7. Kapitel Die Stimme des Sturms

Der Platz mit den dreimal zwölf blauen Türmen im Bezirk Emakkis Boldirinthe wich nie aus der Seele Hreshs, ob er wachte oder in Träumen lag. Oftmals erwachte er dann schaudernd und schweißüberströmt und hatte jene Szene aus dem lebendigen Vengiboneeza erneut in allem pulsierenden Glast leibhaftig vor dem inneren Auge: den menschenerfüllten Marktplatz, alle jene Geschöpfe aus den Sechs Völkern, dicht zusammengedrängt. Doch er ließ viele Wochen verstreichen, bevor er sich erlaubte, wieder dorthin zurückzukehren. Er wußte, er war noch nicht bereit, und so zwang er sich mit aller Kraft zu Zurückhaltung.

Ungeduldiges Verlangen und Neugier nagten an ihm wie ein gefräßiger Wurm. Aber er ging nicht zu den Türmen. Es fiel ihm schwer, sich fernzuhalten, doch er ging nicht hin. Überall sonst suchte er, überall entdeckte er neue Routen und Seitenstraßen durch die Stadt. Er fand eine Terrasse mit blitzenden warmen Wasserteichen. Er stieß auf rhombusförmig angeordnete schlanke Steinobelisken um eine onyxgesäumte Grube von äußerster Dunkelheit, und als er einen Stein hineinfallen ließ, fiel dieser und fiel und fiel, ohne je auf den Grund zu treffen. Im Distrikt Dawinno Weiawala kam er zu einem düster brütenden grünschwarzen Gebäude von riesigen Ausmaßen, das er die Zitadelle taufte, da es wie kein anderer Bau in der Stadt für sich allein an einem grünbewachsenen Hügelhang hoch oben wie ein Wächter über Vengiboneeza thronte. Seine Länge war viel größer als seine Höhe, die Mauern schmucklos, mit Ausnahme von zehn mächtigen Säulen zu beiden Längsseiten, auf denen das Steildach ruhte, und es gab weder Türen noch Fenster, wodurch der Bau blind und abweisend aussah, als sei er eine vollkommen nach innen gewandte Struktur. Seine Funktion war nicht nur unbekannt, sondern sichtlich auch nicht eruierbar, obschon es sich zweifellos um ein irgendwie hochbedeutendes Bauwerk gehandelt haben mußte. Hresh entdeckte nirgends einen Zugang, obwohl er sich mehrmals darum bemühte. Derartige Entdeckungen trugen ihm jedoch nichts Nutzbringendes ein.

„Warum bist du denn noch nicht wieder in diese Kuppelhöhle zurückgegangen?“ fragte Taniane, der Haniman darüber erzählt hatte.

„Ich bin noch nicht bereit dazu“, sagte Hresh. ‚,Zuerst muß ich den Barak Dayir meistern lernen.“ Und er bedachte sie mit einem Blick, der jede weitere Diskussion verbot.

Und das war nämlich wirklich sein Problem — der Barak Dayir. Ohne ihn hatte es keinen Sinn, wieder dorthin zu gehen, denn er war überzeugt, daß er nur durch die Herrschaft über den Wunderstein das Rätsel dieser Visionsmaschine in der Kellerhöhle unter diesem Turm werde lösen können. Doch der Wunderstein war ihm nicht geheuer — ihm, dem Hresh-voller-Fragen — und beunruhigte ihn wie kaum etwas sonst. So richtig mit Augen gesehen hatte er ihn ja noch nie. Wie alle anderen des Volkes auch wußte Hresh nur vom Hörensagen, daß es sich dabei um irgendein sagenhaftes Instrument handle, das der Chronist zu hüten habe, das aus Sternenstoff bestand und außergewöhnliche Eigenschaften besaß, das jedoch jedem, der es falsch benutzte, das Lebenslicht auslöschte. Thaggoran hatte den Stein als den Schlüssel zu den tiefsten Erkenntnisbereichen bezeichnet; doch Thaggoran hatte stets sorgsam darauf geachtet, daß Hresh ihn nicht beobachten konnte, während er ihn benutzte, so sorglos er sonst auch zuweilen bei der Wahrung seiner Amtsgeheimnisse gewesen sein mochte, und außerdem hatte auch Thaggoran immer wieder von der Gefährlichkeit gesprochen und bekannt, daß er den Wunderstein nicht allzu häufig zu befragen wage. Und Hresh hatte sich — seit er selbst nun der Chronist war — nicht überwinden können, ihn auch nur in Augenschein zu nehmen. In seinen Chronikbüchern konnte er nirgendwo eine wie immer geartete Gebrauchsanleitung entdecken, auch keine Angaben über seine Funktionsweise, darum ließ er lieber die Finger davon. Wo es um den Barak Dayir ging, machte seine angeborene Neugier seiner Furcht Platz, daß er zu früh sterben könnte, noch ehe er all das Wissen erworben hätte, das sich anzueignen er hoffte.

Doch dann endlich hob Hresh den Sammetbeutel zum erstenmal aus der Lade der Chroniken und hielt ihm mit beiden Händen behutsam fest. Das Säckchen war klein, klein genug, um in einer Hand Platz zu finden, und es verströmte eine leichte Wärme.

Sternenstoff, sagte man. Was bedeutete dies?

Er hatte erst beim Auszug aus dem Kokon erfahren, was ein Stern ist, als er die vielen zum erstenmal am Himmel erblickt hatte, diese zauberhaften hellen Lichtpunkte, die dort oben in der Finsternis brannten. Feurige Kugeln, das sind sie, hatte Thaggoran gesagt. Wenn sie uns näher wären, sie würden so heiß lodern wie die Sonne. War also der Wunderstein ein Stück von einem Stern?

Doch die lichtspendenden Sterne, soviel wußte Hresh, waren nicht die einzigen Sterne am Himmel. Es gab da auch die Todessterne, diese schrecklichen Dunkelkörper, die auf die Welt herniedergestürzt waren und den Langen Winter gebracht hatten. Und die bestanden keineswegs aus Feuer; es waren Kugeln aus Eis und Felsgestein, sagten die Chroniken. Hresh wog den Beutel mit dem Barak Dayir in der Hand. Sollte da drin das Stück eines Todessterns sein? Er versuchte sich die wilde Bahn des torkelnden Sterns vorzustellen, das Donnergetöse, mit dem er auf der Erde aufschlug, die Wolken von Staub und Rauch, die das Licht der Sonne erlöschen ließen und die tödliche Kälte brachten. Das da? Dieses kleine Ding in seiner Hand — ein Bruchstück des gigantischen Unheils?

In den Chroniken stand auch, daß die fernen Himmelssterne von Welten umgeben sind, die ihnen aufwarten, ganz ebenso wie diese Welt hier, auf der die Völker lebten, Dienerin ihrer eigenen Sonne ist. Auf diesen fremden Welten gab es Leute von aller möglichen Art. Vielleicht, bedachte Hresh, ist der Stein auf einer Welt eines dieser anderen Sonnensterne gemacht worden. Er berührte das Ding durch den Stoff und ließ eine fremde Welt in sein Gehirn strömen, gelber Himmel, reißende purpurne Flüsse, eine rote Sonne, die am Tage schwelend brannte, sechs kristallen singende Monde am nächtlichen Himmel.

Vermutungen. Nichts als Vermutungen. Er stolperte im Finstern umher. In den Chroniken standen alle möglichen Informationen, aber nichts, was ihm hier hätte helfen können.

Er schlug die Fünf Heiligen Zeichen. Er flehte um Schutz zu Yissou und dann zu Dawinno, der ihm stets besondere Gunst erwiesen hatte. Sodann atmete er langsam tief ein und zog ängstlich den Barak Dayir aus seiner Umhüllung. Dabei dachte er: Vielleicht nehme ich nun den Tod in meine Hände. Und es überraschte ihn, wie ruhig er dabei war.

