein phantastischer Zug näher.

Die Behelmten waren wirklich erschienen: dreißig, vierzig, fünfzig, vielleicht mehr. Und sie ritten auf den erstaunlichsten Reittieren, die Koshmar jemals gesehen hatte oder sich hätte vorzustellen vermögen. Riesige ungeschlachte Bestien waren das. Kolossale Ungeheuer, groß wie wandelnde Berge, doppelt so hoch wie ein Mann oder höher, und dreimal so lang, wie sie hoch waren. Bei jedem ihrer Schritte wankte die Erde wie bei einem Beben. Der dicke, zottige, verfilzte Pelz dieser gewaltigen Tiere brannte scharlachrot schmerzlich in den Augen. Die hochschädeligen Köpfe waren lang und schmal, mit Ohren wie Schüsseln und höhlentiefen schwarzgesäumten Nüstern und feurig glühenden bestürzend großen Augen. Ihre vier mächtigen Beine, die im Knie merkwürdig gebogen waren, endeten in schrecklichen gekrümmten schwarzen Klauen, die nach hinten bis fast zur Höhe der wulstigen Knöchel hochgebogen waren. Auf ihrem Rücken ragten zwei turmhohe Höcker empor, mit einer Art natürlichem Sattel dazwischen, der auf jedem Tier zwei Behelmten bequemen Sitz bot.

Aber waren die Bestien schon schrecklich, auf denen die Behelmte Horde nach Vengiboneeza hereingeritten kam, so waren diese selber wie Gestalten aus einem Alptraum.

Alle hatten sie die gleichen karmesinroten Augen wie jener Späher, den Harruel und Konya vor langer Zeit gefangen hatten, und ein feines Goldfell. Und jeder von ihnen trug einen riesigen schauderlichen Helm, von denen nicht zwei einander glichen. Der eine war ein dreieckiger Turm aus Metallplatten mit dunklen vorragenden Bolzen ringsum und mit einem Goldflammenmuster vorn am Visier. Ein anderer Helm war wie eine gewölbte Schüssel aus Schwarzmetall mit zwei riesenhaften spiegelblanken Metallaugen am Oberrand. Ein anderer war eine kahle tiefgezogene Halbmaske, gekrönt von drei rechteckigen schildartigen Platten darüber. Ein Krieger trug ein Ding, das aussah wie ein lackierter, mit Silber bestäubter Berg; wieder ein anderer einen verbluffenden rotgelben Kegel mit gewaltigen Hörnern; ein weiterer eine scharfe Pickelhaube aus Gold, von der sich zwei grüne Ringelschwänze in unendliche Höhen wanden. Es war nichts Menschliches an diesen Helmen. Sie wirkten wie aus einer fremden Welt, einer dunklen Schreckens weit. Es war schwer zu unterscheiden, wo der Krieger endete und wo der Helm begann, und dies machte die Eindringlinge nur noch furchterregender und abstoßender.

Sachkor ritt in der Mitte des Trupps auf einem der größten der scharlachroten Bestien. Man hatte auch ihm einen Helm aufgesetzt, kleiner zwar als sämtliche anderen, doch genauso fremdartig, mit gebogenen Eisenplatten, die wie die Petale einer umgestülpten Blüte angeordnet waren und über denen ein goldener Stachel aufragte. Auf dem Buckel des mächtigen Geschöpfes sah seine schlanke Gestalt ziemlich verloren aus, und er hockte still dort, als träumte er. Sein Gesicht war ausdruckslos.

Dieser Stamm ist gewißlich ein Stamm von Ungeheuern, die auf Ungeheuern reiten, dachte Koshmar. Und sie sind durch das Tor hereingedrungen; und damit ist für uns alles verloren. Doch wir werden tapfer kämpfen und sterben, ehe wir ihnen Vengiboneeza preisgeben.

Sie blickte zu Konya, zu Staip, zu Orbin.

„Nun?“ rief sie. „Wollt ihr dastehen und nur Maulaffen feilhalten, während sie anrücken? Greift an! Tötet ihrer so viele, wie ihr könnt, bevor sie uns erschlagen!“

„Angreifen? Wie könnten wir angreifen?“ Konya sprach sehr ruhig, doch mit einem Ton, der weitum zu hören war. „So schau dir doch die Größe ihrer Reittiere an! Wir können niemals derart hoch hinaufreichen. Diese Monster würden uns einfach zerstampfen, als wären wir Ungeziefer.“

„Was soll der Unsinn? Stoßt einfach auf die Beine und Bäuche der Bestien zu und bringt sie zu Boden! Und dann erledigt die Reiter!“ Koshmar schwang ihren Speer. „Vorwärts! Sturmangriff!“

„Nein!“ sagte Hresh plötzlich. „Das sind keine Feinde.“

Verwirrt schaute Koshmar ihn an. Dann brach sie in ein rauhes Lachen aus. „Recht hast du, Hresh. Es sind nichts weiter als Gäste. Sachkor hat sie herbeigeführt, sie und ihre kleinen Schoßtierchen, um uns mal zu besuchen, und sie werden mit uns das Abendmahl teilen und morgen wieder abziehen. Ist es das, was du glaubst?“

„Sie sind nicht zum Kampf gekommen“, sagte Hresh. „Richte dein Zweites Gesicht auf sie, Koshmar. Sie kommen in friedlicher Absicht.“

„Friedlich!“ sagte Koshmar verächtlich und spuckte aus.

Doch in Hreshs Gesicht sah sie einen ihr völlig neuen Ausdruck, einen Ausdruck von derartiger Festigkeit und Eindringlichkeit, daß er ihr durch und durch fuhr. Plötzlich hatte sie das Gefühl, es wäre vielleicht unklug, sich Hresh in dieser Sache zu widersetzen, denn manchmal schaute er Dinge, die kein anderer sonst zu sehen vermochte. Mühsam beruhigte sie sich, zwang die brodelnde Kampfeslust in ihrer Seele nieder und sandte ihr Zweites Gesicht der heranrückenden Horde entgegen.

Und Hresh hatte die Wahrheit gesprochen.

Sie vermochte dort keine Feindschaft auszumachen, keinen Haß, keinerlei Bedrohung.

Doch selbst nun brachte Koshmar es nicht über sich, dem Willen des Knaben nachzugeben. Zornig schüttelte sie den Kopf. „Eine List“, sagte sie. „Verlaß dich da auf mich, Hresh. Du bist weise, aber du bist noch jung und weißt nichts von der Welt. Diese Leute da haben eine Methode, den Schein zu erwecken, als brächten sie keine Gefahr. Doch betrachte dir doch die Rüstungen, die sie tragen! Sieh die Ungeheuer, auf denen sie reiten! Nein, die sind gekommen, um uns zu töten, Hresh, und um uns Vengiboneeza zu entreißen.“

„Nein!“

„Und ich sage, ja! Und ich sage, wir müssen sie schlagen, ehe sie uns vernichten!“ Und Koshmar stampfte wütend mit dem Fuß auf den Boden. „Harruel! Wo ist Harruel? Er würde das verstehen! Der wäre jetzt bereits dort vorn mitten unter ihnen und würde sie von ihren Tieren schleudern!“ Sie blickte alle der Reihe nach an, von Orbin zu Konya, von Konya zu Staip, von Staip zu Lakkamai. Dann sprach sie: „Nun? Wer von euch kommt mit mir? Wer kämpft an meiner Seite? Oder muß ich allein in den Kampf gehen und sterben?“

„Siehst du denn nicht, Koshmar?“ Hresh zeigte an ihrer Schulter vorbei.

