Ich befand mich jenseits von Raum und Zeit. Es war nicht wie Schlaf — denn selbst im Schlaf ist das Gehirn noch aktiv, funktioniert und sortiert seinen Bestand an Informationen und Erinnerungen; sogar im Schlaf, behaupte ich, ist man bei Bewußtsein, sich seines Selbst und seiner fortdauernden Existenz bewußt.
Dieses Intervall, dieser zeitlose Abschnitt, war anders. Es war vielmehr so, als ob das Plattnerit-Gespinst mich subtil und lautlos zerlegt hätte. Ich war ganz einfach nicht mehr da; und die Fragmente meines Selbst, die Splitter meiner Erinnerung waren in diesem riesigen und unsichtbaren Informationsmeer verstreut, von dem Nebogipfel so begeistert war.
… Und dann — noch weitaus mysteriöser! — war ich wieder hier — präziser kann ich es nicht ausdrücken. Es war weniger ein Aufwachen als ein Einschalten, so wie man eine Glühbirne anknipst. Im einen Moment — nichts; im nächsten — ein volles, erschauerndes Bewußtsein.
Ich konnte wieder sehen. Ich hatte eine klare Sicht der Welt — die grün glühende Hülle des mich umgebenden Zeitschiffes, der knöcherne Schimmer der Erde im Hintergrund.
Ich war wieder existent! — und Panik — ein Horror wegen dieser Phase der Abwesenheit — ergriff von mir Besitz. Ich habe noch nie etwas so gefürchtet wie die Nicht-Existenz — und tatsächlich hatte ich mich schon lange dazu entschlossen, alle Qualen, die Luzifer für den intelligenten Ungläubigen bereithält, zu begrüßen, wenn diese Pein nur den Nachweis dafür erbrachte, daß mein Bewußtsein noch funktionierte!
Aber es war mir nicht vergönnt, diesen Gedanken weiter nachzuhängen, denn jetzt überkam mich das extreme Gefühl, hochgehoben zu werden. Ich spürte eine zunehmende Belastung, einen Zug, als ob mich ein großer Magnet in die Höhe höbe. Diese Belastung wuchs stetig an — ich kam mir wie ein Atom vor, an dem monströse Kräfte zerrten —, und plötzlich war diese Anspannung verschwunden. Ich glaubte zu schweben und fühlte mich wieder wie ein kleines Kind, das von den starken, sicheren Händen eines Erwachsenen hochgehoben wurde; ich spürte die gleiche Leichtigkeit des Seins, das Gefühl, zu fliegen. Die Masse des Zeitschiffes stieg mit mir auf, so daß ich glaubte, mich im Mittelpunkt eines riesigen, offenen und grün glühenden Ballons zu befinden, der sich vom Boden erhob.
Ich schaute nach unten — oder zumindest versuchte ich es; ich spürte weder meinen Kopf noch den Hals, aber mein Panoramablick richtete sich nach unten. Man muß sich vorstellen, daß das Schiff, in dem ich mich aufhielt, die Form eines Dampfschiffes hatte — nur um ein Vielfaches vergrößert — sein schlanker Kiel war mehrere Meilen lang — und dennoch schwebte es mit der Leichtigkeit einer Wolke über die Landschaft. Ich blickte durch die offene, netzartige Substanz des Schiffes auf das Land, und ich schaute direkt von oben auf unser Zeitfahrzeug. Obwohl meine Wahrnehmung durch das komplexe, sich verstärkende Funkeln des Schiffes erschwert wurde, glaubte ich, zwei Körper in dem Fahrzeug zu sehen, einen Menschen und eine kleinere Gestalt, die mit Bewegungen, die wegen der eindringenden Kälte noch steif wirkten, auf den Fahrzeugboden sanken.
Meine Wahrnehmung war irgendwie seltsam. Der Blick hatte keinen Fokus: oder vielmehr fehlte es ihm an einem Bezugspunkt. Wenn man etwas betrachtet, z. B. eine Tasse, dann sieht man sie, und sie stellt quasi den Mittelpunkt der Welt dar, wobei alles andere zu einer Art Kulisse an der Peripherie des Blickfeldes degradiert wird. Aber jetzt merkte ich, daß meine Welt weder ein Zentrum noch eine Peripherie hatte. Ich sah alles — Eis, Schiffe, Zeitfahrzeug — und ich hatte den Eindruck, daß alles simultan zentral und peripher war! Es war desorientierend und sehr verwirrend.
Bauch und Kopf schienen betäubt gewesen zu sein, ganz ohne Gefühl. Ich konnte sehen, na gut; aber ich konnte weder Gesicht noch Hals oder Körper spüren — rein gar nichts, außer einer leichten, fast geisterhaften Berührung: Nebogipfels Hand, die meine noch immer umschloß. Das tröstete mich etwas, denn es war gut zu wissen, daß wenigstens er bei mir war!
Ich glaubte, ich wäre tot — aber ich erinnerte mich, daß ich das schon einmal angenommen hatte, als der Universale Konstrukteur mich absorbiert und restauriert hatte. Was jetzt aus mir werden würde, wußte ich nicht. Würde ich verwehen, wie eine Rauchwolke, eine immaterielle Version meines materiellen Ich? Würde ich mich im Reich der ungezählten Toten wiederfinden…?
Das Schiff begann wieder zu steigen, und diesmal viel schneller. Das Zeitfahrzeug und der Turm, auf dem es stand, fielen nach unten weg, und sie verschwanden, wie ein Schaumfleck von einem Strudel aufgesogen wird. Ich stieg eine Meile, zwei Meilen, zehn Meilen über die Oberfläche; die ganze kärgliche Landkarte dieses in der fernen Zukunft liegenden Londons breitete sich unter mir aus, erkennbar durch das Funkeln des Zeitschiffes.
Wir gewannen weiter an Höhe — wir müssen schneller als eine Kanonenkugel gewesen sein —, und dennoch vernahm ich kein Rauschen der Luft und spürte keinen Windhauch auf dem Gesicht: Ich fühlte mich sicher, mit diesem kindlichen Gefühl der Leichtigkeit, die ich bereits erwähnt hatte. Der Ausschnitt der Szenerie unter mir vergrößerte sich, und die Details der Gebäude und Eisfelder wurden verschwommen und blaß und unscharf, und eine Art lumineszierendes Grau vermischte sich mehr und mehr mit dem kalten Weiß des Eises. Als der Schleier der Atmosphäre zwischen mir und dem Weltraum immer dünner wurde, nahm der Nachthimmel, dessen Tönung bisher ein kräftiges Eisengrau gewesen war, eine dunklere und intensivere Färbung an.
Inzwischen waren wir bereits so hoch, daß die Krümmung des Planeten sichtbar wurde — es hatte den Anschein, als ob London der höchste Punkt eines riesigen Hügels sei —, und ich konnte die Konturen des armen Britanniens identifizieren, das in einem gefrorenen Meer aus Eis eingeschlossen war. Wolkenballungen lagen über Irland und dem westlichen England, und ich konnte die Umrisse Nordfrankreichs und Irlands ausmachen, wohingegen Schottland hinter dem Horizont lag. Das Meer hatte eine trübe grauweiße Färbung, dunkler als das Land; und ich sah, daß sich das ganze Panorama in östlicher Richtung drehte.
Ich hatte auch weiterhin keine Kontrolle über Hände oder Füße, Bauch oder Mund, aber ich verspürte weder Angst noch Schmerzen. Ich schien plötzlich meine Körperlichkeit verloren zu haben und betrachtete die Dinge mit einer heiteren Gelassenheit. Alles, was an mir materiell gewesen war, war dort unten auf der Erde und gefror in dem Zeitfahrzeug, wurde von der Gravitation niedergedrückt und begleitete die Sonne und die Planeten auf ihrer weiten Wanderung durch das All.
Und wir stiegen noch immer — ich wußte, daß wir die Atmosphäre bereits verlassen hatten — und die gefrorenen Ebenen mutierten von einer Landschaft zur Oberfläche einer kugelförmigen Welt, die sich weiß und beschaulich — und mausetot — unter mir drehte. Über dem schimmernden Leib der Erde standen noch weitere Zeitschiffe — ich sah, daß es Hunderte großer, grün glühender, diskusförmiger Schiffe mit einem Durchmesser von etlichen Meilen waren; sie bildeten eine locker formierte Armada, die durch den Weltraum kreuzte, und ihre Lichter wurden von dem zerklüfteten Eis reflektiert, das die Erde bedeckte.
Ich hörte jemanden meinen Namen rufen: eigentlich war es jedoch kein Hören, sondern ein Bewußtsein, wobei mir der Versuch seiner Beschreibung irgendwie zuwider ist. Ich wollte mich umdrehen, aber ich konnte den Blick nicht fokussieren.
Nebogipfel? Bist du das?
Ja. Ich bin hier. Ist mit dir alles in Ordnung?
Nebogipfel… Ich kann dich nicht sehen.
Ich dich auch nicht. Aber das ist nicht schlimm. Fühlst du meine Hand?
Ja.
Jetzt driftete die Erde zur Seite ab, und unser Schiff schloß sich der übrigen Formation an. Bald waren wir von Zeitschiffen umgeben, in einer Konfiguration, welche den interplanetarischen Raum über viele Meilen ausfüllte; es war, als ob man sich inmitten einer Schule großer, glühender Wale befunden hätte. Das Licht des Plattnerits war gleißend, und doch hatte es etwas Irreales, als ob es von einer unsichtbaren Fläche reflektiert würde; und wieder überkam mich auch dieses Gefühl der Unwirklichkeit der Schiffe, als ob sie eigentlich gar nicht in diese Realität, und auch in keine andere gehörten.
Nebogipfel, was geschieht mit uns? Wohin bringt man uns?
Du kennst die Antwort, erwiderte er sanft. Wir werden zurück durch die Zeit reisen… zurück an ihre Grenze, in ihr tiefstes, verborgenes Herz…
Werden wir bald aufbrechen?
Wir sind schon aufgebrochen, sagte er. Schau hinaus zu den Sternen.
Ich drehte mich um — oder glaubte zumindest, daß ich das tat — so daß ich den Blick von der Weißen Erde abwandte, und ich sah:
Am Himmel erschienen die Sterne.
Während wir in der Zeit zurückreisten, kehrten die Expeditionsschiffe der Erde in mehreren aufeinanderfolgenden Wellen zu ihrem Ausgangsort zurück, und die Veränderungen, die den Welten und Sternen von den Menschen aufgezwungen worden waren, wurden wieder rückgängig gemacht. Und während diese Flut der Zivilisation und Kultivierung des Kosmos abebbte, zerfielen die sternumhüllenden Sphären eine nach der anderen. Ich schaute mit einem Gefühl des Wunders zu, wie die alten Konstellationen sich wie Kandelaber wieder etablierten. Die Sternbilder des Widders und des Löwen wurden von der Sonne verdeckt, aber ich konnte die helle Wega erkennen. Sirius und Orion strahlten so hell wie in jeder Winternacht; der Polarstern stand senkrecht über mir, und ich konnte das markante Profil des Großen Bären ausmachen. Außerhalb meines Blickfeldes, hinter der Krümmung der Erde, standen fremde Sternkonstellationen, die ich von England aus nie gesehen hatte: die Antipoden-Konstellationen waren mir nicht so geläufig, daß ich sie alle hätte identifizieren können, aber ich konnte zumindest das brutale Dolchkreuz des Südens erkennen, die sanft glühenden Flecken der Magellanschen Wolken und die strahlenden Zwillinge, Alpha und Beta Centauri.
