Der mächtige Stamm, der unserer langen Reise ein Ende gemacht hatte, war zu einem Schößling geschrumpft, der zwischen den verstreuten Trümmern unseres Zeitfahrzeugs aufwuchs, kaum einen Fuß hoch und unschuldig.
Ich lag auf dem Rücken und schaute zu den Baumwipfeln hoch. Unser irrsinniger, rückwärts laufender Zeitrafferfilm war mit einem Ruck angehalten worden.
In der Nähe hörte ich Nebogipfels flachen Atem, konnte ihn aber nicht sehen. Die Hitze war drückend, die Luft feucht und schwer für meine angeschlagene Lunge zu atmen, und die Welt um mich herum war mit dem Krächzen, Trillern und Zirpen des Urwaldes angefüllt, das ein tiefes, volles Rauschen überlagerte, bei dem ich an ein großes Gewässer in der Nähe dachte: entweder einen Fluß — eine urzeitliche Version der Themse — oder ein Meer.
Ich fühlte mich eher wie in den Tropen als in England!
Nun, wie ich so dalag und beobachtete, kam ein Tier an einem Stamm zu uns heruntergeklettert. Es sah aus wie ein Eichhörnchen, ungefähr zehn Zoll lang, aber sein Fell war weit und locker und hing wie ein Mantel um seinen Körper. Es hatte eine Frucht in seinen kleinen Pfoten. Neun Fuß über dem Boden erspähte uns dieses Wesen; es neigte seinen spitzen Kopf, öffnete das Maul — wobei es seine Frucht fallen ließ — und zischte. Ich sah, daß seine Schneidezähne an den Spitzen in fünfzackigen Kämmen ausliefen.
Dann sprang es kopfüber von dem Baumstamm. Es breitete seine Arme und Beine weit aus, und mit einem schnappenden Geräusch öffnete sich sein Fellmantel und verwandelte das Tier in eine Art pelzbesetzten Drachen. Es segelte in den Schatten und verschwand aus meinem Blickfeld.
»Welch eine Begrüßung«, keuchte ich. »Es war wie ein fliegender Lemure. Aber hast du seine Zähne gesehen?«
Nebogipfel — noch immer außerhalb meines Blickfelds — antwortete: »Es war ein Planetatherium. Und der Baum ist ein Dipterocarps — er unterscheidet sich kaum von den Arten, die in den Wäldern deiner Zeit vorkommen.«
Ich grub die Hände in den Mulch unter mir — er war ziemlich modrig und schlüpfrig — und drehte mich so herum, daß ich ihn sehen konnte. »Nebogipfel, bist du verletzt?«
Der Morlock lag auf der Seite und hatte den Kopf so verdreht, daß er den Himmel anschauen konnte. »Ich bin nicht verletzt«, flüsterte er. »Ich schlage vor, daß wir mit der Suche nach…«
Aber ich hörte nicht mehr hin; denn ich hatte — direkt hinter ihm — einen pferdekopfgroßen Schädel mit einem Schnabel gesehen, der durch das Laub brach und Kurs auf den fragilen Körper des Morlocks nahm!
Für einen Augenblick war ich vor Schreck wie gelähmt. Dieser gekrümmte Schnabel öffnete sich mit einem schmatzenden Plop, und scheibenförmige Augen fixierten mich mit allen Anzeichen von Intelligenz.
Dann senkte sich der Kopf mit einem schnellen Schwung und klammerte den Schnabel um ein Bein des Morlocks. Nebogipfel schrie auf, wobei seine kleinen Finger über die Erde kratzten und Laubreste sich in seinem Haarpelz verfingen.
Ich taumelte so schnell zurück, daß die Blätter aufspritzten, und wurde schließlich von einem Baumstamm aufgehalten.
Nun brach der Körper der Bestie unter dem Knacken brechender Äste durch das Grünzeug und erschien in meinem Blickfeld. Es war etwa sieben Fuß groß und mit schwarzen, schuppigen Federn bedeckt; es hatte kräftige, mit lockerem gelben Fleisch bedeckte Beine und starke, zu Klauen geformte Füße. Stummelflügel, die an diesem großen Torso unterproportional klein wirkten, schlugen die Luft. Dieser Monstervogel riß den Kopf zurück, und der arme Morlock wurde über den kompostartigen Untergrund geschleift.
»Nebogipfel!«
»Es ist ein Diatryma«, keuchte er. »Ein Diatryma gigantica, ich… oh!«
»Kümmere dich nicht um seine Phylogenese«, schrie ich, »sondern hau ab!«
»Ich habe Angst… ich kann nicht… oh!« Erneut löste sich seine Rede in diesem unartikulierten, gepeinigten Jaulen auf. Die Kreatur schüttelte den Kopf ruckartig hin und her. Ich erkannte, daß sie den Kopf des Morlocks gegen einen Baumstamm schleudern wollte — ohne Zweifel, um sich hinterher an seinem blassen Fleisch zu delektieren!
Ich brauchte eine Waffe, und dabei kam mir nur Moses' Schraubenschlüssel in den Sinn. Ich kam auf die Füße und durchsuchte die Trümmer unseres Zeit-Fahrzeuges. Ein Gewirr aus Verstrebungen, Brettern und Drähten bedeckte den Boden, und der Stahl und das polierte Holz von 1938 wirkten eindeutig deplaziert in diesem Urwald. Ich konnte den Schraubenschlüssel nicht finden! Ich grub die Arme bis zu den Ellenbogen in den vermodernden Untergrund. Die Suche dauerte lange, quälende Sekunden; und währenddessen schleppte der Diatryma seine Beute immer weiter auf den Wald zu.
Und dann hatte ich ihn! — mein rechter Arm tauchte mit dem Schraubenschlüssel aus dem Kompost auf.
Mit Gebrüll hob ich den Schlüssel auf Schulterhöhe und stürzte durch den Mulch. Die perlenartigen Augen des Diatryma beobachteten meine Annäherung — er verlangsamte sein Kopfschütteln — aber er lockerte nicht den Griff um Nebogipfels Bein. Er hatte natürlich noch nie einen Menschen gesehen; ich bezweifelte, daß er mich für eine Bedrohung hielt. Ich behielt meinen Kurs bei und versuchte, die unheimliche, schuppige Haut um die Klauen der Füße zu ignorieren, den riesigen Schnabel und den Gestank nach verwesendem Fleisch, der das Vieh umgab.
Ich knallte meinen improvisierten Knüppel wie einen Kricketschläger auf den Kopf des Diatrymas. Der Schlag wurde zwar durch Federn und Fleisch gedämpft, aber trotzdem spürte ich den befriedigenden Aufprall auf Knochen.
Der Vogel öffnete den Schnabel, ließ den Morlock fallen und kreischte; es war ein Geräusch wie das Zerreißen von Blech. Jetzt hing dieser große Schnabel über mir, und mein Instinkt befahl mir abzuhauen — aber ich wußte, daß wir beide erledigt waren, wenn ich das tat. Von neuem schwang ich den Schraubenschlüssel über dem Kopf und holte damit gegen den Schädel des Diatrymas aus. Diesmal duckte sich die Kreatur, und der Schlag streifte sie nur; nachdem ich durchgezogen hatte, hob ich den Schlüssel erneut und schlug ihn gegen die Unterseite des Schnabels.
Es ertönte ein splitterndes Geräusch, und der Kopf des Diatrymas wurde zurückgerissen. Das Biest taumelte und starrte mich dann mit berechnenden Augen an. Es stieß einen derart tiefen Schrei aus, daß er schon fast ein Knurren war.
Dann — unvermittelt — bauschte es sein schwarzes Federkleid, drehte sich um und hoppelte in den Wald zurück.
Ich steckte den Schraubenschlüssel in den Gürtel und kniete mich neben den Morlock. Er war bewußtlos. Sein Bein war eine zerschmetterte, blutige Masse und das Rückenhaar von dem rinnenden Geifer des Monstervogels durchnäßt.
»Nun, mein Zeitreise-Gefährte«, flüsterte ich, »manchmal gibt es vielleicht doch Gelegenheiten, bei denen es ganz hilfreich ist, einen Wilden zur Hand zu haben!«
Ich fand seine Brille in dem Mulch, wischte die Blätter an seiner Schläfe ab und setzte sie ihm auf.
Ich äugte in die Finsternis des Waldes und fragte mich, was noch alles drohen mochte. Ich war wohl durch die Zeit und auch durch den Raum zu der großen Sphäre der Morlocks gereist, aber in meiner eigenen Zeit hatte ich noch nie ein tropisches Land besucht. Ich hatte nur verschwommene Erinnerungen an Reiseberichte und andere verfügbare Quellen, die mich jetzt in meinem Überlebenskampf leiten konnten.
Doch wenigstens, so tröstete ich mich, würden die vor mir liegenden Herausforderungen einfach sein! Ich wäre weder dazu gezwungen, mich meinem jüngeren Ich zu stellen — noch müßte ich mich nach der Zerstörung des Zeit-Fahrzeuges mit den moralischen und philosophischen Problemen Multipler Historien befassen. Vielmehr mußte ich nur Nahrung suchen, einen Schutz vor dem Regen errichten und uns gegen die wilden Tiere und Vögel dieser tiefen Vergangenheit verteidigen.
Ich beschloß, daß meine erste Mission die Suche nach Trinkwasser sein mußte; mein Durst war so brennend, daß ich sogar die Bedürfnisse des Morlocks vernachlässigte, denn ich hatte seit der Beschießung von London nichts mehr zu mir genommen.
Ich bettete den Morlock dicht am Baumstamm inmitten der Trümmer des Zeitfahrzeugs. Ich hielt diesen Platz für so sicher wie jeden anderen vor den Raubzügen der Monster dieses Zeitalters. Ich zog mein Jackett aus und legte es unter seinen Rücken, um die Feuchtigkeit des Mulchs abzuhalten — und auch alles Lebendige, das hier drinnen krabbeln, zwicken und nagen mochte! Dann, nach einigem Zögern, nahm ich den Schraubenschlüssel vom Gürtel und legte ihn auf den Morlock, so daß seine Finger um den schweren Griff der Waffe lagen.
Weil ich Bedenken hatte, selbst unbewaffnet zu gehen, stöberte ich in den Trümmern des Fahrzeuges herum, bis ich ein kurzes, stabiles Eisenrohr fand, das ich solange hin und her bog, bis es vom Rahmen abbrach. Ich wog es in der Hand. Es hatte zwar nicht die vertrauenerweckende Masse meines Schlüssels, war aber immer noch besser als gar nichts.
Ich beschloß, dem Rauschen des Wassers zu folgen; es schien aus der der Sonne entgegengesetzten Richtung zu kommen. Ich legte den Knüppel auf die Schulter und marschierte durch den Wald.
Es war nicht schwierig, mir einen Weg zu bahnen, denn die Bäume wuchsen nur in vereinzelten Inseln auf einer weiten Ebene; die dicke, gleichmäßige Kuppel aus Blättern und Ästen blendete das Tageslicht vom Boden aus und schien auch hier die Vegetation zu unterdrücken.
Unter der Kuppel ging es sehr lebendig zu. Epiphyten — Orchideen und Schlingpflanzen — klammerten sich an die Baumrinde, und Lianen baumelten von Ästen herab. Es gab eine Vielzahl von Vögeln und Kolonien von Lebewesen, die in den Ästen lebten: Affen oder andere Primaten (wofür ich sie jedenfalls auf den ersten Blick hielt). Da gab es vielleicht acht Zoll lange Kreaturen, die wie Edelmarder aussahen, mit gelenkigen Schultern und langen, buschigen Schwänzen, die durch die Äste flitzten und hüpften und dabei hustenartige Schreie ausstießen. Außerdem war da noch ein anderes, größeres Klettertier — etwa drei Fuß groß — mit Greifklauen und Klammerschwänzen. Dieses floh nicht bei meiner Annäherung; vielmehr klammerte es sich an die Unterseite eines Astes und schaute mich mit kalter Berechnung an.
Ich ging weiter. Die örtliche Fauna kannte zwar keine Menschen, hatte aber offensichtlich aufgrund der Existenz von Nebogipfels Diatryma, und sicher auch wegen anderer Räuber, starke Überlebensinstinkte entwickelt. Daher würden sie meinen Versuchen, sie zu jagen, wohl ablehnend gegenüberstehen.
Als sich meine Augen an das allgemeine Dunkel des Waldes angepaßt hatten, sah ich, daß Tarnen und Täuschen die bestimmenden Prinzipien waren. Hier hing z. B. ein verrottendes Blatt an einem Baum — oder so dachte ich zumindest, bis dann das ›Blatt‹ bei meiner Annäherung Insektenbeine entfaltete und als stäbchenförmige Kreatur weghüpfte. Dort erspähte ich auf einem Felsen etwas, das wie Regentropfen aussah und wie kleine Juwelen in dem durch das Baumdach gefilterten Licht glitzerte. Aber als ich mich darüber beugte, um sie zu inspizieren, sah ich, daß es sich um Käfer mit transparenten Panzern handelte. Dort war ein Guanospritzer auf einem Baumstamm, ein schwarzweißer Fleck — und ich staunte nicht wenig, als er träge Spinnenbeine ausfuhr.