Wenn der Stein ihn töten sollte, nun, dann würde er eben sterben. Eine Stimme in seinen Kopf befahl ihm dröhnend wie ein Gong, daß er das alles trotzdem tun müsse, daß er es seinem Stamm und auch sich selbst schulde, sich endlich an die Geheimnisse dieses Dinges zu wagen, wie hoch auch die Gefahren sein mochten.

Der Barak Dayir war angenehm anzuschauen, aber nicht irgendwie außergewöhnlich. Er war ein polierter Stein, länger als breit, braun mit blauroten Einsprengsein und an einem Ende spitz zulaufend. Obwohl er sich so glatt und weich anfühlte, als könnte ihn ein Fingernagel zerkratzen, war er doch in Wahrheit fest und hart, furchtbar hart. Und abgesehen von seinem schmucken Aussehen hätte es sehr wohl weiter nichts als eine kleine Speerspitze sein können. Entlang den Kanten verliefen verwirrende, verschlungene eingegrabene Kerben und bildeten ein derart feines Muster, daß er es nahezu nicht erkennen konnte, so scharf seine Augen auch sein mochten.

Er hielt den Stein eine Weile in der Linken, dann nahm er ihn in die rechte Hand. Er fühlte sich warm an, aber nicht unangenehm warm. Es ging etwas beinahe Heilsames von ihm aus. Jedenfalls schien er Hresh nicht töten zu wollen. Seine Furcht schwand mehr und mehr, allerdings betrachtete er ihn auch weiterhin ehrfürchtig.

Aber was tat man damit? Wie brachte man den Stein dazu, daß er einem gehorchte?

Er hielt ihn ans Ohr, vielleicht war in seinem Innern eine Stimme vernehmbar, doch er hörte nichts. Er drückte ihn zwischen beiden Handflächen, ohne Ergebnis. Dann preßte er ihn fest an die Brust. Er sprach zu ihm, nannte ihm seinen Namen, erklärte, daß er der Nachfolger des Chronisten Thaggoran sei. Doch nichts von alledem bewirkte etwas. Und zuletzt dann tat Hresh das Offensichtliche und Natürliche, das er bisher aufgeschoben hatte: Er schlang sein Sensororgan um den Stein und schaltete auf sein Zweites Gesicht um.

Und nun vernahm er eine ferne Musik, einen seltsamen, unirdisch fremdartigen Klang, der nicht aus dem Stein selbst, sondern von überall um ihn herum zu dringen schien. Die Musik senkte sich in seine Seele und erfüllte sie bis in die tiefsten Tiefen, sie umfing ihn und berauschte ihn. An der Zungenwurzel verspürte er ein heißes Prickeln, und sein Fell wurde leicht, schwebte von ihm fort und breitete sich um ihn wie dünner Dunst. Die Empfindungen waren derart intensiv, daß sie ihm Furcht einflößten. Hastig ließ Hresh den Wunderstein los, und die Musik brach ab. Aber als er dann sein Sensororgan wieder darumschmiegte, kehrte die Musik wieder zurück. Doch auch diesmal konnte er es nur einen kurzen Augenblick lang ertragen. Wieder brach er den Kontakt ab. Also waren die ganzen Geschichten über die Kraft des Barak Dayir doch keine Lügen gewesen. Er besaß hohe Macht und Magie.

Hresh holte tief Luft. Er fühlte sich erschöpft und zum Umfallen müde. Aber er hatte den ersten Schritt auf einer Bahn getan, die — er wußte nicht, wohin, ins Unermeßliche? — führen würde. Voll Dankbarkeit verbarg er den Wunderstein wieder in seinem Beutel. Er würde seine Forschungsbemühungen an einem anderen Tag fortsetzen. Aber wenigstens hatte er nun den Anfang gemacht. Endlich.

In einem unruhevollen Traum erblickte Harruel sich selbst, wie er die Türme von Vengiboneeza mit seinen Händen packte und bis auf den Grund aus der Erde riß und sie wie dürre Stecken gegeneinander schlug, um dann verächtlich die Bruchstücke fortzuwerfen.

Koshmar zeigte sich in seinem Traum und stellte sich ihm gegenüber und höhnte ihn herausfordernd, er möge versuchen sie zu Boden zu werfen. Er brach einen gewaltigen Steinturm los und schwang ihn wie eine Keule hoch über Koshmars Haupt und suchte sie zu zerschmettern. Sie aber sprang hurtig beiseite. Er brüllte und schwang den Turm erneut. Und noch einmal. Und verfolgte sie durch die Straßen der Stadt, bis er sie zwischen zwei mächtigen sehwarzwandigen Gebäuden in die Enge getrieben hatte. Ruhig erwartete sie ihn dort, ein furchtloses spöttisches Lächeln auf dem Gesicht.

In brüllendem Groll faßte Harruel nun den Turm unter den Arm wie einen Speer. Und er begann damit auf die Führerin loszupreschen; aber gerade als er sich dazu anschickte, packte ihn etwas an der Kehle und hielt ihn fest. Der Turm entfiel seinen Händen und stürzte krachend zu Boden. Wer besaß die Kühnheit, ihn auf diese Weise zu hindern? Torlyri? Ja, Die Opferfrau hielt ihn mit erstaunlicher Stärke umfangen, so daß er spürte, wie ihm die Seele in seiner Brust nach oben und außen gepreßt wurde. Verzweifelt kämpfte Harruel, und allmählich gelang es ihm, ihre Umklammerung aufzubrechen, doch während sie noch rangen, nahm sie eine andere Gestalt an und verwandelte sich in seine Kopulationspartnerin, Minbain, und dann in diesen sonderbaren Jungen Hresh, der solch ein Rätselding für ihn war, und danach wurde sie zu einem brüllenden, tobenden Saphiräugigen, riesenhaft und grün und abscheulich, mit flammendblauen Augen und einem scheußlich schnappenden Riesenmaul voller zahlreicher unheilvoll blitzender Zahnreihen.

„Verwandle dich nur, wie du willst!“ brüllte Harruel. „Ich werde dich dennoch töten!“

Er packte die langen Kiefer des Saphiräugigen und mühte sich, sie auseinanderzuzwängen, einhändig, und sie gespreizt zu halten, während er mit der anderen Hand nach einem Turm griff, um ihn wie einen Keil hineinzustopfen und das gräßliche Maul des Geschöpfs am Zuschnappen zu hindern. Die Kreatur wehrte sich mit wütenden Prankenhieben der krallenbesetzten Hände, doch er achtete dessen nicht, sondern zwang die gewaltigen Kiefer auf und stieß das große Haupt zurück.

„Harruel!“ schrie das Ding. „Bitte, laß ab, Harruel! Harruel!“

Die Stimme war merkwürdig leise, fast nur ein Wimmern. Und es war eine Stimme, die er kannte. Die stimme einer Frau, beinahe wie die Stimme seiner Partnerin, Minbain.

„Harruel! Nicht.“

Er driftete ins Bewußtsein herauf, das wie ein Steinpflaster über ihm lag. Als er hindurchgebrochen war, merkte er, daß er sich dicht am Ende des Raumes befand, in dem er und Minbain schliefen. Minbain war gegen die Wand gedrückt und mühte sich, ihn fortzuschieben. Seine Arme waren wie in einem Irrsinnskrampf um die Frau geschlungen, sein Kopf preßte sich in die Grube zwischen Schulter und Hals.

„Yissou!“ brummte er, und er gab sie frei und wälzte sich von ihr fort. Der dumpf stechende Gestank seines, eigenen ranzigen Schweißes erfüllte den Raum und erregte bei ihm Übelkeit. Die oberen Muskelpartien seiner Arme zuckten und hüpften, als wollten sie von seinem Körper wegplatzen, und über seine Schultern und seinen Nacken verlief eine brennende Schwellung. Er wischte sich glitzernde Speichelfäden aus dem groben Pelzhaar um seine Kiefer. Über seinen Leib liefen heftige krampfartige Zuckungen.