Und nun, da wir tiefer in die Vergangenheit glitten, begannen sich die Sterne am Himmel zu verschieben. Innerhalb weniger Augenblicke schienen die bekannten Konstellationen zu verschwimmen, als die Eigenbewegung der Sterne — viel zu langsam, als daß sie ein Mensch in seinem kurzen Leben hätte wahrnehmen können — sich meinem kosmischen Blick eröffnete.
Ich machte Nebogipfel auf dieses Phänomen aufmerksam.
Ja. Und betrachte die Erde…
Ich schaute hin. Die Maske der Vergletscherung, die diesen lieben, erschöpften Globus entstellt hatte, verschwand bereits. Ich sah, wie das Weiß in großen Schüben zu den Polen zurückwich und das darunterliegende Braun und Blau von Land und Meeren freigab.
Dann war das Eis verschwunden — an seinen Ursprung an den Polen verbannt — und die Welt drehte sich langsam unter uns, wobei die vertrauten Kontinente wieder hergestellt waren. Aber die Erde wurde von Wolken eingehüllt; und diese Wolken leuchteten in intensiven, unnatürlichen Farben — Braun, Purpur, Orange. Die Küsten waren erleuchtet, und große Städte glühten in den Herzen der Kontinente. Ich sah sogar große, schwimmende Städte inmitten der Ozeane. Aber die Luft war derart schlecht, daß man in diesen großen Städten — falls sich überhaupt jemand auf die Oberfläche wagte — sicher nur mit Atemschutzmasken oder Filtern überleben konnte.
Offenbar sind wir gerade Zeuge der letzten Tage der Umgestaltung der Erde durch die Neuen Menschen, sagte ich. Wir müssen wohl in jeder Minute einige Millionen Jahre zurücklegen.
Ja.
Warum sehen wir dann nicht, wie die Erde sich um ihre Achse dreht und die Sonne umkreist?
So einfach ist es nicht… Diese Schiffe sind nicht mit deinem Zeitmaschinen-Prototyp zu vergleichen.
Alles, was wir sehen, ist eine Rekonstruktion, fuhr Nebogipfel fort. Es ist quasi eine Projektion, die auf den Beobachtungen basiert, welche im Verlauf unserer Reise in das Informationsmeer eingespeist werden: zumindest in den Teil, den die Schiffe transportieren. Solche Faktoren wie die Rotation der Erde werden dabei unterschlagen.
Seine Stimme schien irgendwo im Raum um mich herum zu driften; ich hatte diese tröstliche Wahrnehmung seiner Hand in der meinen verloren und konnte nicht mehr sagen, ob er in der Nähe war — aber ich hatte ohnehin den Eindruck, daß ›Nähe‹ kein relevanter Aspekt mehr war, denn ich wußte ja nicht einmal genau, wo ›ich‹ überhaupt war. Was auch immer aus mir geworden war, ich wußte jedenfalls, daß ich kein punktuelles Bewußtsein mehr war, das aus einem Knochenkäfig herausschaute.
Nebogipfel, was bin ich? Bin ich noch ein Mensch?
Du bist noch immer du selbst, versicherte er mit Nachdruck. Der einzige Unterschied besteht darin, daß die Maschinerie, die dich am Leben erhält, nicht mehr aus Knochen und Fleisch besteht, sondern aus Konstrukten aus dem Informationsmeer… Du hast Glieder, nicht aus Muskeln und Blut, sondern aus Wissen.
Die Erdatmosphäre klärte sich. Mit erstaunlicher Schnelligkeit wurden die Lichter der Städte trüber und erloschen dann ganz, und bald war die Erde unberührt von Menschenhand.
Ich sah vulkanische Aktivitäten, große feurige Implosionen, Krater, die aufglühende Lavamassen und gewaltige Aschewolken in ihren Schlund einzusaugen schienen; und ich hatte den Eindruck, daß die Kontinente von ihren Schulatlas-Positionen wegdrifteten. Auf den großen Savannen der nördlichen Hemisphäre schien sich ein Kampf abzuspielen — langsam, in einem Zeitraum von Jahrtausenden —, der zwischen zwei Vegetationsklassen ausgetragen wurde: auf der einen Seite die hellgrünen Steppen und Laubwälder, welche die Kontinente am Rand des Polareises säumten; und auf der anderen das virulente Grün der tropischen Dschungel. Zunächst gewannen die Dschungel die Oberhand und holten vom Äquator weit nach Norden aus, bis sie vom Wendekreis des Krebses ausgehend Europa und Amerika bedeckten. Sogar Grönland wurde für kurze Zeit grün. Dann zogen sich die Dschungel, so schnell sie die Erde erobert hatten, wieder an ihre äquatorialen Ausgangspunkte zurück, und hellere Grün- und Brauntöne jagten über die nördlichen Kontinente.
Die Drift und die Drehung der Kontinente verstärkte sich. Und als sich die Kontinente in andere Klimazonen bewegten, veränderten sich die Farben ihrer Vegetation entsprechend, so daß sich große grüne und braune Abschnitte über die unglücklichen Kontinente legten. Riesige, verheerende Vulkanausbrüche akzentuierten diesen geologischen Tanz.
Dann drifteten die Kontinente aufeinander zu — als ob man einem Puzzlespiel zusehen würde — und formten eine einzige, immense Landmasse, die den halben Globus umspannte. Das Innere dieses großen Landes verwandelte sich sofort in eine Wüste.
Nebogipfel sagte: Wir sind bereits dreihundert Millionen Jahre in die Vergangenheit gereist… Es gibt noch keine Säugetiere, keine Vögel, und gerade eben erst sind die Reptilien geboren worden…
Ich erwiderte: Ich hatte keine Ahnung, daß das alles so schön war, wie ein Felsenballett — die Geologen meiner Zeit haben noch so viel zu lernen! Es hat den Anschein, als ob der ganze Planet lebte und sich entwickelte.
Dann teilte sich der riesige Kontinent in drei große Segmente. Die vertrauten Konturen der Kontinente meiner Zeit waren verschwunden; die Erdteile drehten sich wie Teller auf einer polierten Tischplatte. Als diese riesige Zentralwüste verschwunden war, wurde das Klima differenzierter; und ich konnte erkennen, daß eine Reihe flacher Meere das Land säumte.
Nebogipfel sagte: Um diese Zeit gleiten die Amphibien zurück ins Meer, und ihre Prototypen-Gliedmaßen entwickeln sich zurück. Aber auf dem Land existieren noch Insekten und andere Wirbellose: Tausendfüßler, Milben, Spinnen und Skorpione…
Kein sonderlich gastfreundlicher Ort, erwiderte ich.
Es gibt auch gigantische Libellen und andere zoologische Wunder — diese Welt hat durchaus ihre Reize.
Nun begann das Land seinen grünen Farbton zu verlieren — eine Art knochiges Braun brach durch die zurückweichende Flut des Lebens — und ich vermutete, daß wir das Auftauchen der ersten landgestützten Blattpflanzen hinter uns ließen. Bald hatte sich die Erdoberfläche in eine konturenlose Maske aus Braun und einem lehmigen Blau verwandelt. Ich wußte, daß es in den Meeren schon Leben gab, aber es wurde auch dort primitiver, wobei ganze Stämme in der Gruft der Geschichte verschwanden: zuerst die Fische, dann die Mollusken, dann die Schwämme und Quallen und Würmer… Zuletzt sah ich, daß nur noch eine kümmerliche grüne Algenart — die sich abmühte, das stechende Sonnenlicht in Sauerstoff umzuwandeln — in den Tiefen der Meere existierte. Das Land war öde und steinig, und die Atmosphäre war stickig geworden, wobei giftige Gase gelbe und braune Flecken verursachten. Große Feuer brachen simultan überall auf der Erde aus. Dicke Wolken wallten in die Atmosphäre, verhüllten die Erdkugel, und die Meere wichen wie austrocknende Pfützen zurück.
Aber die Wolken hatten nicht lange Bestand. Die Atmosphäre wurde dünn, dann zerfaserte sie und löste sich schließlich völlig auf. Die exponierte Erdkruste glühte in einem gleichförmig düsteren Rot, außer an den Stellen, wo sich große orangefarbene Narben wie Münder öffneten und schlossen. Es gab keine Meere, keinen Unterschied zwischen den Ozeanen und dem Land: nur diese endlose, zerklüftete Kruste, über welche die Zeitschiffe aufmerksam und elegant dahinzogen.
Und dann wurde das Glühen der Erdkruste heller — unerträglich hell — und mit einer Explosion glühender Fragmente erzitterte die junge Erde entlang ihrer Achse und platzte auseinander!
Es war, als ob einige dieser Fragmente durch mich hindurchgeflogen wären. Der glühende Felsen rammte sich einen Weg durch mein Bewußtsein und verschwand im All.
Und dann war es aus! Jetzt gab es nur noch die Sonne… und eine formlose und brodelnde Scheibe aus Trümmern und Gas, die um das leuchtende Zentralgestirn rotierte.
Eine Wellenbewegung schien durch unseren Pulk aus Zeitschiffen zu verlaufen, als ob der Abgesang der Erde einen physikalischen Schock durch diese lockere Armada gejagt hätte.
Das ist ein merkwürdiges Zeitalter, Nebogipfel, bemerkte ich.
Sieh dich um…
Das tat ich und sah, daß einige Sterne am Himmel standen — vielleicht ein Dutzend — deren Helligkeit zunahm. Die Sterne hatten sich zu einer über den Himmel verstreuten Konstellation gruppiert, standen aber so weit entfernt, daß sie nur als Punkte zu erkennen waren. Gasschwaden schienen sich zu einer Wolke zu verdichten, verteilten sich am Himmel und hüllten diese Sternenkollektion ein.
Das sind die echten Begleiter der Sonne, sagte Nebogipfel. Ihre Kinder, wenn du so willst: die Sterne, die sich die Materiewolke der Sonne geteilt haben. Einst hatten sie einen Cluster gebildet, der so hell und dicht wie die Plejaden war… aber die Gravitation wird sie nicht zusammenhalten, und noch vor der Entstehung des Lebens werden sie auseinanderdriften… Einer der jungen Sterne, direkt über meinem Kopf, flackerte. Er expandierte und wurde bald so groß, daß er eine Scheibenform annahm… bis er schließlich erlosch und das Glühen in diesem Sektor der Wolke erstarb.
Dann durchlief ein anderer Stern, der Position des ersten fast diametral entgegengesetzt, denselben Zyklus: das Flackern, gefolgt von einer Expansion zu einer strahlend roten Scheibe, und dann — Erlöschen.
Man muß dabei bedenken, daß sich dieses grandiose Drama vor dem Hintergrund absoluter Lautlosigkeit abspielte.
Wir erleben die Geburt von Sternen, sagte ich, aber im umgekehrten Ablauf…
Ja. Die Sternenembryos erhellen die Gaswolke, aus der sie entstehen — solche Nebel sind ein schöner Anblick — aber nach der stellaren Zündung werden die leichteren Gase von der Hitze verdrängt, und übrig bleiben nur die schwereren Brocken…
Brocken, die sich zu Planeten verdichten.
