2. Kapitel Und gierend geifernd nach deinem Fleisch

Thaggoran schlurfte weiter, dicht an seinem Platz hinter Koshmar und Torlyri her. Es pochte in seinem linken Knie, und beide Fußgelenke waren steif, und der schaurig-kalte Wind biß ihm durch den Pelz, als trüge er gar keinen. Seine Augen waren geschwollen und verklebt von der stechenden Sonne. Es gab kein Entrinnen vor diesem gewaltigen wütenden wabernden Licht. Es erfüllte das ganze Firmament und strahlte von jedem Fels, jedem Fleckchen Boden zurück.

Es war eine schwere Mühsal für einen Mann von fast fünfzig Jahren, das kuschelige Wohlbehagen im wohnlichen Kokon preiszugeben und durch solch ungewohnte, abweisende Weltweite zu wandern. Doch war es gerade die Ungewohntheit, die Fremdartigkeit, die ihn vorantrieben, Stunde um Stunde, Tag um Tag. Denn trotz all seines eifrigen Studiums in den Chroniken hatte er sich nie vorgestellt, daß es in der Welt derartige Farben, solche Gerüche, solche Formen geben könne.

Das Land hier war rauh und nahezu leer, eine breite unfruchtbare Ebene. Ihre Abgestorbenheit wirkte entmutigend. Ringsum sah Thaggoran nur angstzerquälte Gesichter. Furcht hatte das ganze Volk ergriffen. Sie spürten eine schreckliche Nacktheit und Entblößung, nachdem sie ihren Kokon verlassen hatten und sich nun dermaßen weit entfernt von dem vertrauten Versteck befanden, das ihnen ihr Lebtag lang Schirm und Schutz und Heimat geboten hatten. Aber Koshmar und Torlyri mühten sich gewaltig, die drohende Panik von den Wandernden abzuwehren. Thaggoran sah, wie sie immer und immer wieder denen zuhilfe eilten, die von ihren Ängsten überwältigt zu werden drohten. Er selbst verspürte wenig Furcht, bestenfalls die vor der drohenden Erschöpfung; doch er zwang sich weiter und lächelte tapfer, wenn immer jemand zu ihm herblickte.

Als der Tag verstrich, dunkelte der Himmel mehr und mehr: aus einem hellen harten Fahlblau blühte eine dunklere, üppigere Färbung, die dann, während die Schatten sich sammelten, fast purpurn und dann düstergrau wurde. Das hatte er nicht erwartet. Er wußte über die Gegebenheiten von Tag und Nacht aus den Chroniken, aber er hatte sich stets vorgestellt, die Nacht sinke herab wie ein Vorhang, der das Licht wie mit einem einzigen Hieb abschneidet. Daß sie langsam dahergeschritten komme durch die späten Stunden, daran hatte er nicht gedacht, ebensowenig daran, daß das Licht der Sonne sich gleichfalls verändern könne, über den Nachmittag hin immer rötlicher würde, bis dann, wenn das Firmament sich gerade grau zu färben begann, die Sonne sich in einen prallen roten Ball verwandelte, der dicht über dem Horizont schwebte.

Spät am Nachmittag des ersten Tages, als gerade die langen Purpurschatten über das Land zu kriechen begannen, war die vorderste Marschlinie auf drei große vierbeinige Bestien gestoßen, Tiere mit mächtigen spießartigen Hörnern, die scharlachrot in Dreierpaaren von ihren Schnauzen hervorragten. Sie weideten anmutig an einem Hang und bewegten sich dabei mit achtsam hochbeinigen Schritten, als tanzten sie einen feierlichen Tanz. Doch bei der ersten Witterung, die sie von den Menschen bekamen, rissen sie entsetzt die Köpfe empor und stoben in wilder Flucht mit verblüffender Schnelligkeit über die Ebene davon.

„Hast du die gesehen?“ fragte Koshmar. „Was waren das für Geschöpfe, Thaggoran?“

„Weidende Tiere“, sagte er.

„Aber wie lautet ihr Name, Alter Mann! Wie heißen sie, diese Geschöpfe?“

Er kramte in seinem Gedächtnis. Das „Bestiarium“ sagte nichts über langbeinige Geschöpfe mit dreipaarigen langen roten Stacheln auf den Nasen.

„Ich glaube, sie sind wohl während des Langen Winters erschaffen worden“, brachte Thaggoran vor. „Es sind keine Tiere, wie es sie in der Großen Welt gab.“

„Bist du dir ganz sicher?“

„Ja. Es handelt sich um unbekannte Geschöpfe“, sagte Thaggoran hartnäckig.

„Dann müssen wir ihnen aber einen Namen geben“, sagte Koshmar entschlossen und bestimmt. „Wir müssen allem einen Namen geben, das wir sehen. Denn, Thaggoran, wer weiß, vielleicht sind wir das einzige Menschenvolk, das es noch gibt. Also wird die Benennung mit Namen eine unserer Aufgaben sein.“

„Und das ist eine gute Aufgabe“, sagte Thaggoran, aber er dachte dabei an den brennenden Schmerz in seinem linken Knie.

„Also, welchen Namen sollen wir ihnen geben? Na, komm schon, Thaggoran, nenn uns einen Namen für sie!“

Er hob den Blick und sah die hohen graziösen Tiere in scharf gezeichneten Silhouetten vor dem dunklen Himmel auf dem Kamm eines fernen Hügels, von wo aus sie argwöhnisch zu der Marschkolonne herabspähten.

„Tanzhörner“, sagte er, ohne zu zögern. „Diese Tiere nennt man Tanzhörner.“

„So sei es denn! Tanzhörner sind sie!“

Die Dunkelheit verdichtete sich. Der Himmel war nun beinahe schwarz. Thaggoran blickte in die Höhe und sah ein paar Vögel mit weiten Schwingen im Dämmerlicht nach Osten fliegen, doch sie flogen zu weit droben, hoch über ihm, als daß er auch nur den Versuch einer Identifizierung hätte wagen können. Er stand da und starrte empor, und er malte sich aus, wie es sein mußte, wenn er selbst da so hoch droben dahinschwebte, mit nichts außer der Luft unter sich; für eine kurze Weile war dieser Gedanke erheiternd und erhebend, dann verwandelte er sich in Entsetzen, und er spürte in sich einen würgenden, ekligen Schwindel aufsteigen, der ihn fast hätte zu Boden stürzen lassen. Er atmete tief und wartete, daß es vorbeigehen möge. Dann hockte er sich nieder, grub die Knöchel seiner Hände in die trockene Festigkeit des sandigen Bodens, beugte sich vor und preßte sein ganzes Körpergewicht gegen die Erde. Sie trug und hielt ihn, genau wie es vordem der Boden des Kokons getan hatte. Das war tröstlich und beruhigend. Nach einer Weile erhob er sich und schritt weiter.

In der sich verdichtenden Schwärze begannen scharfe helle brennende Lichtpunkte aufzutauchen. Hresh hatte sich zu ihm vorgeschlichen und fragte, was das sei.

„Das sind die Sterne“, sagte Thaggoran.

„Was macht sie so hell? Brennen sie? Dann muß das aber ein sehr kühles Feuer sein.“

„Nein“, antwortete Thaggoran, „ein sehr feuriges Feuer, ein rasendes Feuer wie das Feuer der Sonne. Denn, Hresh, auch sie sind Sonnen. Wie die große Sonne, die Yissou in den Taghimmel gesetzt hat, um die Welt zu wärmen.“

„Die Sonne ist viel größer als die da. Und viel, viel heißer.“

„Aber nur, weil sie uns näher ist. Glaub mir Sohn: Was du da siehst, das sind feurige Kugeln, die im Himmel hängen.“

„Aha. Kugeln aus Feuer. Und sie sind sehr weit weg?“

„So weit weg, daß der kühnste Krieger bis an sein Lebensende laufen müßte, um nur den allernächsten von ihnen zu erreichen.“

„Aha“, sagte Hresh. „Aha.“ Und er stand da und starrte lange zu diesen — Sternen hinauf. Auch andere hatten innegehalten und beobachteten die verwirrenden flimmernden Lichterspitzen, die in immer größerer Zahl über dem Firmament auftauchten. Thaggoran verspürte ein Frösteln über seinen Leib laufen, und es kam nicht vom Abendwind. Er schaute das Himmelsfirmament voller Sonnen, und er wußte, es waren Welten um alle diese Sonnen angeordnet, und er verspürte das Verlangen, auf die Knie zu fallen und mit seiner Stirn die Erde zu berühren, zum Zeichen, daß er erkannt habe, wie winzig er sei und wie gewaltig die Götter, die das Volk in diese maßlose Welt herausgeführt hatten, diese Welt hier, die nur ein Sandkörnchen in der Unermeßlichkeit des Universums war.