Mit unsicherer Stimme fragte Minbain in die Stille: „Harruel?“

„Ein Traum“, stammelte er mit dicker Zunge. „Meine Seele hat sich von mir gelöst, und ich war in einer fremden Welt. Hab ich dir weh getan?“

„Du hast mir Angst gemacht“, antwortete Minbain. Ihre dunklen ernsten Augen bohrten sich in die seinigen. „Du warst irgendwie ganz wild — hast gräßliche Laute ausgestoßen, ein Würgen und Keuchen — und du hast um dich geschlagen — und dann hast du mich gepackt, und ich dachte schon, ich dachte, du willst.“

„Ich würde dir nie was tun.“

„Aber ich hatte Angst. Du warst dermaßen seltsam.“

„Mir macht es auch Angst.“ Er schüttelte den Kopf. „Sag, habe ich jemals früher so was getan, Minbain? So was Wildes, so eine Raserei?“

„Nein, nicht so. Dunkelträume, das ja. Du hast dich herumgewälzt, gestöhnt, gejammert, im Schlaf geredet, geflucht und manchmal sogar mit den Händen auf den Boden geschlagen, als wolltest du irgendwelche Wesen töten, die sich um dich herumbewegten. Aber diesmal — ich hab mich wirklich schrecklich gefürchtet, Harruel! Es war, wie wenn ein Dämon in dich eingedrungen wäre.“

„Ja, wahrlich, ein Dämon hat von mir Besitz ergriffen“, sagte er trübsinnig. Er erhob sich und trat ans Fenster. Die Nacht schien noch nicht einmal zur Hälfte vorbei. Dichte Dunkelheit lag schwer wie ein erstickendes Tuch über der Welt. Das häßliche Narbengesicht des Mondes flammte eisig hoch droben, und dahinter hingen in dichten wirbelnden Bändern und Haufen im Zenith des Himmels die Sterne, diese verwirrenden boshaften weißen Feuer, die keine Wärme spendeten. „Ich geh noch ein wenig raus, Minbain.“

„Nein, bleib doch hier, Harruel! Ich fürchte mich jetzt, allein zu sein.“

„Was könnte dir schon Böses geschehen? Die einzige Gefahr hier bin doch ich. Und ich gehe hinaus.“

„Bleib!“

„Ich muß eine Weile für mich allein sein“, sagte er. Er wandte sich zu ihr um und betrachtete sie. Im Halbdunkel, in dem kühlen Schimmer von Mond und Sternen, schien Minbain eine Schönheit zu besitzen, die sie — wie er sehr wohl wußte — in Wirklichkeit nicht hatte. Das zarte gerundete Gesicht schien die Jahre abgestreift zu haben, sie wirkte zart, frisch und jung, fast wie ein Mädchen. Ihm quoll das Herz über von Liebe zu ihr. Er konnte diese Liebe nur schwer mit Worten ausdrücken; aber er trat zu ihr, kauerte sich neben ihr hin und streichelte zart mit den Händen über ihre Schulter und ihren Hals, wo er ihr weh getan hatte, über die Brüste und über den weichen Bauch. Er hatte ein Gefühl, als könne er dort ein neues sich bildendes Leben spüren. Es war natürlich noch zu früh, um sicher zu sein, doch er bildete sich ein, daß seine Finger eine Bewegung dort fühlten, eine Konzentration von Lebenskraft, die einmal sein Sohn, Harruels Sohn, sein würde. So weich, wie es ihm möglich war, sagte er: „Ich habe dir nicht weh tun wollen, Minbain. Ein übler Alp hielt mich im Schlaf befangen. Es war nicht ich selber. Ich könnte dir niemals ein Leid antun.“

„Aber das weiß ich doch, Harruel. Unter deiner grollenden Grobheit bist du ein feinfühliger Mann.“

„Und du glaubst das wirklich?“

„Ich weiß es“, sagte Minbain fest.

Er ließ die Hand flach eine Weile auf ihrem Bauch ruhen. Er war nun ruhiger, auch wenn der Schwarztraum ihn noch weiter bedrückte. In Wellen flutete tiefe Liebe zu der Frau heftig durch seine Seele.

Sie war drei Jahre älter als er, und in der Zeit seines Heranreifens hatte er überhaupt nicht an Kopulationspartner gedacht — denn schließlich gehörte er zur Kriegerkaste, und in jenen Tagen hatten sich die Krieger nicht zur Fortpflanzung partnerschaftlich gebunden. Damals war es ihm vorgekommen, als gehöre sie mehr der Generation seiner Mutter an als seiner eigenen; aber als dann die neuen Kopulationsregeln verkündet wurden, hatte er sich Minbain als Partnerin gewählt. Eine jüngere Frau hätte möglicherweise mehr Schönheit besessen, doch Schönheit schwindet rasch, und Minbain verfügte über Vorzüge, die sie bis ans Ende ihrer Tage behalten würde. Sie war warmherzig und freundlich, irgendwie ein wenig wie Torlyri in dieser Beziehung. Aber Torlyri hatte nicht viel für Männer übrig. Minbain dagegen schon, und darum hatte Harruel ganz schnell zugegriffen. Ihn störte es gar nicht, daß sie ein bißchen älter war als er, oder daß sie bereits ein Kind hatte. Wenn das überhaupt etwas besagte, dann sprach es eher zu ihren Gunsten, daß sie bereits Mutter geworden war, denn ihr Kind war dieser Hresh, der in einem solch übernatürlich jungen Alter bereits solch eine bedeutende Macht im Stamm ausübte. Oh, Harruel sah viele Verwendungsmöglichkeiten für Hresh; und ein Weg zu dem Jungen lief möglicherweise über seine Mutter. Nicht etwa, daß dies der hauptsächliche Beweggrund war, warum er sich für Minbain entschieden hatte. Aber mitgespielt hatte es schon, o ja, ganz gewiß hatte es eine Rolle gespielt.

„Laß mich jetzt weg!“ bat Harruel.

„Komm bald zurück!“

„Bald“, versprach er. „Ganz bestimmt.“

Minbain blickte ihm nach: diesem massiven Riesenschatten, der sich übertrieben behutsam durch den Raum bewegte und zur Tür hinausschlich. Sie tastete mit der Hand an ihre Kehle. Er hatte sie schwerer verletzt, als sie ihn wissen lassen wollte. In seiner Raserei hatte er sie mit einem wildfuchtelnden Ellbogen getroffen, er hatte sie an beiden Schultern gepackt und sie gegen die Wand gerammt, und als er sich an ihrem Hals vergraben hatte, hätte er sie mit dem Gewicht seines schweren Schädels fast erstickt. Aber daran war natürlich der Wahn schuld, der wilde Alp. Es war nicht Harruels Tun. Minbain verstand sehr wohl, daß er ihr auf seine ungeschlachte Art zugetan sei.

Und sie trug sein Kind im Leib. Das wußte sie mit völliger Gewißheit, und aus der Art, wie er soeben ihren Leib berührt hatte, erkannte sie, daß auch er es wissen müsse. Bald würden sie zu Torlyri gehen müssen, damit diese die Ersten Worte über Minbains Bauch spreche.

Hresh würde einen Bruder bekommen. Sie würde einen zweiten Sohn gebären. Sie war ganz sicher, daß es ein Sohn sein werde; aus Harruels Samen konnten ja nur Söhne sprießen, soviel immerhin schien ja wohl klar zu sein. Und damit würde sie selber die erste Frau seit Tausenden von Jahren sein, die zwei Söhne zur Welt brachte. Aber wird der neue Sohn in irgendeiner Weise so sein wie Hresh, überlegte sie sich.