Und nun — so plötzlich! — war die Sonne an der Reihe. Das gelbweiße Licht des Sterns flackerte unstet, ein Lodern, das von den Plattnerit-Rümpfen der Zeitschiffe reflektiert wurde — und die Sonne blähte sich schnell zu einer gigantischen Kugel auf, welche die Armada der Zeitschiffe kurzzeitig in eine rote Lichtwolke hüllte… und dann dieses Verströmen in der unendlichen Leere.
Die Schiffe hingen in plötzlicher Dunkelheit. Die letzten Nachbarn der Sonne loderten auf, expandierten und erloschen; und wir befanden uns in einer Wolke kalten Wasserstoffs, der das grüne Glühen des Plattnerits reflektierte.
Nur sehr entfernte Sterne markierten noch den Himmel, und ich sah, wie auch sie nach und nach aufloderten und erloschen. Der Weltraum wurde dunkler, und die Anzahl der Sterne nahm ständig ab.
Dann flackerte plötzlich eine neue Generation von Sternen am Himmel auf. Es war offenbar eine ganze Gruppe: Dutzende standen so dicht beisammen, daß sie als Scheibe erschienen, und das Licht dieser neuen Sterne war nach meiner Auffassung so hell, daß es zum Zeitungslesen ausgereicht hätte — aber nicht, daß ich versucht gewesen wäre, ein solches Experiment durchzuführen!
Nebogipfel, was für ein erstaunlicher Anblick. Unter einem Himmel wie diesem würde die Astronomie wohl etwas anders aussehen.
Das ist die allererste Sternengeneration. Sie sind die einzigen Lichter im neuen Kosmos… Jeder dieser Sterne hat hunderttausend Sonnenmassen, aber sie gehen recht verschwenderisch mit ihrem Brennstoff um — ihre Lebensdauer bemißt sich nur nach einigen Millionen Jahren…
Und wirklich, noch während er sprach, sah ich, daß die Sterne sich ausdehnten, sich rot verfärbten und wie große, überhitzte Ballons platzten.
Bald war es vorbei; und der Weltraum war wieder dunkel — dunkel bis auf das grüne Glühen der Zeitschiffe, die stetig und entschlossen tiefer in die Vergangenheit vordrangen.
Ein gleichförmiges Glühen begann nun den Raum um uns zu durchdringen. Ich fragte mich, ob noch eine frühere Generation von Sternen diesen urzeitlichen Kosmos erleuchtete — eine Generation, von der Nebogipfel und die Konstrukteure, mit denen er kommunizierte, nichts wußten. Doch bald sah ich, daß dieses Glühen den Himmel gleichmäßig ausfüllte. Es kam nicht von einer Konstellation aus punktförmigen Quellen wie Sternen; vielmehr war es ein Licht, das überall um uns herum zu sein schien, als ob es von der Struktur des Weltalls selbst ausgehen würde — obwohl hier und da das Glühen etwas fleckig war, vermutlich dort, wo dichte Brocken von embryonaler Sternenmaterie heller strahlten. Dieses Licht war zunächst dunkelrot — es erinnerte mich an einen durch eine Wolkendecke brechenden Sonnenaufgang — aber es wurde heller und nahm nacheinander die vertrauten Spektralfarben an, über Orange, Gelb und Blau bis hin zu Violett.
Ich sah, daß sich die Flotte der Zeitschiffe enger gestaffelt hatte; sie hoben sich als Flöße aus grünem Draht gegen den immensen leeren Raum ab und scharten sich wie schutzsuchend zusammen. Tentakel — Stränge aus Plattnerit — züngelten durch die Leere zwischen den Schiffen und verbanden sich mit ihnen, wobei ihre Enden mit den komplexen Strukturen der Schiffe verschmolzen. Bald war die ganze Armada durch eine Art Netzwerk aus Fäden verkabelt.
Selbst in diesem frühen Stadium, erläuterte Nebogipfel, verfügt das Universum über eine Struktur. Die entstehenden Galaxien existieren in Form kalter Gase, die in Gravitationsquellen gespeichert sind… Aber die Struktur implodiert und schrumpft, während wir uns der Finalen Grenze nähern.
Es ist also wie eine umgekehrt ablaufende Explosion, mutmaßte ich. Kosmisches Schrapnell verdichtet sich am Ort der Detonation. Schließlich wird sich die gesamte Materie des Universums in einem einzigen Punkt konzentrieren — und es wird sein, als ob eine große Sonne geboren worden wäre, inmitten eines unendlichen und leeren Raums.
Nein. Ganz so einfach ist es nicht…
Er erinnerte mich an die Krümmung der Achsen von Raum und Zeit — die Verzerrung, die dem Prinzip der Zeitreise zugrundelag. Diese Achsenkrümmung findet jetzt überall um uns herum statt, sagte er. Auf unserer Reise zurück in die Vergangenheit ist es eben nicht der Fall, daß Materie und Energie sich durch ein definiertes Kontinuum bewegen, wie zum Beispiel ein Fliegenschwarm im Zentrum eines leeren Raumes… Vielmehr faltet sich der Raum selbst auf — das heißt von uns aus gesehen: er wird komprimiert und schrumpft zusammen. Wie ein Ballon, aus dem die Luft entweicht.
Ich konnte seinen Vortrag nachvollziehen — aber er erfüllte mich mit Ehrfurcht und Angst, denn ich konnte mir nicht vorstellen, wie Körper oder Geist einen solchen Schrumpfungsprozeß überstehen sollten!
Das universale Licht wurde intensiver, und es kletterte mit rasender Geschwindigkeit die Spektralskala empor, bis zu einem grellen Violett. In diesem Meer aus Wasserstoff wirbelten Klumpen und Gase umher, wie Flammen in einem Hochofen; die durch ihre Trossen miteinander verbundenen Zeitschiffe hoben sich nur als schwache Silhouetten vor diesem unsteten Glühen ab. Schließlich war der Himmel so hell, daß er weiß wurde — so als blickte man direkt in die Sonne.
Es gab einen lautlosen Knall — ich glaubte, das Aufeinanderschlagen von Zimbeln gehört zu haben —, das Licht flutete auf mich zu, wie eine expandierende Flüssigkeit — und ich wurde mit einer Art weißer Blindheit geschlagen. Ich war in gleißendes Licht getaucht, ein Licht, das meine ganze Existenz zu durchdringen schien. Ich konnte weder diese gesprenkelten Klumpen ausmachen noch die Zeitschiffe sehen — nicht einmal mein eigenes!
Ich rief nach Nebogipfel. Ich sehe nichts mehr. Das Licht…
Seine Stimme drang leise und ruhig durch diese Lichtkaskaden. Wir sind in die Epoche der Ersten Expansion eingetreten… Der Weltraum ist jetzt überall so heiß wie die Oberfläche einer Sonne und mit elektrisch geladener Materie angefüllt. Das Universum ist nicht mehr transparent, so wie es in unserer Zeit sein wird…
Jetzt wurde mir auch klar, weshalb die Schiffe sich untereinander verkabelt hatten, denn mit Sicherheit konnte kein elektrisches Signal dieses Inferno durchdringen. Die Helligkeit nahm weiter zu, bis ich mir sicher war, daß sie weit jenseits dessen lag, was normale menschliche Augen verkraften konnten — ganz davon abgesehen, daß wohl überhaupt kein Mensch auch nur einen Augenblick in diesem glühenden kosmischen Ofen hätte überleben können!
Ich fühlte mich, als ob ich allein in dieser riesigen Leere hängen würde. Wenn die Konstrukteure wirklich hier waren, dann entzog sich das jedenfalls meiner Wahrnehmung. Mein Zeitgefühl wurde schwächer und versagte dann ganz; ich konnte nicht sagen, ob ich die Ereignisse nun in Zeiträumen von Jahrhunderten oder Sekunden verfolgte oder ob ich die Evolution von Sternen oder Atomen beobachtete. Vor dem Eintritt in diese Lichtsuppe hatte ich mir zumindest noch einen Rest von Orientierungssinn bewahren können — ich war in der Lage gewesen, zwischen Auf und Ab und Nah und Fern zu unterscheiden… Die Welt um mich herum war wie ein großer Raum strukturiert gewesen, in dem ich eingeschlossen war. Aber jetzt, in dieser Epoche der Ersten Expansion, war mir dieses Gefühl völlig abhanden gekommen. Ich war ein Bewußtseinsfleck in diesem großen Fluß, der seiner Quelle entgegenströmte, und ich konnte mich nur auf Gedeih und Verderb mit diesem Strom treiben lassen.
Die Strahlung wurde heißer — und unerträglich intensiv. Ich sah, daß die Materie des Universums, die Materie, aus der eines Tages die Sterne, die Planeten und mein eigener Körper entstehen würden, nur noch ein dünner Schleier war, ein Fremdkörper in diesem siedenden Mahlstrom aus Licht und Sternen. Schließlich — ich schien imstande, es zu sehen — zerfielen sogar die Kerne der Atome unter dem Druck dieses unerträglichen Lichts. Das All füllte sich mit noch elementareren Partikeln, die sich in einem komplexen, mikroskopischen Chaos ständig neu um mich herum gruppierten.
Wir nähern uns der Grenze, flüsterte Nebogipfel. Dem Beginn der Zeit selbst… und dennoch mußt du dir vor Augen führen, daß wir nicht allein sind: daß unsere Geschichte — dieses junge, glühende Universum — nur eine von unendlich vielen ist, deren Entwicklung an dieser Grenze ihren Anfang genommen hat; und während wir zurückreisen, streben alle Mitglieder dieser Multiplizität diesem Augenblick, dieser Grenze zu, wie Zugvögel…
Aber noch immer dauerte diese Kontraktion an — noch immer stieg die Temperatur an, noch immer nahm die Materie- und Energiedichte zu; und nun wurden sogar diese ersten Fragmente von Strahlung und Materie in den wirbelnden Strudel von Raum und Zeit gesogen, und ihre Energie wurde dieser großen Achsenkrümmung zugeführt.
Bis schließlich…
Die letzten, glitzernden Partikel lösten sich sanft von mir, und das Lodern der Strahlung steigerte sich zur Unsichtbarkeit.
Jetzt wurde mein Bewußtsein nur noch von einem grauweißen Licht ausgefüllt: aber das ist eine Metapher, denn ich wußte, daß das, was ich nun erlebte, kein Licht im physikalischen Sinne war, sondern das Licht, das an der Wurzel allen Bewußtseins scheint — das Licht, vor dem Materie, Ereignisse und Geist nur Schatten sind, wie Platon postuliert hatte.
Wir haben die Nukleation erreicht, flüsterte Nebogipfel. Raum und Zeit sind so ineinander verflochten, daß sie nicht mehr unterschieden werden können. Hier gibt es keine Physik mehr… Hier gibt es keine Struktur. Man kann nicht mehr sagen: das befindet sich dort, in dieser Entfernung; und ich bin hier. Es gibt keine Messung — keine Beobachtung…Es ist alles Eins.