„Da, schaut!“ sagte einer. „Was ist denn das?“ „Ihr Götter!“ schrie Harruel. „Ein Schwert im Himmel!“

Und wirklich, es erschien nun etwas Neues — eine blendendweiße Sichelklinge aus Licht, eine Sichel aus Eis glitt über den fernen Berg in ihr Gesichtsfeld. Ringsum lagen alle vom Stamm auf den Knien, brabbelten, stammelten verzweifelte Opfergebete zu dem großen schweigenden schwebenden Ding empor, das in kaltem blau weißen Schein über ihnen glühte.

„Der Mond!“ rief Thaggoran. „Das ist der Mond!“

„Der Mond ist rund wie ein Ball, hast du uns jedenfalls immer gesagt“, protestierte Boldirinthe.

„Aber er wechselt“, erklärte Thaggoran. „Manchmal ist er so wie jetzt, und manchmal ist sein Gesicht eben runder.“

„Mueri! Ich spüre das Licht des Mondes auf meiner Haut!“ jammerte einer der Männer. „Werde ich zu Eis erstarren, Thaggoran? Was wird geschehen? Was wird es mit mir machen? Oooh, Mueri-Friit-Yissou!“

„Ihr braucht euch nicht zu fürchten“, sagte Thaggoran. Doch er selbst zitterte nun gleichfalls. So vieles hier ist so fremd, dachte er. Wir sind in eine andere Welt eingetreten. Und wir stehen hier nackt unter diesen Sternen und diesem Mond, und wir wissen nichts, auch ich nicht, nicht einmal ich weiß etwas, und alle Dinge sind neu, und alle Dinge sind furchtbar.

Er trat zu Koshmar. „Wir sollten jetzt das Lager aufschlagen“, sagte er. „Es ist zu dunkel, um weiterzumarschieren. Und dann haben sie etwas zu tun, während die Nacht über uns kommt.“

„Was wird geschehen, wenn die Nacht kommt?“ fragte Koshmar.

Thaggoran zuckte die Achseln. „Schlaf wird kommen in der Nacht. Und dann kommt der Morgen.“

„Wann?“

„Wenn die Nacht getan ist“, sagte er.

In dieser ersten Nacht lagerten sie in einer Senke bei einem dünn dahinrieselnden Bach. Und wie Thaggoran vorhergesagt hatte: Die Arbeiten des Haltmachens, Auspackens und das Anlegen eines Lagerfeuers lenkten den Stamm von seinen ängstlichen Befürchtungen ab. Jedoch hatten sie sich kaum zur Ruhe niedergelassen, als irgendeine Art vielgelenkiger Insekten von der Länge eines Mannsbeines und mit riesigen vorgewölbten gelben Augen und mächtigen grünen Beinen, an deren Spitzen ekelhaft scharfe Klauen saßen, aus niedrigen Hügeln in der Nähe über die Erde zu strömen begannen. Das Licht des Lagerfeuers zog die Geschöpfe an, so schien es, oder aber die Wärme der Flammen. Sie sahen wild aus und häßlich-bösartig, und mit den glänzendroten Kiefern vollführten sie einen scheußlichen schnappenden Lärm. Die Kinder und auch einige der Frauen rannten kreischend vor ihnen davon; aber Koshmar trat hervor und durchbohrte furchtlos eines der Tiere mit einem verachtungsvollen Stoß ihres Speeres. Das Tier hämmerte seine beiden Enden erbärmlich eine Weile auf die Erde, ehe es starr wurde. Die anderen, die gesehen hatten, was ihrem Gefährten geschehen war, krochen ein Dutzend oder mehr Schritte zurück und starrten von dorther dumpf herüber. Und nach einer weiteren Weile wichen sie wieder in ihre Erdlöcher zurück und wurden von da an nicht mehr gesehen.

„Das sind Grünklauen“, sagte Thaggoran hastig — er hatte den Namen soeben erfunden —, bevor Koshmar ihn fragen konnte. Es war ihm peinlich, daß er die Namen der zwei Spezies nicht kannte, die ihnen als erste Geschöpfe auf ihrem Auszug in die Welt begegneten. Und im ‚Bestiarium‘ hatte auch nichts über diese Kreaturen gestanden. Dessen war er sicher.

Koshmar briet die tote Grünklaue über dem Feuer dieser Nacht, und sie und Harruel und ein paar andere Mutige kosteten von dem Fleisch. Sie gaben an, es besitze keinen besonderen großartigen Eigengeschmack, aber ein paar holten sich dennoch eine zweite Portion. Thaggoran selbst lehnte mit taktvollem Dank seine Zuteilung ab.

Während der Nacht stellte sich eine weitere ärgerliche Störung ein: kleine rundliche Geschöpfe von der Größe eines menschlichen Daumenpolsters, die sich in gewaltigen Wahnsinnssprüngen vorwärtsbewegten, obwohl sie keine sichtbaren Beine zu haben schienen. Wenn sie auf dem Leib eines Menschen landeten, bohrten sie sich sogleich tiefer in den Pelz und versenkten ihre winzigen Zähnchen in das Fleisch, was eine sensorische Reaktion wie von brennendheißen Kohlen hervorrief. Aus dieser und jener Richtung des Lagers hörte man laute Aufschreie ärgerlichen Unwillens oder von Schmerz, bis schließlich alle wachgeschrieen waren und das Volk sich in einem Kreis versammelte, um sich gegenseitig von dem Ungeziefer zu befreien, wobei sie die Plagetiere zwischen Zeigefinger und Daumen zerquetschten, nachdem sie sie unter einigen Schwierigkeiten aus dem Pelz des Geplagten herausgelöst hatten. Thaggoran bedachte sie mit dem Namen ‚Feuerkletten‘. Sie verschwanden mit dem Morgengrauen.

Der fahle Morgenschein holte Thaggoran aus einem unruhigen Schlaf. Fast schien es ihm, er habe überhaupt nicht geschlafen, aber dennoch konnte er sich an Träume erinnern: Gesichte von Gesichtern, die mitten in der Luft schwebten, eine Frau mit sieben furchtbaren roten Augen. an ein Land, in dem Zähne aus der Erde wuchsen. Er schmerzte am ganzen Körper. Die Sonne — sie sah klein, fest und abweisend aus — lag wie eine unreife Frucht auf dem gezackten Bergkamm im Osten. Er sah weit entfernt Torlyri, die das Morgenopfer darbrachte.

Kaum einer sprach ein Wort, als sie das Lager abbrachen. Wohin immer er auch blickte, Thaggoran sah nur bleiche, ausdruckslose Gesichter. Alle kämpften sichtlich mit der Kälte, der nachwirkenden Erschöpfung des Marsches vom Vortag, mit der ärgerlichen Schlafstörung durch die Feuerkletten, mit der Unvertrautheit der umgebenden Landschaft. Viele bedrückte die überwältigende Weite der Landschaft. Thaggoran sah, wie sie sich die Hände vor das Gesicht legten, als mühten sie sich, auf diese Weise einen persönlichen Kokon für sich zu schaffen.

Er selbst fühlte seine Seele bedrückt von dem kahlen, unfruchtbaren Terrain und dem scharfen, beißenden Klima. War dies denn wirklich der Neue Frühling? Oder hatten sie ihr kleines Nest im Berg zu früh verlassen und waren vorzeitig aufgebrochen in eine unwirtliche Winterszeit und in den sicheren Tod? Vielleicht sollten sie das ‚Buch der Unseligen Morgenröte‘ oder das ‚Buch des Kalten Erwachens‘ noch einmal ganz neu schreiben müssen.