Nein! Nie wieder würde es ein Kind geben wie den Hresh. Ihr Hresh war einzigartig. Auch hatte sie nie so einen wie Harruel gekannt. Sie liebte ihn, und sie fürchtete sich vor ihm, und an manchen Tagen hatte die Liebe die Oberhand, und an anderen Tagen war wieder die Furcht stärker, und dann gab es auch Zeiten, in denen beides sich gleichmäßig mischte. Er war dermaßen sonderbar. Die Götter hatten ihr in ihrem Sohn einen Fremdling in den Schoß gelegt, und nun lag auch dieser fremde Mann als Bettgefährte bei ihr. Wie konnte das denn geschehen? Harruel war dermaßen wuchtig und gewaltig, er war so stark, er übertraf alle die anderen so sehr an Kraft — doch, ja, gewiß, in seiner Kraft war er außergewöhnlich. Er besaß die Wucht eines herabstürzenden Berges. Aber da war noch etwas anderes. Es gab in seiner Seele einen düsteren Bereich. Und es nagte an ihm ein grämlicher Zorn. Als sie allesamt noch im Kokon gehaust hatten, war Minbain das nie aufgefallen, doch sobald sie auf Wanderung waren, wurde es unübersehbar. Tag und Nacht verdüsterte ihm eine Unruhe das Herz und trieb ihn um. Er lechzte nach etwas — aber wonach? Wonach?

Harruel wanderte eine Straße hinunter und dann durch eine andere wieder zurück; er hatte keine Ahnung, wohin er ging, und es kümmerte ihn auch nicht. Er spürte das scharfe kalte Licht des Mondes auf sich wie eine Peitsche, die ihn vorantrieb. Er hatte Minbain versprochen, er werde zurückkommen, und das wollte er auch. Aber nicht vor dem Morgengrauen. Er hätte doch keinen Schlaf finden können.

Diese Stadt war ein Kerker für ihn. Das Leben im kasernierten Kokon hatte er ziemlich unproblematisch gefunden und ertragen, weil ihm nie in den Sinn kam, daß es etwas anderes als dieses Leben geben könne. Jetzt aber, nachdem sie die Enge des Kokons abgeschüttelt hatten und er begreifen gelernt hatte, was es bedeutete, kühn und ungehindert unter dem freien Himmel zu schreiten, wurmte es ihn, daß er hier an diesem glattgeschniegelten Totenort festsitzen sollte, an dem es für seine Nase allzu stark nach dem vernichteten Volk der Saphiräugigen stank. Außerdem ließ es ihm die Galle schwellen und brannte ihm wie eine Feuerklette auf der bloßen Haut, daß er bis ans Ende seiner Lebenstage unter der Herrschaft dieses Weibes, dieser Koshmar, würde leben müssen.

Es war wirklich an der Zeit, daß die Weiberherrschaft beendet werde. Es war höchste Zeit, die Macht der Mannskönige neu zu errichten.

Aber leider, so schien es Harruel, würde diese Koshmar Häuptling sein und bleiben, bis er selbst alt und krumm und sein Fell ganz weiß waren. Denn es gab ja jetzt keine ‚Todestage‘ mehr. Koshmar war älter als er, aber sie war leider gesund und kräftig, und sie würde bestimmt noch sehr lange leben. Und nichts und niemand würde ihn je von diesem lästigen Weib in seinem Nacken befreien, es sei denn, er täte es höchstselbst mit eignen Händen; und an diesem Punkt setzte Harruel die Grenze. Es lag außerhalb seiner Möglichkeiten, jemals seinen legitimen Führer zu töten. Ja, allein die Vorstellung von so etwas überstieg bereits sein Begriffsvermögen. Dennoch würde er es nicht sehr viel länger ertragen können, sich Koshmars Herrschaft zu beugen.

In letzter Zeit hatte er sich angewöhnt, häufig allein und in weiten Streifzügen durch die Stadt zu streifen, in dem Bestreben, sie genauer kennenzulernen. Diese Stadt — sie war für ihn der ‚Feind‘. Und er hatte stets dem Prinzip gehuldigt, daß es von Wichtigkeit sei, seinen Feind zu erkennen und zu kennen. Heute allerdings war er zum erstenmal in der Nacht losgezogen.

Alles sah verändert aus. Die Türme wirkten höher, die niedrigeren Bauten erschienen ihm flacher. Straßen krümmten sich in unvertrauten Richtungen und Winkeln. In jedem Schatten lauerte etwas Bedrohliches. Aber Harruel wanderte fürbaß und immer weiter. Schließlich trug er seinen Speer. Und er war furchtlos.

Einige Straßen waren mit makellosen Steinplatten bedeckt, als hätten die saphiräugigen Bewohner sie erst vorgestern verlassen. Andere Straßen waren aufgebrochen und zerspellt, und grobe Gräser erhoben sich zwischen den Pflasterplatten. Und wieder andere waren gänzlich ohne Decke und waren nur mehr von Erdschlamm bedeckte Schneisen zwischen Reihen von zerbröckelnden Häusern. Er begriff diese Stadt nicht. Er verabscheute sie. Ihm wurde übel bei der Vorstellung, daß sein leiblicher Sohn hier geboren werden sollte, hier, an diesem scheußlichen fremden Ort, an dem so ganz und gar nichts Menschliches war.

Es gab Gespenster hier. Und während er so dahinstreifte, hielt er nach ihnen Ausschau.

Er war sicher, daß überall Spuk und Geister lauerten. Sie mußten die Leute sein, die die Reparaturen ausführten. Aber sie taten es nachts, wenn keiner sie dabei sehen konnte. Wie es schien, wurden willkürlich eingestürzte Gebäude abgesichert, erhielten neue Fassaden, wurden von Trümmern befreit. Er sah die Veränderungen hinterher. Auch einige der anderen hatten dies bemerkt — Konya, Staip, Hresh. Wer aber ordnete das alles an?

Er spähte auch scharf nach kriechenden, schleichenden, stechenden Nachtgeschöpfen aus. Die meisten Plagen, mit denen Vengiboneeza geschlagen war, verschwanden mit Einbruch der Dunkelheit, mit Ausnahme jener, die in den Bauten selbst hausten. Aber das hieß noch nicht, daß er sich vor ihnen völlig in Sicherheit fühlen durfte.

Früh an einem Abend vor gar nicht langer Zeit, als Harruel wieder einmal ruhelos umherwanderte wie heute, gelangte er an den Rand des warmen Meeres, das gegen die Westflanke der Stadt brandete, und hatte dort beobachtet, wie ein Heer von häßlichen grauen Eidechsenwesen aus dem Wasser gekrochen kam. Es waren bösartige kleine Geschöpfe mit schlanken röhrenförmigen Leibern, etwa so lang wie sein Unterarm, mit feisten fleischigen Beinen und knautschigen, grünen, hinter dem Hals gefalteten Flügeln, und in ihren hellen gelben Augen stand ein unheilschwangeres Glitzern. Sie gaben einen grollend-brummenden Ton von sich, drohend und ekelhaft, als stießen sie drohend seinen Namen aus: „Harruel! Harruel! Harruel! Heut werden wir dich zum Nachtmahl fressen!“

Wie eine dichtgedrängte Insektenschar rückten sie mit schnappgierigen Kiefern näher, bis sie nur mehr dreißig Schritt von ihm entfernt waren und er Umschau hielt, ob er nicht etwas fände, womit er sich verteidigen könnte. Zurückweichend hob er eine Handvoll Kiesel auf und noch eine und beschoß die Anrückenden damit, ohne sie jedoch zum Innehalten bewegen zu können. Als sie jedoch bis zu einer Reihe rechteckig geschnittener Grünsteinquader gelangten, die direkt unter seinem Standpunkt in die Ufermauer eingelassen waren und auf denen winzige rätselhafte Gesichter eingemeißelt waren, hielten sie plötzlich an, als wären sie wider einen unsichtbaren Wall gestoßen. Darauf machten sie trübselig-träge und bestürzt kehrt und strebten wieder dem Wasser zu. Vielleicht war ihnen die Witterung von einer noch ekelhafteren Tiergattung zugeweht, deren Schwarm sich jenseits dieser Trümmersäulen befand, dachte er. Oder — vielleicht mögen sie einfach nicht, wie ich rieche. Wie dem immer war, er begriff, daß er Glück gehabt habe, so leicht davonzukommen.