Und genauso, wie unsere Geschichte zu einem einzigen, heißen Punkt kondensiert ist, ist auch die Multiplizität aufgehoben worden. Die Grenze selbst löst sich auf und verliert sich in den unendlichen Möglichkeiten der kollabierten Multiplizität…
Und dann nahm ich einen einzigen, strahlend hellen Lichtimpuls wahr: Plattnerit-Grün.
Die Nonlinearitäten-Maschinen
Die fusionierte Multiplizität zuckte konvulsivisch. Ich spürte eine Verzerrung — gestreckt und gestaucht — als ob der große Fluß der Kausalität, in dem ich geschwommen war, plötzlich turbulent und feindselig geworden wäre.
Nebogipfel?
Seine Stimme war freudig — überschwenglich. Es sind die Konstrukteure! Die Konstrukteure…
Das Beben legte sich. Das grüne Glühen erlosch, und ich tauchte wieder in das Grauweiß im Moment der Schöpfung ein. Dann erschien ein neues, weißes Licht, das aber nur für einen Moment aufzuckte; und dann sah ich, wie Energie und Materie aus einer sich neu formierenden Raumzeit wie Tau kondensierten.
Ich war in eine neue Geschichte versetzt worden, die sich nun aus der Nukleation entfaltete. Das Licht des Universums gleißte um viele Größenordnungen heller als der Mittelpunkt der Sonne.
Die Zeitschiffe eskortierten mich nicht mehr — vielleicht hatte ihre physikalische Form diese Passage durch die Nukleation nicht überstehen können — und das mich umgebende Plattnerit-Netzwerk war auch verschwunden. Aber ich war nicht allein; überall um mich herum — wie Schneeflocken im Lichtkegel einer Taschenlampe — waren Plattneritpartikel aus grünem Licht, die umeinanderwirbelten. Ich wußte, daß dies die Konstrukteure waren, und fragte mich, ob sich Nebogipfel ebenfalls in dieser Wolke befand, und ob er den anderen tatsächlich auch als ein tanzender Punkt erschien.
War meine Reise durch die Zeit umgekehrt worden? Würde ich jetzt im Strom der Geschichte wieder flußabwärts schwimmen, wieder in meine eigene Zeit zurück?
Nebogipfel? Hörst du mich?
Ich bin hier.
Was ist los? Reisen wir wieder durch die Zeit?
Nein, erwiderte er. Noch immer schwang diese Freude — dieser Triumph — in seiner körperlosen Stimme mit.
Was dann? Was geschieht mit uns?
Siehst du das nicht? Wir haben die Nukleation hinter uns gelassen. Wir haben die Grenze erreicht. Und…
Ja?
Stell dir die Multiplizität als eine Fläche vor, sagte er. In ihrer Gesamtheit ist die Multiplizität glatt, geschlossen, fugenlos — eine Kugel. Und die Historien verhalten sich wie Längengrade, die zwischen den Polen der Sphäre verlaufen…
Und wir haben mit den Zeitschiffen einen solchen Pol erreicht?
Ja. Den Punkt, in dem all diese Linien zusammentreffen. Und in diesem definierten Moment der unendlichen Möglichkeiten haben die Konstrukteure ihre Nonlinearitäten-Triebwerke gezündet…
Die Konstrukteure haben die Historien bereist, sagte er. Sie — und wir — sind den Pfaden der Imaginären Zeit gefolgt, Nebenstrecken, die über die Oberfläche des Multiplizitäten-Globus verlaufen, bis wir in dieser neuen Historie angekommen sind…
Jetzt driftete die Wolke aus Konstrukteuren — es mußten wohl Millionen sein — wie Fragmente eines Silvesterfeuerwerks auseinander. Es war, als ob sie versuchten, das jungfräuliche Vakuum mit dem Licht und Bewußtsein anzufüllen, das wir aus einem anderen Kosmos importiert hatten. Und während sich das neue Universum entwickelte, wich das Nachglühen der Genesis einer tiefen Dunkelheit.
Es war das Endergebnis — die logische Folge — meiner Manipulationen an den Eigenschaften des Lichts und infolgedessen der Verzerrung des Raum-Zeit-Gefüges. Das alles, realisierte ich, sogar der Kollaps des Universums und diese große Wanderung quer durch die Historien — das alles hatte sich unausweichlich aus meinen Experimenten ergeben, aus meiner ersten, winzigen Maschine aus Messing und Quarz…
Es hatte dazu geführt: zu einem Transfer von Bewußtsein zwischen den Universen.
Aber wo sind wir jetzt herausgekommen? Welche Geschichte ist das? Ist sie wie die unsere?
Nein, meinte Nebogipfel. Nein, ich glaube nicht, daß sie wie die unsere ist.
Werden wir hier existieren können?
Ich weiß es nicht… diese Historie ist nicht für uns ausgelegt.
Die Konstrukteure hatten, sagte er, ein Universum ausgewählt — aus all den unendlichen Möglichkeiten, aus denen sich die Multiplizität zusammensetzt — ein Universum, das für sie optimale Bedingungen bot.
Ja. Aber welche Bedeutung kann ›optimal‹ wohl für einen Konstrukteur haben? Ich beschwor vage Vorstellungen vom Himmel herauf — von Frieden, Sicherheit, Schönheit, Licht — aber ich wußte auch, daß diese Bilder hoffnungslos anthropomorph waren.
Jetzt sah ich, daß ein neues Licht in der uns einhüllenden Finsternis erschien. Zuerst dachte ich, daß es das neuerliche Glühen des Feuerballs am Anfang der Zeit war — aber es war zu sanft, zu konstant; es war eher wie — Sternenlicht…
Nebogipfel sagte: Unter all den Myriaden Möglichkeiten haben sich die Konstrukteure dieses Universum ausgesucht — dieses eine — das unendlich im Raum und ewig in der Zeit ist: wo diese Grenze am Beginn der Zeit in die unendliche Vergangenheit verlegt worden ist.
Ein unendliches Universum!
Man könnte durch die rauchigen Wolken Londons zu den Sternen sehen, von denen die Kathedralenkuppel des Himmels markiert wird; es ist alles so riesig, so konstant, daß man sich leicht einen unendlichen Kosmos vorstellen kann, der schon ewig besteht.
… Aber das kann nicht sein. Man muß sich nämlich nur eine ganz banale Frage stellen: Warum ist der Himmel nachts dunkel? Und die Antwort liegt auf der Hand.
In einem unendlichen Universum, dessen Sterne und Galaxien über eine endlose Leere verteilt wären, müßte, in welche Richtung man auch immer schaut, ein von einem Stern kommender Lichtstrahl das Auge treffen. Der Nachthimmel würde genauso hell strahlen wie die Sonne…
Die Konstrukteure sind keine Menschen, sagte der Morlock. Aber sie sind die Erben der Menschheit. Und die Kühnheit ihrer Leistung ist erstaunlich.
Wir sind bis jenseits der Nukleation gereist, zu den Grenzen von Raum und Zeit selbst. Und affengleiche Finger haben nach der Singularität gegriffen, die sich dort befindet — und haben sie zurückgestoßen!
Jetzt eruptierte das Sternenlicht in der mich umgebenden Dunkelheit; die Sterne wurden überall gezündet; und bald loderte der Himmel so strahlend wie die Sonne.
Meine Eindrücke waren von diamantener Härte: es gab keine durch Weichzeichnung verwaschene Atmosphäre, nichts außer dieser gleißenden Helligkeit mit Myriaden deutlicher Punkte und Lichtflecken. Hier und da glaubte ich Muster und Unterscheidungsmerkmale ausmachen zu können — Konstellationen von helleren Sternen vor dem allgemeinen Hintergrund — aber der ganze Effekt war so blendend, daß ich ein Muster, das ich glaubte wahrgenommen zu haben, kein zweitesmal ausfindig machen konnte.
Meine begleitenden Funken aus Plattnerit-Licht — die Konstrukteure, und Nebogipfel mitten unter ihnen — drifteten aus ihren Positionen oberhalb und unterhalb von mir ab, wie grünlich glühende Fragmente eines Traums. Ich war isoliert, aber ich empfand weder Angst noch Unbehagen. Das Rucken, das ich in dem Augenblick der Nonlinearität gespürt hatte, war wieder verschwunden und ließ mich ohne jedes Gefühl für Raum und Zeit zurück…
Aber dann — nach einem Intervall, das ich nicht messen konnte — registrierte ich, daß ich nicht mehr allein war.
Die Form vor mir verdichtete sich vor dem Sternenlicht, als ob ein Dia einer Laterna Magica vor mir hochgehalten würde. Es begann als bloßer Schatten vor diesem universalen Leuchten — anfangs wußte ich nicht, ob da überhaupt etwas war, abgesehen von den Projektionen meiner eigenen verzweifelten Vorstellung — aber dann gewann es den Eindruck von Solidität.
Es war eine Kugel, offensichtlich aus Fleisch, die genauso frei wie ich im Raum hing. Ich schätzte, daß sie vielleicht acht oder zehn Fuß von mir entfernt war (wo auch immer und was auch immer ich war) und einen Durchmesser von etwa vier Fuß hatte. An ihrer Unterseite baumelten Tentakel herab. Ich hörte einen leisen, undeutlichen Laut. Da war ein fleischiger Schnabel ohne Anzeichen von Nasenlöchern und zwei große Augenlider, die nun wie Jalousien hochgezogen wurden und Augen freigaben — menschliche Augen! — die mich musterten.
Nun schwebte das Ding näher auf mich zu. Er streckte seine Tentakel aus, und ich sah, daß diese Extremitäten über Gelenke verfügten und in zwei Bündel gegliedert waren, die wie verkrümmte, überlange Hände aussahen. Die Tentakel waren keine weichen und knochenlosen Anhängsel wie bei einem Tintenfisch, sondern wiesen einige Gelenke auf und schienen in Nägeln oder Hufen auszulaufen — aber eigentlich wirkten sie eher wie Finger.
Natürlich erkannte ich ihn; er war eines der Wesen, die ich Beobachter getauft hatte — diese rätselhaften Visionen, die mich auf meinen Reisen durch die Zeit besucht hatten.
Jetzt hatte es den Anschein, als ob er mich berührte. Das alles konnte doch überhaupt nicht real sein — überlegte ich verzweifelt —, denn ich war ja selbst nicht mehr real. Ich war ein Bewußtseinspunkt; es gab nichts mehr an mir, das man auf diese Art hätte berühren können…
Und doch fühlte ich, wie er mich wiegte — seltsam sicher.
Der Beobachter hing groß vor mir. Sein Fleisch war glatt und mit feinen, daunenartigen Härchen bedeckt; seine Augen waren riesig — himmelblau — mit all der schönen Komplexität menschlicher Augen — und jetzt konnte ich ihn sogar riechen; er roch leicht nach Moschus, irgendwie milchig. Mich überraschte, wie menschlich er war. Es mag sich komisch anhören, aber dort — so nahe an dem Wesen, und in dieser großen unstrukturierten Leere gestrandet — waren seine Gemeinsamkeiten mit der menschlichen Gestalt relevanter als die größeren Unterschiede. Ich gelangte zu der Überzeugung, daß er wirklich menschlich war: möglicherweise durch die riesigen Zeitabschnitte der Evolution mutiert, aber dennoch mein Verwandter.
Bald gab der Beobachter mich wieder.frei, und ich fühlte, daß ich von ihm wegdriftete.