Die Schimmersteine hatten dazu keine eindeutige Antwort geliefert. Seine Weissagungsversuche hatten in Zweideutigkeiten und Ungewißheit geendet, wie dies bei derartigen Unterfangen ja oft der Fall ist. „Ihr müßt hinausziehen“, hatten die Steine ihm befohlen, aber soviel hatte Thaggoran auch bereits selbst gewußt: denn hatten sich die Eisfresser nicht praktisch schon bis zu ihnen durchgefressen? Andererseits aber hatten die Steine auch nicht geweissagt daß sie in Glückseligkeit ausziehen würden, noch auch, daß dies der rechte Zeitpunkt sei.

Er entfernte sich von den anderen und schrieb für einige Zeit an der Chronik. Während er an der offenen Lade kauerte, die Hände über dem Buch, trat Hresh zu ihm, doch der Knabe stand nur da und schwieg, als fürchte er, ihn zu stören. Als Thaggoran geendet hatte, blickte er auf und sagte: „Nun? Möchtest du auch gern etwas auf diese Blätter schreiben, Knabe?“

Hresh lächelte ihm ins Gesicht. „Wenn ich das nur könnte.“

„Oh, ich weiß wohl, daß du schreiben kannst.“

„Aber nicht in deine Chronik, Thaggoran. Ich trau mich nicht, die Chronik zu berühren.“

Thaggoran sagte lachend: „Du klingst so fromm, Knabe.“

„Tu ich das?“

„Aber ich lasse mich trotzdem nicht täuschen.“

„Nein“, sagte Hresh. „Ich möchte nicht gern den Chroniken Schaden zufügen, indem ich versuche, etwas hineinzuschreiben. Ich könnte ja etwas Dummes niederschreiben, und dann würde man in all den kommenden Jahren lesen, was ich geschrieben habe, und sie könnten sagen: Der Narr Hresh hat diesen Blödsinn da verfaßt. Allerdings würde ich gern die Chroniken lesen können.“

„Ich lese sie dem Volk doch jede Woche vor.“

„Ja. Das weiß ich. Aber ich möchte sie gern für mich allein lesen. Alles, auch das in den ältesten Büchern. Ich will mehr über den Kokon wissen, wie er erbaut wurde und wer ihn erbaut hat.“ „Der Herr Fanigole erbaute unseren Kokon“, sagte Thaggoran. „Mit Balilirion und der Herrin Theel. Aber das weißt du doch bereits.“

„Ja. Aber wer waren sie? Das sind doch bloß Namen.“

„Das waren die URALTEN“, sagte Thaggoran. „Gar gewaltig waren sie und groß.“

„Saphiräugige — waren sie das?“

Thaggoran warf Hresh einen seltsamen Blick zu. „Wie kommst du denn auf so was? Du weißt doch, daß alle Saphiraugen starben, als der Lange Winter begann. Herr Fanigole und Balilirion und die Herrin Theel waren Leute von unserm Blut. Das heißt, sie waren Menschen, darin stimmen alle Texte überein. Aber sie waren die größten aller Helden, diese drei: Als das Entsetzen kam, als die Todeskälte einsetzte, bewahrten sie allein die Herzensgelassenheit und führten uns in den Schutzraum.“ Er pochte auf die Lade mit den Chronikbänden. „Das steht alles hier drin niedergeschrieben, da in diesen Büchern.“

„Ich möchte diese Bücher gern einmal lesen“, wiederholte Hresh.

„Ich glaube, du wirst die Möglichkeit dazu bekommen“, antwortete Thaggoran.

Graue Nebelschwaden wehten auf sie zu. Thaggoran machte sich daran, die heiligen Gegenstände wegzupacken. Seine Finger waren taub und steif vor Kälte und fuhren unbeholfen über die Schlösser und Siegel der Lade. Nach einiger Zeit winkte er mit einer ungeduldigen Bewegung Hresh zu Hilfe und zeigte dem Knaben, was er zu tun habe. Gemeinsam verschlossen sie den Kasten, und dann legte Thaggoran die aufgesprungenen Hände auf den Deckel, als könne er sich an dem Inhalt darunter wärmen.

Hresh fragte: „Werden wir je in den Kokon zurückkehren, Thaggoran?“

Und wieder blickte Thaggoran ihn verwirrt und prüfend an. „Wir haben den Kokon für immer verlassen, Knabe. Wir müssen vorwärts gehen, bis wir gefunden haben, was zu finden uns bestimmt wurde.“

„Und was ist das?“

„Das, was wir benötigen, um über die Welt zu herrschen“, sagte Thaggoran. „So, wie es geschrieben steht im Buche des Weges. Diese Dinge erwarten uns da draußen in den Trümmern der Großen Welt.“

„Aber — was ist, wenn das alles gar nicht wahr ist. Neuer Frühling? Sieh doch bloß, wie kalt es ist! Fragst du dich denn gar nicht, ob wir vielleicht irgendwie einen Fehler gemacht und zu früh herausgegangen sind?“

„Niemals“, versicherte Thaggoran. „Es kann keinen Zweifel geben. Sämtliche Vorzeichen waren günstig.“

„Ja, aber trotzdem ist es sehr kalt“, sagte Hresh.

„Ja, wahrlich. Sehr kalt. Aber siehst du nicht, wie die Nacht langsam den Tag erstickt, wie der Tag langsam aus der Nacht geboren wird? So ist das auch mit dem Neuen Frühling, Knabe. Der Frühling kommt nicht in einem einzigen großen Einbruch von Wärme, sondern Augenblick nach Augenblick, Stückchen um kleines Stückchen.“ Thaggoran schauderte vor Kälte und schlang die Arme um seine Schultern, als der Nebel ihm bis auf die Knochen drang. „Komm her, Hresh, und hilf mir mit der Lade, und schauen wir, daß wir wieder zu den andern kommen!“

Es beunruhigte ihn, daß Hresh Zweifel an der Weisheit des Auszugs hegte, denn oftmals verbarg sich in den Worten des Knaben eine prophetische Scharfsicht, und das unbehagliche Gefühl dieses seltsamen kleinen Hresh war wie ein Widerhall seiner eigenen düsteren Ahnungen. Vielleicht hatte Koshmar doch überstürzt gehandelt, dachte er, als sie diesen Zeitpunkt für die ‚Zeit des Auszugs‘ erklärte. Und der Träumeträumer hatte ja nicht direkt gesagt, der Augenblick sei da, nicht wahr? Er hatte nur ein paar Worte hervorgestöhnt, und Koshmar hatte den Satz an seiner Statt beendet und hatte so dem Träumeträumer Worte in den Mund gelegt. Sogar Torlyri hatte ihr dies vorgehalten. Aber wer wollte es schon wagen, Koshmar in die Quere zu kommen. Thaggoran war sich darüber im klaren, da Koshmar seit langem fest entschlossen gewesen war, unter ihrer Führerschaft den Auszug zu vollziehen.

Außerdem waren da auch noch die Eisfresser: nicht bloß ein Vorzeichen des Frühlings, sondern auch eine direkte Bedrohung des Kokons. Dennoch, ob es nicht vielleicht weiser gewesen wäre, anderwärts Unterschlupf zu suchen und auf wärmere Witterung zu warten, anstatt sich durch diese weglose Wüste aufzumachen?

Nun, dafür war es zu spät. Zu spät. Der Auszug war im Gange, und Thaggoran wußte, er würde nicht enden, ehe nicht Koshmar sich den Ruhm errungen hatte, den sie stets erstrebt hatte, worin immer der auch bestehen mochte. Oder aber, es würde mit ihrer aller Tod enden. So geschehe es denn, sagte Thaggoran bei sich. Es würde so kommen, wie es kam, genau wie es meist der Fall ist.