Nach vielleicht einer Meile traten die Bäume auseinander; ich ging durch einen Palmenhain und gelangte in den Schein des Sonnenlichts, wobei körniger Sand unter den Stiefeln rieselte. Ich war an einem Strand angekommen. Hinter einem Streifen aus weißem Sand glitzerte ein so breites Gewässer, daß ich das gegenüberliegende Ufer nicht erkennen konnte. Hinter mir stand die Sonne tief am Himmel; trotzdem spürte ich ihre intensive Strahlung auf Hals und Kopfhaut.
In der Ferne — ein Stück den langen, geraden Strand entlang — erblickte ich eine Familie Diatryma-Vögel. Die beiden Alten putzten sich, wobei sie die Hälse umeinander geschlungen hatten, während drei Junge auf ihren staksigen Beinen umherwateten, planschten und krähten oder im Wasser saßen und ihr öliges Gefieder mit Wasser besprühten. Das ganze Ensemble sah mit seinem schwarzen Federkleid, den plumpen Körpern und Stummelflügeln zwar recht putzig aus, aber trotzdem behielt ich sie sorgfältig im Auge, solange ich mich dort aufhielt, denn schon das kleinste Junge war drei Fuß groß und ziemlich kräftig.
Ich lief zum Wasser; ich befeuchtete die Finger und leckte sie ab. Das Wasser war salzig: Meerwasser.
Ich hatte den Eindruck, daß die Sonne hinter dem Wald versunken wäre, und sie mußte ja im Westen untergehen. Also hatte ich mich vielleicht eine halbe Meile in östlicher Richtung von der ›Landestelle‹ des Zeit-Fahrzeugs entfernt und befand mich somit — hypothetisch — in der Nähe der Kreuzung Knightsbridge und Sloane Street. Und in diesem Zeitalter des Paläozän waren es die Gestade eines Meeres! Ich schaute über diesen Ozean, der ganz London bis zur Hyde Park Corner im Osten zu bedecken schien. Vielleicht, so spekulierte ich, war dieses Meer eine Erweiterung der Nordsee oder des Ärmelkanals, die sich bis nach London erstreckte. Wenn das stimmte, hatten wir ziemliches Glück gehabt; wenn der Meeresspiegel nämlich noch etwas höher gelegen hätte, wären Nebogipfel und ich nicht an der Küste, sondern in den Tiefen des Ozeans gelandet.
Ich zog Stiefel und Strümpfe aus, band sie mit den Schnürsenkeln am Gürtel fest und watete ein Stück ins Meer hinaus. Die Füße wurden kalt von der Flüssigkeit umspült; ich war versucht, das Gesicht ins Wasser zu stecken, aber ich ließ es dann aus Angst vor der Wirkung des Salzes auf meine Wunden doch bleiben. Ich sah einen Abdruck im Sand, der so aussah, als ob er bei Ebbe einen Tümpel bilden würde. Ich grub an dieser Stelle die Hände in den Sand und förderte sofort eine ganze Kollektion von Lebewesen zutage: Bohrmuscheln, Gastropoden und Austernähnliche. Die Artenvielfalt schien zwar begrenzt zu sein, aber dieses fruchtbare Meer beherbergte offensichtlich eine Vielzahl von Lebewesen.
Dort, am Ufer jenes Ozeans, wo das gurgelnde Wasser um die Füße und Finger spülte und die Sonne mir warm auf den Hals schien, überkam mich ein Gefühl des tiefen Friedens. Als Kind hatten mich meine Eltern auf Tagesausflüge nach Lympne und Dungeness mitgenommen, wo ich immer zum Meeresufer gelaufen war — genauso wie ich es heute getan hatte — und mir vorgestellt hatte, daß ich der einzige Mensch auf der Welt wäre. Aber jetzt war das buchstäblich wahr! Es war schon eine seltsame Vorstellung, daß nirgendwo auf der Welt auch nur ein einziges Schiff diesen jungen Ozean befuhr; daß es keine von Menschen errichteten Städte jenseits des Dschungels hinter mir gab — ich und der arme, verwundete Morlock stellten die einzigen Funken von Intelligenz auf diesem Planeten dar. Aber das war nicht einmal eine beunruhigende Aussicht — nicht im geringsten — nach der fürchterlichen Dunkelheit und dem Chaos von 1938, dem ich gerade erst entronnen war.
Ich richtete mich auf. Das Meer war zwar faszinierend, aber wir konnten kein Salzwasser trinken! Ich merkte mir sorgfältig die Stelle, an der ich aus dem Dschungel herausgekommen war — ich hatte nämlich nicht vor, Nebogipfel in diesem finsteren Wald zu verlieren — und folgte barfuß dem Küstensaum, weg von der Diatryma-Familie.
Nach etwa einer Meile erreichte ich einen Bach, der sprudelnd dem Wald entsprang und über den Strand ins Meer strömte. Als ich sein Wasser probierte, stellte ich fest, daß es Süßwasser war, und zudem schien es recht sauber zu sein. Ich spürte große Erleichterung: heute würden wir zumindest nicht sterben! Ich kniete mich nieder und tauchte Kopf und Hals in die kühle, perlende Flüssigkeit. Ich trank in großen Schlucken und zog dann Jackett und Hemd aus, um mir Kopf und Hals zu waschen. Verkrustetes Blut wurde ins Meer gespült, und als ich mich wieder aufrichtete, fühlte ich mich schon viel frischer.
Jetzt sah ich mich mit der Herausforderung konfrontiert, diesen Schatz zu Nebogipfel zu befördern. Ich benötigte irgendeinen Behälter.
Ich verbrachte einige Minuten damit, am Ufer dieses Baches zu sitzen und mich suchend umzusehen. Mein ganzer Einfallsreichtum schien sich während des letzten Sturzes durch die Zeit erschöpft zu haben, und dieses neue Problem war eines zuviel für mein müdes Hirn.
Schließlich nahm ich die Stiefel vom Gürtel, wusch sie aus, so gut ich konnte, und füllte sie mit Wasser; dann transportierte ich sie zurück am Strand entlang und durch den Wald zum wartenden Morlock. Als ich Nebogipfels zerschlagenes Gesicht wusch und ihm etwas Wasser einzuflößen versuchte, schwor ich mir, daß ich am nächsten Tag geeigneteres Geschirr als einen alten Stiefel auftreiben würde.
Nebogipfels rechtes Bein war durch die Attacke des Diatrymas übel zugerichtet worden; das Knie schien zerschmettert zu sein, und der Fuß stand in einem unnatürlichen Winkel ab. Mittels eines scharfen Fragments der Wandung des Zeit-Fahrzeuges — ein Messer hatte ich nicht — unternahm ich rudimentäre Anstrengungen, seinen Pelz an den verletzten Stellen abzurasieren. Ich säuberte sie nach besten Kräften: wenigstens schienen sich die Oberflächenwunden wieder geschlossen zu haben, und es gab auch keine Anzeichen einer Infektion.
Im Verlauf meiner ungeschickten Verrichtungen — ich bin kein Vertreter der Heilkunst — grunzte der noch immer bewußtlose Morlock und miaute vor Schmerz wie eine Katze.
Nachdem ich die Wunden gereinigt hatte, fuhr ich mit den Händen über das Bein, konnte aber keinen Bruch des Schienbeins oder der Wade feststellen. Wie ich bereits zuvor ermittelt hatte, schienen hauptsächlich das Knie und die Knöchelpartie in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein. Ich registrierte das mit Sorge, denn während ich noch in der Lage gewesen wäre, ein gebrochenes Schienbein zu richten, sah ich keine Möglichkeit, solche Verletzungen, wie sie Nebogipfel erlitten hatte, zu behandeln. Dennoch durchsuchte ich unseren Schrott, bis ich zwei gerade Rahmenabschnitte gefunden hatte. Ich tranchierte meine Jacke mit dem improvisierten Messer — ich konnte mir nämlich nicht vorstellen, daß mir dieses Kleidungsstück in einem solchen Klima von allzu großem Nutzen sein würde — und fertigte eine Reihe Bandagen an, die ich dann auswusch.
Dann nahm ich allen Mut zusammen und richtete das Bein und den Fuß des Morlocks. Ich schiente sein Bein mit den Rohren und band es zur Fixierung mit dem anderen, unverletzten Bein zusammen.
Die von den Bäumen widerhallenden Schreie des Morlocks gingen mir durch Mark und Bein.
Erschöpft labte ich mich zum Abendessen an Austern — an rohen, denn ich war zu schlapp, um ein Feuer zu entfachen — und dann setzte ich mich neben dem Morlock mit dem Rücken an einen Baumstamm, Moses' Schraubenschlüssel in der Hand.
Am Strand des Urmeeres schlug ich ein Lager auf, ganz in der Nähe der Trinkwasserquelle, die ich gefunden hatte. Ich glaubte nämlich, daß wir hier gesünder lebten und sicherer vor Angriffen wären als im Dunkel des Waldes. Ich errichtete einen Sonnenschutz für Nebogipfel, wobei ich Teile des Zeit-Fahrzeuges verwendete und mit Kleidungsstücken bespannte.
Ich hob Nebogipfel auf und brachte ihn zu unserem Lager. Er war so leicht wie ein Kind und noch immer halb bewußtlos; er schaute mich hilflos durch die Trümmer seiner Brille an, und angesichts seines Zustandes konnte ich mir nur schwer vorstellen, daß er der Repräsentant einer Spezies war, die den Weltraum erobert und die Sonne gezähmt hatte!
Meine nächste Priorität war Feuer. Das verfügbare Holz — abgefallene Äste etc. — war feucht und vermodert, und so brachte ich es zum Trocknen an den Strand. Indem ich einige heruntergefallene Blätter als Zunder verwendete und mit einem gegen das Metall des Zeitfahrzeugs geschlagenen Stein einen Funken erzeugte, konnte ich bald ein Feuer entfachen. Anfangs machte ich ein Ritual daraus, das Feuer jeden Tag neu zu entzünden, aber dann kam ich auf die Idee, tagsüber Holzkohle in der Feuergrube glühen zu lassen, mit der ich die Flammen dann ganz nach Belieben wieder anfachen konnte.
Nebogipfels Genesungsprozeß machte nur langsame Fortschritte. Für den Angehörigen einer Spezies, die keinen Schlaf kennt, ist Bewußtlosigkeit ein schwerwiegendes und beunruhigendes Phänomen, und er saß tagelang in einem Schockzustand herum, passiv und schweigsam. Aber immerhin war er in der Lage, wenn auch mit großem Zögern, die Austern und Muscheln zu sich zu nehmen, die ich aus dem Meer fischte. Mit der Zeit konnte ich unseren Speisezettel mit gekochtem Schildkrötenfleisch anreichern — denn diese Tiere waren im Überfluß an der Küste zu finden. Mit einiger Übung gelang es mir, die an den Palmen entlang der Küste wachsenden Früchte abzuernten, indem ich Metallbrocken und Steine in die Äste warf. Die Nüsse erwiesen sich als sehr nützlich: ihre Milch und das Fleisch bereicherten unseren Speiseplan; ihre leeren Schalen dienten als Mehrzweckbehälter; und selbst die an der Schale hängenden braunen Fasern konnten zu einem groben Tuch verwoben werden. Eine solch diffizile Arbeit lag mir indessen nicht sonderlich, und ich kam nie über die Anfertigung einer Kappe hinaus — ein breitkrempiges Teil, wie sie die chinesischen Kulis tragen.
Dennoch war unsere Ernährung trotz des Reichtums des Meeres und der Palmen eintönig. Neidvoll beobachtete ich die saftigen kleinen Wesen, die außerhalb meiner Reichweite über uns in den Ästen der Bäume herumturnten.
Ich erkundete die Küste des Meeres. Viele Lebensformen bevölkerten diese ozeanische Welt. Ich sah große, diamantförmige Schatten über der Wasseroberfläche dahin huschen, die ich für Rochen hielt; und zweimal erspähte ich senkrechte, wenigstens einen Fuß hohe Flossen — die zielstrebig durch das Wasser pflügten — und die nur großen Haien gehören konnten.
Dann machte ich eine gewellte Form aus, die in einem Abstand von vielleicht einer halben Meile zum Land durch das Wasser kreuzte. Ich erkannte einen großen, scharnierartigen Kiefer, der mit kleinen Reißzähnen armiert und dahinter mit weißem Fleisch ausgekleidet war. Dieses Vieh war vielleicht fünf Fuß lang und bewegte sich mit wellenförmigen Bewegungen seines Schlangenkörpers durch das Wasser. Ich berichtete Nebogipfel von diesem Anblick, der ihn — nachdem er den in seinem kleinen Kopf gespeicherten enzyklopädischen Datenbestand durchforstet hatte — als Champosaurus klassifizierte: eine urweltliche, mit dem Krokodil verwandte Kreatur und ein Überlebender des Zeitalters der Dinosaurier — eines Zeitalters, das in dieser Periode des Paläozän schon lange zurücklag.