Seine Augen blinzelten — ich glaubte das Bewegen der Augenlider als Rascheln zu vernehmen —, dann schweifte sein Blick über den heißen, amorphen Himmel, als ob er etwas suchte. Mit einem kaum hörbaren Seufzer setzte er sich von mir ab. Dabei drehte er sich, und mit baumelnden Tentakeln trieb er davon.
Für einen Augenblick durchfuhr mich Panik — ich spürte nämlich kein Verlangen, wieder mit mir allein zu sein, hier in der desolaten Perfektion der Optimaliät —, doch im nächsten Moment schwebte ich hinter dem Beobachter her. Ich bewegte mich ohne eigenes Zutun, wie ein Herbstblatt, das von einen vorbeifahrenden Wagen aufgewirbelt wird.
Ich habe bereits erwähnt, daß ich glaubte, Konstellationen wahrgenommen zu haben, die sich leuchtend gegen den Hintergrund des lichtdurchtränkten, endlosen Alls abhoben. Jetzt kam es mir so vor, als ob sich eine vor uns stehende Gruppe von Sternen wie ein Vogelschwarm auflöste; während hinter mir eine andere (ich war in der Lage, mich umzudrehen) zusammenschrumpfte.
Konnte das wirklich wahr sein? fragte ich mich. Konnte ich denn mit einer derartigen Geschwindigkeit reisen, daß selbst die Sterne durch mein Blickfeld zogen wie Lichter aus der Perspektive eines Bahnreisenden?
Plötzlich tauchte ein ganzes Geschwader fliegender Felspartikel auf, die wie Staubflocken in einem Sonnenstrahl glitzerten; sie wirbelten um mich herum und verschwanden funkelnd im Hintergrund. Ich sah während meines Aufenthalts in dieser Optimalen Historie weder Planeten noch andere Objekte aus Stein, abgesehen von diesem Schwarm Staubflocken; und ich fragte mich, ob die hier herrschende intensive Hitze und Strahlung verhinderte, daß sich Planeten aus dem stellaren Schutt bildeten.
Das Universum raste immer schneller vorbei, eine Jagd wirbelnder Flecke vor der allgemeinen Helligkeit. Die Sterne strahlten heller, brannten aus und explodierten von Punkten zu Kugeln, die auf mich zurasten, nur um gleich hinter mir zu verschwinden.
Wir stiegen rasend schnell in die Höhe und schwebten dann über der Ebene einer Galaxis, einem großen Feuerrad aus Sternen, dessen verschiedene Farben sich blaß und verschwommen von dem Weiß des Hintergrundes abhoben. Doch bald schrumpfte selbst dieses gigantische System unter mir zu einer wirbelnden, leuchtenden Scheibe und zuletzt zu einem winzigen, verwaschenen Lichtfleck, der sich unter Millionen anderer verlor.
Und während dieses ganzen erstaunlichen Fluges hatte ich die dunklen, runden Schultern des Beobachters vor Augen, der vor mir durch diese Lichtflut schwebte, völlig unbeeindruckt von den Sternenkonstellationen, durch die wir reisten.
Ich dachte an die Zeit zurück, als ich dieses Wesen und seine Artgenossen zum erstenmal gesehen hatte. Meine erste Expedition in die Zeit war von der leisen Andeutung eines undeutlichen Redeflusses untermalt worden — und dann meine erste klare Wahrnehmung eines Beobachters, als ich im Licht der sterbenden Sonne weit in der Zukunft erlebt hatte, wie dieses Objekt fröhlich über den entfernten Strand hüpfte — ein fußballähnliches Wesen, von dem das Wasser glitzernd herabtropfte. Damals hatte ich es für einen Bewohner jener dem Untergang geweihten Welt gehalten — aber das war es nicht, genauso wenig wie ich. Und später hatte ich dann diese Visionen von Beobachtern gehabt — erhascht durch das grüne Glühen von Plattnerit —, die bei meiner Flucht durch die Zeit die Zeitmaschine umschwärmten.
Ich begriff jetzt, daß ich im Verlauf meiner kurzen, aber spektakulären Karriere als Zeitreisender von den Beobachtern studiert worden war.
Die Beobachter mußten in der Lage sein, nach Belieben den Linien der Imaginären Zeit zu folgen und mit der Leichtigkeit eines Dampfschiffs, das die Strömungen eines Ozeans kreuzt, zwischen den infiniten Historien der Multiplizität hin und her zu wechseln; die Beobachter hatten den von den Konstrukteuren entwickelten, vergleichsweise primitiven und explosiven Nonlinearitäten-Antrieb übernommen und weiterentwickelt.
Nun drangen wir in eine immense Leere ein — ein Loch im Raum —, die durch Fäden und Flächen abgeteilt war, Lichtbahnen, die aus Galaxien und Sternhaufen bestanden. Sogar hier, Millionen Lichtjahre vom nächsten Sternennebel entfernt, dominierte die starke Hintergrundstrahlung, und der Himmel vor mir war in helles Licht getaucht. Und hinter den unregelmäßigen Wänden dieser Höhle konnte ich eine größere Struktur ausmachen: Ich konnte sehen, daß ›mein‹ Leerraum nur einer in einem größeren Feld von Sternensystemen war. Es hatte den Anschein, als ob das Universum mit einer Art Schaum angefüllt sei, mit Blasen, die sich in einem Kessel voll leuchtender Sternenbrühe bildeten.
Ich konnte eine seltsame Regelmäßigkeit in der Struktur dieses Schaums zu erkennen. Auf einer Seite wurde mein Leerraum von einer Galaxienebene begrenzt. Diese Ebene aus so dicht gepackter Materie, daß sie das allgemeine Hintergrundglühen signifikant überstrahlte, war so markant und klar definiert — so flach und ausgedehnt —, daß ich vermutete, es könnte sich dabei nicht um ein natürliches Gebilde handeln.
Ich schaute gründlicher hin. Hier glaubte ich eine andere Ebene zu erkennen — klar und präzise definiert — und da machte ich eine Art Säule aus Licht aus, perfekt rechteckig, die sich weit durch das All zog — und dort ortete ich wieder einen Leerraum, diesmal jedoch in der Form eines sauber konturierten Zylinders…
Der Beobachter rollte jetzt vor mir, wobei seine Tentakel-Büschel in Sternenlicht getaucht und der Blick seiner großen Augen auf mich gerichtet war.
Künstlich. Das Wort drängte sich mir schier auf — der Schluß lag so nahe, daß ich eigentlich schon viel eher hätte darauf kommen müssen, wenn mich der monströse Maßstab dieses Universums nicht so beeindruckt hätte!
Diese Optimale Historie war konstruiert worden — und darauf hatte mich der Beobachter auf dieser langen Reise wohl auch hinweisen wollen.
Ich rief mir alte Hypothesen in Erinnerung, wonach ein unendliches Universum unweigerlich einem verheerenden Schwerkraftkollaps zum Opfer fallen würde — das war ein weiterer Grund, weshalb unser Kosmos logischerweise nicht unendlich sein konnte. Denn genauso, wie die Erde und die anderen Planeten aus Knoten in jener turbulenten Materiewolke um die junge Sonne entstanden waren, würde es auch in dieser größeren Galaxienballung, mit denen die Optimale Historie angefüllt war, solche Strudel geben — Strudel, die in einem gigantischen Maßstab Sterne und ganze Galaxien verschlingen würden.
Aber die Beobachter hatten die Evolution ihres Kosmos offensichtlich so im Griff, daß derartige Katastrophen ausgeschlossen waren. Ich hatte gelernt, daß Raum und Zeit selbst dynamische, beeinflußbare Entitäten sind. Die Beobachter manipulierten die Krümmungen, Verdrehungen und Verwerfungen der Raumzeit selbst, um ihr Ziel eines stabilen Kosmos zu realisieren.
Die mit ihrem uralten Wissen ausgestatteten Beobachter kultivierten dieses Universum — genauso, wie man einen Garten hegt, um ihn vor der Verwilderung zu bewahren. Und diese in das sämige kosmische Chaos gemeißelten zylindrischen, stabförmigen und flachen Galaxien waren nur der offensichtlichste Beleg für diese Kultivierung.
Natürlich dürfte diese Pflege niemals aufhören, wenn die Lebensfähigkeit dieses Universums erhalten werden sollte — und, so überlegte ich, wenn das Universum ewig währte, konnte es auch keinen Anfang haben. Dieser Gedanke beunruhigte mich kurz: denn es war ein Paradoxon, eine Kausalschleife. Die Existenz von Leben war erforderlich, um hier die Voraussetzungen für die Existenz von Leben zu schaffen…
Aber bald verdrängte ich solche konfusen Gedanken! Ich kam zu dem Schluß, daß ich in viel zu engen Bahnen dachte: ich berücksichtigte nämlich nicht die Infinität der Dinge. Weil dieses Universum unendlich alt war — und das Leben hier schon unendlich lange existierte — gab es auch keinen Beginn des Zyklus, mit dem das Leben die Bedingungen für seine eigene Existenz sicherte. Das Leben existierte hier, weil das Universum lebensfähig war; und das Universum war lebensfähig, weil hier Leben existierte, um die Bedingungen dafür zu schaffen… und so fort, eine infinite Regression, ohne Anfang — und ohne Paradoxie!
Ich empfand Heiterkeit über meine Konfusion. Es hatte ganz den Anschein, als ob es noch einige Zeit dauern würde, bis ich mir die Bedeutung der Begriffe Unendlichkeit und Ewigkeit voll erschlossen hatte!
Mein Beobachter hielt an und rotierte im Raum wie ein fleischiger Ballon. Diese großen Augen schwenkten auf mich ein, dunkel, riesig, wobei das Leuchten des lichtüberfluteten Himmels untertassengroß von den Pupillen reflektiert wurde; schließlich hatte ich den Eindruck, als ob meine Welt völlig von diesem immensen, zwingenden Blick ausgefüllt sei und alles andere ausgeblendet wurde — selbst der feurige Himmel…
Aber dann schien der Beobachter zu schmelzen. Die verstreuten, entfernten Konstellationen, die schaumige galaktische Struktur — sogar das Lodern des brennenden Himmels — ich sah nichts mehr davon — oder vielmehr interpretierte ich diese Dinge durchaus noch als Aspekte der Realität, aber eben nur am Rande. Wenn man sich vorstellt, den Blick auf eine Fensterscheibe vor sich zu fixieren — und dann bewußt die Muskulatur des Auges entspannt, sich auf die Landschaft draußen konzentriert, so daß der Schmutz an diesem Fenster aus dem Bewußtsein verschwindet — dann kann man in etwa den von mir geschilderten Effekt nacherleben.
Natürlich wurde die Veränderung meiner Wahrnehmung aber durch nichts weniger als die Augenmuskulatur verursacht, und bei dieser Verschiebung der Perspektive war noch weit mehr als nur die Brennweite involviert.
Ich bekam — oder zumindest glaubte ich das — Einblick in die Strukturen der Natur.