Der zweite Tag war rauh und voller Beschwernis. Gegen Mittag stießen zornige Schwärme geflügelter Geschöpfe mit gespenstisch weißen Augen und gierigen blutsaugenden Schnäbeln auf sie herab. Delims Arm wurde aufgeschlitzt, und der Jungkrieger Praheurt trug zwei Wunden auf dem Rücken davon. Das Volk verscheuchte die Bestien mit Gebrüll und Steinwürfen und Feuerbränden, doch war es ein mißliches Tun und widerwärtig, denn sie kehrten immer wieder zurück, so daß man über Stunden hin keine Ruhe fand. Thaggoran gab ihnen den Namen ‚Blutvögel‘. Später fanden sich andere Tiere ein, noch ekelhaftere, die schwarze ledrige Schwingen mit scharfen Hornkrallen an den Spitzen und feiste kleine Leiber hatten, die mit einem stinkenden grünen Pelz bedeckt waren. In der Nacht kamen wieder die Feuerkletten in solchen Massen, daß man hätte verrückt werden können. Um die Stimmung zu heben, befahl Koshmar, alle sollten singen, und sie sangen, doch war es ein lustloser Gesang, den sie von sich gaben. Mitten in der Nacht kam Hagel über sie, ein hartes kaltes Zeug, das einem auf die Haut prallte wie eine Schütte glühender Aschen. Als Torlyri ihr Morgenopfer beendet hatte, machte sie die Runde durch das Volk und bot allen den Trost ihrer Wärme und Zärtlichkeit. „Das war der schlimmste Teil“, sagte sie. „Jetzt wird es bald besser werden.“ Sie zogen weiter.

Als sie am dritten Tag über eine Gruppe von kahlen runden grauen Berghängen hinabstiegen, die sich zu einer flachen grünen Wiese hin auftaten, entdeckte die scharfäugige Torlyri weit in der Ferne eine seltsame einsame Gestalt. Sie schien sich ihnen zu nähern. Sie wandte sich an Thaggoran und sprach: „Siehst du das dort, Alter Mann? Was meinst du, was es sein könnte? Gewiß doch nicht menschlich!“

Thaggoran kniff die Augen zusammen und spähte. Seine Augen reichten bei weitem nicht so weit in die Ferne wie die Torlyris, doch sein Zweites Gesicht war das schärfste im ganzen Stamm, und es wies ihm deutlich die gelben und schwarzen Streifenbänder auf dem langen schimmernden Leib des Geschöpfes, den langen gefährlichen Schnabel, die großen blitzenden blauschwarzen Augen, die tiefe Einschnürung zwischen Kopf und Brustkorb und die zwischen dem Thorax und dem Hinterleib. „Nein, kein Mensch“, murmelte er, bis in die Tiefen seiner Seele erschüttert. „Erkennst du denn einen Hjjk nicht, wenn du einen siehst?“

„Ein männlicher Hjjk!“ sagte Torlyri staunend.

Thaggoran wandte sich ab, um sein Beben zu verbergen. Er hatte ein Gefühl, als erlebe er einen besonders ungewöhnlich lebendigen Traum. Er vermochte es kaum zu glauben, daß ein Hjjk-Männchen, ein echtes lebendiges Hjjk-Männchen in eben diesem Augenblick über das Grasland kam. Es war, als sei eines der Bücher seiner Chroniken aus der Lade gesprungen und zum Leben erwacht, ein Buch voller Gestalten der verloren gegangenen Großen Welt, die heranströmten und vor ihm umhertanzten. Das Hjjk-Volk war für ihn nur ein Name gewesen, die Begriffsverbindung von etwas Trockenem-Uraltem-Abstraktem, eine bloße Erscheinung in einer weit entfernten Vergangenheit. Koshmar war wirklich; Torlyri war wirklich, Harruel war wirklich; diese kahle kalte Gegend war wirklich. Was in den Chroniken stand, das waren nur Worte. Aber das dort vorn, das, was da auf sie zukam, das waren nicht bloß Worte.

Trotzdem traf es Thaggoran nicht als große Überraschung, daß auch die Hjjks den Winter überlebt hatten. Es entsprach genau dem, was die Chroniken vorhergesagt hatten. Man hatte erwartet, daß das Hjjk-Volk die schweren Zeiten überdauern werde. Es handelte sich bei ihnen um geborene Überlebenskünstler. In den Tagen der Großen Welt waren sie eines der Sechs Völker gewesen: Insekten-Wesen, das waren sie gewesen, blutlos und starr. Thaggoran hatte nichts Liebenswertes über sie gehört. Selbst über die weite Entfernung hin konnte er die Ausstrahlung des Hjjk-Männchens fühlen: dürr und kalt wie das Land, das sie durchzogen — gleichgültig, fremd und fern.

Koshmar trat zu ihnen. Auch sie hatte den Hjjk gesehen.

„Wir werden mit ihm reden müssen. Er weiß sicher Nützliches über die weitere Strecke. Meinst du, du kannst ihn zum Sprechen bewegen?“

„Hast du einen Grund anzunehmen, daß ich das nicht könnte?“ fragte Thaggoran brummig zurück.

Koshmar grinste. „Wirst wohl allmählich müde, Alter Mann?“

„Ich werde jedenfalls nicht als erster umkippen“, erwiderte er schroff.

Sie überquerten nun ein Stück versengter Erde: der Boden war sandig und barst knirschend unter dem Schritt, als sei hier seit Tausenden von Jahren kein Mensch mehr gegangen. Hie und da stachen spärliche starre blaugrüne Grasbüschel hervor, harte kantige Stengel mit einem glasigen Schimmer. Am Vortag hatte Konya ein Büschel auszureißen versucht und sich dabei die Finger zerschnitten, und er hatte es blutend und fluchend aufgegeben.

Den ganzen Nachmittag über, während sie den letzten Hang des Massivs hinabstiegen, konnten sie den Hjjk ausmachen, der stumpfsinnig unbeirrt auf sie zukam. Er stieß kurz vor der Dämmerung auf sie, als sie gerade den östlichen Rand des Graslandes erreicht hatten. Obgleich sie sechzig waren, er aber allein, hielt er an und wartete auf sie, das mittlere Paar seiner Arme über dem Thorax gekreuzt, scheinbar ohne Furcht.

Thaggoran starrte angespannt zu ihm hin. Sein Herz donnerte, die Kehle war ihm wie ausgebrannt vor Erregung. Nicht einmal der Auszug selbst hatte ihn so mitgenommen wie jetzt das Erscheinen dieses Geschöpfes.

Vor langer Zeit, in den herrlichen Tagen der Großen Welt, ehe die Todessterne kamen, hatten diese Insekten-Wesen gewaltige bienenstockähnliche Städte in Landstrichen erbaut, die für die Menschen und Pflanzlichen zu trocken waren, oder zu kalt für die Saphiräugigen, oder zu naß für die Mechanischen. Wenn niemand sonst einen Landstrich haben wollte, beanspruchten die Hjjk-Leute ihn für sich, und sobald sie ihn einmal in Besitz genommen hatten, gaben sie ihn nie wieder preis. Jedoch die Chronisten der Großen Welt hatten die Hjjk-Leute nicht für die Beherrscher der Erde gehalten, trotz all ihrer festen Beharrlichkeit und Anpassungsfähigkeit; nein, diesen Rang nahmen die Saphiräugigen ein, so stand es geschrieben. Die Saphiräugigen waren die Könige; danach kamen alle restlichen Völker, einschließlich der Menschen, die in irgendeiner noch urälteren Vorzeit ihrerseits selbst Könige gewesen waren.

Und die es nun wieder sein würden, jetzt nach ihrem Aufbruch. Aber die Saphiräugigen, das wußte Thaggoran, hatten den Winter nicht überdauern können, und die Menschen hatten sich in ihre Bunkerkokons zurückgezogen. Waren also die Hjjk-Leute durch Disqualifikation der Konkurrenten zu den Herren der Welt geworden?

In dem schwindenden Tageslicht verbreitete der Leib des Hjjk einen stumpfen Schein, als ob er aus poliertem Stein wäre. Von der Spitze bis zum Ende war sein langer Körper mit abwechselnd gelben und schwarzen Streifenbändern bedeckt — und er war schlank und hochgewachsen, größer sogar noch als Harruel — und sein hartes, kantiges, scharfnasiges Gesicht sah der Lirridon-Maske sehr ähnlich, die Koshmar am Tag des Auszugs aus dem Kokon getragen hatte. Die riesenhaften facettenreichen Augen schimmerten wie dunkle Schimmersteine. Dicht unter ihnen baumelten die Segmentschlingen der leuchtend-orangefarbenen Atmungsröhren zu beiden Seiten des Schädels.