Nebogipfel erläuterte mir, daß die Meeressäugetiere meines Jahrhunderts — Wale, Seekühe usw. — sich in dieser Zeit noch mitten in ihrer evolutionären Adaption an das Meer befanden und noch als große, träge Landtiere existierten. Daraufhin hielt ich Ausschau nach einem sich aalenden Landwal, denn ein solch langsames Tier würde ich sicher erlegen können — nur sah ich nie einen.
Als ich zum erstenmal Nebogipfels Beinschienen abnahm, befand sich das aufgerissene Fleisch im Heilungsprozeß. Nebogipfel testete die Funktionsfähigkeit seiner Gelenke und beanstandete, daß sie nicht korrekt gerichtet worden wären. Das überraschte mich nicht, aber keiner von uns wußte, wie man dem hätte abhelfen können. Dennoch war Nebogipfel nach einiger Zeit in der Lage, zu gehen, indem er sich eine Krücke aus einem gebogenen Ast fabrizierte.
Sein Auge indessen — das ich durch meinen Hieb in der Werkstatt des Zeitfahrzeuges zerstört hatte — regenerierte sich nicht wieder und blieb zu meinem tiefen Bedauern und meiner Beschämung blind.
In seiner Eigenschaft als Morlock fühlte sich Nebogipfel in der glühenden Sonne alles andere als wohl.
Deshalb schlief er tagsüber in der von mir errichteten Hütte und humpelte mit Hilfe seiner Krücke in der Dunkelheit umher. Ich war immer am Tage unterwegs, und so verbrachten wir unsere Wachphasen überwiegend allein. Wir trafen und unterhielten uns nur in der Morgen- und Abenddämmerung, obwohl ich gestehe, daß ich nach ein paar Wochen im Freien, der Hitze und harter körperlicher Arbeit ziemlich geschafft war, wenn die Sonne unterging.
Die Palmen hatten breite Wedel, und ich beschloß, mir einige davon zu holen, um daraus eine bessere Behausung zu errichten. Aber alle meine Bemühungen, irgendwelche Brocken in die Bäume zu werfen, blieben erfolglos, und ich hatte auch keine Möglichkeit, eine Palme zu fällen. Also mußte ich mich bis auf die Hose ausziehen und wie ein Affe den Baum hinaufklettern. Als ich erst einmal die Baumkrone erreicht hatte, war es nur noch eine Angelegenheit von wenigen Augenblicken, die Blätter vom Stamm abzureißen und zu Boden fallen zu lassen. Diese Kletterei war anstrengend. In der frischen Seeluft und der Sonne wurde ich fitter und kräftiger; aber ich bin kein junger Mann mehr und stieß daher ziemlich schnell an die Grenzen meiner athletischen Fähigkeiten.
Mit den ergatterten Blättern baute ich uns eine solidere Hütte, indem ich abgefallene Äste mit geflochtenen Palmwedeln bedeckte. Außerdem bastelte ich aus diesen Blättern einen breitkrempigen Hut für Nebogipfel. Als er im Schatten saß, diese modische Kreation auf dem Kopf und ansonsten nackt, sah er über die Maßen absurd aus.
Was mich betraf, so hatte ich schon immer einen blassen Teint gehabt, und als ich mir nach ein paar Tagen einen schlimmen Sonnenbrand eingefangen hatte, wurde ich etwas vorsichtiger. Die Haut schälte sich von Rücken, Armen und Nase. Ich ließ mir einen Vollbart wachsen, um das Gesicht vor der Sonne zu schützen, aber dafür sprangen die Lippen auf höchst unangenehme Art auf — und am schlimmsten war der starke Sonnenbrand auf der kahlen Stelle an meinem Hinterkopf. Zur Behandlung dieser Verbrennungen badete ich im Meer und trug die ganze Zeit einen Hut und das, was noch von meinem Hemd übriggeblieben war.
Eines Tages, vielleicht einen Monat später, als ich mich gerade rasierte (mit Fragmenten des Zeit-Fahrzeugs als Klinge und Spiegel) realisierte ich plötzlich die Veränderungen, die mit mir vorgegangen waren. Meine Zähne blitzten in strahlendem Weiß aus einem mahagonibraunen Gesicht, mein Bauch war so flach wie zu College-Zeiten, und ich lief so unbefangen mit einem Palmblatthut, abgeschnittener Hose und barfuß herum, als ob ich in diesem Zustand geboren worden wäre.
Ich wandte mich Nebogipfel zu. »Sieh mich mal an! Meine Freunde würden mich kaum wiedererkennen — ich verwandele mich in einen Eingeborenen.«
Sein kinnloses Gesicht blieb ausdruckslos. »Du bist ein Eingeborener. Wir sind hier in England, erinnerst du dich?«
Nebogipfel bestand darauf, daß wir die Bestandteile unseres zerstörten Zeit-Fahrzeuges aus dem Wald holten. Ich erkannte die Logik seines Ansinnens, denn ich wußte, daß wir in der nächsten Zeit jedes bißchen Material brauchen würden, insbesondere Metalle. Also bargen wir das Fahrzeug und deponierten die Überreste in einer Sandgrube. Als unsere vordringlichen Überlebensbedürfnisse befriedigt waren, verbrachte Nebogipfel viel Zeit mit diesem Schrott. Zunächst fragte ich nicht nach Einzelheiten, denn ich vermutete, daß er irgendeine Erweiterung unserer Hütte konstruierte oder vielleicht eine Jagdwaffe.
Eines Morgens jedoch, als er eingeschlafen war, studierte ich sein Projekt. Er hatte den Rahmen des Zeit-Fahrzeuges rekonstruiert; er hatte die (noch gebrauchsfähigen) Chassisteile restauriert und einen Käfig darüber errichtet, der mit Drahtstücken befestigt war, die wir von der Lenksäule gerettet hatten. Er hatte sogar diesen blauen Kippschalter gefunden, mit dem der Plattnerit-Kreis geschlossen worden war.
Als er wieder erwachte, stellte ich ihn zur Rede. »Du versuchst, eine neue Zeitmaschine zu konstruieren, nicht wahr?«
Er grub sein kleines Gebiß in Kokosnußfleisch. »Nein. Ich rekonstruiere eine.«
»Deine Absicht ist offensichtlich. Du hast den Rahmen wiederhergestellt, in dem sich der Plattneritkreislauf befunden hatte.«
»Wie du schon sagtest, es ist offensichtlich.«
»Aber das ist doch sinnlos, Mann!« Ich musterte meine schwieligen und blutigen Hände und wurde ärgerlich wegen seines Zeitvertreibs, während ich mich abkämpfte, uns am Leben zu erhalten. »Wir haben kein Plattnerit mehr. Das Zeug, mit dem wir hier angekommen sind, ist erschöpft und zudem überall im Urwald verstreut; und wir haben auch nicht die geringste Möglichkeit, wieder welches herzustellen.«
»Wenn wir eine Zeitmaschine bauen«, meinte er, »kommen wir vielleicht nicht aus diesem Zeitalter weg. Aber wenn wir keine bauen, kommen wir sicher nicht mehr weg.«
Ich grummelte. »Nebogipfel, ich glaube, daß du dich den Tatsachen stellen solltest. Wir sind hier gestrandet, in der tiefen Vergangenheit. Wir werden hier nie Plattnerit finden, weil es keine natürlich vorkommende Substanz ist. Wir können es nicht herstellen, und es wird uns auch niemand eine Probe davon vorbeibringen, weil nämlich niemand auch nur die leiseste Ahnung hat, daß wir uns fünfzig Millionen Jahre in der Vergangenheit befinden!«
Als Antwort leckte er an dem saftigen Mark seiner Kokosnuß.
»Pah!« Frustriert und zornig verließ ich den Unterstand. »Du wärst besser beraten, deine Phantasie und deinen Fleiß in die Herstellung einer Waffe zu investieren, damit ich ein paar von diesen Affen erlegen kann.«
»Das sind keine Affen«, korrigierte er mich. »Die häufigsten Spezies sind Miacis und Chriacus…«
»Egal — was auch immer sie sind —… oh!«
Erzürnt stiefelte ich von dannen.
Meine Argumente verhallten natürlich ungehört, und Nebogipfel setzte seine geduldige Rekonstruktion fort. Aber wenigstens unterstützte er mich auf mannigfaltige Art in unserem Überlebenskampf, und nach einiger Zeit akzeptierte ich allmählich die Präsenz der rudimentären Maschine, die glitzernd und komplex und ausgesucht nutzlos auf diesem urzeitlichen Strand stand.
Wir alle brauchen Hoffnung, um unserem Leben einen Sinn und eine Richtung zu geben, überlegte ich — und diese Maschine, so fluguntauglich wie ein Diatryma gigantica, stellte eben Nebogipfels letzte Hoffnung dar.
Ich wurde krank. Ich war nicht in der Lage, mich von der provisorischen Pritsche aus Palmblättern und getrockneten Blättern zu erheben, die ich mir gebaut hatte. Nebogipfel war gezwungen, mich zu pflegen, eine Pflicht, der er zwar kaum nachkam, indem er ständig an meinem Bett saß, aber doch mit Geduld und Ausdauer.
Einmal, es war finsterste Nacht, verfiel ich in einen halbwachen Zustand und spürte die weichen Finger des Morlocks im Gesicht und am Hals. Ich glaubte, wieder in diesem Podest der weißen Sphinx eingeschlossen zu sein, mit den sich um mich drängenden Morlocks, die mich vernichten wollten. Ich schrie auf, und Nebogipfel wich hastig zurück; doch nicht schnell genug — ich versetzte ihm mit der Faust einen Schlag gegen die Brust. Trotz meiner Schwäche war ich noch kräftig genug, den Morlock niederzuwerfen.
Nach erfolgter Aktion war meine Energie verbraucht, und ich glitt in die Bewußtlosigkeit ab.
Als ich wieder erwachte, saß Nebogipfel erneut an meiner Seite und versuchte, mir einen Schluck Fischsuppe einzuflößen.
Mit der Zeit erlangte ich wieder das Bewußtsein, und ich bemerkte, daß ich aufrecht auf der Pritsche saß. Ich war allein in unserer kleinen Hütte. Die Sonne stand schon tief am Himmel, aber die Hitze des Tages lastete noch immer auf mir. Nebogipfel hatte eine mit Wasser gefüllte Nußschale vor meine Pritsche gestellt; ich trank sie aus.
Das Sonnenlicht verschwand, und das warme, tropische Abenddunkel legte sich über unser Domizil. Der Sonnenuntergang war riesig und grandios: Nebogipfel hatte mir erklärt, daß das auf einen Ascheüberschuß in der Atmosphäre zurückzuführen war, der von Vulkanen westlich von Schottland ausgeworfen worden war. Dieser Vulkanismus würde eines Tages zur Entstehung des Atlantischen Ozeans führen; Lavaströme ergossen sich bis in die Arktis, nach Schottland und Irland, und die warme Klimazone, in der wir uns befanden, erstreckte sich im Norden bis nach Grönland.
In diesem Paläozän war Britannien bereits eine Insel, aber verglichen mit seiner Konfiguration im neunzehnten Jahrhundert war die nordwestliche Ecke hochgeklappt. Die Irische See existierte noch nicht, so daß Britannien und Irland eine zusammenhängende Landmasse bildeten; aber der Südosten Englands war von dem Meer überspült, an dessen Küste wir uns befanden. Unser Urmeer war eine Fortsetzung der Nordsee; wenn wir ein Boot gehabt hätten, wäre es möglich gewesen, den Kanal zu überqueren und durch das Aquitanische Becken direkt ins Herz von Frankreich zu fahren, ein Gewässer, das seinerseits in das Tethys-Meer überging — einen großen Ozean, der die Länder des Mittelmeeres bedeckte.
Mit dem Einsetzen der Nacht tauchte der Morlock aus dem tiefen Schatten des Waldes auf. Er streckte sich — mehr wie eine Katze als ein Mensch — und massierte sein kaputtes Bein. Dann verbrachte er einige Minuten damit, mit den Fingern das Haar auf Gesicht, Brust und Rücken zu kämmen.
Schließlich humpelte er zu mir herüber; das purpurne Licht des Sonnenuntergangs wurde von seiner fleckigen und gesprungenen Brille reflektiert. Er holte mir noch mehr Wasser, und mit angefeuchtetem Mund flüsterte ich: »Wie lange?«
»Drei Tage.«
Beim Klang seiner unheimlichen, fließenden Stimme mußte ich einen Schauder unterdrücken. Man hätte annehmen können, daß ich mich mittlerweile an den Morlock gewöhnt hatte; aber nach drei Tagen, die ich hilflos dagelegen hatte, überkam mich bei dem Gedanken, nur mit diesem Alien aus der entfernten Zukunft auf dieser feindlichen Welt isoliert zu sein, ein gewisser Schock!
Nebogipfel bereitete mir etwas Fischsuppe zu. Als ich aufgegessen hatte, war die Sonne untergegangen, und die einzige Beleuchtung kam von der Sichel des Neumondes, der tief am Himmel hing. Nebogipfel hatte die Brille abgenommen, und ich konnte sein großes, graurotes Auge erkennen, das wie der leuchtende Schatten des Mondes im Dunkel der Hütte schwebte.