Sie wandte sich um. Das donnernde Stampfen der großen schwarzkralligen Beine hatte aufgehört. Die anrückende Horde hielt vielleicht hundert Schritt, vielleicht etwas weniger vor ihnen auf dem Boulevard an. Eins nach dem anderen begannen die riesenhaften roten Tiere niederzuknien, wobei sie ihre seltsam konstruierten Knie auf bizarre Art knickten. Die behelmten Reiter sprangen ab. Und schon strebte ein Halbdutzend der Eindringlinge mit Sachkor in ihrer Mitte über den großen Boulevard auf sie zu, als wollten sie verhandeln.

„Koshmar?“ rief Sachkor.

Sie hielt den Speer angriffsbereit. „Was haben sie dir getan? Wie haben sie dich gefangen? Haben sie dich gefoltert, Sachkor?“

„Du verstehst das falsch“, sagte Sachkor ruhig. „Sie haben mir kein Leid getan. Und sie haben mich auch nicht gefangen genommen. Ich bin aus der Stadt gezogen, um sie zu suchen, weil ich glaubte, daß sie irgendwo in der Nähe sein müßten, und als ich sie schließlich fand, empfingen sie mich mit Freuden.“ Seine Stimme klang ganz fest. Er sah älter aus, weiser, gesetzter, als er es bei seinem Verschwinden zu Beginn des Jahres gewesen war. „Diese Leute sind das Beng-Volk“, sprach er weiter, „und sie haben ihren Kokon schon viel füher verlassen als wir. Sie kommen von einem fernen Ort am anderen Ufer des großen Flusses, an dem wir einst lebten. Sie sind anders als wir, doch sie hegen gegen uns keinen Haß.“

Hresh nickte dazu. „Er spricht die Wahrheit, Koshmar.“

Koshmar begriff noch immer gar nichts. Sie hatte ein Gefühl, wie wenn sie hilflos von einem dahinschießenden Sturzbach davongerissen würde. Krieg und Kampf konnte sie begreifen, das da aber nicht.

„Sie belügen dich“, murrte sie störrisch. „Es ist eine Hinterlist.“

„Nein, Koshmar. Keine List. Und kein Trug.“

Sachkor wies auf zwei der Behelmten, und diese traten vor und stellten sich an seine Seite. Der eine war alt und hatte pfiffige Augen, und er wirkte irgendwie vertrocknet und runzlig, was Koshmar ein wenig an Thaggoran, ihren Stammeschronisten, erinnerte. Sein Pelz war fahlgelb, beinahe weiß; er trug einen spitzkegeligen Helm, der sich aus prächtig punzierten verschiedenfarbenen Metallreifen zusammensetzte und in einer gerundeten Spitze endete. Gewaltige schwarze Metallohren sprangen an den Seiten hervor wie Flügel.

„Dies ist Hamok Trei“, sagte Sachkor. „Er ist ihr Häuptling.“

„Der? Ein Mann als Häuptling?“

„Ja“, sagte Sachkor. „Und dieser hier ist ihr Weiser Mann, also was wir den Chronisten nennen würden. Sein Name lautet Noum om Beng.“ Er deutete auf einen wuschelbärtigen Mann, beinahe so alt wie Hamok Trei, aber noch verhutzelter und verwitterter als dieser. Er war erstaunlich hochgewachsen, weit größer als Harruel, doch dermaßen schlank und zerbrechlich, daß er kaum kräftiger als ein Schilfrohr wirkte. Noum om Beng stand nach vorn gekrümmt da. Sein Helm war ein verbluffendes Ding aus schwarzem Metall mit Büscheln grober schwarzer Haare, und ein Paar langer gekrümmter blauroter Auswüchse, vielgliedrig und gezackt und irgendwie an Fledermausflügel erinnernd, ragte seitlich nach oben.

Noum om Beng trat ein, zwei Schritte dichter an Koshmar heran und schlug eine Reihe Zeichen in die Luft vor ihr, die beinahe die Zeichen der Großen Fünf hätten sein können, nur daß sie es eben nicht waren. Die Gesten waren verschieden und ergaben für Koshmar keinen begreifbaren Sinn. Irgendwelche heiligen Symbolzeichen waren es gewiß, aber sie mußten zu einer vollkommen anderen Götterschar gehören.

Aber, wie denn das? Wie konnte es andere Götter geben? Der Gedanke ergab keinen Sinn. Und sie erinnerte sich, wie Hresh es ihr damals zu erklären versucht hatte, als sie den Behelmten zu befragen versucht hatten, daß der Fremdling vielleicht eine andere Sprache spreche — also andere Wörter als sie benutze, auch wenn deren Bedeutung die gleiche sei. Widerstrebend hatte Koshmar diese Möglichkeit zugegeben, so verwirrend sie auch sein mochte. Aber auch noch andere Götter? Fremde Götter? Es gibt keine anderen Götter als die Fünf. Und dieses Volk da würde kaum zu nicht-existierenden Göttern beten, außer es war ein Volk von Verrückten. Und dafür hielt Koshmar die Behelmten nicht.

So sprach sie zu Sachkor: „Woher kommt dir Kunde von ihren Namen und ihrem Rang? Kannst du mit ihnen reden?“

„Ein wenig“, sagte Sachkor. „Anfangs konnte ich sie überhaupt nicht verstehen, und sie mich auch nicht. Doch ich stürzte mich in die Aufgabe, und nach und nach gelang es mir, ihre Sprache zu erlernen.“ Er lächelte. Er schien sich Mühe zu geben, aber keine allzu gewaltige, nicht zu zeigen, wie zufrieden er mit sich war.

„Dann sage diesem Häuptling da, er soll etwas zu mir sprechen.“

„Der Häuptling spricht selten. Noum om Beng spricht an seiner Stelle.“

„Dann bitte diesen.“

Sachkor wandte sich dem gespenstischen Greis zu und sagte etwas zu ihm, das für Koshmars Ohren wie das Gebell einer Bestie klang. Noum om Beng runzelte die Stirn und zupfte an seinem schütteren weißen Bart. Sachkor bellte noch einmal, und darauf nickte der Alte und bellte etwas zurück. Und mit großem Nachdruck sprach Sachkor ein drittesmal. Aber was er diesmal gesagt hatte, war wohl nicht ganz richtig gewesen, denn Noum om Beng wandte taktvoll den Blick ab, während die anderen in der Parlamentärgruppe der Behelmten in scharfes Gelächter ausbrachen. Sachkor wirkte beschämt; Noum om Beng lehnte sich schwankend zur Seite und sprach flüsternd mit Hamok Trei, dem Häuptling.