Der Hjjk-Mann betrachtete sie schweigend, bis sie nahe bei ihm angelangt waren. Dann sprach er seltsam interesselos: „Wo zieht ihr hin? Es ist eine Torheit für euch, hier zu wandern. Hier draußen wird euch der Tod ereilen.“

„Nein“, widersprach Koshmar. „Der Winter ist vorbei.“

„Das mag sein, wie es mag, ihr werdet sterben.“ Die Stimme des Hjjk-Mannes war ein trockenes raschelndes Summen, aber, wie Thaggoran nach einem Augenblick begriff, es war keine Vokaläußerung, sondern der Mann sprach in ihrem Geist, er redete sozusagen vermittels des Zweiten Gesichts zu ihnen. „Direkt hinter mir im Tal dort wartet euer Tod auf euch. Zieht weiter und erfahrt, ob ich euch belogen habe.“

Und ohne ein weiteres Wort setzte er sich in Bewegung, um an ihnen vorbeizugehen, als habe er damit dem Volk das Maß an Aufmerksamkeit geschenkt, das dieses verdiene.

„Warte“, sagte Koshmar und stellte sich ihm in den Weg. „Sag uns, Hjjk-Mann, was für Gefahren vor uns lauern.“

„Das werdet ihr sehen.“

„Sag du es uns jetzt, oder du wirst in diesem Leben keinen Schritt mehr weiterwandern.“

Kühl antwortete der Hjjk: „In diesem Tal versammeln sich die Rattenwölfe. Sie gieren geifernd nach deinem Fleisch, denn du bist ein Volk aus Fle isch, und sie sind sehr hungrig. Laß mich vorbeiziehn.“

„Warte nur ein wenig“, sagte Koshmar. „Sag mir noch eins: Hast du bei der Durchquerung des Tals andere Menschliche gesehen? Stämme wie den unsrigen, die aus ihren Kokons hervorgehen, nun, da die Frühlingszeit gekommen ist?“

Der Hjjk-Mann vollführte ein summendes Geräusch, das möglicherweise Ungeduld ausdrücken sollte. Es war der erste Anflug einer Gefühlsregung, die er zeigte. „Wieso sollte ich dort Menschliche gesehen haben?“ fragte das Insekten-Geschöpf. „Dieses Tal ist kein Ort, an dem man Menschliche findet.“

„Du hast überhaupt keine gesehen? Nicht einmal einige wenige?“

„Du sprichst ohne Sinn und Bedeutung“, sagte der Hjjk. „Ich habe keine Zeit, sie mit solcher Zwiesprache zu verschwenden. Ich bitte dich nun noch einmal, laß mich vorbeiziehn.“ Thaggoran fing einen seltsamen Duft auf, ganz plötzlich, süß und scharf. Er sah auf dem gestreiften Abdomen des Hjjk-Männchens ein tröpfchenartiges braunes Sekret austreten.

„Wir sollten ihn lieber ziehen lassen“, sagte er leise zu Koshmar. „Er wird uns nichts weiter verraten. Und er könnte gefährlich werden.“

Koshmar ließ die Finger über den Speerschaft gleiten. Harruel, der dicht bei ihr stand, verstand dies als Stichwort, ergriff seinen eigenen Speer fester und fuhr mit den Pranken den Schaft auf und ab. „Ich spieß ihn auf, ja?“ murmelte er. „Ich ramme ihm den Speer genau mitten in den Leib. Soll ich, Koshmar?“

„Nein“, sagte Koshmar. „Das wäre ein Fehler.“ Langsam umschritt sie den Hjjk-Mann, den dieser Wortwechsel anscheinend völlig unberührt gelassen hatte. „Ein letztes Mal“, sagte Koshmar. „Sag mir, befinden sich keine weitere Menschenvölker in dieser Gegend? Es würde uns gewaltige Freude bereiten, sie aufzufinden. Wir sind herausgekommen und ausgezogen, um der Welt einen neuen Anfang zu geben, und wir sind auf der Suche nach unseren Schwestern und Brüdern.“

„Du wirst gar nichts Neues beginnen, denn die Rattenwölfe werden dich binnen Stundenfrist zerfleischen“, antwortete der Hjjk-Mann gleichmütig. „Und ihr seid Narren. Es gibt keine Menschlichen, Weib aus Fleisch.“

„Was du da sagst, ist widersinnig. Du siehst Menschen vor dir in eben diesem Augenblick.“

„Ich sehe Narren“, sagte der Hjjk-Mann. „Und nun laß mich weiter meines Weges wandern, oder du sollst es bereuen.“

Harruel fuchtelte mit seinem Speer. Koshmar schüttelte den Kopf. „Laß ihn vorbei!“ sagte sie. „Spar dir deine Kräfte für die Rattenwölfe auf!“

In brennender Sorge blickte Thaggoran dem Hjjk nach, der auf die Berge zustakte, aus denen sie gerade herabgekommen waren. Ihn verlangte danach, sich mit dem fremdartigen Geschöpf niederzusetzen und mit ihm über die Vorzeit zu reden. Sag mir, was du von der Großen Welt weißt, hätte er ihn dann gefragt, und ich will dir alles mir Bekannte berichten! Laß uns von den großen Städten Thisthissima und Glorm reden und von den Kristallenen Berg und dem Turm der Sterne und dem Baum des Lebens, und von allen anderen vergangenen großen Wundern, von deinem Volk und von dem meinigen, und von den glatthäutigen Saphiräugigen, die über die Welt herrschten, und von den anderen Völkern auch. Und dann laß uns sprechen von den Schwärmen der Stürzenden Sterne, deren gewaltige Schweife durch das Himmelsfirmament wie Feuer fuhren, und vom Donnern ihres Niedergangs beim Aufschlag auf die Erde, und von den Feuerwolken und den Wolken von Rauch, die sich erhoben, wo sie einschlugen, und von den Winden und dem schwarzen Regen, von der Kälte, die über das Land kam und über die See, als die Sonne von Staub und rußiger Asche ausgelöscht ward. Wir könnten vom Sterben der Völkerrassen sprechen, dachte Thaggoran, und vom Sterben der Großen Welt selbst, denn man wird niemals wieder ihresgleichen schauen.

Doch der Hjjk-Mann war mittlerweile fast außer Sichtweite und verschwand dann ganz hinter der Hügelkette im Osten.

Thaggoran zuckte die Achseln. Es war töricht anzunehmen, daß der Hjjk sich an einem derartigen höflichen Austausch von Wissen beteiligt hätte. In den Tagen der Großen Welt ging die Rede von seinem Volk, so hatte Thaggoran gelesen, daß es ihm an jeglicher Wärme fehle, ein Volk, das nichts von Freundschaft, Freundlichkeit oder Liebe wisse, ja, daß sie tatsächlich keine Seele hätten. Und der Lange Winter hatte bei ihnen in der Beziehung wohl kaum Besserung bewirkt.

Einige Tage weiter westwärts lagerte der Stamm eines Nachmittags auf Terrain, das anscheinend ein ausgetrockneter Seegrund war, eine Senke, die tief unterhalb der Talsohle lag. Jeder — und sei er noch so jung — hatte bestimmte Aufgaben zu erfüllen. Ein paar schickte man aus, um Zweige und Büschel trocknen Grases für das Hauptlagerfeuer zu sammeln, andere suchten nach Grünem, um das zweite, das rauchigere Feuer zu speisen, vermittels dessen man gelernt hatte, sich die Feuerkletten vom Leib zu halten, wieder andere machten sich daran, das Vieh dicht zusammenzutreiben, und einige gesellten sich zu Torlyri und sangen mit ihr den Schutzzauber zur Abwehr der nächtlichen Unholde.

Hresh und Haniman waren abgeordnet, Zunderholz zu sammeln. Hresh fühlte sich dadurch gekränkt, daß man ihm de gleiche Arbeit auftrug wie dem feisten, unnützen Haniman. Er neidete es Orbin, daß er mit den Männern hatte ziehen dürfen, um die Tiere zusammenzutreiben. Aber natürlich, Orbin war auch für sein Alter schon sehr kräftig. Trotzdem, es war entwürdigend, auf diese Art mit Haniman auf eine Stufe gestellt zu werden. Hresh fragte sich, ob Koshmar tatsächlich so gering von ihm denke.

„Wo sollen wir denn suchen?“ quengelte Haniman.