»Was ich wissen möchte«, sagte ich, »weswegen bin ich krank geworden?« »Ich bin mir nicht sicher.«
»Nicht sicher?« Dieses ungewöhnliche Eingeständnis von Unzulänglichkeit überraschte mich, denn Nebogipfels Breite und Tiefe des Wissens waren außergewöhnlich. Ich verglich den Verstand eines Menschen des neunzehnten Jahrhunderts mit meinem alten Labor: voller Informationen, die jedoch ziemlich nachlässig abgespeichert waren, in aufgeschlagenen Büchern und Zeitschriften und Haufen von Aufzeichnungen und Skizzen, die auf jeder freien Oberfläche verstreut waren. Verglichen mit diesem Chaos war der Verstand eines Morlocks — dank der fortgeschrittenen Ausbildungsmethoden des Jahres 657208 — wie der Inhalt einer guten Enzyklopädie geordnet, wobei die Bücher der Erfahrung und des Lernens mit Indices versehen in einem Regal aufbewahrt wurden. All das erhob das praktische Niveau von Intelligenz und Wissen auf eine Ebene, die sich die Menschen meiner Zeit nie hätten träumen lassen. »Du solltest dich auch überhaupt nicht über die Tatsache der Krankheit wundern. Ich bin vielmehr überrascht, daß es dich nicht schon früher erwischt hat.«
»Was meinst du damit?«
Er wandte sich mir zu. »Daß du ein Mensch bist, der aus seiner Zeit herausgerissen wurde.«
Blitzartig verstand ich, was er meinte.
Die Krankheitserreger haben seit dem Anbeginn der Dinge von der Menschheit ihren Tribut gefordert — und verfolgten die prähumanen Vorläufer des Menschen sogar bis in dieses vorsintflutliche Zeitalter. Aber weil unsere Rasse von diesen Keimen drastisch ausgedünnt wurde, haben wir Widerstandskräfte entwickelt. Unsere Körper bekämpfen alle Erreger und sind gegen manche sogar immun.
Ich stellte mir all diese Generationen von Menschen vor, die nach diesem finsteren Zeitalter das Licht der Welt erblicken würden, diese Eintagsfliegen vergleichbaren Menschenseelen, die wie Funken in der Dunkelheit flackern würden, bevor sie für immer erloschen! Aber diese winzigen Kämpfe würden nicht vergebens sein, denn — durch diesen Tribut von Milliarden Toten — würde die Menschheit ihr Geburtsrecht auf der Erde begründen.
Mit dem Morlock verhielt sich das anders. In Nebogipfels Zeit war von der ursprünglichen Form des Menschen nur noch wenig übrig. Der ganze Morlock-Körper — Knochen, Fleisch, Lunge, Leber — war maschinell umgerüstet worden, um, wie Nebogipfel ausführte, ein Leben zu ermöglichen, das einen idealen Kompromiß zwischen Langlebigkeit und Qualität ermöglichte. Wie ich selbst gesehen hatte, konnte Nebogipfel zwar verwundet werden, aber — nach seinen Worten — war sein Risiko, sich eine Virusinfektion zuzuziehen, genauso hoch wie bei einer Ritterrüstung. Und in der Tat hatte ich keine Anzeichen einer Infektion an seinem verletzten Bein oder am Auge festgestellt. Ich erinnerte mich, daß die Welt der Eloi und Morlocks wiederum eine andere Lösung gefunden hatte, denn ich hatte dort weder Krankheit noch Infektionen festgestellt und nur wenig Verfall, und so hatte ich vermutet, daß es eine Welt war, in der es keine schädlichen Bakterien mehr gab. Ich hingegen genoß keinen derartigen Schutz. Nach meiner ersten Begegnung mit der Krankheit wandte Nebogipfel seine Aufmerksamkeit den subtileren Aspekten unserer Überlebenserfordernisse zu. Er schickte mich los, um unseren Speisezettel anzureichern, inklusive Nüssen, Knollen, Früchten und Speisepilzen, die unsere Verpflegung aus Meeresfrüchten und dem Fleisch der Tiere und Vögel ergänzten, die so dumm gewesen waren, sich in meinen plumpen Fallen aus Schlingen und Steinen zu fangen. Außerdem versuchte Nebogipfel, einfache Arzneimittel herzustellen: Kräuterwickel, Kräutertees und dergleichen.
Meine Erkrankung erfüllte mich mit einer tiefen und anhaltenden Furcht, denn das war eine Gefahr der Zeitreise, die ich vorher nicht berücksichtigt hatte. Ich erzitterte und schlang die Arme um meinen noch immer geschwächten Körper. Meine Kraft und Intelligenz konnten vielleicht einen Diatryma oder andere aufdringliche Bewohner des Paläozäns abwehren, vermochten mich jedoch nicht vor den Übergriffen der unsichtbaren Monster zu Lande, zu Wasser und in der Luft zu schützen.
Wenn ich etwas Tropenerfahrung gehabt hätte, bevor wir im Paläozän strandeten, hätte ich mich vielleicht auf das Unwetter vorbereiten können.
Der Tag war drückend und feuchter als sonst gewesen, und die Seeluft hatte diese seltsame, leicht imprägnierte Anmutung, die einem Wetterumschwung immer vorausgeht. An diesem Abend war ich von des Tages Mühen erschöpft; ich fühlte mich wie zerschlagen und war froh, als ich mich auf die Pritsche fallen ließ. Zunächst war es noch so heiß, daß sich der Schlaf nicht einstellen wollte.
Als ein langsames Plätschern von Regentropfen auf unser nur aufgelegtes Dach aus Palmwedeln niederging, wachte ich auf. Ich hörte, wie der Regen im Wald hinter uns niederprasselte — Wasserkügelchen, die auf die Blätter hämmerten und den sandigen Strand zernarbten. Ich konnte Nebogipfel weder hören noch sehen; es war der dunkelste Abschnitt der Nacht.
Und dann kam das Unwetter über uns.
Es war, als ob der Himmel seine Schleusen geöffnet hätte; eimerweise strömte das Regenwasser herab und spülte sofort unser Palmblattdach fort. Die Trümmer unserer primitiven Hütte fielen um mich herum zusammen, und ich wurde bis auf die Haut durchnäßt; ich lag noch immer auf dem Rücken und starrte in den bindfadenartigen Regen, der sich aus einem wolkenverhangenen Himmel ergoß.
Ich versuchte aufzustehen, aber durchtränkte Palmwedel behinderten mich, und meine Pritsche verwandelte sich in einen sumpfigen Morast. Bald war ich völlig mit Schlamm und Dreck überzogen, und das Wasser, das mir auf den Schädel hämmerte und in die Augen tröpfelte, nahm mir jede Sicht.
Als ich endlich auf die Füße gekommen war, erschreckte mich die Geschwindigkeit, mit der unser Unterstand kollabierte; alle seine Verstrebungen waren eingestürzt oder hingen skurril herum. Ich konnte die kastenförmige Struktur von Nebogipfels rekonstruierter Zeitmaschine erkennen, aber sie war bereits fast völlig unter den Fragmenten der Hütte begraben.
Ich wühlte in diesen versifften, schlüpfrigen Trümmern herum und zerrte Palmblätter und Kleidungsstücke beiseite. Dann fand ich Nebogipfel. Mit dem am Körper klebenden Haar und den an die Brust gezogenen Beinen sah er aus wie eine Riesenratte. Er hatte die Brille verloren und zitterte hilflos. Ich war froh, daß ich ihn so schnell gefunden hatte; denn nachts war er normalerweise im Einsatz, und er hätte sich sonstwo im Umkreis von einer Meile um die Hütte aufhalten können.
Ich bückte mich, um ihn aufzuheben, aber er sah mich nur an, wobei sein zerstörtes Auge wie ein dunkles Loch wirkte. »Das Zeit-Fahrzeug! Wir müssen das Zeit-Fahrzeug retten!« Seine fließende Stimme war bei dem Sturm fast nicht zu hören. Ich wollte ihn erneut packen, aber mühevoll entzog er sich meinem Griff.
Angesichts der auf meinen Kopf prasselnden Regentropfen grummelte ich wütend; aber ich fügte mich und stapfte durch die Trümmer unseres Heims zu Nebogipfels Maschine. Ich riß ganze Büschel von Palmblättern weg, mußte aber feststellen, daß die Maschine immer tiefer im Schlick versank, der mit Kleidungsstücken, Gefäßen und den Überresten unserer provisorischen Möblierung gesättigt war. Ich packte eine Verstrebung des Rahmens und versuchte mit aller Kraft, das Gerät aus dem Schlamm zu zerren; der einzige Erfolg bestand jedoch darin, den Rahmen zu verbiegen und ihn an den Ecken aufzureißen.
Ich richtete mich auf und blickte mich um. Die Hütte war inzwischen fast völlig zusammengebrochen. Ich sah, daß das Wasser nun aus dem Wald strömte, über den Sand und in den Ozean. Selbst unser freundlicher Süßwasserbach wurde jetzt breiter und reißender und drohte sogar, über seine niedrige Böschung zu treten und uns zu überfluten.
Ich verließ das Zeit-Fahrzeug und stapfte zu Nebogipfel hinüber. »Es ist alles verloren«, rief ich ihm zu. »Wir müssen hier verschwinden.« »Aber die Zeitmaschine…«
»Können wir vergessen! Siehst du's denn nicht? Wenn das so weitergeht, werden wir noch ins Meer gespült!«
Er versuchte auf die Beine zu kommen, wobei Strähnen seines Haars wie durchnäßte Kleidungsstücke herunterhingen. Ich packte ihn, und er wollte sich meinem Griff entwinden; wenn er im Vollbesitz seiner Kräfte gewesen wäre, hätte er das vielleicht auch geschafft, aber sein kaputtes Bein behinderte ihn, und so fing ich ihn wieder ein.
»Ich kann sie nicht bergen!« schrie ich ihm ins Gesicht. »Wir müssen schon froh sein, wenn wir hier nur unser verdammtes Leben retten können!«
Sprach's und warf ihn mir über die Schulter — er war so leicht wie ein Kind — und ich verließ unsere Hütte und hielt auf den Wald zu. Sofort merkte ich, wie ich durch zolltiefes kaltes, schlammiges Wasser watete. Mehrmals glitt ich auf dem Schlick aus, doch immer hatte ich einen Arm um den zuckenden Körper des Morlocks gelegt.
Schließlich erreichte ich den Waldrand. Durch den Schutz des Blätterdachs wurde die Wucht des Regens gedämpft. Es war noch immer stockfinster, und ich taumelte durch die Dunkelheit, wobei ich über Wurzeln stolperte und gegen Baumstämme stieß; der Boden war matschig und trügerisch. Schließlich gab Nebogipfel seinen Widerstand auf und lag passiv über meiner Schulter.
Dann erreichte ich einen Baum, der mir bekannt vorkam: dick und alt und mit niedrigen Ästen, die etwas über Kopfhöhe aus dem Stamm sprossen. Ich legte den Morlock über einen solchen Ast, wo er wie ein durchnäßter Mantel hing. Dann — mit einiger Anstrengung, denn ich war schon lange nicht mehr auf Bäume geklettert — stieß ich mich vom Boden ab und schwang mich mit dem Rücken gegen den Stamm auf einen Ast.
Und hier warteten wir, bis sich das Unwetter ausgetobt hatte. Mit einer Hand stützte ich den Rücken des Morlocks ab, um zu verhindern, daß er herunterfiel oder zur Hütte zurückkehrte; und ich mußte einen Sturzbach verkraften, der am Baumstamm herunterlief und über meine Schultern und den Rücken strömte.
Als der Morgen dämmerte, bekam ich ein gespenstisch schönes Bild in diesem Wald zu sehen. Beim Blick nach oben zur Blätterkuppel sah ich, wie der Regen durch die strukturierten Formen der Blätter sickerte und an den Baumstämmen zur Erde abfloß; ich sah, daß der Wald wie eine große Maschine war, dafür ausgelegt, solche Unbilden wie dieses Unwetter zu überstehen.
Als das Licht sich verstärkte, riß ich einen Streifen aus den Überresten meiner Hose — ein Hemd hatte ich schon lange nicht mehr — und band es um Nebogipfels Gesicht, um seine ungeschützten Augen abzuschirmen. Er rührte sich nicht.
Gegen Mittag versiegte der Regen, und ich glaubte, den Abstieg wagen zu können. Ich setzte Nebogipfel auf dem Boden ab, und er konnte wieder gehen, obwohl ich ihn an die Hand nehmen mußte, weil er ohne seine Brille blind war.
Wir traten aus dem Wald in einen strahlenden und frischen Tag hinaus; eine belebende Brise blies von der See herein, und leichte Wolken zogen über einen — fast — englischen Himmel. Es war, als ob die Welt neu erschaffen worden wäre, und von der Bedrückung des vergangenen Tages war nichts mehr zu spüren.
Zögernd näherte ich mich den Überresten der Hütte. Ich sah Fragmente — Teile der zerschmetterten Konstruktion, die lustigen Nußschalen-Tassen etc. —, alles halb im Sand versunken. Inmitten dieses ganzen Durcheinanders befand sich ein Diatryma-Baby, das mit seinem plumpen Schnabel im Sand herumpickte. »Hoi!« schrie ich — und rannte los und schlug dabei die Hände über dem Kopf zusammen. Der Monstervogel stob davon, wobei das lockere gelbe Fleisch um seine Beine herumschlackerte.