Bei anderer Gelegenheit sah er Wolken von Geflügelten in einem derart dichten Schwarm droben dahinziehen, daß sie in der Mitte des Tages das Firmament verdunkelten. Er hielt sie für diese wilden weißäugigen Wesen, die sie als Blutvögel bezeichneten und die seinerzeit drüben im flachen Land dem Stamm so zugesetzt hatten. Er stand gespannt da, bereit, sogleich zur Siedlung zu laufen und den Alarm zu geben, doch obgleich die Fluggeschöpfe unentwegt über der Stadt kreisten und kreisten, stiegen sie doch nie tiefer als bis zu den höchsten Spitzen der höchsten Türme herab.

Inzwischen befand er sich den Grünsteinsäulen ziemlich nahe, wo der Standort der Drei Wächter der Saphiräugigen war. Nicht weit entfernt lag vor ihm die Zufahrtschneise am Rand des Dschungels.

Ohne bestimmte Absicht schritt er auf das Südtor zu. Doch ein, zwei Minuten später blieb er wie gebannt stehen. Hinter sich vernahm er ein Geräusch, wie wenn jemand atmete und sich umherbewegte. Er packte den Speer fester. War etwa Minbain ihm gefolgt? Oder war es eines der Gespenster, die im geheimnisvollen Dunkel der Nacht durch die Stadt patrouillierten? Er wirbelte auf dem Absatz herum und spähte in die nächtlichen Schatten.

„Wer da?“

Stille.

„Ich hab dich gehört. Komm heraus, damit ich dich sehen kann!“

„Harruel?“ Die Stimme eines Mannes, tief und fest und vertraut.

Ja, wer sonst sollte ich denn sein? Bist du das, Konya?“

Aus der Finsternis kam ein Lachen. „Du hast ein gutes Ohr, Harruel.“

Konya tauchte auf und kam langsam nach vorn. Ein großer Mann, auch wenn er Harruel nur bis an die Schultern reichte; aber weil sein Brust- und Rückenumfang so beträchtlich war, wirkte er nicht so hochgewachsen, wie er in Wahrheit war. Im Stamm galt er als zweithöchster Krieger, und man vermutete allgemein, er sei Harruels Rivale und von Neid über dessen Vorrangstellung zerfressen. Und nur sie beide wußten, wie falsch eine solche Vermutung war. Konya war stark genug, sich bewußt zu sein, daß es keinerlei Schmach darstellte, nicht der Allerstärkste zu sein. Und sein Naturell war still, eher unzugänglich, aber ausgeglichen. Harruel gegenüber empfand er eine Achtung, die sich aus der natürlichen Ordnung der Dinge ergab, aber keineswegs Neid; und Harruel empfand seinerseits gleichfalls Respekt für ihn, auch wenn ihm bewußt war, daß Konya ihm nicht ebenbürtig sei.

„Also wanderst auch du heute nacht umher“, sagte Harruel.

„Ich konnte nicht einschlafen. Der Mond schien mir in meinem Bett zu grell in die Augen.“

„Jaja, im Kokon gab es solche Probleme nicht.“

„Nein“, sagte Konya mit einem leisen Lachen. „Der Mondschein machte uns keinen Ärger, als wir im Kokon lebten.“

Danach schritten sie eine Weile schweigend weiter. Es ging durch eine Straße von Trümmerbauten, deren goldgetönte Fassaden perverserweise völlig intakt waren. Vor leeren Fensterhöhlen rankte sich noch immer das elegante, feingeschnittene Maßwerk aus weißem Stein. Prachtvoll gearbeitete Türen und Tore standen halboffen und ließen dahinter Trümmer oder Leere erkennen. Dann stießen sie auf ein Gebäude, bei dem dies umgekehrt war: Hier war die Fassade zur Straße verschwunden, so daß man an dieser Seite jeden der zahlreichen Stöcke entblößt und offen sehen konnte, aber das Innere des Baus war intakt. Wortlos trat Harruel ein und begann aufwärts zu steigen, ohne zu wissen, wonach er suchte. Konya folgte ihm gehorsam.

Es bereitete einige Schwierigkeiten, die Treppen zu bewältigen, die für Saphiräugige konstruiert waren; die vertikale Stufung war dermaßen abgeflacht und niedrig, daß die ganze Konstruktion mehr einer Rampe als einer Treppe ähnelte. Aber bald hatte Harruel heraus, daß es einfacher war, zwei oder gar drei dieser Stufen hüpfend zu überwinden, und damit wurde der Aufstieg leichter. Den ganzen Weg aufwärts befanden sich an den Wänden Skulpturen, die einem den Blick verwirrten. Von der Seite her gesehen, schienen sie Abbilder und Gestalten lebendiger Wesen zu sein, Saphiräugige und Hjjks und andere Geschöpfe, die in den Tagen der Großen Welt gelebt haben mußten, aber wenn man direkt auf sie blickte, lösten sie sich in Linien ohne jegliche Bedeutung auf. Die Räumlichkeiten in diesem Gebäude waren leer. Es lag nicht einmal Staub darin.

Schließlich verengte sich der Treppenschacht zu einer Spirale, die sich um ein halbes Dutzend Wendeln aufwärts erstreckte und sie endlich auf das dunkelgedeckte flache Ziegeldach führte. Sie standen hier hoch über dem ganzen Stadtbezirk. Die Stadt lag hinter ihnen, nördlich. Der Blick nach Süden über die Dachbrüstung bot die dichtgedrängten Baumdickichte des Dschungels, die gespenstisch im scharfen Mondschein schimmerten.

In den Baumwipfeln regte es sich, es waren kleine knackende Laute vernehmbar.

„Da sind Affen“, sagte Konya.

Harruel nickte. Sie schwangen sich durch die Baumwipfel, kaum weiter als einen guten Steinwurf entfernt, diese kreischenden, stinkenden, schnatternden Dschungelwesen. Wie sehr er sie verabscheute! Er hörte ein Rauschen in seinen Ohren. Wenn er nur könnte, er würde durch diesen Dschungel ziehen, von Baum zu Baum, und sie allesamt mit seinem Speer aufspießen und ihre widerwärtigen kleinen Kadaver zu einem Haufen auftürmen, damit die schnüffelnden Aasfresser sich ein Festmahl bereiten könnten.

„Dreckiges stinkiges Zeug“, sagte Harruel. „Ich würd die am liebsten alle umbringen. Bloß gut, daß die sich aus der Stadt raushalten, meistens wenigstens.“

„Ich seh manchmal welche. Aber nicht viele.“

„Ja, ein paar, ab und zu. Ist ja nicht weiter schwer für die, hier reinzukommen. Die brauchen doch bloß da drüben die freie Stelle zu überwinden, und schon sind sie bei uns drinnen. Bloß gut für uns, daß es meistens jeweils nur einer oder zwei sind. Yissou, wie ich die verabscheue! Widerliches Dreckszeug!“

„Harruel, es sind doch bloß wilde Tiere.“

„Tiere? Schleimiges Ungeziefer sind sie. Du hast sie doch selber gesehen, ganz aus der Nähe. Die haben doch keine Seele. Die haben doch keinen Verstand.“

„Aber die Saphiräugigen am Tor sagten, daß sie unsere Verwandten, unsere Vettern sind.“

Harruel spuckte aus. „Dawinno! Glaubst du etwa so was Blödes?“

„Ja, aber sie sehen uns doch wirklich ein bißchen ähnlich.“

„Alles, was zwei Beine und zwei Arme hat und einen Schwanz und auf den Hinterbeinen geht, würde uns ähnlich sehen. Aber wir sind Menschliche, Konya, und sie — sie sind Tiere.“

Konya schwieg eine Weile. „Du glaubst also, das ist so, Harruel? Aber wie steht es denn damit, was der Saphiräugige gesagt hat, daß nämlich wir selber überhaupt keine Menschen sind, daß die Menschen überhaupt eine ganz und gar verschiedene Rasse waren — und daß wir nichts weiter sind als übermäßig eingebildete Affen?“

„Wir sind menschlich, Konya. Was sonst sollten wir denn sein? Hast du das Gefühl, du bist mit diesen Tieren verwandt, die da draußen an ihren Schwänzen baumeln?“