„Du kannst gehen, wohin du Lust hast“, erklärte Hresh derb. „So lang es nicht die gleiche Richtung ist wie meine.“

„Aber, wollen wir nicht zusammenarbeiten?“

„Mach du mal deine Arbeit, und ich mach die meinige. Aber bleib mir aus dem Fell, verstanden?“

„Hresh...“

„Los! Zieh schon ab! Beweg dich! Ich hab keine Lust, dich zu sehen.“

Blitzhaft zuckte in den kleinen runden Äuglein Hanimans fast so etwas wie Zorn auf. Hresh überlegte sich, ob er wirklich mit dem Kerl würde kämpfen müssen. Haniman war langsam und unbeholfen, aber mindestens um die Hälfte schwerer als Hresh. Der braucht ja gar nichts weiter zu machen, als sich auf mich draufzusetzen, dachte Hresh. Aber das soll er mal versuchen. Soll er mal!

Hanimans Zornesanflug, sofern es sich um so etwas gehandelt hatte, verging. Haniman war kein Kämpfer. Er warf Hresh einen vorwurfsvollen Blick zu, dann verzog er sich allein, wobei er ständig die Fußspitzen in den Boden stieß.

Mit seinem kleinen Flechtkorb zog Hresh genau nach Westen und ein bißchen nördlich vom Lagerplatz los und begann nach allem und jedem zu spähen, das irgendwie brennbar aussah. Es schien nicht sehr viel davon hier zu geben. Also zog er weiter hinaus. Auch da war noch immer alles kahl. Und so zog er noch weiter fort.

Die Nacht trat nun sehr rasch ein, und gewaltige ausgezackte Streifen lodernder Farben — üppiges Purpur und heftig pulsierendes Scharlachrot und ein düsteres schweres Gelb — machten den westlichen Himmel schön und schrecklich zugleich. In seinem Rücken war bereits alles schwarz geworden, eine betäubende, alles verschlingende Dunkelheit, die nur von der trübe flackernden rauchigen Fackel des Lagerfeuers unterbrochen war.

Hresh kroch vorsichtig noch ein Stück weiter um einen Felsvorsprung herum. Er wußte, was er da tat, war unbedacht. Er entfernte sich sehr weit vom Lagerplatz. Zu weit, vielleicht. Er konnte von hier aus den Gesang kaum noch wahrnehmen, und als er einen Blick über die Schulter warf, befand sich kein anderes Stammesmitglied in Sicht.

Trotzdem streunte er weiter und weiter durch die geheimnisvolle schauerliche Weite ohne Wände und ohne Gänge, über der der dunkle Himmel sich wie eine bestürzende offene Kuppel wölbte, die über alles Verständnis hinaus — und hinaufreichte bis zu den fernen Sternen, die vom Dach des Himmels hingen.

Er mußte alles sehen. Denn wie sonst sollte er verstehen können, wie die Welt beschaffen war?

Und alles sehen zu wollen, das hieß natürlich, daß man sich gewissen Gefahren aussetzen mußte. Aber schließlich war er ja Hresh-der-Fragesack, der Immer-Neugierige, und so lag es eben in seiner Natur als der unersättliche Frager, ungeachtet der Gefahren nach Antworten zu suchen. Es ist achtbar und höchlichst ehrenwert, dachte er, eine derart unruhige forschende Seele zu haben wie ich. Noch verstanden es die anderen an ihm nicht, da er ja noch ein Kind war. Doch eines Tages würden sie begreifen, das gelobte er sich.

Er glaubte, in der Ferne Stimmen zu hören, die vom Wind zu ihm herübergetragen wurden. Erregung stieg in ihm empor. Wenn er nun direkt da vorn den Lagerplatz eines anderen Stammes entdeckte?

Die Vorstellung ließ ihn unbesonnen werden. Der Alte Thaggoran behauptete doch stets, daß es andere Stämme gäbe, daß es Kokons wie den ihrigen überall auf der Welt gäbe; und — wußte Thaggoran nicht alles, oder doch beinahe alles! Aber keiner, nicht einmal Thaggoran, konnte wirklich mit Bestimmtheit wissen, ob dies auch wahr sei. Hresh wünschte sich, es möge so sein, er wollte es glauben: Dutzende, Hunderte gar von kleinen Stammesgruppen, alle in ihrem eigenen kleinen Kokon, und sie warteten Generation um Generation auf den Zeitpunkt des Aufbruchs, des Auszugs. Jedoch existierten keinerlei Beweise dafür, außer natürlich denen in der Chronik. Mit Gewißheit hatte nie ein Kontakt mit einem fremden Stamm stattgefunden, jedenfalls nicht seit den ersten frühen Tagen des Langen Winters. Wie hätte das auch sein sollen, wo doch keiner jemals den Heimatkokon.

Doehj etzt war der Stamm Koshmars auf dem Marsch in die offene Welt. Und es war gut möglich, daß es hier draußen noch weitere Stämme gab. Eine faszinierende Vorstellung für Hresh. In den ganzen acht Jahren seines Lebens hatte er immer nur die gleiche Gruppe von sechzig Leuten gekannt. Hin und wieder wurde es einem Neuen erlaubt, geboren zu werden, dann nämlich, wenn einer von den Alten die Altersgrenze erreicht hatte und zur Luke hinausgedrängt wurde, um zu sterben — aber davon abgesehen waren es stets die gleichen Leute tagaus, tagein: Koshmar und Torlyri und Harruel und Taniane und Minbain und Orbin und die ganzen andern. Die Vorstellung, er könnte auf einen Trupp völlig andrer Menschen stoßen, war wundervoll.

Hresh versuchte sich auszumalen, wie sie aussehen würden. Vielleicht hatten sie gelbe Augen und einen grünen Pelz. Und vielleicht gab es Männer, die noch größer waren als Harruel. Und ihr Führer würde keine Frau sein, sondern ein junger Knabe. Und warum auch nicht? Es war doch ein andersartiger Stamm, oder? Die würden natürlich alles anders machen. Anstelle eines Alten Mannes im Stamm würden die drei Alte Frauen haben, die auf hellen Bögen von Grasglas die Chronik führten und unisono redeten. Hresh lachte. Und andere Namen als wir, ja, die würden sie auch haben. Sie heißen so irgendwie Migg-wungus und Kik-kik-kik und Pinnipoppim, entschied er, eben Namen, wie sie noch keiner je in Koshmars Stamm gehört hatte. Ein andrer Stamm! Sagenhaft!

Hresh bewegte sich inzwischen weniger vorsichtig weiter. In seiner Begierde, zum Ursprung der Stimmen vor ihm vorzustoßen, begann er sogar leicht zu traben und lief weiter in die dichter werdende Dunkelheit hinein.

Ein anderer Stamm, jawohl ja! Die Stimmen wurden nun deutlicher.

Er stellte sich vor, wie sie um ein qualmendes Lagerfeuer hockten, gleich dort, dort hinten, hinter dem nächsten Haufen Felsbrocken. Er sah sich selbst kühn in ihre Mitte schreiten. „Ich bin Hresh aus Koshmars Kokon“, würde er sagen, „und mein Stamm lagert gleich dort drüben. Es ist unsere Absicht, der Welt einen Neubeginn zu geben, denn jetzt ist der große Frühling angebrochen!“ Und sie würden ihn in die Arme schließen und ihm Samtbeerwein zu trinken anbieten, und sie würden zu ihm sagen: „Auch wir wollen der Welt einen neuen Anfang geben. Führe du uns zu deinem Häuptling!“ Und er würde lachend und rufend zum Lagerfeuer zurücklaufen und aus vollem Hals schreien, daß er andere Menschliche gefunden habe, einen ganzen Stamm davon, Männer und Weiber und Knaben und Mädchen, und sie hätten Namen wie Wigg-wungus und Kik-kik-kik und.

Plötzlich blieb er wie erstarrt stehen. Seine Nüstern bebten, sein Sensororgan stand stocksteif und bebend aufgerichtet. Etwas war falsch.

In der stillen Nacht hörte er die Laute des anderen Stammes nun inzwischen sehr deutlich. Und das waren sehr seltsame Laute: ein hohes pfeifendes, schnappendes Quieken, vermischt mit einem gedämpften röchelnden Schnüffeln. ein eigenartiges Lautgemisch, häßlich.

Nein, das war nicht die Stimme eines anderen Stammes. Nein!

Das waren überhaupt keine menschlichen Laute.