Koshmar ihrerseits murmelte Hresh zu: „Was glaubst du, was da vorgeht?“

„Es ist wahre Rede“, antwortete Hresh. „Sachkor versteht sie, wenn auch nicht gut genug. Ich selbst kann sie auch beinahe verstehen. Die Worte sind wie bei uns, aber alles ist ein bißchen verdreht und auseinandergerissen. Mit dem Zweiten Gesicht kann ich die zugrundeliegende Bedeutung erfühlen — oder doch wenigstens den Schatten von Bedeutung.“

Koshmar nickte. Inzwischen war ihr Vertrauen in Hreshs Einblick in die Geschehnisse gewachsen, und es erschien ihr immer unwahrscheinlicher, daß die Behelmten in kriegerischer Absicht hergekommen sein könnten. Sogar ihre Helme verloren allmählich etwas von ihrer Schrecklichkeit, je mehr sie sich an sie gewöhnte. Sie waren dermaßen wuchtig und dermaßen deutlich und raffiniert auf Abschreckung hin gearbeitet, dachte Koshmar, daß sie in Wirklichkeit sogar eher komisch als sonstwie wirkten; obwohl — auf ihre lächerliche Art waren sie dennoch sehr beeindruckend. Doch ein Rest Argwohn hielt sich noch in ihrer Brust. Sie war in dieser Sache ganz hilflos, unfähig sich verständlich zu machen, ja selbst zu verstehen, und als Ratgeber und Richtschnur und für alles andere hatte sie diesen Jungen, der der Alte Mann ihres Stammes war, und diesen unreifen Jungmann Sachkor, ausgerechnet die zwei aus dem ganzen Stamm, und sie mußte sich auf sie verlassen. Das war peinlich. Alles in allem — sie fühlte sich zutiefst unbehaglich.

Noum om Beng wandte nun seine Aufmerksamkeit wieder Koshmar zu und begann mit Lauten zu reden, die ihr wie ein Gemisch von Geheul und Gebell tönten. Es fiel ihr nicht leicht, sich an die Art zu gewöhnen, wie diese Bengs sich auszudrücken beliebten, und mehrmals kostete es sie einige Mühe, nicht zu grinsen. Doch obschon sie überhaupt nichts verstand, erkannte sie doch, daß es sich um eine feierliche, floskelnreiche Rede handelte, um etwas Gewichtiges und Wichtiges.

Sie lauschte also angestrengt und schüttelte von Zeit zu Zeit zustimmend den Kopf. Da es anscheinend nicht zum Kampf kommen würde — jedenfalls nicht unmittelbar, gebührte es sich einfach, daß sie diese Fremdlinge mit staatsfraulicher Würde empfing.

„Kannst du irgendwas verstehen?“ flüsterte sie Sachkor nach einer Weile zu.

„Ein wenig. Er sagt, sie kommen in Frieden und suchen Tauschhandel und Freundschaft. Er bedeutet dir, daß Nakhaba sein Volk nach Vengiboneeza geführt hat, und daß sie eine Weissagung haben, daß sie hierher gelangen und hier Freunde finden würden.“

„Nakhaba?“

„Ihr Hauptgott“, sagte Sachkor.

„Aha“, brummte Koshmar. Noum om Beng fuhr in seinem feierlichen Gebell fort.

In ihrem Rücken vernahm Koshmar Schritte und Gemurmel. Weitere Stammesangehörige fanden sich ein. Sie blickte sich um und sah die meisten der Männer und sogar ein paar von den Frauen — Taniane, Sinistine, Boldirinthe und Minbain.

Auch Torlyri war eingetroffen. Das gab ihr ein gutes Gefühl, sie hier zu sehen. Sie wirkte ungewöhnlich angespannt und erschöpft; trotzdem, ihre bloße Nähe spendete Koshmar großen Trost. Sie trat neben Koshmar und berührte sie sacht am Arm.

„Man hat mir gesagt, Feinde sind in die Stadt gedrungen. Wird es zum Kampf kommen?“

„Es sieht nicht so aus. Anscheinend sind das keine Feinde.“ Koshmar zeigte auf Noum om Beng. „Der da ist ihr Alter Mann. Er hält uns gerade eine Ansprache. Ich fürchte, er findet kein Ende damit.“

„Und was ist mit Sachkor? Geht’s ihm gut?“

„Er hat sie entdeckt. Ist allein losgezogen und hat sie aufgespürt und sie nach Vengiboneeza geführt.“ Koshmar legte einen Finger auf die Lippen. „Aber ich soll eigentlich zuhören.“

„Um Vergebung“, flüsterte Torlyri.

Noum om Beng sprach noch eine kleine Weile weiter, dann kam er zum Ende seiner Rede und brach praktisch mitten in einem Heulen ab und trat wieder neben Hamok Trei zurück. Koshmar blickte Sachkor fragend an.

„Worum ging es bei dem Ganzen?“

„Um die Wahrheit zu sagen, ich hab nicht sehr viel davon mitbekommen“, sagte Sachkor mit entwaffnendem Lächeln. „Aber der Teil ganz zum Schluß war ganz klar. Er lädt uns alle heute abend zu einem Fest ein. Sein Volk spendiert das Fleisch und den Wein. Sie halten mit großen Fleischtierherden dicht vor der Stadt. Wir sollen ihnen einen Platz anweisen, wo sie ihr Lager aufschlagen können, und wir sollen ihnen etwas Holz für ihr Feuer geben. Den Rest erledigen sie.“

„Und du glaubst, ich sollte ihnen trauen?“

„Das glaube ich.“

„Und du, Hresh?“

„Sie sind bereits in der Stadt, und sie sind mindestens so viele wie wir, und ich vermute, diese roten Zotteltiere da könnten sich in einem Kampf als scheußlich erweisen. Da sie behaupten uns freundlich gesonnen zu sein, und sich ja auch tatsächlich so aufzuführen scheinen, sollten wir ihr Freundschaftsangebot zunächst einmal als ehrlich gemeint annehmen, bis wir einen Grund haben, unsere Ansicht zu ändern.“

Koshmar lächelte. „Schlaukopf Hresh!“ Und zu Sachkor sprach sie: „Was ist mit dem Behelmten, der im vergangenen Jahr hier war? Fragen sie nicht, was mit dem geschehen ist?“

„Sie wissen, daß er tot ist.“

„Auch, daß er von unsrer Hand starb?“

Sachkor wirkte jetzt ein wenig nervös. Er sagte: „Da bin ich mir nicht ganz klar darüber. Ich glaube, sie nehmen an, er ist eines natürlichen Todes gestorben.“

„Wollen wir’s hoffen“, sagte Koshmar.