„Aber der Saphiräugige hat gesagt.“

„Ach, die Saphiräugigen sollen zu Dawinno fahren! Die sind nichts weiter als tote Lügner. Die wollen nichts, als uns Ärger machen!“ Harruel wandte sich Konya zu und funkelte ihn eisig an. „Schau mal: Wir, wir denken, wir reden, wir haben Bücher, wir kennen die Götter. Also sind wir Menschliche. Ich weiß das einfach. Und ich habe keinen Zweifel daran. Und es spielt für mich keine Rolle, was ein Saphiräugiger sagen mag. Außerdem, sie haben uns ja in die Stadt reingelassen, oder etwa nicht? Und diese Stadt ist aufbewahrt und vorbehalten den Menschlichen, die da kommen werden, wenn der Winter zu Ende geht. Das sagen die Prophezeiungen. Und der Winter ist zu Ende, und wir sind hier, und zwar mit dem Einverständnis der Drei Wächter. Also sind wir klar genau jene, die hierher kommen sollten. Die Menschen, heißt das.“

„Koshmar hat sie dazu bewogen, uns reinzulassen.“

„Bewogen — die? Wo die Zauberkräfte in Händen haben? Nein, Konya, das war nicht Koshmars Werk. Sie hätte den ganzen Tag lang auf sie einreden können, aber wenn die gedacht hätten, daß wir keine Menschlichen sind, die hätten uns nie und nimmer eingelassen. Nein, die haben uns den Zugang erlaubt, weil es unsere Bestimmung war, hierher zu kommen, unser Recht, hierher zu kommen, und das wußten sie. Mit ihren blödsinnigen Lügen wollten sie uns nur auf die Probe stellen, ob wir über ausreichend Herzensstärke verfügten, unser Recht einzufordern. Wenn Koshmar nicht das Maul aufgemacht hätte, dann hätte ich es getan, und sie hätten sich mir gefügt. Und wenn sie nicht nachgegeben hätten, dann hätte ich diese drei Saphiräugigen niedergestreckt, um uns den Zutritt hierher zu verschaffen.“

Nach einem weiteren längeren Schweigen fragte Konya: „Du hättest sie niedergestreckt? Wo die doch Zauber in den Händen haben?“

„In diesem Speer steckt auch ein Zauber, Konya.“

„Aber wie könntest du etwas töten, das nicht lebendig ist? Der Knabe Hresh sagt, es sind nur Künstliche in der Gewandung von Saphiräugigen, keine echten.“

Harruel nickte beiläufig und gelangweilt. Er hatte das Interesse an dem Gespräch verloren. Er kniff die Augen gegen das Mondlicht zusammen und starrte zu der tobenden fröhlichen Affenhorde hinüber. Und in seiner Seele schwärender Groll und schwarze Gedanken an ein Gemetzel.

Nach einiger Zeit sprach er: „Diese Stadt steckt voller Rätsel und Geheimnisse. Ich finde, sie ist ein unguter Ort.“

„Ich finde sie abscheulich“, sagte Konya mit einer plötzlichen, völlig überraschenden Heftigkeit. „Ich verabscheue sie so stark, wie du die Dschungelaffen verabscheust.“

Harruel wandte sich ihm mit weitgeöffneten fragenden Augen zu. „Wirklich?“

„Weil es ein toter Ort ist. Er hat keine Seele.“

„Aber nein, er lebt“, sagte Harruel. „Sicher, irgendwie ist es hier tot, da geb ich dir schon recht, aber irgendwie lebt das auch. Und ich finde es genauso scheußlich wie du, aber nicht weil es tot ist. Es gibt hier ein ganz fremdartiges Leben, das irgendwie nicht unser Leben ist. Und die Stadt hat eine Seele, aber sie ist nicht wie die unsere. Und aus diesem Grund verabscheue ich sie.“

„Tot oder lebendig, ich würde liebend gern schon morgen von hier abhauen, Harruel. Und ich wäre selig, wenn ich sie nie zu Gesicht bekommen hätte. Wir hätten überhaupt erst gar nicht herkommen sollen.“ Etwas in Konyas Stimme schien Harruel anzuflehen, er möge doch zustimmen.

Aber Harruel schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er, „so nicht, Konya. Es war schon richtig, daß wir hierher zogen. Es gibt in dieser Stadt Dinge, die für uns wichtig sind. Du weißt doch, wie es in den Chroniken steht. Wir sollen in Vengiboneeza uralte Dinge finden, aus dem Besitz der Saphiräugigen, die uns helfen werden, die Welt zu beherrschen.“

„Aber wir sind schon viele Monde hier, und wir haben nichts gefunden.“

Mit einem Achselzucken sagte Harruel: „Koshmar ist zu bedachtsam und zauderlich. Sie läßt ausschließlich den Hresh suchen, keinen sonst.

Eine riesige Stadt — ein kleiner Knabe. nein, wir alle sollten Tag für Tag draußen sein und jeder sollte in den versteckten Orten suchen. Diese Dinge sind hier. Und wir werden sie früher oder später auch finden. Und dann müssen wir sie in Besitz nehmen und von hier verschwinden. Das ist nämlich wichtig dabei, daß wir von hier fortgehen, sobald wir erreicht haben, was zu tun wir gekommen sind.“

Konya sprach: „Also, mir kommt es ja so vor, wie wenn Koshmar vorhätte, für immer und ewig hierzubleiben.“

„Nun, so soll sie doch bleiben.“

„Nein, was ich meine, ist, daß sie möchte, daß wir allesamt hier ble iben sollen. Diese Stadt wird für sie zu einem neuen Kokon. Sie denkt überhaupt nicht an Aufbruch.“

„Wir müssen aber weiter und fort“, sagte Harruel. „Auf uns wartet die ganze Welt. Wir sind ihre neuen Herren und Meister.“

„Trotzdem, ich glaube, Koshmar.“

„Koshmar spielt keine Rolle mehr!“

Verwirrung glomm plötzlich in Konyas Augen auf. „Aber, was sagst du denn da, Harruel?“

„Was ich sage, das ist, daß wir zu einem ganz bestimmten Zweck und in bestimmter Absicht in diese Stadt gekommen sind, und zwar um zu erfahren, wie wir in der Zeit des Neuen Frühlings über die Welt herrschen können, und wir müssen uns mit allen unseren Kräften bemühen, dieses Ziel zu erreichen. Und danach müssen wir von hier weiterziehen, auf daß wir anderwärts unser Schicksal erfüllen. Du verabscheust diesen Ort hier. Ich auch. Und wenn Koshmar da anders denkt, so kann sie sich liebend gern hier niederlassen und immer hier bleiben. Aber wenn die Zeit gekommen ist — und sie muß zwangsläufig bald kommen —, dann werde ich das Volk von hier in die Freiheit führen.“

„Und ich, ich will dir folgen“, sagte Konya.

„Das weiß ich.“

„Aber wirst du auch alle die anderen mitnehmen?“

„Nein, nur die, die mir folgen wollen“, sagte Harruel. „Nur die Starken und Kühnen. Die anderen können von mir aus hier bis ans Ende ihrer Lebenstage versauern, es soll mich nicht kümmern.“

„Also wirst du dich dann zum Häuptling machen?“

Harruel schüttelte den Kopf. „Häuptling, das ist ein Titel aus der Zeit des Lebens im Kokon. Und dieses Leben ist vorbei. Außerdem sind die Häuptlinge Weiber. Wenn Koshmar Lust dazu hat, kann sie von mir aus gern Häuptling bleiben, allerdings wird sie einen verdammt winzigen Stamm haben, über den sie herrschen kann. Nein, ich werde mir einen anderen Titel zulegen, Konya.“

„Und was für ein Titel wird das sein?“

„Man wird mich König heißen“, sagte Harruel.

Die milde Witterung, in deren Genuß das Volk seit dem Einzug in Vengiboneeza gekommen war, endete mit einem Schlag, und es folgten drei Tage voller stürmischer Winde aus dem Norden mit schweren kalten Regengarben. Der Himmel verfinsterte sich und blieb schwarz. Man sah Geschöpfe der Luft, die unsteten Flugs gegen den Wind ankämpften und vergeblich sich mühten, nach Westen zu streben, während sie beständig weit in den Süden abgetrieben wurden.