Hresh schickte sein Zweites Gesicht aus, so wie Thaggoran es ihn gelehrt hatte. Kurze Zeit blieb alles verschwommen und trübe, doch dann stimmte er seine Wahrnehmungen exakter ein, und das Tonbild wurde scharf. Dicht hinter den Felsbrocken da vor ihm hielt sich ein Dutzend Lebewesen auf. Ihre Leiber waren etwa so lang wie der eines Menschen, aber sie gingen auf allen vier Gliedmaßen, und von ihren Muskeln bekam er den Eindruck, als wären sie stark und schnell beweglich. Die starren, funkelnden roten Augen waren klein, hell und wild, die Zähne lang und scharf und ragten wie Dolche aus den schnurrbärtigen Schnauzen hervor. Auf der Haut trugen sie einen dichten grauen Pelz, und ihre Sensororgane ragten gerade an ihrem Hinterteil hervor und zuckten dort wie lange dünne rosafarbene und fast haarlose Peitschenschnüre.

Nicht-Menschliche. Oh, ganz bestimmt!

Sie bewegten sich in einem Kreis, um und herum, kriechend und gleitend, und ab und zu hielten sie inne, richteten die Schnauzen in die Höhe und schnüffelten. Hresh verstand die Sprache nicht, die sie sprachen, aber die Bedeutung wurde ihm von seinem Zweiten Gesicht klar genug nahegebracht:

„Fleisch-Fleisch-Fleisch-Fressen-Fressen-Fleisch-Fressen...“

Wie hatte der Hjjk-Mann gesagt? Die Rattenwölfe sammelten sich im Tal. Und sie gieren nach eurem Fleisch, denn ihr seid ein Fleischvolk, und sie haben großen Hunger. Koshmar hatte dabei nicht besonders aufgeschreckt gewirkt. Vielleicht hatte sie angenommen, der Hjjk-Mann lüge, vielleicht nahm sie an, daß es Geschöpfe wie Rattenwölfe gar nicht geben könne. Aber was sonst sollten denn diese schnüffelnden, raschelndhuschenden helläugigen Langzähne sonst sein? Wenn es nicht diese Rattenwölfe waren, vor denen der Hjjk-Mann sie zu warnen versucht hatte?

Hresh machte kehrt und rannte.

Um weitklaffende Felsenmäuler herum, an sandigen Bodenerhebungen vorbei und hinab zum ausgetrockneten Seegrund. er stolperte verzweifelt durch die Finsternis, verlor unterwegs in der Hast den Korb mit dem Brennholz und rannte, so schnell er nur konnte, zum Lagerfeuer seines Stammes zurück. Die Fremdheit des Dunkels griff nach ihm. Etwas Großes mit Flügeln und vorquellenden grüngoldnen Augen surrte um seinen Kopf. Er verscheuchte es mit einem Schlag und rannte weiter. Etliche hundert Schritte weiter erhob sich ein neues Etwas, das aussah wie drei lange schwarze Seile nebeneinander, vor ihm und wand und ringelte sich in dem kalten dünnen Licht der Sterne. Hresh schoß zur Seite, aber er blickte sich nicht um.

Außer Atem und keuchend stürzte er in die Mitte des Lagers.

„Die Rattenwölfe!“ schrie er und deutete mit der Hand in die Nacht. „Die Rattenwölfe! Ich hab sie gesehen!“ Und erschöpft fiel er fast vor Koshmars Füßen zu Boden.

Er fürchtete, daß sie ihm keinen Glauben schenken würden. Schließlich war er ja nur der wilde Hresh, der Mistbalg Hresh, Hresh-voller-Fragen, oder? Doch ausnahmsweise achteten sie diesmal auf ihn.

„Wo waren sie?“ verlangte Koshmar zu wissen. „Wieviele? Wie groß?“

Harruel gab alle — außer an die kleinsten Kinder — Speere aus. Thaggoran hockte am Feuer und richtete sein Sensororgan über den Trockensee, um die Ausstrahlung der Rattenwölfe zu ertasten.

„Sie kommen“, rief er Alte. „Ich spüre sie, sie kommen auf uns zu!“

Koshmar, Torlyri und Harruel bezogen Schulter an Schulter mit den griffbereiten Speeren an der westlichen Flanke des Lagers Stellung. Großartig sehen sie aus, dachte Hresh: die Stammesführerin, die Priesterin, der gewaltige Krieger. Neun weitere standen hinter ihnen, und hinter diesen eine weitere Reihe von neun Kämpfern, in deren Mitte sich die Kinder und die schwangeren Frauen drängten.

Hresh hörte, wie Koshmar die Fünf Himmlischen anrief, sah, wie sie die Fünf Zeichen schlug und danach das Zeichen Yissous des Beschützers immer und immer wieder von neuem. Auch er selbst murmelte ein Stoßgebet zu Yissous. Er als einziger im Stamm hatte die Rattenwölfe gesehen, ihre langen Schnauzen, die wilden kleinen Augen, die klingenscharfen Zähne.

Es trat ein langer Moment ein, in dem nichts geschah. Die Krieger, die den Zugang zum Lager bewachten, stapften in dichten Kreisen herum. Hresh begann sich zu fragen, ob er dort draußen in der Finsternis die Rattenwölfe vielleicht nur geträumt habe. Und er überlegte sich auch, wie streng Koshmar ihn bestrafen würde, sollte sich die Sache als ein falscher Alarm erweisen.

Aber dann war plötzlich der Feind über ihnen. Hresh hörte entsetzliche schrille pfeifende Schreie, und er roch einen merkwürdigen abscheulich dumpfigen Gestank; und einen Augenblick darauf, war der Feind ins Lager eingebrochen.

„Yissou!“ brüllte Koshmar. „Dawinno!“

Die Rattenwölfe kamen gleichzeitig von allen Seiten heran, sie heulten gellend, sie sprangen, sie knurrten, ihre Zähne blitzten.

Frauen begannen zu kreischen, auch ein paar der Männer. Keiner hatte je solche Tiere gesehen, Tiere, die sich von lebendigem Fleisch nährten und ihre Zähne als Waffe benutzten. Und keiner vom Volk hatte jemals vorher auf diese Weise kämpfen müssen, in einem echten Kampf, nicht nur eine kleine gesellschaftliche Rangelei unter Freunden, sondern ein Kampf ums Überleben. Im Kokon war es so einfach gewesen, so leicht, so sicher. Doch sie waren nicht länger im Kokon.

Das Wolfsrudel kreiste und kreiste um sie, als versuche es, die schwächeren Stammesangehörigen auszusondern und von den anderen zu trennen. Der säuerlich-faule Gestank der Feinde hing schwer in der Luft. Im flackernden Feuerschein sah Hresh die roten Knopfaugen, die langen kahlen Sensororgane, und sie sahen genauso aus, wie er sie im Zweiten Gesicht vor kurzem gesehen hatte, nur vielleicht noch widerwärtiger und abstoßender. Was für scheußliche Wesen, was für Ungeheuer!

Er wich zum Kern der Gruppe zurück, er streckte den Speer vor sich hin, den Harruel ihm gereicht hatte, aber er wußte nicht so recht, was er damit beginnen sollte. Da packte man ihn an, ja? Und dann stößt man, wie — nach oben? Na, soll mal ein Rattenwolf mir nahe kommen, dann werde ich es schon ganz schnell raushaben, sagte er sich.

Die gewaltige Gestalt Harruels hob sich vor der Dunkelheit ab, er stieß, er grunzte und stieß erneut zu. Und dort war Torlyri und hielt sich tapfer mit kräftigen Tritten einen Rattenwolf vom Leib, während sie einen zweiten mit der Speerspitze aufspießte. Lakkamai kämpfte gut, auch Konya und Staip. Salaman, der nicht viel länger war als Hresh selbst, streckte zwei zu Boden, mit nur zwei aufeinanderfolgenden Hieben seiner Waffe. Koshmar schien überall gleichzeitig zu sein, und sie setzte nicht nur die scharfe Spitze ihres Speeres ein, sondern auch das stumpfe Ende und rammte es mit blutlüsterner Wonne diesem und jenem Wolf ins zähnefletschende Maul. Hresh hörte schreckliches Geheul. Die Rattenwölfe riefen einander zu, fast in einer Art Sprache: „Kill-kill-kill-Fleisch-Fleisch-Fleisch...“. Und ein Mensch stöhnte vor Schmerzen; und ein anderer stieß ein tiefes angstvolles Wimmern aus.