Ich durchsuchte die Trümmer. Unsere meisten Habseligkeiten waren verloren — ins Meer gespült. Die Hütte war zwar nur eine primitive Behausung gewesen, und unsere paar Utensilien bloß improvisiert bzw. repariert; aber sie hatte uns gehört — war unser Heim gewesen — und ich fühlte eine schockierende Verletzung unserer Privatsphäre.
»Was ist mit der Zeitmaschine?« fragte mich Nebogipfel und drehte sein erblindetes Gesicht hin und her. »Das Zeit-Fahrzeug — was ist damit?«
Nach einigem Herumgraben stieß ich auf ein paar Verstrebungen, Rohre und Platten, Fragmente von ramponiertem Waffenstahl, die sich nun in einem noch schlechteren Zustand als vorher befanden; aber die eigentliche Maschine war ins Meer geschwemmt worden. Mit geschlossenen Augen befingerte Nebogipfel die Fragmente. »Nun«, befand er, »das wird ausreichen müssen.«
Und er setzte sich in den Sand, tastete blind nach Textilien und Schnüren und begab sich erneut mit Geduld an den Bau seiner Zeitmaschine.
Es gelang uns nicht, Nebogipfels Brille nach dem Sturm wiederzufinden, und dies erwies sich für ihn als großes Handicap. Aber er beklagte sich nicht. Wie schon zuvor zog er sich am Tage in den Schatten zurück, und wenn er sich einmal in das Licht der Morgen- oder Abenddämmerung begeben mußte, zog er seinen breitkrempigen Hut auf und bedeckte die Augen mit einer über Sehschlitze verfügenden Ledermaske, die ich ihm für solche Anlässe angefertigt hatte.
Das Unwetter hatte sowohl einen mentalen als auch einen seelischen Schock für mich bedeutet, denn ich hatte mich bereits in dem Glauben befunden, mich gegen alle Gefahren, die diese Welt für mich bereithalten konnte, gewappnet zu haben. Aus diesem Grund beschloß ich, unsere Existenz auf eine solidere Grundlage zu stellen. Nach einigen Überlegungen entschied ich, daß eine Hütte, solide gezimmert und auf Pfählen ruhend — unerreichbar für die Flutwellen künftiger Monsune — das Gebot der Stunde war. Aber ich konnte keine herabgefallenen Äste als Baumaterial verwenden, weil sie naturgemäß oft eine unregelmäßige Form hatten und manchmal noch dazu vermodert waren. Ich brauchte Baumstämme — und dafür brauchte ich eine Axt.
So verbrachte ich einige Zeit als Amateurgeologe und durchstreifte die Landschaft auf der Suche nach geeigneten Felsformationen. Schließlich stieß ich in der Gegend von Hampstead Heath in einer Kiesschicht auf dunklen, abgeschliffenen Feuerstein. Ich nahm an, daß dieses Geröll hier von einem verschwundenen Fluß angeschwemmt worden war.
Mit einer Sorgfalt, die ich sonst nur einem Goldtransport — oder etwas noch Wertvollerem — hätte angedeihen lassen, trug ich diese Schätze zurück in unser Lager; denn selbst Gold im Gewicht dieser Steine hätte jetzt nicht den geringsten Wert für mich gehabt.
Dann schlug ich an freien Stellen am Strand den Feuerstein auf. Ich mußte lange herumexperimentieren und eine Menge Material opfern, bis es mir gelang, die Brocken so aufzuschlagen, daß sie entlang der Schichtung des Steins abscherten, und somit breite und scharfe Klingen herzustellen. Meine Hände fühlten sich plump und unbeholfen an. Früher hatte ich immer über die präzise gearbeiteten neolithischen Pfeilspitzen und Axtklingen gestaunt, die in unseren Museen in Glasvitrinen ausgestellt waren, aber erst als ich selbst versuchte, ein solches Werkzeug anzufertigen, erkannte ich, welche beachtlichen Fertigkeiten und handwerkliches Geschick unsere Ahnen besessen hatten.
Schließlich arbeitete ich eine Klinge heraus, mit der ich zufrieden war. Ich klemmte sie in einen kurzen, gespaltenen Holzstiel, umwickelte ihn mit Lederstreifen und machte mich frohen Mutes auf in den Wald.
Keine Viertelstunde später kehrte ich mit den Splittern meiner Axtklinge in der Hand zurück; sie war schon beim zweiten Schlag zersprungen und hatte kaum die Rinde des Baumes angeritzt!
Nach weiterem Probieren bekam ich es dann endlich doch noch hin, und bald hackte ich mich durch ein Waldstück mit jungen, geraden Bäumen.
Wir bezogen ein festes Lager am Strand, doch ausreichend weit von der Hochwassermarke entfernt und außerhalb des Überschwemmungsgebietes unseres Trinkwasserbachs. Es dauerte eine Weile, bis ich mit der Tiefe der für die Pfähle ausgehobenen Vertiefungen zufrieden war; doch dann hatte ich ein Rechteck aus sicher fixierten, senkrechten Pfosten errichtet und eine Plattform aus dünnen Stämmen, die sich etwa fünf Fuß über den Strand erhob. Diese Plattform war zwar alles andere als eben, und ich nahm mir vor, mir eines Tages fundiertere Zimmermannskenntnisse anzueignen; als ich mich aber eines Nachts darauflegte, wirkte der Untergrund sicher und solide, und der Sicherheitsabstand war so groß, daß wir uns jenseits der Gefahren des Strandes befanden. Fast wünschte ich mir wieder ein Unwetter herbei, so daß sich meine neue Konstruktion bewähren konnte!
Über eine kleine Leiter, die ich ihm gebaut hatte, schleppte Nebogipfel seine Fragmente des Zeit-Fahrzeugs auf die Plattform und widmete sich dort verbissen ihrer Rekonstruktion.
Als ich eines Tages durch den Wald streifte, bemerkte ich ein Paar leuchtender Augen, die mich unter einem niedrigen Ast studierten.
Ich verlangsamte meinen Gang, darauf bedacht, keine hektischen Bewegungen zu machen, und nahm den Bogen vom Rücken.
Das kleine Wesen war vier Zoll lang und sah aus wie ein Miniatur-Lemure. Schwanz und Gesicht hätten von einem Nagetier stammen können, wobei die vorderen Nagezähne deutlich zu sehen waren. Entweder war es so intelligent, daß es durch seine Bewegungslosigkeit meine Aufmerksamkeit von sich ablenken wollte — oder so dumm, daß es auf überhaupt keine Gefahr reagierte.
Es dauerte nur einen Augenblick, die Sehne in die Kerbe eines Pfeils zu legen und ihn abzuschießen.
Mit zunehmender Praxis hatte sich meine Kompetenz als Jäger und Fallensteller verbessert, und meine Schlingen und Fallen wiesen mittlerweile eine ordentliche Erfolgsquote auf; nicht so jedoch mein Umgang mit Pfeil und Bogen. Die Konstruktion meiner Pfeile war zwar an sich gut genug, aber ich konnte nie Holz mit der richtigen Flexibilität für die Bogen finden. Und überhaupt, bevor meine plumpen Finger den Pfeil erst aufgelegt hatten, konnten die durch meine Stümperei belustigten beweglichen Ziele in aller Ruhe in Deckung gehen.
Nicht so dieser kleine Bursche! Er beobachtete bloß mit müder Neugier, wie mein krummer Pfeil durch die Luft auf ihn zutaumelte. Nun hatte ich endlich mal etwas getroffen, und die Feuersteinspitze nagelte den kleinen Körper an den Baumstamm.
Stolz auf meine Trophäe kehrte ich zu Nebogipfel zurück, denn Säugetiere waren nützlich für uns, nicht nur wegen ihres Fleisches, sondern auch wegen der Pelze, Zähne, des Fetts und der Knochen. Nebogipfel musterte den Kadaver des kleinen Nagetiers durch seine Maske.
»Vielleicht sollte ich noch mehr davon besorgen«, regte ich an. »Die kleine Kreatur schien bis zuletzt überhaupt nicht zu begreifen, in welcher Gefahr sie sich befand. Armes Vieh!«
»Weißt du, was das ist?«
»Sag's mir.«
»Ich glaube, daß es ein Purgatorius ist.«
»Und was hat es damit auf sich…?«
»Es ist ein Primat: der älteste überhaupt bekannte. Ein ferner Vorfahr von uns.« Eine Spur Belustigung war in seiner Stimme.
»Ich dachte, das wäre endlich vorbei«, fluchte ich. »Aber sogar im Paläozän trifft man noch auf Verwandte!« Ich studierte den winzigen Kadaver. »Da haben wir hier also den Vorfahren der Affen und Menschen, und der Morlocks! Die bedeutungslose kleine Eichel, aus der eine Eiche wird, die sich über mehr Welten als nur diese Erde ausbreiten wird… Ich frage mich, wieviele Menschen, Nationen und Spezies die Lenden dieses einfältigen kleinen Burschen wohl hervorgebracht hätten, wenn ich ihn nicht getötet hätte. Wieder einmal habe ich meine eigene Vergangenheit zerstört!«
»Wir müssen zwangsläufig mit der Geschichte in Wechselwirkung treten, du und ich«, erwiderte Nebogipfel. »Mit jedem Atemzug, den wir tun, jedem Baum, den du fällst, jedem Tier, das wir töten, erschaffen wir eine neue Welt in der Multiplizität der Welten. So ist es eben. Es ist unvermeidlich.«
Danach brachte ich es nicht mehr über mich, das Fleisch des armen kleinen Wesens zu berühren. Ich trug es in den Wald und begrub es.
Eines Tages brach ich auf, um unserem kleinen Trinkwasserbach in westlicher Richtung bis zu seiner Quelle im Landesinneren zu folgen.
In der Morgendämmerung brach ich auf. Mit zunehmender Entfernung von der Küste verschwand der Geruch nach Salz und Ozon und wich den heißen, feuchten Düften des Dipterocarps-Waldes und dem überwältigenden Parfüm der zahlreichen Blumen. Der Weg war wegen des dichten Bodenbewuchses beschwerlich. Die Luftfeuchtigkeit stieg rapide an, und meine Kappe aus Kokosfasern war bald durchgeschwitzt; die Geräusche um mich herum, das Rascheln der Vegetation und das endlose Trillern und Husten des Waldes, wirkten in der drückenden Luft noch intensiver.
Am Vormittag hatte ich zwei bis drei Meilen zurückgelegt und befand mich irgendwo in Brentford. Ich stieß auf einen großen, seichten See, von dem unser Bach und noch einige andere abflossen, und der See wurde seinerseits von einer Reihe kleinerer Bäche und Flüsse gespeist. Dieses abgeschiedene Gewässer wurde dicht von Bäumen umstanden, und Kletterpflanzen rankten sich um ihre Stämme und unteren Äste, unter anderem auch solche, die ich als Flaschenkürbis und Luffa identifizierte. Das Wasser war warm und brackig, und ich hatte Bedenken, davon zu trinken, aber in der Lagune wimmelte es von Leben. Ihre Oberfläche war von Teppichen gigantischer Lilien bedeckt, die wie umgestülpte Flaschenhälse aussahen und fast sieben Fuß durchmaßen. Sie erinnerten mich an Pflanzen, die ich einmal in Turners Wasserlilienhaus im Königlich Botanischen Garten in Kew gesehen hatte. (Es war schon eine Ironie, dachte ich, daß die Position von Kew sich dereinst nicht einmal eine Meile von meinem jetzigen Standort befinden würde!) Die Blätter der Lilien wirkten zwar kräftig genug, daß ich darauf hätte stehen können, aber ich wollte diese Hypothese nicht in die Praxis umsetzen.
Es war eine Sache von wenigen Minuten, aus einem langen, geraden Schößling eine Angelrute zu improvisieren. Ich befestigte eine Schnur daran und verwendete einen aus dem Metall des Zeit-Fahrzeuges gefertigten Haken mit aufgespießten Maden als Köder.
Binnen weniger Minuten wurde ich durch einen heftigen Zug an der Leine belohnt. Ich grinste bei der Vorstellung des Neids, den einige meiner Freunde — etwa der liebe alte Filby — angesichts meiner Entdeckung dieser fruchtbaren Oase empfunden hätten.
Ich entzündete ein Feuer und bereitete mir ein reichhaltiges Abendessen aus gegrilltem Fisch und Knollen.
Kurz vor Morgengrauen erwachte ich von einem seltsamen Gelächter. Ich setzte mich auf und sah mich um. Das Feuer war fast heruntergebrannt. Die Sonne war noch nicht zu sehen, und der Himmel hatte diese unirdische stahlblaue Färbung, die den neuen Tag einleitet. Es ging kein Wind, und kein Blatt regte sich; ein schwerer Nebel lag unbeweglich auf der Wasseroberfläche.