„Jedenfalls haben nicht wir ihn getötet“, sagte Hresh. „Er hat sich selbst getötet, während wir ihm ein paar Fragen zu stellen versuchten. Wenn wir einmal ihre Sprache besser beherrschen, werden wir ihnen das alles erklären können. Und bis dahin ist es, glaube ich, die beste Taktik.“

Ein seltsamer Ausdruck trat in Hreshs Augen, und er verstummte.

„Was ist dir?“ fragte Koshmar. „Wieso hörst du so einfach auf zu sprechen? Rede weiter, Hresh, rede!“

„Sieh dorthin“, sagte Hresh leise. „Da kommt nun wirklich echter Ärger.“

Er wies nach Osten und hinauf zu den Berghängen direkt über ihnen.

Harruel kam unheildrohend und gewaltig den Bergpfad herab.


* * *

Also war der von ihm so lang befürchtete Einmarsch der Feinde eingetreten, und niemand hatte sich die Mühe gemacht, Harruel zu Hilfe zu rufen! Und Koshmar hatte ihnen einfach die Stadt geöffnet und sie verschenkt!

Der Gestank des Übels war in Harruels Nüstern gedrungen, als er einsam und mürrisch brütend in seiner Astgabelung auf dem Sägezackenkamm hockte, wo sein Wachtpostenstand und Ausguck war. Dunkle Unheilsgespenster waberten in seiner Seele, und seine Augen waren vor Wut wie geblendet. Er starrte in das dichte Unterholz des über ihm drohend aufragenden Berges und sah nichts, gar nichts. Doch dann war dieser Gestank zu ihm gedrungen, dieser abscheuliche Gestank von Verderbnis und Fäulnis; und er schaute wieder hin und sah zottelige rote Ungeheuer durch das Südtor in seine Stadt stampfen, und auf ihrem Rücken ritten jeweils zwei Behelmte.

Wer hätte damit rechnen können, daß der Angriff von Süden her erfolgen werde? Und wer hätte sich träumen lassen können, daß die drei mechanischen Wächter, die die Saphiräugigen am Säulentor aufgestellt hatten, einfach beiseite treten und diese Kreaturen einziehen lassen würden?

Es ist ihr Kot, den ich rieche, dachte Harruel. Der abscheuliche Geruch ihres Dungs, den mir der Wind heranweht.

Er raste den Berghang hinab, den Speer im Anschlag, das Herz voll heftiger Kampfeslust.

Der Pfad lief in vielen Kehren hinunter und hinab, und bei jeder Wendung bekam er bessere Sicht auf die Ereignisse drunten. Eine ganze Heerschar der Fremdlinge war eingedrungen: Er sah die Helme in der Nachmittagssonne blitzen. Und wie es aussah, war fast der ganze Stamm ihnen entgegengezogen. Da war Koshmar, da war Torlyri, da war auch Hresh. Und auch die meisten der anderen standen in kleinen Gruppen beisammen. Koshmar trug eine ihrer Kampfmasken, aber es gab gar keinen Kampf. Sie redeten.

Redeten!

Ah, da schau an, dort standen zwei Behelmte, vielleicht Häuptlinge, bei Koshmar und Hresh. Waffenstillstandsverhandlungen mit dem Feind, und der Feind hatte seine Kampftiere innerhalb der Mauern! Wollte Koshmar etwa die Stadt ohne einen einzigen Streich preisgeben? Ja, so mußte es sein, sagte sich Harruel. Koshmar verschenkt die Stadt. Sie unternimmt keinen Versuch, die Aggressoren hinauszuwerfen, nein, sie überantwortet uns einfach in die Sklaverei.

Das hätte er denn doch nicht von ihr erwartet. Koshmar war doch aus dem Stoff, aus dem man Krieger macht! Wieso also diese Feigheit? Diese glatte Unterwerfung? Sie steht ganz bestimmt unter dem Einfluß dieses Hresh, entschied Harruel. Der ist kein Kämpfer, dieser Junge. Und er ist dermaßen schlau, daß er sogar Koshmar um seinen kleinen Finger wickeln kann.

Mit mächtigen Schritten nahm Harruel die letzten paar Kehren des Weges und stieg auf den großen Torboulevard nieder. Nun hatten sie ihn alle gesehen; und sie überlegten und brabbelten. Geschwind stieß er in ihre Mitte vor.

„Was geschieht hier?“ fragte er. „Was treibt ihr denn da alle? Wie konnte der Feind in die Stadt gelangen?“

„Es gibt hier keinen Feind“, sagte Koshmar gelassen.

„Keinen Feind? Keinen Feind?“ Harruel funkelte die ihm zunächst stehenden Behelmten an, die zwei Alten hinter Koshmar. Ihre harten kleinen roten Augen waren trüb und unruhig. Der eine davon sah aus wie ein König — kalt, erhaben. Der zweite war sehr hochgewachsen — Götter, war der Mann groß! Harruel wurde bewußt, daß er zum erstenmal in seinem Leben einem Menschen gegenüberstand, der größer war als er selbst. Aber der ausgedörrte zerknitterte alte Leib des Behelmten war so leicht und spillerig wie der eines Wasserläufers. Ein deftiger Windhauch, und er würde in zwei Stücke zerbrechen. Harruel verspürte eine Versuchung, die beiden mit zwei raschen Speerstößen niederzustechen, zunächst den Stolzen, dann den Gebrechlichen. Aber die Stimme in seinem Innern, die ihn vor übereiltem Tun zurückhielt (oder es doch versuchte), sprach zu ihm und warnte ihn, was er beabsichtige, sei Wahnsinn, und er dürfe nichts unternehmen, ohne die Lage genauer zu überschauen.

Er näherte sein Gesicht dem der zwei hageren alten Behelmten, die ihn ihrerseits mit einer Mischung von Hochmut und Neugier musterten.

„Wer seid ihr zwei?“ röhrte Harruel. „Was habt ihr hier zu suchen?“

Koshmar sagte: „Tritt zurück, Harruel! Es besteht kein Anlaß für solch ein Getöse.“

„Ich verlange zu wissen.“

„Verlange nichts von mir“, sagte Koshmar. „Ich befehle hier, und du hast zu gehorchen! Mach Platz, Harruel! Diese Leute sind das Beng-Volk, und sie kommen in Frieden.“

„Das ist es, was du glaubst“, sagte Harruel.

Immer noch hielt ihm rasender Zorn gepackt, der ihn beinahe überwältigt hätte. Seine Haut fühlte sich glühend heiß an; es tobte in seinen Augäpfeln, sein Fell klebte von Schweiß. Er konnte das Eindringen von Fremden nicht dulden! Beklommen blickte er die in der Nähe Stehenden an: Hresh und Torlyri und Sachkor.

Sachkor?

Was hatte Sachkor hier zu suchen? Der war doch vor einer halben Ewigkeit verschwunden.