Und dann, so blitzartig, wie er begonnen hatte, schien der Kampf vorbei zu sein.

Von einem Augenblick zum nächsten wurde alles still. Harruel stand auf seinen Speer gestützt da, atmete heftig, wischte sich ein blutiges Rinnsal immer wieder ab, das aus seinem Schenkel sickerte. Torlyri lag auf den Knien, von Entsetzen geschüttelt, und sagte unablässig den Namen Mueris vor sich hin. Koshmar, den Speer im Anschlag, stapfte auf und ab auf der Suche nach weiteren Angreifern, aber es gab keine mehr. Tote Rattenwölfe lagen überall verstreut umher. Sie wurden bereits steif, und sie sahen im Tod noch scheußlicher aus, als sie es lebend getan hatten.

„Jemand verwundet?“ fragte Koshmar. „Meldet euch, wenn ich euch beim Namen rufe! Thaggoran?“

Es kam keine Antwort.

„Thaggoran?“ rief sie noch einmal, weniger selbstsicher.

Und wieder kam von Thaggoran keine Antwort. „Such ihn!“ befahl sie Torlyri. „Harruel?“

„Hier!“

„Konya?“

„Konya, zur Stelle!“

„Staip?“

„Staip, jawoll!“

Als Hresh aufgerufen wurde, konnte er kaum sprechen, so benommen war er von allem, was sich an diesem Abend ereignet hatte. Aber es gelang ihm, seinen Namen heiser krächzend zu flüstern.

Schließlich ergab die Volkszählung, daß alle Stammesmitglieder vorhanden waren — außer zweien, nein, eigentlich dreien, denn eine der Toten war Valmud, eine sanftmütige, wenn auch nicht übermäßig mit Intelligenz gesegnete junge Frau, die zu einer der Fortpflanzungspaarungen gehört hatte; und sie hatte in ihrem Leib ein Ungeborenes getragen. Das war schwer genug für das Volk, doch der andere Tote war geradezu eine Katastrophe.

Und es war Hresh, der ihn fand. Er lag niedergestreckt inmitten abgestorbenen, stacheligen Unkrauts, nicht weit vom Lagerrand entfernt.

Thaggoran-der-Alte-Mann hatte sich tapfer gewehrt. Der Wolf, der ihm die Kehle aufgerissen hatte, lag mit herausquellenden Augen und schwarzer, geschwollener Zunge an seiner Seite. In seinem Todeskampf hatte der Chronist die Bestie erwürgt.

Vor Entsetzen fast gefühllos starrte Hresh düster auf den Toten hinab. Er konnte nicht einmal weinen. Dieser Verlust war zu gewaltig. Ihm war so, beinahe, als hätte man ihm selbst die Kehle zerfetzt. Nach einiger Zeit brachte er einen leisen erstickten Laut hervor, dann so etwas wie ein Schluchzen. Er war unfähig, sich zu bewegen. Er wagte nicht einmal, Atem zu schöpfen. Er wollte, daß die Zeit sich umstülpte und nicht gewesen wäre, daß dieser ganze Tag rücklings wieder zu seinem Anfang rolle.

Dann aber kniete er schließlich neben dem Alten Mann nieder und berührte zitternd seine Stirn, als hoffte er, daß das Weistum und Wissen, das so tief hinter dieser Stirn lagerte, durch die Berührung aus Thaggorans Geist in den seinen übergehen möge, ehe Thaggoran ganz erkaltet war. Aber Thaggorans Geist war schon fort.

Es war unfaßlich. Nie zuvor hatte Hresh ein derartiges Gefühl von Verlust erfahren. Sein leiblicher Erzeugervater, Samnibolon, war stets nur ein Name für ihn gewesen — und außerdem schon lange tot. Doch dies hier. dies.

„Dawinno.“, setzte er unsicher zum Gebet an.

Und dann brach sich die aufgestaute Gefühlsflut seines Herzens Bahn. Von ganz tief in seinem Körper quoll ein schreckliches Schreien herauf, und er ließ es aufsteigen, eine gewaltige, stoßweise stockende Weheklage, ein wütendes krampfhaftes Heulen, das ihn beinahe in Stücke riß, als es aus ihm herausbrach. Dann stürzten ihm Tränen über die Wangen und verklebten seinen Pelz zu spitzen Haardornen. Es schüttelte ihn am ganzen Leib, er stöhnte, er trampelte mit den Füßen auf die Erde.

Nachdem der Gipfel seiner krampfhaften Erschütterung überstanden war, kauerte er, zitternd und schweißgebadet, auf dem Boden und bedachte den großen Verlust für das Volk und dachte an all das, was durch den Tod des Alten Mannes, dieses Weisen und Wissenden, ihm selbst aus dem Zugriff seiner Finger geglitten war.

Es war viel mehr als der Tod eines Mannes: Schließlich — sterben mußte ja jeder eines Tages, und Thaggoran hatte schon ganz schön lange gelebt. Aber sein Tod bedeutete das Sterben von Wissen. Ein unendlicher weiter Bereich der Leere in Hreshs Seele, würde nun nie mehr gefüllt werden können. Es gab so viel, was er von Thaggoran über diese fremdartige Welt zu lernen erhofft hatte, in die der Stamm ausgezogen — und gestürzt — war. und nun würde er, Hresh, sie niemals lernen können. Manches stand in den Chroniken, viele Dinge waren dort festgehalten, ja, aber manches andere war nur durch das gesprochene Wort von Mund zu Ohr weitergegeben worden, von einem Chronisten zum anderen im Verlauf der Hunderttausende von Jahren. und nun war die Kette der Weitergabe zerbrochen, von nun an würde all dieses Wissen für immer verloren sein.

Aber ich will trotzdem alles brnen, was ich nur kann, befahl Hresh sich.

Ich werde an Thaggorans Stelle aus mir einen Chronisten machen. Das sagte er zu sich kühn, in diesem Augenblick, in dem er von Erschütterung und unerträglichem Kummer und Verlustgefühl fast überwältigt war.

Er senkte die Hand und tastete kaltblütig in dem von Blut steifen Pelz dicht unter Thaggorans Hals. Da war ein Splitter grünen Glases, ein Amulett, klein, oval, sehr alt, auf dem viele Dinge in winzigen Zeichen eingekerbt waren. Thaggoran hatte ihm einmal gesagt, es sei ein ‚Stück aus der Alten Großen Welt‘. Behutsam holte Hresh das Amulett hervor. In seiner Handfläche schien es kühl zu glühen. Er hielt das Ding mit heftig hämmerndem Herzen lange Zeit fest in der verkrampften Hand. Dann ließ er es in den kleinen Beutel fallen, den er an der Hüfte trug.

Er wollte es sich nicht um den Hals hängen, dieses Zauber-Stück: noch nicht. Aber bald, eines Tages würde er es tun.

Und so beschloß er: Ich will überallhin über die Fläche dieser Welt gehen, und ich will alles sehen, was da existiert, und alles lernen, was gelernt werden kann, denn ich bin Hresh-der-voller-Fragen-steckt! Ich will alle Geheimnisse beherrschen, die der vergangenen Zeiten und die der Zeiten, die da kommen werden, und ich werde meine Seele mit Wissen und Weisheit füllen, bis ich fast davon zerspringe, und dann werde ich meinen Wissensschatz in den Chroniken niederschreiben — zum Nutzen aller jener, die nach uns kommen werden in dieser Neuen Frühlingszeit.

Und während er all dies dachte, spürte Hresh, wie der Schmerz über Thaggorans Tod mehr und mehr verebbte.

Die ganze Nacht hindurch sang das Volk die Totenklagen über den zwei gefallenen Stammesmitgliedern, und beim ersten Schimmer des Morgengrauens trugen sie die Leichname eine kleine Strecke nach Osten, hinauf in die Hügelhänge und sangen die Worte Dawinnos über ihnen und sangen die Worte von Friit und Mueri für sich selber. Und dann gab Koshmar das Zeichen, und sie brachen das Lager ab und zogen hinaus auf die weiten Ebenen, die westlich lagen. Koshmar wollte ihnen nicht sagen, wohin sie zögen, sie sagte nur, daß es der Ort sei, zu dem zu gelangen ihnen bestimmt sei. Und keiner wagte es danach, weitere Fragen zu stellen.

Загрузка...