„Ein neuer Todesstern hat die Erde getroffen“, sagte Kalide zu Delim. „Der Lange Winter kehrt zurück.“

Delim trug diese Information weiter und erklärte Cheysz, sie habe gehört, daß der Regen sich bald in Schnee verwandeln werde.

„Und wir werden alle erfrieren“, sagte Cheysz zu Minbain. „Wir müssen alles abdichten und versiegeln, so wie es damals im Kokon gewesen ist, oder wir werden des Todes sterben, wenn der Lange Winter wiederkehrt.“

Und Minbain ließ Hresh zu sich rufen und fragte ihn aus, was er von diesen Dingen wisse. „War es also nichts weiter als ein Scheinfrühling?“ fragte sie streng. „Und sollten wir nicht in den Höhlen unter Vengiboneeza Nahrung einlagern, damit wir die Zeit des Frostes überdauern?“ Das Leben hier in Vengiboneeza, sagte sie, sei zu leicht geworden, zu bequem, es sei eine Falle, die ihnen die Götter aufgestellt hätten: Die Sonne werde sich verdunkeln und ausgelöscht werden, über Monde oder gar Jahre hin, und sie würden allesamt zugrunde gehen, wenn man nicht Sofortmaßnahmen ergreife. In den alten Kokon könne man unmöglich zurückkehren; nein, sie würden sich hier in Vengiboneeza Schutz und Zuflucht schaffen müssen. Aber selbst hier, so groß Vengiboneeza auch sein mochte, würde sich vielleicht nicht ausreichend Asyl finden lassen, falls der Lange Winter wieder über die Welt hereinbräche. Schließlich, die Saphiräugigen hätten ja hier auch nicht überleben können. Als würde der Stamm ein günstigeres Schicksal haben?

Hresh lächelte. „Du besorgst dich zu sehr, Mutter. Es besteht nicht die Gefahr des Erfrierens und des Frosts. Das Wetter hat sich nur gerade mal ein wenig verschlechtert, und in ganz kurzer Zeit wird es sich wieder bessern.“

Aber das Gerücht war sogar bis an Koshmars Ohren gedrungen und war unterwegs verhängnisvoll angeschwollen. Darum sandte auch sie nach Hresh. „Bedeutet dies wahrlich die Wiederkunft des Langen Winters?“ fragte sie ihn, und sie sah dabei düster aus und verkniffen, hatte den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen, und ihre Augen unter den gesenkten Lidern funkelten hart. „Trifft es zu, daß die Sonne tausend Jahre lang nicht mehr scheinen wird?“

„Es ist weiter nichts als ein übler Wettersturz — glaube ich.“

„Aber wenn es hier im geschützten Vengiboneeza schon so schlimm ist, dann muß es anderwärts noch viel scheußlicher zugehen.“

„Vielleicht. Aber in ein paar Tagen wird es hier wieder angenehm warm sein, Koshmar. Jedenfalls glaube ich das.“

„Du glaubst es! Nimmst es an? Aber kannst du sicher sein, daß es so kommt? Es muß doch eine Methode geben, wie man das feststellen kann.“

Er warf ihr einen unsicheren Blick zu. Koshmar hatte für sich und Torlyri ein schnuckeliges Nest eingerichtet in diesem festen kleinen Haus im Schatten des Großen Turmes. An den Wänden hingen zartduftende Binsengewebe, überall waren dicke Fellteppiche und Sträuße trockener Blüten. Und doch pfiff nun der bittere Wind peitschend gegen die Fenster und schoß durch die Luftschächte und brachte einen eisigen Hauch in den Raum. Von allem Anfang an hatte Koshmar immer darauf beharrt, daß der Lange Winter beendet sei. Sie hatte sich mit der ganzen Glut ihres Herzens dafür stark gemacht, den Auszug aus dem Kokon zu organisieren und den Großen Treck nach Vengiboneeza zu führen. Hresh kam der Gedanke, daß etwas in Koshmar zerspellen könnte, sollte es sich erweisen, daß sie sich geirrt hatte.

Sie verlangte also nach Sicherheit, nach Bestätigung von ihm, ihrem Chronisten, von ihrem Stab und Stecken der Weisheit. Aber was hatte er ihr zu sagen? Er wußte über Wind und Stürme ebensowenig wie alle anderen. Er war aufgewachsen in dem Kokon, in dem keine Winde wehten. Vielleicht wäre Thaggoran in der Lage gewesen, die Omina zu deuten und Koshmar wahrzusagen, was die jetzige Lage betraf. Thaggoran, tief verwurzelt, eingebettet im Schatz der Überlieferung, war fast jeder Situation gewachsen gewesen. Aber er war eben ein alter und weiser Mann gewesen. Und Hresh war nur jung und klug und noch kein Mann — und das war durchaus nicht vergleichbar.

Es muß eine Methode geben, wie man das herausfinden kann, hatte Koshmar gesagt.

Und es gab einen Weg. Der Barak Dayir konnte ihm vielleicht die Wahrheit sagen; doch während der Wochen, die verstrichen waren, seitdem er zum erstenmal den Mut aufgebracht hatte, den schimmernden Stein aus seiner Umhüllung zu holen und sein Sensororgan um ihn zu legen, war er mit für ihn außergewöhnlicher behutsamer Zurückhaltung verfahren und hatte seine Bemeisterung des magischen Dinges nur minutenlang, in allmählichen Schritten ausgedehnt. Er hatte gelernt, wie man den Stein zum Leben erweckt und wie man den starken Zauberschwall der in ihm enthaltenen Musik auslöst, und er hatte gelernt, wie er seine Stärke gegen die Grenzen seines Bewußtseins branden lassen mußte. Aber weiter war er bisher nicht vorzudringen bereit und mutig genug gewesen. Man konnte ja leicht einsehen, wie schnell der Wunderstein ihn verschlingen konnte, wie leicht er seine Seele gänzlich in den Strom und Strudel der alles Verstehen übersteigenden Stärke verstricken konnte. Und wenn er sich erst einmal diesem Strudel preisgegeben hatte, gab es vielleicht kein Zurück mehr. Und deshalb hatte er sich dazu gezwungen, dem Unwiderstehlichen Widerstand zu leisten. Er hielt sein Denken wach, beweglich und war auf der Hut: stets sprang er hastig zurück, wenn der Gesang des Barak Dayir zu süß verführend und verlockend wurde. Zwar tauchte er jedesmal, wenn er den Stein hervorholte, ein wenig tiefer in sein Wesen ein, aber er achtete darauf, daß er nicht von seiner Seele Besitz ergreife, wie insgeheim fürchtete, daß es der Fall sein könne; aber deshalb wußte er auch, daß er noch weit davon entfernt war, dieses rätselhafte, geheimnisvolle Instrument zu beherrschen.

Der Sturm, der über uns gekommen ist, dachte er, ist die Strafe der Götter für meine feige Faulheit. Und wenn dieser Sturm vielleicht Koshmar dazu veranlaßt, in ihrem Schrecken sich zu erzürnen, dann werden die Götter sie führen, so daß sie ihren Zorn gegen mich richtet. Also muß ich handeln.

Er aber sagte: „Ich werde den Wunderstein um Rat angehen, Koshmar. Und er wird mir verraten, was dieser Wettersturz zu bedeuten hat.“

„Gut. Genau das hoffte ich, daß du tun würdest.“

Er lief eilends in den sechseckigen Turm, der jetzt der Heilige Tempel war, und dort in die Kammer, in welcher er die Lade mit den Schriften aufbewahrte — und wo er in letzter Zeit auch meistens schlief, denn er fand sich in dem Gemeinschaftsschlafsaal, in dem die übrigen unverheirateten jungen Stammesmitglieder hausten, nicht mehr so recht^ am Platz. Ohne Zaudern zerrte er den Wunderstein aus seinem Beutel. Über ihm krachte entsetzlich der Donner des Unwetters.