„Du“, knurrte Harruel. „Wo kommst du denn auf einmal her? Und wieso stehst du hier mitten in einer Versammlung von Führern, als wärest du jetzt auch eine wichtige Persönlichkeit?“

„Ich habe die Behelmten hergeführt“, erklärte Sachkor hochnäsig. In seinen Augen blitzte ein vollkommen neues anmaßendes Funkeln. Er wirkte wie verwandelt, wie ein neuer Mensch und war ganz und gar nicht mehr der, an den Harruel sich erinnerte. „Ich bin ausgezogen, sie zu suchen, und ich habe bei ihnen gelebt und gelernt, in ihrer Zunge zu reden. Und ich führte sie nach Vengiboneeza, damit sie mit uns Handel treiben und friedlich mit uns leben können.“

Harruel war dermaßen verblüfft über das, was Sachkor da soeben gesagt hatte, und vor allem darüber, wie er es gesagt hatte, daß ihm die Antwort wie ein Kloß im Halse steckenblieb. Es verlangte ihn danach, Sachkors grinsendes Gesicht mit seinen beiden Händen zu packen und es wie eine reife Frucht zu zerquetschen. Aber er hielt sich im Zaum. Er stand wie erstarrt da. Er gab einen Augenblick lang ein rauhes Keuchen von sich wie ein Tier, dann gelang es ihm schließlich zu sprechen: „Du hast diese da hergeführt? Du hast unseren Feinden geholfen, in die Stadt zu gelangen? Daß du ein Narr bist, das wußte ich, Junge, aber ich hätte niemals geglaubt, daß du so.“

„Sachkor!“ rief eine andere Stimme laut, die Stimme einer Frau.

Kreuns Stimme.

Sie kam die Straße herausgerannt, atemlos, ab und zu stolperte sie über brüchige Stellen der uralten Pflasterung. Allgemeine Unruhe kam auf. Die vom Stamm öffneten ihr eine Gasse, und sie rannte direkt auf Sachkor zu und stürzte sich mit solcher Kraft in seine Arme, daß sie beide fast gegen Harruel geprallt wären.

Harruel trat finsteren Blicks ein, zwei Schritt zurück. Kreuns süßer Moschusduft drang scharf in seine Lungen. Seit jener Begegnung beim Abstieg vom Berg, nach der Regennacht im Baum, hatte er sie kaum zu Gesicht bekommen, und es war ihm gar nicht angenehm, sie jetzt wiederzutreffen. Das Kindweib würde bloß Ärger bedeuten. Während all der langen Wochen, in denen Sachkor verschwunden war, hatte sie wie eine zerbrochene Puppe in den dunkelsten Winkeln der Siedlung gekauert, sich von allen ferngehalten und kaum je mit den anderen gesprochen, ganz als habe Harruel eine düstere Verwandlung in ihrer Seele bewirkt, an jenem Tag, da er sie mit Gewalt genommen hatte.

Nun aber hatte sie nur Augen für Sachkor. Sie klammerte sich eng an ihn, sie schluchzte, sie lachte, flüsterte ihm zärtliche Worte zu. Die beiden führten sich auf wie lang von einander getrennte Liebespartner, und nicht wie zwei normale junge Leute, die spielerisch ein bißchen miteinander kopuliert hatten.

„Sie haben mich dazu zu bringen versucht, daß ich glaube, du bist für immer fort“, murmelte Kreun, indem sie das Gesicht fest an Sachkors schmale Brust preßte. „Sie haben gesagt, du bist irgendwie einfach aus der Stadt verschwunden, oder im Berg abgestürzt, und du würdest nie, nie wiederkommen. Aber ich hab es gewußt, daß du zurückkommst, Sachkor! Und jetzt bist du zurückgekommen!“

„Kreun — ach, Kreun, wie hast du mir gefehlt!“

Sie schaute ihn mit weit aufgerissenen Augen an, ganz hingebungsvolle Anbetung. Harruel, der dies mitansehen mußte, fand es ekelhaft und albern. „Ist es wahr, daß du die Behelmten gefunden und hierher geführt hast, Sachkor?“ fragte sie.

„Ja, ich hab sie gefunden. Ich hab auch mit ihnen reden gelernt. Und ich hab sie geführt und.“

„Das alles ist ja sehr rührend“, mischte Harruel sich ein. „Aber im Augenblick müssen wir uns um wichtige Stammesangelegenheiten kümmern. Also verzieh dich, Mädchen. Dieses ganze Gebabbel kostet uns nur Zeit.“

„Du!“ schrie Kreun und wirbelte herum, ohne dabei aber Sachkor loszulassen.

„Was ist denn?“ fragte Sachkor, als das Mädchen bebend zu weinen begann. „Was bekümmert dich denn so, Kreun?“

„Harruel. Harruel.“, schluchzte sie.

„Was ist mit Harruel?“

Sie schauderte zusammen. Ihre Zähne schnatterten, und ihre Worte kamen verquollen und undeutlich von ihren Lippen. „Er. er. Harruel. droben auf dem Bergpfad. er hat. er hat mich.“

„Das Mädchen hat den Verstand verloren“, rief Harruel ärgerlich und versuchte Kreun fortzuscheuchen.

Nun trat Koshmar näher, und auch Torlyri, und beide sahen beunruhigt aus. Harruel verspürte Zorn, und dahinter eine tiefe schneidende Scham. Das Ganze entwickelte sich zu einer Katastrophe. Wider sein Wollen tauchte in seiner Seele das Bild Kreuns auf, wie sie damals mit dem Gesicht auf der regenfeuchten Erde gelegen hatte, den Hintern nach oben, sein Glied tief in ihrem Leib, wie sie sich aufgeilend in seinem Griff gewunden, wie ihr Sensororgan wild umhergepeitscht hatte.

Krieger nehmen Frauen nicht mit Gewalt, sagte Harruel zu sich. Ein Krieger sollte es nicht nötig haben, einer Frau Gewalt anzutun.

Ich werde alles abstreiten, dachte er.

Es war nicht ich, der so etwas getan hat, es war irgendein Dämon in mir, der es tat.

„Was ist das alles? Worum geht es?“ fragte Koshmar in wütendem Zorn.

„Ja, Kind, sag es uns“, sprach Torlyri auf ihre sanftere Art. „Was willst du uns sagen? Was hat Harruel da getan, dort auf dem Bergpfad?“

„Mich niedergeworfen“, sagte Kreun fast flüsternd. „Auf die Erde geworfen. Und sich auf mich gestürzt und mich.“ „Nein!“ brüllte Harruel. „Lügen! Nichts als Lügen!“

Alle starrten ihn nun an, sogar die Behelmten.

„Hat mich festgehalten“, flüsterte Kreun, „Mich mit Gewalt genommen.“

Sie wandte sich schaudernd ab und verdeckte das Gesicht mit den Armen.