Dann sah ich hundert Yards von mir entfernt am Seeufer eine Gruppe von Vögeln. Sie hatten ein dunkelbraunes Gefieder und Beine so lang wie die von Flamingos. Sie wateten durch das Uferwasser des Sees oder standen wie edle Skulpturen auf einem Bein. Ihre Köpfe glichen denen der modernen Enten, und sie tauchten diese vertraut aussehenden Schnäbel unter die schimmernde Oberfläche und durchpflügten das Wasser, aus dem sie offensichtlich Nahrung herausfilterten.
Der Nebel hob sich etwas, und ein größerer Ausschnitt des Sees wurde sichtbar; nun sah ich einen riesigen Schwarm dieser Kreaturen (die Nebogipfel später als Presbyornis identifizierte) — Tausende von ihnen, in einer großen, offenen Kolonie. Sie glitten wie Geister durch diesen nebligen Dunst.
Ich rief mir ins Bewußtsein, daß dieser Ort nichts Exotischeres darstellte als die Kreuzung von Gunnersbury Avenue und Chiswick High Road — doch einen ›unenglischeren‹ Anblick hätte man sich schwerlich vorstellen können.
Während sich die Tage so hinzogen in dieser schwülen, lebensstrotzenden Landschaft, erschienen mir die Erinnerungen an das England von 1891 zunehmend ferner und bedeutungsloser. Ich war vollauf ausgelastet in meinen Tätigkeiten als Architekt, Jäger und Sammler; und die Badetemperatur der Sonne und die kühle See vermittelten mir in ihrer Gesamtheit ein Gefühl der Gesundheit, Stärke und Schärfe der Sinne, die ich seit meiner Kindheit nicht mehr erlebt hatte.
Ich beschloß, dem Denken abzuschwören; es gab nur zwei denkende Wesen in diesem reichhaltigen Sortiment der Lebensformen des Paläozän, und ich glaubte nicht, daß mir mein Verstand fortan noch von großem Nutzen sein konnte, außer meine Lebenserwartung etwas zu verlängern.
Jetzt war es an der Zeit, daß das Herz und der Körper zu ihrem Recht kamen. Und je mehr Tage vergingen, desto schärfer wurde mein Sinn für die Schönheit dieser Welt und die Unermeßlichkeit der Zeit — und das Bewußtsein meiner eigenen Kleinheit und der Geringfügigkeit meiner Sorgen vor diesem großen multiplen Panorama der Geschichte. Ich war nicht mehr wichtig, nicht einmal mir selbst; und diese Erkenntnis war wie eine Befreiung für die Seele.
Nach einer gewissen Zeit bedrückte mich nicht einmal mehr der Tod von Moses.
Urplötzlich wurde ich durch Nebogipfels Schreien aufgeweckt. Eine erhobene Morlock-Stimme klingt wie ein Gurgeln: komisch, aber recht unheimlich.
Ich richtete mich in der kühlen Dunkelheit auf; und für einen Moment glaubte ich, wieder zuhause in der Petersham Road in meinem Bett zu liegen, doch die Gerüche und Lichtverhältnisse des nächtlichen Paläozäns belehrten mich eines Besseren.
Ich stieg von meiner Pritsche und sprang von der Hüttenplattform in den Sand. Die Nacht war mondlos, und die letzten Sterne verschwanden vom Himmel, als die Sonne aufging. Das Meer rollte behäbig, und die Wand des Waldes stand schwarz und ruhig.
Inmitten dieser kühlen, blau gesättigten Stille kam der Morlock über den Strand auf mich zugehumpelt. Er hatte seine Krücke verloren und konnte anscheinend kaum aufrecht stehen, geschweige denn alleine gehen. Sein Haar war zerzaust und wirr, und er hatte seine Maske verloren; sogar während er rannte, konnte ich erkennen, daß er sein großes, empfindliches Auge mit der Hand bedecken mußte.
Und er wurde gejagt…
Es war vielleicht zehn Fuß lang und ähnelte in seiner allgemeinen Erscheinungsform einem Krokodil, aber seine Beine waren lang und elastisch und verliehen ihm einen hohen, pferdeähnlichen Gang, ganz im Gegensatz zu der geduckten Fortbewegung der Krokodile meiner Zeit — diese Bestie war offensichtlich zum Rennen und Jagen geschaffen. Ihre Schlitzaugen waren auf den Morlock fixiert, und als sie das Maul öffnete, sah ich Reihen sägezahnartiger Beißer.
Diese Erscheinung befand sich nur noch wenige Fuß hinter Nebogipfel!
Ich schrie und rannte mit wedelnden Armen auf die kleine Plattform, aber noch während ich das tat, wußte ich, daß es aus war mit Nebogipfel. Ich trauerte um den verlorenen Morlock, aber — ich schäme mich, das zu sagen — meine ersten Gedanken galten mir selbst, denn nach seinem Tod würde ich allein sein, hier in diesem primitiven Paläozän…
Und in diesem Moment ertönte mit frappierender Deutlichkeit ein Gewehrschuß am Waldrand.
Die erste Kugel verfehlte das Vieh; aber es reichte, um diesen großen Kopf zu einer Drehung zu veranlassen und den Lauf dieser mächtigen Beine zu verlangsamen.
Der Morlock stürzte und fiel mit ausgestreckten Gliedern in den Sand; aber er stützte sich auf die Ellbogen und kroch auf dem Bauch weiter.
Dann fiel ein zweiter Schuß, und ein dritter. Als die Kugeln in seinen Körper eindrangen, ging ein Rucken durch das Krokodil. Es schaute trotzig zum Wald hinüber, öffnete sein sägezahnarmiertes Maul und stieß ein Brüllen aus, das wie Donner von den Bäumen widerhallte. Dann machte es sich mit großen, entschlossenen Schritten auf die Suche nach der Quelle dieser unerwarteten Stiche.
Ein Mann — klein, untersetzt und mit einer dunklen Uniform — tauchte am Waldrand auf. Erneut hob er das Gewehr, legte auf das Krokodil an und erwartete ruhig die Annäherung der Bestie.
Ich erreichte Nebogipfel und riß ihn auf die Füße; er zitterte. Zusammen standen wir im Sand und erwarteten das Ende des Dramas.
Das Krokodil konnte nicht weiter als dreißig Fuß von dem Mann entfernt gewesen sein, als dieser wieder durchzog. Schüsse peitschten durch die stille Morgenluft. Das Krokodil taumelte — ich sah Blut aus seinem Maul strömen — aber es fing sich wieder, ohne viel Energie verloren zu haben. Das Gewehr feuerte erneut, und Kugel um Kugel wurde in diesen riesigen Leib gepumpt.
Schließlich, weniger als zehn Fuß von dem Mann entfernt, ging das Vieh in die Knie, wobei der große Kiefer in der Luft herumschnappte; und der Mann — cool wie ein Gefrierschrank — machte einen präzisen Ausfallschritt zur Seite, um das Tier hinstürzen zu lassen.
Ich fand Nebogipfels Maske, und der Morlock und ich folgten der die Stranddüne hinaufführenden Spur des Krokodils. Seine Klauen hatten den Sand aufgeworfen, und die letzten paar Abdrücke waren mit Geifer, Schleim und Blut bedeckt. Aus der Nähe wirkte dieses Krokodil noch furchterregender als von weitem; die Augen und das Maul waren weit aufgerissen, und als der letzte Hauch von Leben aus dem Monster entwich, zuckten die starken Muskeln seiner Hinterbeine, und die Hufe schabten über den Sand.
Der Morlock musterte den warmen Kadaver. »Pristichampus«, konstatierte er mit seinem leisen Gurgeln.
Unser Retter hatte einen Fuß auf den zuckenden Leib der Bestie gesetzt. Er war vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt, hatte ein gutgeschnittenes Gesicht und einen offenen Blick. Trotz seines Rendezvous mit dem Tod wirkte er ganz entspannt; er bedachte uns mit einem gewinnenden, zahnlückigen Grinsen. Seine Uniform bestand aus einer braunen Hose, schweren Stiefeln und einer braunen Khakijacke; ein blaues Barett saß keck auf seinem Kopf. Dieser Besucher hätte aus jedem Zeitalter oder jeder beliebigen Variante der Geschichte stammen können, sagte ich mir; aber ich war nicht im mindesten überrascht, als dieser junge Mann in einem schnörkellosen, akzentfreien Englisch sagte: »Verdammt häßliches Ding, was? Allerdings ein harter Brocken — haben Sie gesehen, wie ich ihm das Maul stopfen mußte, bevor es fiel? Und selbst dann machte es noch weiter. Muß ihm Respekt zollen — hat sich tapfer geschlagen!«
Angesichts der lockeren Art, wie dieser Offizier auftrat, fühlte ich mich in meiner Fellbekleidung und dem üppigen Bartwuchs reichlich verlegen und hinterwäldlerisch. Ich reichte ihm die Hand: »Sir, ich verdanke Ihnen das Leben meines Kameraden.«
Er ergriff meine Hand und schüttelte sie. »Keine Ursache.« Sein Grinsen verstärkte sich. »Mr… vermute ich«, sagte er und nannte mich beim Namen. »Wissen Sie, ich wollte das immer schon mal sagen!«
»Und Sie sind?«
»Oh, tut mir leid. Mein Name ist Gibson. Geschwaderkommandeur Guy Gibson. Und ich bin erfreut, Sie endlich gefunden zu haben.«
Es stellte sich heraus, daß Gibson nicht allein gekommen war. Er schulterte das Gewehr, machte kehrt und winkte in Richtung des düsteren Dschungels.
Zwei Soldaten tauchten aus dieser Dunkelheit auf. Die Feldhemden dieser schwer bepackten Kameraden waren durchgeschwitzt, und als sie in das Licht der aufgehenden Sonne traten, schienen sie mißtrauischer zu sein und uns reservierter gegenüberzustehen als der Geschwaderkommandeur. Diese beiden mußten wohl Inder sein — Sepoys, Soldaten aus dem Empire — ihre Augen blitzten dunkel und wild, und jeder trug einen Turban und einen gestutzten Bart. Sie hatten Kampfanzüge aus Khakidrillich an; einer von ihnen hatte ein schweres Maschinengewehr umhängen und führte zwei schwere Ledertaschen mit sich, in denen sich offenbar Munition für diese Waffe befand. Ihre massiven, silbrigen Epauletten glitzerten im Sonnenlicht des Paläozän; beim Anblick des Kadavers des Pristichampus verzogen sich ihre Gesichter unverhohlen zu einer angewiderten Grimasse.
Gibson berichtete uns, daß er und diese zwei Kameraden Teilnehmer einer Suchexpedition waren; sie hatten sich etwa eine Meile vom landeinwärts liegenden Basislager entfernt. (Ich wunderte mich, daß Gibson uns die beiden Soldaten nicht vorstellte. Diese kleine Unhöflichkeit — die wohl nach Gibsons unausgesprochener Auffassung auf dem Rangunterschied beruhte — erschien mir völlig absurd, hier an diesem isolierten Strand im Paläozän, mit gerade einer Handvoll Menschen auf der ganzen Welt!)
Ich bedankte mich bei Gibson nochmals für die Rettung des Morlocks und lud ihn zum Frühstück in unsere Hütte ein. »Sie ist direkt am Strand«, sagte ich und deutete die Richtung an; und Gibson beschirmte zur besseren Sicht die Augen.
»Nun, das sieht so aus… ah… als ob es eine recht solide Konstruktion wäre.«
»Solide? Das möchte ich meinen«, erwiderte ich und begann einen langen und ausführlichen Diskurs über die Details unserer improvisierten Hütte, auf die ich unsagbar stolz war, und wie wir im Paläozän überlebt hatten.
Guy Gibson verschränkte die Hände im Nacken und hörte mit einem gesetzten, höflichen Gesichtsausdruck zu. Die Sepoys beobachteten mich verwirrt und mißtrauisch und hatten ständig die Hände in der Nähe ihrer Pistolen.
Nachdem ich einige Minuten referiert hatte, registrierte ich mit etlicher Verspätung, daß Gibson mit seinen Gedanken ganz woanders war. Ich ließ meinen Sermon ausklingen.
Gibson überblickte mit Wohlgefallen den Strand. »Ich schätze, daß Sie sich hier bemerkenswert gut eingerichtet haben. Bemerkenswert. Ich wäre nach einigen Wochen der Einsamkeit in dieser Robinson Crusoe-Welt wohl mehr oder weniger durchgedreht. Ich meine, der Pub wird erst in fünfzig Millionen Jahren öffnen!«
Ich lächelte zu diesem Witz — den ich gar nicht richtig mitbekommen hatte — und ärgerte mich angesichts dieses Anblicks schmucker Kompetenz über meinen übertriebenen Stolz auf die bescheidene Leistung, die ich erbracht hatte.
»Aber schauen Sie«, fuhr Gibson sanft fort, »glauben Sie nicht auch, daß Sie lieber mit uns zum Expeditionskorps zurückkommen sollten? Wir haben dort ordentliche Verpflegung — und moderne Werkzeuge usw.« Nach einem kurzen Blick auf Nebogipfel ergänzte er dann etwas zweifelnder: »Und der Doc könnte vielleicht auch was für diesen armen Kerl da tun. Brauchen Sie noch etwas von hier? Wir können jederzeit zurückkommen.«
Natürlich brauchte ich nichts — ich hatte keine Lust, noch einmal diese paar hundert Yards am Strand entlangzulaufen! — aber ich wußte, daß mit dem Erscheinen von Gibson und seinen Leuten meine kurze Idylle beendet war. Ich schaute in Gibsons offenes, besonnenes Gesicht und wußte, daß ich nie die Worte finden konnte, ihm das Gefühl dieses Verlusts mitzuteilen.