Ich sah Atome: Lichtpunkte, wie kleine Sterne, die den Raum in einer mich umfassenden, endlosen Konfiguration ausfüllten — ich sah das alles so deutlich, wie ein Arzt vielleicht das Rippenmuster unter der Haut eines Patienten untersucht. Die Atome flitzten funkelnd umher; sie rotierten um ihre kleinen Achsen und wurden von einem komplexen Netzwerk aus Lichtfäden miteinander verbunden — oder so kam es mir wenigstens vor; ich realisierte, daß ich wohl irgendeiner graphischen Präsentation elektrischer, magnetischer, gravitationaler und sonstiger Kräfte beiwohnte. Es schien, als ob eine Art atomares Uhrwerk das Universum ausfüllte — und ich erkannte, daß die ganze Sache dynamisch war, wobei sich die Muster der Verknüpfungen und Atome ständig verschoben.
Die Bedeutung dieser bizarren Vision war mir sofort klar, denn hier sah ich eine Fortsetzung der Regelmäßigkeit, die ich bereits bei den Galaxien und Sternen beobachtet hatte. Ich konnte — indem ich in jeden Grashalm, jedes einzelne Atom eindrang — Bedeutung und Struktur erkennen. Die Orientierung eines jeden Atoms, die Richtung seines Spins und die Bindungen mit seinen Nachbarn hatte einen bestimmten Sinn. Es war, als ob das Universum, in seiner Gesamtheit, sich in eine Art Bibliothek verwandelt hätte, in der das kollektive Wissen dieser alten Variante der Menschheit gespeichert war; jedes Materiepartikel, bis hinunter zum letzten Strohhalm, war offensichtlich katalogisiert und nutzbar gemacht worden… Genauso, wie Nebogipfel vorhergesagt hatte!
Aber dieses Arrangement war mehr als nur eine Bibliothek — mehr als eine passive Kollektion verstaubter Daten — denn das alles vermittelte mir einen Eindruck von Lebendigkeit und Aktivität. Es war, als ob diese riesigen Materieballungen mit Bewußtsein imprägniert worden wären.
Intelligenz erfüllte dieses Universum und durchtränkte seine ganze Struktur! — Ich glaubte sehen zu können, wie Gedanken und Bewußtsein in großen Wellen über dieses Universallexikon brandeten. Der Maßstab dieser ganzen Angelegenheit erstaunte mich — ihre grenzenlose Natur überstieg mein Fassungsvermögen — im Vergleich hierzu war meine eigene Spezies auf die äußere Schale eines unbedeutenden Planeten beschränkt gewesen, die Morlocks auf ihre Sphäre; und selbst die Konstrukteure hatten nur eine Galaxie kontrolliert — ein einziges Sternen-System von vielen Millionen…
Hier jedoch war die Intelligenz unumschränkter Herrscher — eine Infinität.
Jetzt begriff ich — ich sah es nämlich selbst — die Bedeutung und den Sinn der Unendlichkeit und des ewigen Lebens.
Das Universum war unendlich alt und unendlich weit; und auch die Intelligenz war unendlich alt. Der Geist hatte sich jegliche Materie und Kräfte Untertan gemacht und einen unendlichen Betrag an Informationen gespeichert, einschließlich aller Wissenskomponenten, die man sich nur vorstellen konnte.
Der Geist war hier allwissend, allmächtig und allgegenwärtig. Die Konstrukteure hatten durch ihre kühne Reise zum Anfang der Zeit ihr Ideal verwirklicht, die Endlichkeit transzendiert und die Unendlichkeit kolonisiert.
Die Atome und Kräfte traten in den Hintergrund meiner aktuellen Aufmerksamkeit, und mein Blickfeld füllte sich erneut mit dem endlosen Licht und den Sternenkonstellationen dieses Kosmos. Der mich begleitende Beobachter war jetzt verschwunden, und ich hing allein hier, körperlos und langsam rotierend. Das Sternenlicht hüllte mich ein, tief und unendlich: ich wurde mir der Bedeutungslosigkeit der Dinge bewußt, der Kleinheit meiner Person, der Irrelevanz meiner nichtigen Sorgen. Ich begriff, daß es in einem unendlichen und ewigen Universum keinen Mittelpunkt geben kann; es kann keinen Anfang und kein Ende geben. Jedes Ereignis, jeder Punkt, ist aufgrund der Unendlichkeit des Raums, in dem sie positioniert sind, mit allen anderen identisch… In einem infiniten Universum war ich infinitesimal geworden…
Ich hatte noch nie eine poetische Ader gehabt, aber nun erinnerte ich mich an einen Vers von Shelley: wie ›Leben, Leben wie eine Kuppel aus buntem Glas/ das weiße Leuchten der Ewigkeit befleckt…‹ usw. Nun, ich hatte jetzt mit dem Leben abgeschlossen; die körperliche Hülle, die seichte Illusion der Materie selbst — all das war mir genommen worden, vielleicht für immer, in diesem weißen Leuchten, von dem Shelley sprach.
Für eine Weile befand ich mich im Zustand eines ganz besonderen Friedens. Als ich zum erstenmal beobachtet hatte, wie meine Zeitmaschine die Entwicklung der Geschichte beeinflußte, war ich zu der Überzeugung gelangt, daß diese Erfindung ein Gerät des Absolut Bösen war, wegen der willkürlichen Vernichtung und Verzerrung von Historien — wegen der Eliminierung von Millionen ungeborener Seelen, die durch eine leichte Bewegung meiner Steuerhebel ausgelöscht wurden. Doch jetzt erkannte ich schließlich, daß die Zeitmaschine eben keine Historien zerstört hatte; vielmehr hatte sie welche erschaffen. Alle möglichen Historien existieren in der größeren Multiplizität und sind in einem endlosen Katalog des ›Was-Sein-Kann‹ zusammengestellt. Jede Historie, die möglich war, mit ihrem ganzen Überbau aus Verstand, Liebe und Hoffnung, existierte irgendwo in der Multiplizität.
Aber es war nicht so sehr die Realität der Multiplizität an sich, sondern vielmehr das, was sie für das Schicksal der Menschen bedeutete, die mich jetzt bewegten.
Die Menschheit — so hatte ich immer den Eindruck gehabt, seit ich zum erstenmal Darwin gelesen hatte — war in einem Konflikt gefangen gewesen: zwischen den Hoffnungen ihrer Seele, die in erhabener und grenzenloser Höhe schwebte, und den Zwängen ihrer physikalischen Natur, die letztlich ihren Untergang bedeuten konnten. Ich glaubte bei den Eloi gesehen zu haben, wie die tote Hand der Evolution — das Vermächtnis des Tiers in uns — schließlich die Träume der Menschheit zerstörte und ihre Präsenz auf der Erde zu einem kurzen, glorreichen Funken des Intellekts reduzierte.
Dieser in der menschlichen Gestalt implizite Konflikt hatte sich bei mir wohl zu einem Dilemma meines Verstandes ausgewachsen. Wenn Nebogipfel richtig damit lag, daß ich Abscheu vor der Körperlichkeit empfand — nun, dann war vielleicht meine extreme Verinnerlichung dieses Jahrmillionen währenden Konflikts die Ursache. Ich hatte in meinen Ansichten und Gesprächen immer zwischen einer Art düsterer Verzweiflung, einer Abscheu vor dem bestialischen Gefängnis unseres Geistes und einer zärtlichen, eher dummen Utopie geschwankt — einem Traum, daß eines Tages unsere Hände sauber werden würden, wie in einem Massendelirium, und daß wir dann eine Gesellschaft bilden würden, die sich auf die Prinzipien der Logik, natürlichen Gerechtigkeit und Wissenschaft gründete.
Aber jetzt hatte die Entdeckung — oder Konstruktion — und Kolonisierung dieser finalen Historie alles geändert. Hier hatte die Menschheit ihre Ursprünge und die Schwachstellen der Natürlichen Selektion überwunden; von hier aus würde es keine Rückkehr zu diesem primitiven Urmeer geben, dem wir entstiegen waren: vielmehr war die Zukunft infinit geworden, ein Aufsteigen in einen Himmel aus endlosen Historien.
Mir schien es, als ob ich endlich aus der Finsternis der evolutionären Verzweiflung in das Licht der unendlichen Weisheit eingetaucht sei.
Sie werden aber kaum erstaunt sein zu lesen, wenn Sie mir schon so weit gefolgt sind, daß diese Stimmung — es war eine Art elegischer Ergebenheit — nicht lange anhielt!
Ich blickte mich um. Ich strapazierte mein Gehör und versuchte, auch das kleinste Detail zu registrieren, die kleinste Veränderung in dieser leuchtenden Hülle, die mich umgab; aber — für eine Weile — war nichts außer unendlicher Stille und unerträglicher Helligkeit.
Ich war zu einem entstofflichten Fleck geworden, vermutlich unsterblich, und in diesen größten aller Räume eingebettet: ein Universum, dessen Kräfte und Partikel allesamt unter der Herrschaft des Geistes standen. Es war großartig — aber gleichzeitig auch schrecklich, unmenschlich, kalt — trotz des Loderns der infiniten Sterne — und eine tiefe Verzweiflung drückte mich nieder.
Hatte ich mich aus dem Zustand des Seins in einen Zwitter zwischen Sein und Nicht-Sein verwandelt? Nun, wenn das zutraf — ich mußte das erst noch eruieren — hatte ich noch nicht den Ewigen Frieden erreicht. Ich hatte noch immer die Seele eines Menschen, mit dem ganzen Ballast an Fragen und Tatendrang, der immer ein Teil der menschlichen Natur gewesen ist. Ich habe nicht viel Abendländisches an mir, und deswegen brach ich dieses Zwischenspiel körperloser Kontemplation auch bald ab.
Dann, nach einer unbestimmten Zeitspanne, nahm die Helligkeit des Himmels ab. An den Rändern meines Gesichtsfeldes bildete sich eine Art Dunst — eine ansatzweise Dunkelheit. Ich hatte den Eindruck, dieses Phänomen über ganze geologische Zeitalter zu betrachten, und im Verlauf dieses langen Wartens verdichtete sich der Dunst: Er engte mein Gesichtsfeld kreisförmig ein, als ob ich aus einer Höhlenöffnung hinausschauen würde. Und dann, in der Mitte dieses gespenstischen Höhlenschlundes, ortete ich eine unregelmäßige Wolke, ein Fleck vor dem kosmischen Hintergrundleuchten; ich sah eine Kollektion unregelmäßig geformter, unscharfer Walzen und Rohre, die sich wie Phantome über die Sterne legten. In einer Ecke dieses Bildes befand sich ein Zylinder aus sattem Grün.
Ich verspürte eine drängende Ungeduld. Was hatte diese Invasion von Schatten in den ewigen Tag dieser Optimalen Historie zu bedeuten?
Die mich umgebenden Höhlenkonturen wurden immer klarer; ich fragte mich, ob das vielleicht ein an die Bewußtseinsoberfläche gespülter Erinnerungssplitter aus dem Paläozän war. Und was diese verschwommene Konfiguration aus Stäben und Scheiben betraf, so gewann ich den Eindruck, daß ich dieses Arrangement schon einmal gesehen hatte: es kam mir so vertraut wie meine eigene Hand vor, und doch konnte ich es in diesem transformierten Kontext nicht identifizieren…
Und dann traf mich die Keule der Erkenntnis. Die Stangen und anderen Komponenten waren meine Zeitmaschine — die darüberliegenden Linien, die diese Konstellation entstellten, waren die Messingrohre, aus denen der untere Teil der Maschine bestand; und diese Scheiben, die von Galaxien überlagert wurden, mußten meine chronometrischen Anzeigen sein. Es war meine Originalmaschine, die ich bereits verloren glaubte, demontiert und schließlich zerstört während des deutschen Angriffs auf das London von 1938!