Sachkor sprang vor, funkelte Harruel von unten an, packte ihn grob am Arm, bestand darauf zu erfahren, was an jenem Tag zwischen ihm und Kreun geschehen sei. Für Harruel war er wie ein ärgerliches kleines kläffendes Tier oder vielleicht auch wie ein summendes Dschungelinsekt. Harruel schlug ihn ganz beiläufig und mühelos beiseite, wie man es mit einem ärgerlichen Insekt so macht. Sachkor landete heftig flach auf der Erde und lag einen Augenblick lang benommen im Staub. Dann setzte er sich auf, war wie betäubt, schien aber Kraft für einen neuen Angriff zu sammeln. Harruel schüttelte drohend den Speer gegen ihn, als Warnung, daß Sachkor ihn nicht weiter ärgern solle.

„Schluß mit dem Zwist!“ schrie Koshmar. „Senk deinen Speer, Harruel!“

„Das werde ich nicht. Sieh doch, er schickt sich an, erneut loszuspringen!“

Und wirklich hatte Sachkor sich halb aufgerichtet und kniete nun blinzelnd und in sich hineinmurmelnd da. Harruel nahm Kampfhaltung an und machte sich auf den Ansprang bereit.

Koshmar sagte zornig: „Halte dich im Zaum, Sachkor! Und du, Harruel, runter mit dem Speer, oder ich lasse ihn dir wegnehmen!“

Sachkor blieb entschlossen zum Kampf. Kauernd sagte er: „Also, was ist die Wahrheit, Harruel? Hast du Kreun wirklich Gewalt angetan?“

„Ich hab ihr überhaupt nichts getan.“

„Er lügt!“ rief Kreun.

Ergrimmt sagte Koshmar: „Genug davon! Wir haben Gäste bei uns. Diese Angelegenheit fordert einen Richtspruch, aber zu einer anderen Zeit. Kreun, zurück in die Siedlung! Orbin, Konya bringt Harruel weg, bis er sich beruhigt hat. Wir werden heute abend diese Sache untersuchen.“

„Ich will die Wahrheit darüber wissen“, sagte Sachkor, „und zwar will ich sie jetzt wissen!“

Harruel glotzte erstaunt, denn er spürte plötzlich die Kraft von Sachkors Zweitem Gesicht auf sich gerichtet. Das war ganz überraschend, es war verboten, das durfte nicht sein, dieses schmachvolle Sondieren in seiner Seele. Harruel kam sich nackt und wie gehäutet vor, entblößt bis auf die Muskeln und die Knochen. Verzweifelt mühte er sich, Schutzschilde vor den Zugang zu seinem Gehirn zu errichten, um Sachkor fernzuhalten, und quälte sich jede Erinnerung an jenes Erlebnis mit Kreun zu verbergen. Doch er vermochte gar nichts zu verdecken. Je stärker er sich mühte, es zu verstecken, desto heftiger loderte alles wieder in ihm auf: Kreuns fester Leib, zuckend und sich windend unter ihm, das Gefühl ihres glatten Hinterteils an seinen Schenkeln, die plötzliche heiße Lust des Zustoßens, die pulsierende Wonne, als er sein Mannesfeuer in sie ergoß.

Sachkor brüllte laut auf, erhob sich und sprang mit einem wilden Wahnsinssatz Harruel an.

Koshmar schrie und versuchte zwischen die beiden zu treten, aber sie kam zu spät. Harruel, noch schaudernd unter dem Schock, den ihm das Eindringen Sachkors in seine Seele versetzt hatte, reagierte instinktiv und streckte den Speer vor, so daß Sachkor direkt auf ihn prallte.

Alle brüllten gleichzeitig. Dann folgte eine schreckliche äußerste Stille. Sachkor schaute auf den Speerholm, der aus seiner Brust ragte, als verwirre es ihn, daß er dort stecke. Er gab ein leises rasselndes Geräusch von sich. Harruel ließ die Waffe los, gab ihr aber dabei einen leichten Stoß. Taumelnd blickte Sachkor umher, immer noch Erstaunen im Blick, dann sank er seitwärts zu Boden. Kreun schoß herzu und sank wie ein geworfener Mantel neben ihm nieder. Torlyri kniete sich zu ihr und versuchte sie von Sachkor fortzuziehen, doch sie wollte nicht von ihm weichen.

Die Helmleute, sichtlich erstaunt über die Ereignisse, tauschten leise Bemerkungen in ihrer merkwürdigen Bellsprache und begannen sich hinter ihre riesigen Tiere in Sicherheit zu bringen.

Koshmar trat zu Sachkor, befühlte ihm die Wangen und die Brust, legte Hand an den Speer und versuchte ihn zu bewegen, dann blickte sie ihm lange in die unbeweglichen starren Augen. Dann erhob sie sich.

„Er ist tot“, sagte sie verwundert. „Harruel, was hast du getan!“

Ja, dachte Harruel. Was hab ich getan?

Für Hresh war dieser Tag wie ein nichtendenwollender Traum; einer von jener Gattung der Träume, aus denen man erschöpft aufwacht, als hätte man überhaupt nicht geschlafen. Ein Traum, der mit der Reise in die Große Welt begann, danach sein Ersttvinnr, und dann seine dumme tollpatschige Pleite bei Taniane und der Einzug des Volks der Behelmten in Vengiboneeza, auf ihren erstaunlichen roten Riesentieren, und die Heimkehr von Sachkor, und nun dies. und nun dies.

Nein. Nein. Nein. Das war alles zu viel, das war viel zu viel!

Sachkor lag auf der Seite und bewegte sich nicht mehr, und Harruels Speer hatte ihn ganz durchbohrt. Und Harruel stand über ihm, mit gefalteten Armen, gewaltig, maßlos, mit eisigem Gesicht. Torlyri hielt die schluchzende Kreun in den Armen. Die Behelmten hatten sich fünfzig Schritt weit in Richtung Torweg zurückgezogen und starrten von dort herüber, als begönnen sie zu glauben, daß sie mitten in das Lager von Rattenwölfen marschiert seien.

Koshmar sagte: „So etwas ist noch nicht zuvor geschehen, nicht wahr, Hresh? Daß einer vom Stamm einem anderen das Leben raubt?“

Hresh schüttelte den Kopf. „Niemals. Ich habe nirgendwo in den Chroniken von so etwas gelesen. Nie. Nirgends.“

„Was hast du getan, Harruel?“ sagte Koshmar noch einmal. „Du hast Sachkor getötet, der einer von uns war. Der ein Stück deiner selbst war.“

„Er ist mir in den Speer gesprungen“, sagte Harruel dumpf und wie betäubt. „Du hast es gesehen. Ihr alle habt es gesehen. Er brüllte wie ein Irrsinniger und raste auf mich los. Ich habe den Speer ganz gewohnheitsmäßig hochgenommen. Ich bin ein Krieger. Wenn ich angegriffen werde, verteidige ich mich. Er ist direkt in den Speer gelaufen. Du hast es gesehen, Koshmar.“

„Aber du hast ihn dazu veranlaßt“, sagte Koshmar. „Kreun sagt, du hast ihr Gewalt angetan, an jenem Tag, als Sachkor verschwand. Sie wollten heiraten. Es ist wider die Sitte, einer Frau Gewalt anzutun. Dies wirst du doch gewiß nicht bestreiten.“

Harruel schwieg. Hresh fühlte die Wellen heranbranden: Verärgerung, Verwirrung, Furcht und Trotz gingen von Harruel aus. Fast erbärmlich wirkt er, dachte Hresh. Doch trotzdem gefährlich.