Wir schlugen eine Richtung in den Dschungel ein, wobei die Sepoys vorangingen und der Morlock sich auf meinen Arm stützte.
Landeinwärts war die Luft heiß und stickig. Wir bewegten uns im Gänsemarsch, wobei je ein Sepoy die Vor- und Nachhut bildete und Gibson, der Morlock und ich uns in der Mitte befanden; den überwiegenden Teil des Marsches trug ich den hinfälligen Morlock in den Armen. Die zwei Sepoys musterten uns auch weiterhin mit mißtrauischen, düsteren Blicken, obwohl sie nach einiger Zeit immerhin die Hände von den Leinenholstern nahmen. Solange wir unterwegs waren, wechselten sie weder mit mir noch mit Nebogipfel ein einziges Wort.
Gibsons Expedition stammte aus dem Jahre 1944 — sechs Jahre nach unserer Abreise während des Angriffs der Deutschen auf die Londoner Kuppel. »Und der Krieg dauert noch immer an?« »Leider ja«, bestätigte er mit grimmigem Ton. »Natürlich haben wir für diesen brutalen Angriff auf London Vergeltung geübt. Haben es ihnen mit gleicher Münze zurückgezahlt.«
»Haben Sie auch selbst an solchen Einsätzen teilgenommen?«
Beim Marschieren sah er — offensichtlich unbewußt — auf die an seiner Uniformjacke angebrachten Orden hinab. Ich konnte sie nicht zuordnen — ich bin kein Militärexperte, und überhaupt waren einige dieser Auszeichnungen zu meiner Zeit noch nicht verliehen worden — aber wie ich später erfuhr, handelte es sich bei ihnen um den Distinguished Service Order und den Distinguished Flying Cross and Bar: in der Tat hohe Auszeichnungen, besonders für einen so jungen Offizier. »Ja, ich habe an einigen Einsätzen teilgenommen«, meinte Gibson geschäftsmäßig. »Ein paar gute Einsätze. Ich bin froh, daß ich noch von ihnen berichten kann — viele gute Kameraden können das nämlich nicht mehr.«
»Und waren diese Einsätze effektiv?«
»Kann man sagen. Wir haben ihre Kuppeln geknackt, kurz nachdem sie mit unseren dasselbe gemacht hatten!«
»Und die Städte darunter?«
Er sah mich an. »Was glauben Sie wohl? Ohne ihre Kuppel ist eine Stadt Luftangriffen hilflos ausgeliefert. Oh, man kann wohl ein Sperrfeuer aus Acht-Achtern errichten…«
›»Acht-Achter‹?«
»Die Deutschen haben eine Achtkommaacht-Zentimeter-Flugabwehrkanone für tieffliegende Flugzeuge — die neben ihrem Haupteinsatzzweck auch als Feldgeschütz und Anti-'Naut-Waffe verwendet werden kann: ein gutes Stück Waffentechnik… egal, wenn der Bomberpilot in der Lage ist, eine solche Flak zu unterfliegen, dann kann er nach Gusto in einer ›entkuppelten‹ Stadt abladen…«
»Und das Resultat — nach weiteren sechs Jahren?«
Er zuckte die Achseln. »Viel ist von den Städten nicht mehr übrig, schätze ich. Jedenfalls nicht in Europa.«
Nach meiner Einschätzung gelangten wir jetzt in die Nähe von South Hampstead. Hier indessen brachen wir durch eine Baumreihe auf eine Lichtung. Sie war kreisförmig, mit einem Durchmesser von vielleicht einer Viertelmeile, aber sie war nicht natürlichen Ursprungs: die Baumstümpfe an ihrem Rand zeigten, daß der Wald niedergemäht oder abgeholzt worden war. Noch als wir näherkamen, konnte ich Trupps von Infanteristen erkennen, die das Unterholz mit Sägen und Macheten bearbeiteten und so den freien Raum vergrößerten. Der Untergrund in der Lichtung selbst war vom Unterholz befreit und durch etliche Lagen Palmblätter gefestigt, die in den Schlamm gepreßt worden waren.
Im Mittelpunkt dieser Lichtung standen vier der großen Juggernaut-Maschinen, die ich schon früher, 1873 und 1938, gesehen hatte. Diese bewegungslosen Monster bildeten die Seiten eines Quadrates mit einer Kantenlänge von hundert Fuß, wobei ihre Luken wie die Mäuler durstiger Tiere aufgerissen waren; ihre Minenräumvorrichtungen hingen schlapp und nutzlos an den nach vorne abstehenden Winden, und der schwarzgrüne Tarnanstrich ihrer Metallhüllen war mit Guano und abgefallenem Laub verkrustet. Außerdem gab es noch eine Reihe anderer Fahrzeuge und Material, das über das ganze Lager verstreut lag, einschließlich Panzerspähwagen und leichter Geschütze auf großrädrigen Lafetten.
An diesem Ort, so gab Gibson mir zu verstehen, sollte 1944 ein großes Dock für Zeitreise-Juggernauts entstehen.
Überall waren Soldaten an der Arbeit, aber als ich neben Gibson auf die Lichtung trat, mit dem humpelnden Nebogipfel an der Seite, unterbrachen die Soldaten bis zum letzten Mann die Arbeit und starrten uns mit offener Neugier an.
Wir erreichten das von den vier 'Nauts abgegrenzte Areal. Im Zentrum dieses Platzes erhob sich ein weiß gestrichener Flaggenmast; und an diesem baumelte die britische Fahne, farbenfroh, schlaff und deplaziert. Eine Reihe von Zelten war in diesem Abschnitt aufgeschlagen worden; Gibson bot uns neben dem größten einen Sitzplatz auf mit Tuch bespannten Klappstühlen an. Ein Soldat — dünn, blaß und augenscheinlich unter der Hitze leidend — kam aus einem der 'Nauts zum Vorschein. Dieser Kamerad mußte wohl Gibsons Laufbursche sein, denn der Geschwaderkommandeur wies ihn an, uns eine Erfrischung zu bringen.
Während wir so dasaßen, nahm die Arbeit im Lager ihren Fortgang; es ging zu wie im Taubenschlag, was in militärischen Einrichtungen immer der Fall zu sein scheint. Die meisten Soldaten trugen olivgrüne Feldhemden und -hosen mit Fußschlaufen; als Kopfbedeckung dienten entweder weiche Filzhüte mit hellen Khaki-Hutbändern oder (wie Gibson sagte) australische Buschhüte. Auf Hemden oder Hüte waren die Divisionsabzeichen aufgenäht, und die meisten Soldaten waren bewaffnet: Ledergurte für Pistolenmunition, Textilholster etc. Sie alle trugen die schweren Epauletten, die ich bereits von 1938 her kannte. In der Hitze und Feuchtigkeit wirkte der größte Teil der Soldaten ziemlich derangiert.
Ich sah einen Soldaten in einem blütenweißen Anzug, der ihn von Kopf bis Fuß einhüllte; er trug dicke Handschuhe und einen den ganzen Kopf umschließenden weichen Helm mit integriertem Visier, durch das er hindurchschaute. Er arbeitete an den geöffneten Seitenklappen eines der Juggernauts. Ich konnte mir vorstellen, daß der arme Kerl bei der Hitze in einem solchen Aufzug bald schmelzen mußte; Gibson erklärte mir jedoch, daß es ein Asbestanzug war, um ihn vor den Triebwerksflammen zu schützen.
Nicht alle Soldaten waren Männer — ich vermutete, daß etwa zwei Fünftel des Personals aus Frauen bestand —, und viele Soldaten waren auf die eine oder andere Art verwundet: Brandnarben und dergleichen, hier und da sogar Prothesen. Ich erkannte, daß sich der schreckliche Verschleiß der Menschen Europas seit 1938 fortgesetzt hatte und jetzt schon die Mobilisierung von Verwundeten und mehr junger Frauen erforderte.
Gibson zog die schweren Stiefel aus und massierte seine verkrampften Füße, wobei er mich schmerzlich angrinste. Nebogipfel nahm einen Schluck Wasser aus einem Glas, während der Adjutant Gibson und mir eine Tasse traditionellen englischen Tees servierte — Tee, hier im Paläozän!
»Ihr habt ja direkt eine kleine Kolonie gegründet«, sagte ich zu Gibson.
»Kann gut sein. Ist der Drill, wissen Sie.« Er stellte die Stiefel ab und nahm einen Schluck Tee. »Natürlich sind hier alle Teilstreitkräfte vertreten — aber das werden Sie wohl selbst schon bemerkt haben.«
»Nein«, dementierte ich geradeheraus.
»Nun, die meisten Kameraden sind natürlich von der Army.« Er deutete auf einen schlanken jungen Soldaten, der an den Schultern seines Tropenhemdes einen Khaki-Aufnäher trug. »Aber einige von uns, wie er und ich, gehören zur RAF.«
»Royal Air Force. Sehen Sie, die Strategen in Nadelstreifen sind schließlich zu dem Schluß gekommen, daß wir am besten zur Steuerung dieser großen Eisenmonster befähigt seien.« Ein Army-Angehöriger ging vorüber, begaffte Nebogipfel, und Gibson bedachte ihn mit einem freundlichen Grinsen. »Natürlich nehmen wir das Fußvolk auch schon mal mit. Besser, als wenn ihr es selbst tun müßtet, nicht wahr, Stubbins?«
Soldat Stubbins — schlank, rothaarig, mit offenem, freundlichem Gesicht — erwiderte das Grinsen, scheu zwar, aber dennoch erfreut über Gibsons Zuwendung: und das ungeachtet der Tatsache, daß er gut einen Fuß länger sein mußte als der kleine Gibson und zudem einige Jahre älter. In Gibsons entspannter Haltung erkannte ich so etwas wie das Talent des geborenen Führers.
»Wir sind schon seit einer Woche hier«, klärte Gibson mich auf. »Erstaunlich, daß wir nicht schon früher über euch gestolpert sind.«
»Wir hatten auch keinen Besuch erwartet«, entgegnete ich trocken. »Wenn das der Fall gewesen wäre, hätten wir wohl Feuer angezündet oder einen anderen Weg gefunden, um unsere Anwesenheit zu signalisieren.«
Er winkte mir beschwichtigend zu. »Wir sind ja auch selbst beschäftigt genug gewesen. Die ersten Tage hatten wir hier getrödelt wie die Brunnenputzer. Wir sind natürlich gut ausgerüstet — die Eierköpfe haben uns vor unserem Abflug hinreichend klar gemacht, daß das Klima im guten alten England ziemlich wechselhaft ist, wenn man es über längere Zeiträume betrachtet — und so haben wir alles an Bord, von Überziehern bis leichten Blousons. Aber diese tropischen Bedingungen hatten wir dann doch nicht erwartet: nicht hier, im Zentrum von London! Unsere Kleider scheinen zu zerfallen — buchstäblich am Körper zu verrotten — und die Metallbeschläge rosten, und unsere Stiefel finden in diesem Siff keinen Tritt: sogar meine verdammten Socken sind eingegangen! Und das ganze Zeug wird dann noch von Ratten angenagt.« Er runzelte die Stirn. »Jedenfalls glaube ich, daß es Ratten sind.«
»Vielleicht auch nicht«, gab ich zu bedenken. »Und die Juggernauts? Kitchener-Klasse, stimmt's?«
Gibson blickte mich mit hochgezogener Augenbraue an, offensichtlich überrascht von diesem Wissen. »Wir können die 'Nauts kaum manövrieren: diese verdammten Elefantenfüße versinken im tiefen Schlamm…«
Und jetzt ertönte hinter mir eine klare, bekannte Stimme: »Ich befürchte, daß Sie nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit sind, Sir. Die Kitchener-Klasse — einschließlich des guten alten Raglan — ist schon vor einigen Jahren außer Dienst gestellt worden…«
Ich drehte mich auf dem Stuhl herum. Eine in einen Overall gewandete Gestalt mit einem schneidigen Juggernaut-Barett kam auf mich zu; dieser Soldat hatte einen stark humpelnden Gang und eine Hand zur Begrüßung ausgestreckt. Ich ergriff die Hand; sie war schmal, aber kräftig.
»Hauptmann Hilary Bond«, sagte ich mit einem Lächeln.
Sie begutachtete mich von Kopf bis Fuß und ließ meinen Bart und die Fellbekleidung auf sich wirken. »Sie sehen zwar etwas rustikal aus, Sir, sind aber trotzdem nicht zu verkennen. Überrascht, mich zu sehen?«
»Nach ein paar Zeitreisen kann mich fast gar nichts mehr überraschen, Hilary!«
Gibson und Bond erläuterten mir den Auftrag des Zeit-Expeditionskorps.