Diese Vision nahm rasch Gestalt an. Die Messingrohre glitzerten — ich sah, daß eine dünne Staubschicht die Gläser der chronometrischen Skalen bedeckte, deren Zeiger herumwirbelten — und ich erkannte das grüne Glühen von Plattnerit, mit dem das Quarz der Maschinerie angereichert war. Ich schaute nach unten und sah zwei dicke, dunkle Zylinder — es waren meine eigenen Beine, die in Tropenzwirn steckten! — und diese blassen, behaarten Objekte mußten meine Hände sein, die auf den Steuerhebeln der Maschine lagen. Und nun verstand ich auch die Bedeutung dieser ›Höhlenöffnung‹ um mein Gesichtsfeld. Es waren die Konturen meiner Augenhöhlen, Nase und Wangen, die in das Blickfeld hineinragten: erneut schaute ich aus der dunkelsten aller Höhlen hinaus — meinem Kopf.
Ich fühlte mich, als ob ich in meinen Körper hineingezogen würde. Ich erhielt wieder die Kontrolle über die Hände und Beine. Ich konnte die Hebel kühl und fest in der Hand spüren, und Schweiß kitzelte auf der Stirn. Es muß wohl ein wenig Ähnlichkeit mit dem Erwachen aus einer Chloroformbetäubung gehabt haben; langsam und allmählich kam ich wieder zur Besinnung. Und nun spürte ich ein Schaukeln und dieses für die Zeitreise charakteristische Gefühl des Fallens.
Der Raum um die Zeitmaschine war dunkel — ich konnte nichts von der Welt erkennen — aber die zunehmende Schleichfahrt ließ auf ein Bremsmanöver der Maschine schließen. Ich schaute mich um — und wurde mit dem Gewicht eines vollen Kopfes auf einem Halsstiel belohnt; nach dem Zustand der Körperlosigkeit hatte ich den Eindruck, ein Geschützrohr zu richten — aber es war fast nichts mehr von der Optimalen Historie zu sehen: hier ein schemenhafter Galaxienhaufen, dort ein Fragment von Sternenlicht. In diesem letzten Moment, bevor die virtuelle Verbindung ganz abriß, sah ich noch einmal das runde, feierliche Gesicht meines Beobachters mit seinen großen, nachdenklichen Augen.
Dann war es verschwunden — alles — und ich war wieder ich selbst; und ich spürte einen Anfall wilder, primitiver Freude!
Die Zeitmaschine kam zum Stillstand. Das Ding kippte um, und ich flog kopfüber durch die Luft, in pechschwarze Finsternis.
Ein donnerndes Krachen drang an meine Ohren. Ein massiver Regenguß trommelte mir mit brutaler Wucht auf den Kopf und das Tropenhemd. Binnen kurzem war ich bis auf die Haut durchnäßt: ein schönes Willkommen in der Körperlichkeit, dachte ich mir!
Ich war auf einem Stück matschigen, weichen Bodens vor der umgestürzten Maschine abgeladen worden. Es war ziemlich finster. Ich hatte den Eindruck, auf einem kleinen Rasen zu liegen, der von Büschen gesäumt war und deren Blätter unter dem Beschuß der Regentropfen tanzten. Die abprallenden Tropfen hingen als eine kleine Wolke über der Maschine und drifteten wie Rauch über den Boden. Ganz in der Nähe hörte ich das Gurgeln von Wasser, und der Regen plätscherte auf diese größere Ansammlung von Flüssigkeit.
Ich stand auf und schaute mich um. In der Nähe stand ein Gebäude, das sich nur als Silhouette gegen den schwarzgrauen Himmel abzeichnete. Jetzt bemerkte ich ein schwaches grünes Glühen, das aus einer Phiole drang, einem vielleicht sechs Zoll hohen Glaszylinder: es war eine schlichte Acht-Unzen-Flasche für medizinische Präparate. Sie hatte offensichtlich in der Maschine gesteckt und war jetzt ins Gras gefallen.
Ich griff nach der Flasche und hob sie auf. Das grünliche Glühen kam von einem Pulver, das sich in dem Glas befand: es war Plattnerit.
Jemand rief meinen Namen.
Verblüfft wandte ich mich um. Die Stimme war leise gewesen und wurde fast von dem auf das Gras prasselnden Regen verschluckt.
Eine Gestalt stand keine neun Fuß von mir entfernt: klein, fast wie ein Kind, wobei Kopf und Rücken jedoch mit langem, glattem Haar bewachsen waren, das jetzt flach an bleichem Fleisch klebte. Große, graurote Augen waren auf mich gerichtet.
»Nebogipfel?«
Und dann schloß sich ein Stromkreis in meinem verwirrten Gehirn.
Ich drehte mich um und inspizierte die klotzigen Konturen dieses Gebäudes noch einmal genauer. Da war der eiserne Balkon, dort drüben das Eßzimmer und die Küche mit einem kleinen, offenstehenden Fenster, und da waren die großen Umrisse des Laboratoriums…
Es war mein Zuhause; meine Maschine hatte mich auf dem abfallenden Rasen hinter dem Gebäude, zwischen dem Haus und der Themse, abgesetzt. Ich war wieder — nach all diesen Abenteuern! — nach Richmond zurückgekehrt.
Und erneut — wie wir es vor so vielen Zyklen der Geschichte schon einmal getan hatten — gingen Nebogipfel und ich die Petersham Road zu meinem Haus entlang. Der Regen klatschte auf das Kopfsteinpflaster. Es war fast völlig dunkel — das einzige Licht kam im Grunde nur von dem Plattnerit, das wie eine schwache Glühlampe glomm und ein trübes Glühen auf Nebogipfels Gesicht warf.
Ich ließ die Finger über die vertraute, feine Schmiedearbeit des Gartenzauns gleiten. Das war ein Anblick, mit dem ich schon nicht mehr gerechnet hätte: die antikem Stil nachempfundene, elegante Fassade, die Säulen der Veranda, die dunklen Rechtecke meiner Fenster.
»Du hast ja wieder beide Augen«, sagte ich flüsternd zu Nebogipfel.
Er schaute an seinem renovierten Körper hinunter und breitete die Hände aus, so daß das blasse Fleisch im Licht des Plattnerits leuchtete. »Ich brauche keine Prothesen mehr«, meinte er. »Nicht mehr. Jetzt, wo ich restauriert worden bin — genauso wie du.«
Ich legte die Hände auf die Brust. Das Gewebe des Hemdes fühlte sich rauh an unter der Hand, und das Schlüsselbein lag hart darunter. Mir kam es jedenfalls solide genug vor. Und nach wie vor fühlte ich mich wie ich — ich meine, ich spürte eine Kontinuität des Bewußtseins und blickte auf einen einzigen, hellen Pfad der Erinnerung, der durch dieses ganze Geflecht von Historien zu den überschaubareren Tagen meiner Kindheit führte. Aber dennoch konnte ich nicht mehr derselbe sein — denn ich war in jener Optimalen Historie zerlegt und hier wieder zusammengesetzt worden. Ich fragte mich, wieviel von diesem hellen Universum noch in mir steckte. »Nebogipfel, kannst du dich noch daran erinnern — als wir jene Grenze am Anfang der Zeit durchbrochen hatten — den glühenden Himmel und das alles?«
»Ich erinnere mich an alles.« Seine Augen waren schwarz. »Du etwa nicht?«
»Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte ich. »Es kommt mir jetzt alles wie ein Traum vor — besonders hier, in diesem kalten englischen Regen.«
»Aber die Optimale Historie ist die Realität«, flüsterte er. »Das alles hier…« — er deutete auf dieses unschuldige Richmond —, »diese partiellen, sub-Optimalen Historien — das ist der Traum.«
Ich wog das Plattneritglas in der Hand. Es war ein medizinisches Gefäß, mit einem Verschlußstopfen aus Gummi. Also ein ganz trivialer Gegenstand — von dem glühenden Plattnerit einmal abgesehen — und es erübrigte sich zu sagen, daß ich weder eine Ahnung hatte, wo es herkam, noch wie es zwischen die Verstrebungen meiner Maschine geraten war. »Nun, das ist real genug«, sagte ich. »Es hat sich wirklich alles fein gefügt, nicht wahr? Wie, wenn sich ein Kreis schließt.« Ich ging zur Tür. »Ich glaube, daß es besser ist, wenn du etwas zurücktrittst — außer Sichtweite — bevor ich klingle.«
Er zog sich in den Schatten der Veranda zurück, und bald war nichts mehr von ihm zu sehen.
Ich zog an der Klingelschnur.
Ich hörte, wie im Haus eine Tür aufging und ein leiser Ruf — »Komme schon!« — ertönte, und dann vernahm ich schwere, hastige Schritte auf der Treppe. Ein Schlüssel klapperte im Schloß, und die Tür öffnete sich knarrend.
Eine in einem Messinghalter steckende, flackernde Kerze stieß durch den Flur auf mich zu; das breite und runde Gesicht eines jungen Mannes mit verschlafenen Augen kam zum Vorschein. Er war vielleicht dreiundzwanzig oder vierundzwanzig, und er trug einen verschlissenen, fadenscheinigen Bademantel, der über ein verkrumpeltes Nachthemd geworfen war; sein braunes Haar stand strähnig von dem komischen, breiten Kopf ab. »Ja?« sagte er brüsk. »Vielleicht wissen Sie, daß es drei Uhr nachts ist…«
Ich hatte schon von vornherein nicht genau gewußt, was ich überhaupt sagen sollte, aber jetzt, wo er vor mir stand, fand ich gar keine Worte mehr. Erneut erlitt ich diesen merkwürdigen, unangenehmen Schock des Wiedersehens. Ich glaube nicht, daß sich ein Mensch meines Jahrhunderts jemals daran hätte gewöhnen können, sein eigenes Ich zu begrüßen, egal, wie oft er es schon praktiziert hatte — und jetzt wurde dieser ganze emotionale Komplex noch mit einem besonderen Aspekt angereichert. Denn hier handelte es sich nicht mehr bloß um eine jüngere Version von mir: sie war auch ein direkter Vorfahre von Moses. Es war, als ob ich einem jüngeren Bruder gegenüberstünde, den ich bereits verloren geglaubt hatte.