Er kann Sachkors Tod nicht gewollt haben, entschied Hresh. Aber dennoch, Sachkor war tot.

„So etwas muß seine Strafe finden“, sagte Koshmar.

„Er ist ganz allein in den Speer gerannt“, wiederholte Harruel hartnäckig. „Ich hab mich nur verteidigt.“

„Und die Vergewaltigung Kreuns?“ fragte Koshmar.

„Auch dies streitet er ab“, schrie Kreun. „Aber er lügt! Er lügt genauso, wie wenn er behauptet, er hat Sachkor nicht töten wollen. Er hat ihn gehaßt. Immer schon. Sachkor hat es mir gesagt, ehe er fortging, und er hat mir noch viele andere Dinge über Harruel gesagt. Er hat gesagt, Harruel will Koshmar entmachten. Harruel will über den Stamm herrschen. Harruel sagt, er wird König sein, und das ist so etwas wie ein männlicher Häuptling. Harruel.“

„Still“, sagte Koshmar. „Harruel, leugnest du die Vergewaltigung?“

Harruel schwieg.

„Wir müssen dem auf den Grund kommen“, sagte Koshmar. ‚Hresh, hol die Schimmersteine. Wir werden das Orakel befragen. Nein, noch besser, hol lieber deinen Wunderstein! Wir werden Harruel mit diesem befragen. Wir werden herausfinden, was zwischen ihm und Kreun war, wenn da wirklich etwas war, und wir werden.“

„Nein“, sagte Harruel plötzlich. „Diese Untersuchung ist unnötig. Und ich werde sie nicht zulassen. Und was die Aussage von Kreun angeht, da gab es keinen Zwang.“

„Lügner!“ schrie Kreun.

„Es gab keine Gewalt“, fuhr Harruel fort, „aber ich will nicht abstreiten, daß ich mit ihr kopuliert habe. Ich war auf dem Berg, um den Stamm gegen seine Feinde zu beschützen, eben jene Feinde, die jetzt direkt in unsere Mitte geritten kamen. Ich saß dort die ganze Nacht im Regen, um den Stamm zu schützen. Und am Morgen stieg ich herab, und ich traf Kreun, und Kreun wirkte meinen Augen angenehm, und ihr Duft war mir angenehm in den Nüstern, und so griff ich nach ihr und nahm sie und kopulierte mit ihr, und das ist die Wahrheit der Geschichte, Koshmar.“

„Und du tatest dies mit ihrer Zustimmung?“ fragte Koshmar.

„Nein!“ schrie Kreun! „Ich habe nicht eingewilligt! Ich war auf der Suche nach Sachkor und fragte Harruel, ob er ihn gesehen hatte, und daraufhin packte er mich — er war von Sinnen, er nannte mich Thalippa, er hielt mich für meine eigene Mutter — er packte mich und warf mich nieder auf die Erde und.“

„Ich sprach zu Harruel“, sagte Koshmar. „Also, Harruel, war das Geschehen einverständlich? Hast du sie gebeten, mit dir zu kopulieren, wie ein Mann ein Weib bittet — oder ein Weib einen Mann?“

Wieder schwieg Harruel.

„Dein Schweigen spricht dir das Urteil“, sagte Koshmar. „Auch ohne die Befragung mit dem Barak Dayir bist du verurteilt und verflucht, weil du Dinge getan hast, die bisher in diesem Stamm unbekannt waren, indem du Kreun ohne ihre Einwilligung genommen hast und indem du Sachkor niederge.“

„Ihre Einwilligung war nicht nötig“, sagte Harruel plötzlich.

„Nicht nötig? Nicht nötig?“

„Ich nahm sie, weil ich das Bedürfnis hatte, nachdem ich auf Wache für den Stamm eine schwere und einsame Nacht zugebracht hatte. Und weil ich sie begehrte, da sie mir schön und begehrenswert erschien. Und weil es mein Recht war, Koshmar.“

„Dein Recht? Ihr Gewalt anzutun?“

„Ja, mein Recht, Koshmar. Denn ich bin König und kann tun und lassen, was mir beliebt.“

Ihr Götter, schützt uns vor dem, dachte Hresh entsetzt.

Koshmars Augen wurden so groß, daß es schien, als würden sie ihr aus den Höhlen springen. Sie glotzte geradezu vor bestürzter Verblüffung.

Dann schien sie eine gewaltige Anstrengung zu machen, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Sie wandte sich mit gepreßter Stimme scharf an Hresh: „Was heißt dies, das Gerede um dieses Wort ‚König‘, das mir in diesen Tagen so oft an die Ohren schallt? Würde mir der Chronist das erklären?“

Hresh fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Es handelt sich dabei um einen Titel aus der Zeit der Großen Welt“, sagte er heiser. „Das Wort bedeutet eigentlich einen dank seiner Vornehmheit und seiner vorzüglichen Abstammung zur Führerschaft geeigneten Mann. Also, einen männlichen Stammeshäuptling, ganz so, wie Kreun das vorhin gesagt hat.“

„Es gibt in unserem Stamm keine Manns-Häuptlinge“, sagte Koshmar.

Von Harruel schwoll daraufhin eine gewaltige Woge heran, kraftvoll und fremdartig. Hresh spürte sie mit seinem Zweiten Gesicht auf, und ihre Stärke warf ihn beinahe um; es war, als stünde er in einem Sturmwind, der die Bäume samt ihren Wurzeln aus dem Erdboden riß.

„Die Herrschaft der Weiber ist vorbei“, sagte Harruel. „Denn vom heutigen Tage an bin ich König.“

Ruhig gab Koshmar Konya, Staip und Orbin ein Zeichen.

„Umzingelt ihn!“ befahl sie. „Ergreift ihn! Er hat den Verstand verloren, und wir müssen ihn vor ihm selbst schützen.“

„Keiner komme mir nahe!“ sagte Harruel. „Wage niemand es, mich zu berühren!“

„Du magst ja vielleicht König sein“, sagte Koshmar, „doch in dieser Stadt bin ich Häuptling und Führerin. Und der Häuptling befiehlt: Packt ihn!“

Harruel drehte sich um und blitzte Konya kalt an, der völlig bewegungslos blieb. Dann schaute Harruel Staip und Orbin an. Und auch sie rührten sich nicht.

Und dann wandte er sich wieder Koshmar zu.