Er legte sein Sensororgan um den Stein und richtete rasch den Strahl seines Zweiten Gesichts darauf. Aufschub konnte nun nur noch einen Fehlschlag bewirken. Ab sofort drang von dem Stein diese fremdartige intensive Musik zu ihm, wie er sie ein dutzendmal und öfter erlebt hatte. Diesmal aber, da er wußte, daß er nicht schwanken dürfe, öffnete er sich und machte sich für diese Musik weit, wie es bisher nie so gewesen war. Er fühlte, wie die Musik von ihm Besitz ergriff — und er erlaubte es, daß er selbst in diese Musik überging, die Musik wurde.

Er war eine Säule aus reinem Klang und hob sich, ohne auf Widerstand zu stoßen, bis zum Dach der Welt.

Er schwang sich auf den Rücken des Sturms. Er ragte weit über Vengiboneeza empor wie ein Gott. Die Stadt erschien ihm wie ein Spielzeugmodell ihrer selbst. Die erhabenen Bergketten, die sie beschützten, kamen ihm nun nur wie schlichte niedere Bodenerhebungen vor. Das große Meer im Westen der Stadt war nichts weiter als eine bleigraue, windgezauste Pfütze, die halb versteckt unter schwarzen Wolkenwirbeln lag, die sich um seine Knöchel schmiegten. Jenseits erblickte er Land, und dahinter eine noch gewaltigere See, eine See, die sich schimmernd so gewaltig um die Krümmung der Welt bog, daß nicht einmal er — so kolossal groß er nun geworden war — die andere Küste ausmachen konnte.

Er sah die Sonne. Er erblickte den Himmel, blau und strahlend über dem Rücken des Sturms. Er spähte nach Osten, wo der Große Fluß lag und ihr alter Kokon, und er sah, daß dort die Luft klar war und daß dort die Wärme des Neuen Frühlings noch herrschte.

Es gab keinen Anlaß zu Ängsten. Der Barak Dayir hatte ihm verraten, was zu wissen ihm nottat. Nun konnte er wieder hinabsteigen und Koshmar die frohe Kunde vermelden.

Aber er blieb länger, als notwendig gewesen wäre. Es fiel ihm nicht leicht, die Herrlichkeit seines Höhenfluges wieder preiszugeben. Die Musik, die sein neues Selbst war, dröhnte majestätisch über die Welt, sie brach über das Meer herein und über das Land, über die Berge und durch die Täler in schrecklicher, in gewaltiger Größe. Er blickte zum Mond und streckte ihm eine tastende Klangranke entgegen, so leicht und unbeschwert, wie er in seinem früheren Leben die Hand nach einer Frucht an einem tiefhängenden Ast ausgestreckt hätte. Er wußte: es würde ein Leichtes sein, den Mond mit Klang zu umspinnen, ihn auf seiner Bahn zu verschieben, oder ihn näher an die Erde heranzuholen, oder ihn gar ganz zu zerquetschen. Aber er konnte auch den Mond völlig ignorieren und sich selbst in die Leere und Tiefe hinausschleudern und mitten unter den Sternen schwimmen. Nie hätte er sich eine derartige Macht vorstellen können. Der Zauberstein konnte einen zum Gott machen.

Und dann begriff er, warum der alte Thaggoran den Wunderstein so gefürchtet hatte, warum er gesagt hatte, er sei gefährlich. Es war nicht so, daß der Stein dem, der ihn benutzte, etwas Böses antun würde; aber seine Kraft war so gewaltig, daß durch sie dem Benutzer jegliches Urteilsvermögen abhanden kam und er — geblendet vom Glanz seiner erborgten Gottähnlichkeit — sich selbst sehr leicht Schaden zufügen konnte. Die Gefahr lag in der Maßlosigkeit.

Mit ihm bislang in seinem ganzen Leben unbekannt gebliebener Anstrengung hangelte Hresh sich wieder zurück. Er stieg wieder in seinen Leib hinab; er gab seine Gottheit auf und streifte sie ab. Er schrumpfte wieder in sein Selbst zurück, und lag dann da auf dem Steinboden der Kammer, schlaff und schwitzend, bebend und betäubt.

Nach einigem raffte er sich auf, verstaute den Stein in seinen Beutel und verbarg ihn an seinem Ort, und dann verschloß und versiegelte er die Lade mit achtsamerer Sorgfalt als gewöhnlich. Draußen fiel noch immer schwer der Regen, ja vielleicht strömte er sogar dichter als vordem, obwohl Hresh den Eindruck hatte, als sei er nun weniger wild und heftig, gewiß, ein hartnäckiges unablässiges Niederströmen von hämmernden Wasserfluten, aber doch eben nicht mehr ganz so wütend wie vordem. Noch immer war der Himmel dunkel, doch er glaubte, daß er hier und dort eine Aufhellung in der Finsternis ausmachen könne.

Hresh achtete des Regens nicht, sondern trabte hinüber zu Koshmars Haus. Torlyri war inzwischen ebenfalls dort, und die beiden Frauen kuschelten sich aneinander wie furchtsame Tiere. Nie zuvor hatte Hresh eine der beiden in solch einem Zustand gesehen: weit aufgerissene Augen, die Zähne schnatternd, das Fell geplustert und gesträubt. Als er eintrat, machten sie ein paar Anstalten, sich wieder in die Gewalt zu bekommen doch ihr Entsetzen blieb trotzdem weiterhin unübersehbar.

Mit unterdrückter, flüsternder Stimme fragte Koshmar: „Ist das das Ende der Welt?“

Hresh starrte sie an. „Was meinst du damit?“

„Ich dachte, der Himmel zerreißt. Ich dachte, die Blitze entzündeten die Berge mit Feuer.“

„Und die Donner“, sagte Torlyri. „Wie eine riesige Trommel. Ich hab schon gedacht, ich werde taub davon.“

„Ich habe nichts gehört“, sagte Hresh. „Ich habe nichts gesehen. Ich hatte im Tempel zu arbeiten und habe nach den Antworten gesucht, die du von mir haben wolltest.“

„Du hast gar nichts gehört?“ fragte Torlyri. „Ganz und gar überhaupt nichts?“ Die beiden fröstelten immer noch. Also muß es wohl wirklich kataklystische Ausmaße gehabt haben, dachte er. Die Frauen konnten nicht begreifen, wie ihm entgangen sein könne, was da geschehen war.

„Vielleicht schützte mich der Stein gegen den Lärm des Sturmes ab“, sagte er.

Aber er wußte, daß das nur ein Teil der Wahrheit war, und überdies ein sehr kleiner Teil. Denn was da an fürchterlichem Aufruhr geschehen sein mochte — es war sein Werk gewesen. Er hatte den gewaltigen Donner und die schrecklichen Blitze ausgelöst, während er den Wunderstein benutzte — und ihn möglicherweise auch ein wenig falsch benutzte. Natürlich hatte er das Getöse nicht gehört, so hoch droben, wie er gewesen war. Er war schließlich das Getöse gewesen, als dieses seinen Höhepunkt erreicht hatte.

Aber, das zu wissen, das wäre für die beiden Frauen gar nicht so besonders gut.

Er sagte also nur: „Ich habe jetzt die Gewißheit, die du haben wolltest, Koshmar. Der Wunderstein hat mir die Umgrenzung und Ausmaße des Unwetters gezeigt. Nach Osten und Westen hin ist alles frei und klar, und die angrenzenden Lande sind sämtlich unbetroffen und freundlich.

Es ist also keine Wiederkunft des Langen Winters, und es ist auch kein neuer Todesstern niedergestürzt. Es ist nur ein Gewitter, Koshmar, ein sehr schweres Unwetter, aber es wird nicht mehr lange anhalten. Wir haben nichts zu befürchten.“

Und tatsächlich, nach wenigen Stunden wurde der Sturm schwächer, der Donner verstummte, der Regen ließ nach, und in der Schwärze droben brachen Flecken blauen Himmels auf.

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