Wieder musterte er mein Gesicht, diesmal mit Mißtrauen. »Was, zum Teufel, wollen Sie? Ich weise Sie darauf hin, daß ich Hausierern grundsätzlich nichts abkaufe, wissen Sie — selbst wenn dies die hierfür in Frage kommende Tageszeit wäre.«
»Nein«, meinte ich sanft. »Nein, ich weiß, das Sie das nicht tun.«
»Aha, das wissen Sie also?« Er wollte schon die Tür zudrücken, aber er hatte etwas in meinem Gesicht gesehen — ich erkannte es an seinem Blick — eine Ahnung des Erkennens. »Sie sagen mir wohl besser, was Sie überhaupt wollen.«
Umständlich brachte ich die Medizinflasche mit dem Plattnerit zum Vorschein, die ich hinter dem Rücken versteckt gehalten hatte. »Ich habe das hier für Sie.«
Er runzelte die Stirn, als er das merkwürdige grüne Glühen der Flasche sah. »Was ist das?«
»Es ist…« Wie hätte ich es ihm erklären sollen? »Es ist eine Art Probe. Für Sie.«
»Eine Probe wovon?«
»Ich weiß nicht«, log ich. »Ich möchte, daß Sie es herausfinden.«
Er war nun neugierig, aber noch immer zurückhaltend; und jetzt ließ sein Gesichtsausdruck eine gewisse Sturheit erkennen. »Was herausfinden?«
Diese blöden Fragen regten mich langsam auf. »Verdammt, Mann — haben Sie denn gar keine Initiative? Führen Sie ein paar Versuche durch…«
»Ich glaube nicht, daß mir Ihr Ton gefällt«, meinte er pikiert. »Was für Versuche?«
»Oh!« Ich fuhr mit der Hand durch mein nasses Haar; ein derart affektiertes Gehabe paßte schlecht zu einem so jungen Mann, dachte ich. »Es ist ein neues Mineral — das müßten Sie doch sehen!«
Er runzelte die Stirn, und sein Mißtrauen wurde intensiver.
Ich beugte mich vor und stellte das Glas auf der Treppe ab. »Ich werde es Ihnen hierlassen. Sie können es sich ja mal ansehen, wenn Sie wollen — und ich weiß, daß Sie das wollen — ich will Ihnen jetzt nicht mehr Ihre Zeit stehlen.« Ich drehte mich um und ging den Weg hinunter, wobei das laute Knirschen meiner Schritte im Kies den Regen übertönte.
Als ich mich umschaute, sah ich, daß er das Glas aufgehoben hatte, und das grüne Glühen schwächte die Schatten der Kerze auf seinem Gesicht ab. »Aber Ihr Name…«, rief er.
Da kam mir eine Eingebung. »Mein Name ist Plattner«, behauptete ich.
»Plattner? Kennen wir uns?«
»Plattner«, wiederholte ich fast verzweifelt und kramte in den hintersten Winkeln meines Gehirns nach einer detaillierteren Lüge. »Gottfried Plattner…«
Es schien mir, als ob es ein anderer gewesen wäre, der das gesagt hatte — aber sobald die Worte meinen Mund verlassen hatten, wußte ich, daß ich sie nicht mehr zurücknehmen konnte.
Es war geschehen; der Kreis hatte sich geschlossen!
Er rief weiter hinter mir her, aber ich ging ungerührt weg, weg von dem Tor und den Hügel hinunter.
Nebogipfel erwartete mich hinter dem Haus, in der Nähe der Zeitmaschine. »Es ist erledigt«, sagte ich zu ihm. Der erste Hauch von Morgenlicht überzog den verhangenen Himmel, und ich konnte den Morlock als eine Art körnige Silhouette wahrnehmen: er hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt, und das Haar klebte flach am Rücken. Seine Augen waren große, blutrote Scheiben.
»Du siehst ja schlimm aus«, meinte ich mitfühlend. »Dieser Regen…«
»Das macht nichts«, erwiderte er.
»Was wirst du jetzt tun?«
»Was wirst du jetzt tun?«
Anstelle einer Antwort beugte ich mich über die Zeitmaschine und zerrte daran. Sie verwand sich, quietschte wie ein altes Bett und kam dann mit einem heftigen Stoß auf dem Rasen zur Ruhe. Ich fuhr mit der Hand am ramponierten Rahmen der Maschine entlang; Moos und Grasreste klebten an den Quarzstangen und am Sattel, und eine Kufe war völlig deformiert.
»Du könntest nach Hause gehen«, sagte er. »Nach 1891. Offensichtlich haben die Beobachter uns in deine Original-Geschichte zurückgebracht — zur Ursprungsversion der Dinge. Du müßtest nur ein paar Jahre in die Zukunft reisen.«
Ich dachte über diese Option nach. In mancherlei Hinsicht hätte es durchaus seine Vorzüge gehabt, in diese lauschige Zeit zurückzukehren, zu meinem Umfeld aus Besitztümern, Mitmenschen und wissenschaftlichen Leistungen. Und ich hätte mich wieder an der Gesellschaft einiger meiner alten Kumpels erfreuen können — Filby und die anderen. Aber…
»Ich hatte einen Freund im Jahre 1891«, sagte ich zu Nebogipfel. (Dabei dachte ich an den Schriftsteller.) »Er war ein junger Bursche. In mancherlei Hinsicht ein seltsamer Kerl — sehr intensiv — und doch betrachtete er alles auf eine ganz besondere Art…
Er schien die Dinge in ihrem Gesamtzusammenhang zu sehen — über das Hier und Jetzt hinaus, das uns alle so beschäftigt — und das schnell: die Trends, die Tiefenströmungen, die uns mit der Vergangenheit und Zukunft verknüpfen. Er mußte wohl die Kleinheit der Menschen vor dem großen Hintergrund der Evolution begriffen haben — und ich glaube, daß er deswegen nur wenig Geduld mit der Welt hatte, an die er gefesselt war, mit den endlosen, langsamen gesellschaftlichen Entwicklungen — und sogar mit seiner eigenen, schwachen Existenz.
Er schien ein Fremder in seiner eigenen Zeit zu sein, verstehst du«, schloß ich. »Und genauso würde ich mich auch fühlen, wenn ich zurückginge. Zeitlos. Denn egal, wie solide diese Welt auch scheint, würde ich immer daran denken, daß sie von Tausenden mehr oder weniger unterschiedlicher Universen umgeben ist — allesamt unerreichbar.
Ich vermute, daß ich zu einem Monster geworden bin… Meine Freunde sollen glauben, daß ich in der Zeit verschollen bin, und um mich trauern, wenn ihnen danach ist.«
Noch während unserer Unterhaltung hatte ich einen Entschluß gefaßt. »Ich habe noch eine Berufung. Ich habe die Aufgabe, die ich mir bei meinem zweiten Aufbruch in die Zeit selbst gestellt hatte, noch nicht erfüllt. Hier ist ein Kreis geschlossen worden — aber ein anderer ist noch offen, wobei seine Enden weit in die Zukunft reichen…«
»Ich verstehe«, sagte der Morlock.
Ich kletterte auf den Sattel der Maschine.
»Aber was wird aus dir, Nebogipfel? Willst du mit mir kommen? Ich könnte mir dort eine Rolle für dich vorstellen — und ich möchte dich nicht hier aussetzen.«
»Danke — aber nein. Ich werde nicht lange hier bleiben.«
»Wohin wirst du gehen?«
Er hob den Kopf. Der Regen ließ jetzt nach, aber ein dünner Schleier aus Tropfen fiel noch immer aus dem heller werdenden Himmel und benetzte seine großen Augen. »Ich bin mir auch bewußt, daß Kreise geschlossen worden sind«, meinte er. »Aber ich will noch wissen, was jenseits dieser Kreise liegt…«
»Wie meinst du das?«
»Wenn du hierher zurückgekehrt wärst und dein jüngeres Ich erschossen hättest — nun, dann gäbe es keinen kausalen Widerspruch: statt dessen würdest du eine neue Historie erzeugen, eine weitere Variante in der Multiplizität, in der du als junger Mann von einem Fremden getötet wurdest…«
»Das alles ist mir mittlerweile völlig klar. Wegen der Existenz der Multiplizität kann innerhalb einer Einzel-Historie keine Paradoxie auftreten.«
»Aber«, fuhr der Morlock ruhig fort, »die Beobachter haben dich hierher gebracht, damit du das Plattnerit deinem eigenen Ich übergeben konntest — somit konntest du die Ereignisabfolge initiieren, die zur Entwicklung der Zeitmaschine und der Genese der Multiplizität führte. Es gibt also noch einen größeren Kreis, der sich geschlossen hat — die Multiplizität selbst.«
Ich erkannte, worauf er hinauswollte. »Es gibt tatsächlich eine Art geschlossener Kausalitätsschleife«, sagte ich, »eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt… Die Multiplizität hätte nicht entstehen können, wenn es die Multiplizität nicht schon von vornherein gegeben hätte!«
Nebogipfel meinte, die Beobachter gingen davon aus, daß die Auflösung dieser Finalen Paradoxie die Existenz mehrerer Multiplizitäten vorausetzte: eine Multiplizität der Multiplizitäten! »Es ist logisch notwendig, die Kausalschleife aufzulösen«, sagte Nebogipfel, »genauso wie unsere Multiplizität erforderlich war, um die Paradoxien einer einzigen Geschichte aufzulösen.«
»Aber — verdammt, Nebogipfel! Diese Vorstellung macht mich völlig irre. Parallele Ensembles von Universen — ist das überhaupt möglich?«
»Mehr als nur möglich«, erwiderte er. »Und die Beobachter planen, dorthin zu reisen.« Er senkte wieder den Kopf. Der Morgen dämmerte jetzt bereits ziemlich hell, und ich konnte sehen, wie sich das teigige Fleisch um seine Augen vor Unbehagen in Falten legte. »Ich könnte mir kein größeres Abenteuer vorstellen… du vielleicht?«
Ich schaute mich ein letztesmal um, in dieser ganz normalen, matschigen Morgendämmerung im neunzehnten Jahrhundert. Die Silhouetten der mit schlafenden Menschen belegten Häuser zeichneten sich auf der ganzen Länge der Petersham Road ab; ich roch das feuchte Gras, und irgendwo schlug eine Tür, als ein Milchmann oder Briefträger sein Tagewerk begann.
Ich wußte, daß ich das alles jetzt zum letztenmal sah.
»Nebogipfel — wenn du diese übergeordnete Multiplizität erreichst — was dann?«
»Es gibt viele Ebenen der Unendlichkeit«, entgegnete Nebogipfel ruhig, und das zunehmende Licht zeichnete die Konturen seines Gesichts nach. »Es ist wie eine Hierarchie: von universalen Strukturen — und von Ambitionen.« Seine Stimme nahm wieder dieses leise Morlock-Gurgeln an — mit einem völlig fremdartigen Klangbild — und in ihr schwang ein starkes Gefühl des Wunders mit. »Die Konstrukteure hätten ein Universum besitzen können; aber es war ihnen nicht genug. Deshalb forderten sie die Finalität heraus und stießen an die Grenze der Zeit und durchstießen sie und ermöglichten es dem Geist, all die vielen Universen der Multiplizität zu besetzen und zu besiedeln. Aber die Beobachter der Optimalen Historie geben sich nicht einmal damit zufrieden; und sie suchen nach Wegen, wie sie Zugang zu weiteren Ebenen der Unendlichkeit erhalten können…«
»Und wenn sie Erfolg haben? Werden sie dann zur Ruhe kommen?«
»Es gibt keine Ruhe. Keine Grenze. Nur wieder ein neues Jenseits — keine Grenzen, die das Leben und der Geist nicht herausfordern und überwinden könnten.«
Meine Hand krampfte sich um die Hebel meiner Maschine, und ihre plumpe Masse schaukelte wie ein Blatt im Wind. »Nebogipfel, ich…«
Er hielt die Hand hoch. »Geh«, meinte er nur.
Ich atmete tief durch, packte mit beiden Händen den Starthebel und hob mit einem dumpfen Laut ab.