„Du kannst von mir aus Häuptling sein, soviel du willst, Koshmar“, sagte er mit dunkler ruhiger Stimme. „Die Stadt gehört dir. Oder vielmehr, sie gehört jetzt dem Volk der Behelmten. Ich werde mich hinwegbegeben von hier und damit künftig dir keinen Anlaß zu Besorgnis bieten.“

Er ließ seine Blicke schweifen. Unterdes hatte sich der ganze Stamm eingefunden und stand wartend da. Auch die Frauen mit den Kindern, die sich im Tempel verbarrikadiert hatten, als die Kunde von den Eindringlingen kam, waren herzugeeilt. Harruels schwerer düsterer Blick heftete sich bald auf diesen, bald auf jenen. Hresh fühlte, wie dieser schwarze, bedrohliche Blick sich auf ihn senkte, und, unfähig, ihm zu begegnen, richtete er seine Augen zu Boden.

Harruel sprach: „Wer will mit mir ziehen? Diese Stadt hier bedeutet Krankheit und Übel, und darum müssen wir aus ihr fortziehen! Wer unter euch will mit mir an der Gründung eines großen Königreiches, weit weg von hier, mitwirken? Du, Konya? Du, Staip? Du? Und du? Und du?“

Noch immer standen alle starr und stumm. Das Schweigen war schrecklich.

„Warum sollten wir uns noch länger in dieser Totenstadt zusammenkauern? Ihre Tage des Ruhms sind seit langem dahin! So seht doch, der stinkende Kot der Tiere unserer Feinde häuft sich bereits auf dem Boulevard. Und dabei wird es nicht bleiben. Diese Stadt wird im Mist der Fremden begraben werden. Tretet hier herüber, ihr, denen die Weiberherrschaft ein Ärgernis geworden ist! Kommt auf meine Seite, ihr, die ihr euch nach Land sehnt, nach Reichtum und Ruhm! Wer hält zu Harruel und zieht mit ihm? Wer? Wer?“

„Ich ziehe mit dir“, sagte Konya mit rauher, brüchiger Stimme. „Wie ich vor langem mich verschworen habe.“

Hresh hörte, wie Koshmar heftig einatmete.

Konya schaute hinüber zur anderen Seite des Kreises von Stammesangehörigen, wo Galihine stand, seine Zuchtpartnerin. Ihr Leib zeigte die Schwellung eines heranreifenden Ungeborenen. Nach kurzem Zögern schritt sie mitten durch den Kreis und stellte sich an Konyas Seite.

„Wer noch?“ fragte Harruel.

„Das ist der reine Wahnsinn“, sagte Koshmar. „Fern von der Stadt werdet ihr zugrundegehen. Ohne Häuptling und Führerin werden euch die Götter mit Abscheu strafen, und ihr werdet vernichtet werden.“

„Wer sonst will noch mit mir ziehen?“ fragte Harruel.

„Ich“, sprach Nittin. „Und Nettin mit mir.“

Nettin sah ziemlich verdattert drein, als hätte er ihr einen Schlag mit einer Keule versetzt. Dennoch schritt sie gehorsam durch den Kreis zu ihrem Mann hinüber. Ihren Säugling, Tramassilu hielt sie fest mit beiden Armen umfangen.

Harruel nickte.

„Ich komme mit“, sagte Salaman überraschend. Weiawala folgte ihm, ebenso der Jungkrieger Bruikkos, und, nach einem kurzen Zögern, auch das Mädchen Thaloin, die vor zwei Tagen erst dem Bruikkos als feste Gefährtin anverlobt worden war. Hresh fühlte, wie sich in seinem Herzen eine schauerliche Kälte ausbreitete. Er hatte nicht damit gerechnet, daß irgendeiner vom Stamm es in Erwägung ziehen könnte, Harruel Gefolgschaft zu leisten; aber was jetzt geschah, war eine Katastrophe! Der Stamm brach auseinander!

„Auch ich gehe mit dir“, sagte Lakkamai.

Torlyri stieß sogleich einen leisen, halberstickten Schrei aus. Sie biß sich auf die Lippe, trat beiseite und wandte das Gesicht ab, jedoch nicht so schnell, daß Hresh den Ausdruck der Bestürzung drauf nicht hätte sehen können. Auch Koshmar sah bedrückt und betroffen aus; und Hresh erkannte, wie sehr dieser Ausdruck von Furcht geprägt war, denn Koshmar mußte es ja mit Entsetzen erfüllen, daß Torlyri womöglich mit Lakkamai gehen und die Stadt verlassen würde. Aber Torlyri blieb.

Nun wandte sich Harruel an seine Partnerin.

„Minbain?“

„Ich komme“, sagte sie ruhig. „Wohin du gehst, dahin will auch ich gehen.“

„Und du — Hresh?“ fragte Harruel schließlich. „Deine Mutter schließt sich uns an, dein jüngerer Bruder, Samnibolon, zieht mit uns. Und du, willst du zurückbleiben?“ Und er kam auf Hresh zu und stellte sich drohend und groß vor ihm auf. „Wir werden deine Kenntnisse und Künste in unsrem neuen Leben gut verwenden können. Du würdest unser Chronist sein, genau wie du es hier warst, und was immer du dir wünschen magst, Knabe, es soll dein sein. Also, kommst du mit mir?“

Hresh vermochte nicht zu antworten. Sprachlos stierte er seine Mutter an und dann Koshmar und Torlyri — und Taniane.

„Also?“ fragte Harruel drohender. „Kommst du?“

Hresh spürte, wie die Welt rings um ihn zu wirbeln begann.

„Also?“ fragte Harruel noch einmal.

Und Hresh senkte die Augen und sagte: „Nein.“ So leise sagte er es, daß keiner verstand.

„Was? Was hast du gesagt? So sprich doch lauter!“

„Nein!“ wiederholte Hresh, diesmal deutlicher. „Ich gedenke hierzubleiben, Harruel.“ Und er spürte, wie ihm das Blut wild durch den Körper schoß, und dies verlieh ihm Kraft und Festigkeit. „Wir alle werden eines baldigen Tages Vengiboneeza verlassen müssen“, sagte Hresh. „Aber diese Zeit ist noch nicht gekommen. Und es soll nicht auf diese Weise geschehen. Ich bleibe hier. Ich habe hier noch einige Aufgaben zu erfüllen.“

„Elender kleiner Knecht!“ schrie Harruel. „Du verlauste mickrige hinterhältige Wanze!“

Sein langer Arm sauste durch die Luft. Hresh sprang zurück, jedoch nicht rasch genug. Harruels Fingerspitzen fuhren ihm über die Wange, und die Wucht selbst eines derart oberflächlichen Streichs war derart gewaltig, daß Hresh durch die Luft geschleudert wurde und als bebendes Häuflein auf dem Boden landete. Und da lag er nun eine Weile und zitterte. Dann kam Torlyri zu ihm und richtete ihn auf und drückte ihn zärtlich an die Brust.

„Wer noch?“ fragte Harruel. „Wer unter euch will mir noch folgen? Wer? Wo seid ihr? Wer? Wer noch?“

Загрузка...