Dank der Entwicklung der Carolinum-Spaltreaktoren war es Großbritannien und Amerika kurz nach meiner Flucht in die Zeit gelungen, Plattnerit in ausreichender Menge herzustellen. Nun waren die Ingenieure nicht länger auf die kläglichen Reste in meinem alten Labor angewiesen!
Es bestand nach wie vor die große Befürchtung, daß deutsche Zeit-Soldaten quasi durch die Hintertür eine Offensive gegen Englands Vergangenheit planten — und außerdem konnte anhand der Trümmer, die wir im Imperial College hinterlassen hatten, sowie anderer Hinweise, ermittelt werden, daß Nebogipfel und ich etliche Dutzend Millionen Jahre in die Vergangenheit gereist waren. Also wurde umgehend eine Flotte von zeitreisefähigen Juggernauts zusammengestellt und mit empfindlichen Instrumenten bestückt, die das Vorkommen von Plattneritspuren nachweisen konnten (wie man mir sagte, auf der Basis seiner radioaktiven Ursprungssubstanzen), und dann reiste dieses Expeditionskorps in großen Sprüngen von fünf Millionen Jahren oder noch mehr in die Vergangenheit.
Sein Auftrag bestand in nichts geringerem als darin, die Geschichte Englands vor einem Zeit-Angriff des Feindes zu schützen!
Bei den Zwischenlandungen wurden die jeweiligen Perioden einer gründlichen Untersuchung unterzogen; und zu diesem Zweck hatte ein Teil der Soldaten eine hastige Ausbildung als Amateurwissenschaftler absolviert: Klimatologen, Ornithologen und dergleichen. Diese Kameraden führten schnelle und gründliche Untersuchungen der Flora, Fauna, des Klimas und der Geologie des respektiven Zeitalters aus, und ein großer Teil von Gibsons Logbuch war den Zusammenfassungen solcher Beobachtungen gewidmet. Ich sah, daß die Soldaten, allesamt Männer und Frauen aus den Mannschaftsdienstgraden, diese Aufträge mit Freude und guter Laune ausführten, wie es bei solchen Leuten eben so ist, und — ich hatte jedenfalls den Eindruck — sie zeigten echtes Interesse an der Beschaffenheit des fremden Themsetals aus dem Paläozän.
Doch nachts patrouillierten Streifen in der Umgebung des Lagers, und Soldaten mit Ferngläsern verbrachten viel Zeit mit Luft- und Seebeobachtungen. Bei der Ausführung dieser Aufträge enthielten sich die Soldaten der Scherze und Neugier, die sie bei den wissenschaftlichen oder sonstigen Arbeiten an den Tag legten; vielmehr ließen die angespannten Gesichter und die schmalen Augen ihre Angst und Nervosität erkennen.
Dieses Korps war schließlich nicht hier, um Blümchen zu studieren, sondern um Deutsche zu suchen: zeitreisende Menschen, Feinde, hier inmitten der Wunder der Vergangenheit.
So stolz ich auch auf meine Leistungen beim Überleben in diesem vorsintflutlichen Zeitalter war, entledigte ich mich doch mit etlicher Erleichterung meiner Lumpen und Tierhäute und zog den leichten, bequemen Tropenanzug dieser Zeit-Soldaten an. Ich rasierte den Bart ab, wusch mich — mit warmem, sauberem Wasser und mit Seife! — und langte mit guten Hunger bei Mahlzeiten zu, die aus Sojafleisch aus der Büchse bestanden. Und nachts schlüpfte ich mit einem Gefühl des Friedens und der Sicherheit unter eine Decke aus Baumwolle und Moskitonetzen, ringsum bewacht von den mächtigen Körpern der 'Nauts.
Nebogipfel hielt sich vom Camp fern, was mich auch nicht sonderlich überraschte. Obwohl unsere Entdeckung durch Gibson ein Anlaß für Feierlichkeiten und Staunen war — war unsere Bergung doch ein Hauptziel der Expedition gewesen —, wurde der Morlock bald zum Objekt unverhüllter Faszination bei den Soldaten und, wie ich vermutete, auch gewisser subtiler Sticheleien. Also kehrte er zu unserem ursprünglichen Lager an der Küste des Urmeeres zurück. Ich erhob dagegen keine Einwände, weil ich wußte, wieviel ihm an der Fortsetzung der Konstruktion seines Zeitgerüstes lag — zu diesem Zweck borgte er sich sogar Werkzeuge vom Expeditionskorps aus. Ich bestand indessen darauf, daß er nicht allein dort blieb, sondern entweder von mir oder einem bewaffneten Soldaten begleitet wurde.
Was mich betraf, so hatte ich nach ein paar Tagen genug von dem Müßiggang in diesem betriebsamen Lager — ich neige nämlich nicht zur Untätigkeit — und bat darum, wie die anderen Soldaten auch eine Tätigkeit zugewiesen zu bekommen. Wenig später stellte ich meinen Nutzen unter Beweis, indem ich meine schmerzhaft erworbenen Kenntnisse der örtlichen Flora, Fauna und näheren Geographie weitergab. Der Krankenstand im Lager war ziemlich hoch — denn die Soldaten waren genausowenig wie ich auf die verschiedenen Infektionen dieses Zeitalters vorbereitet — und ich assistierte dem einzigen Arzt des Lagers, einem ziemlich jungen und ständig erschöpften Naik, der zu den 9th Gurkha Rifles abkommandiert worden war.
Nach dem ersten Tag sah ich wenig von Gibson, der von den Details der täglichen Operationen seines Expeditionskorps in Anspruch genommen wurde, und — zu seiner Verärgerung — von einer Menge Papierkram, Formularen, Berichten und Aufzeichnungen, die er täglich aktualisieren sollte: und das alles wegen eines Whitehall, das erst in fünfzig Millionen Jahren existieren sollte! Aber Hilary Bond hatte ziemlich viel Freizeit — sie war immer dann am meisten gefordert, wenn die großen zeitreisenden Linienschiffe durch die Jahrhunderte fuhren — und sie fungierte als meine und Nebogipfels Gastgeberin.
Eines Tages spazierten wir beide dicht an der Küste am Waldrand entlang. Bond kämpfte sich durch das dichte Unterholz. Sie humpelte zwar, aber ihr Gang war energisch und kraftvoll. Sie beschrieb mir den Fortgang des Krieges seit 1938.
»Ich hätte eigentlich gedacht, daß mit der Zertrümmerung der Kuppel das Ende gekommen wäre«, sagte ich. »Können die Menschen denn nicht erkennen — ich meine, wofür soll man danach überhaupt noch kämpfen?«
»Sie meinen, daß der Krieg danach hätte zu Ende sein müssen? O nein. Es hat wohl für eine gewisse Zeit das Leben in der Stadt beendet. Unsere Leute haben schrecklich viel abbekommen. Aber es gibt natürlich noch die Bunker — von ihnen aus wird der Krieg jetzt geführt, und dort befinden sich auch die meisten Munitionsfabriken und dergleichen. Ich glaube nicht, daß dies unbedingt ein Jahrhundert für Städte ist.«
Ich dachte an das zurück, was ich an Barbarei in der Landschaft außerhalb der Londoner Kuppel gesehen hatte, und ich versuchte mir ein ständiges Leben in einem unterirdischen Luftschutzbunker vorzustellen — vor meinem geistigen Auge erschienen Szenarien von hohläugigen und leichenblassen Kindern, die durch dunkle Tunnel streunten, und von einer Bevölkerung, die vor lauter Furcht der Selbstaufgabe und Barbarei nahe war.
»Und was ist mit dem Krieg selbst?« fragte ich. »Die Fronten — eure große Belagerung von Europa…«
Bond zuckte die Achseln. »Nun, die Schwätzmaschinen erzählen viel von großen Erfolgen, die hier und da eingetreten sein sollen: Ein Letzter Vorstoß — so etwas in der Art.« Sie senkte die Lautstärke ihrer Stimme. »Aber — und wir können das ruhig hier erörtern — auch bei Nachteinsätzen, im Schein der Explosionen, sehen die Flugzeugbesatzungen einen Teil von Europa, wissen Sie, und es spricht sich ja auch herum. Ich glaube jedenfalls nicht, daß sich diese Stellungen seit 1935 auch nur einen Zoll im Schlamm verschoben haben. Wir stecken fest.«
»Ich kann mir nicht mehr vorstellen, wofür ihr überhaupt noch kämpft. Die Länder sind doch alle schon mehr oder weniger zerschlagen, industriell und wirtschaftlich. Ich glaube kaum, daß von einem noch eine Bedrohung für die anderen ausgehen kann; und es können auch keine Aktiva mehr existieren, die zu erbeuten sich lohnen würde.«
»Vielleicht stimmt das«, gab sie zu. »Ich glaube nicht, daß Großbritannien noch so stark ist, das zerstörte Land wieder aufzubauen, wenn der Krieg erst einmal vorbei ist. Wir werden für lange Zeit keine Eroberungsfeldzüge mehr durchführen können! Und angesichts der jetzigen Pattsituation müssen sich die Dinge aus der Sicht Berlins ähnlich darstellen.«
»Warum dann noch weitermachen?«
»Weil wir es uns nicht leisten können, aufzuhören.« Unter der Bräune, die sie in diesem urzeitlichen Paläozän erworben hatte, erkannte ich noch Spuren von Bonds alter, erschöpfter Blässe. »Es kursieren alle möglichen Berichte — soweit ich das beurteilen kann, sind manche nur Gerüchte, manche schon substantieller — von technischen Entwicklungen der Deutschen…«
»Technische Entwicklungen? Sie meinen wohl Waffen.«
Darauf blieb sie mir die Antwort schuldig.
Wir entfernten uns vom Wald und näherten uns dem Strand. Die heiße Luft brannte in meinem Gesicht, und wir ließen die Absätze unserer Stiefel vom Wasser umspülen.
Ich versuchte mir das Europa von 1944 vorzustellen: die zerstörten Städte, und, von Holland bis zu den Alpen, Millionen von kriechenden und liegenden Menschen, die einander irreparablen Schaden zuzufügen versuchten… In diesem tropischen Frieden schien das alles so absurd — ein Fiebertraum!
»Aber was sollte wohl noch entwickelt werden«, wandte ich ein, »das noch mehr Schaden als den ohnehin schon verursachten anrichten könnte?«
»Man spricht von Bomben. Eine neue Art — stärker als alles bisher Dagewesene… Mit Carolinum gefüllte Bomben, heißt es.« Ich erinnerte mich an Wallis' diesbezügliche Spekulationen von 1938. »Und dann gibt es natürlich noch«, ergänzte Bond, »die Zeitverschiebungs-Kriegsführung.
Sie sehen ein, daß wir den Kampf nicht einstellen können, wenn die Deutschen dadurch ein Monopol auf eine solche Waffe bekämen.« In ihrer Stimme schwang ein Unterton ruhiger Verzweiflung mit. »Das begreifen Sie doch, oder? Deshalb auch diese hektischen Bemühungen, Atomreaktoren zu bauen, Carolinum zu gewinnen und mehr Plattnerit zu erzeugen… deshalb sind auch solche Mittel und Ressourcen in diese zeitreisefähigen Großkampffahrzeuge investiert worden.«
»Und alles nur, um einen Sprung in die Vergangenheit zu machen und den Deutschen zuvorzukommen? Sie zu vernichten, bevor sie die Gelegenheit erhalten, euch zu vernichten?«
Sie schob das Kinn vor und setzte einen trotzigen Blick auf. »Oder den Schaden zu beheben, den sie anrichten. So kann man es nämlich auch betrachten, stimmt's? Wir haben unseren Plattnerit-Detektor…«
Mit diesem Instrument pirschte die Zeitexpedition zurück in die Vergangenheit und spähte in den flackernd verstreichenden Tagen nach Spuren von Nebogipfel und mir bzw. anderen, übleren Zeitreisenden.
Ich ersparte mir, was Nebogipfel sicher nicht getan hätte, einen Kommentar zu der letztendlichen Sinnlosigkeit dieser Suche; denn es war klar, daß die Philosophen des Jahres 1944 im Gegensatz zu mir, der ich den Morlock als Mentor gehabt hatte, noch nichts von dem Konzept der Multiplizität der Geschichte wußten.
»Doch selbst in diesem Fall«, entgegnete ich, »ist die Vergangenheit ein weiträumiger Ort. Wie konntet ihr wissen, daß es uns hierher verschlagen würde — wie konntet ihr hier bei uns landen, mit dieser absoluten Präzision?«
»Wir hatten Hinweise«, erklärte sie.
»Welche Art von Hinweisen? Sie meinen die im Imperial zurückgebliebenen Trümmer?«
»Zum Teil. Aber auch archäologische Spuren.«
»Archäologische? «
Sie schaute mich recht verschmitzt an. »Schauen Sie. Ich weiß nicht, ob Sie das jetzt hören wollen…«
Das weckte natürlich erst recht meine Neugier! Ich bestand darauf, daß sie es mir erzählte.
»Sehr gut. Sie — die Eierköpfe — kannten die ungefähre Position, von der aus Sie in die Vergangenheit aufgebrochen waren — auf dem Campus des Imperial College natürlich — und so begannen sie eine intensive archäologische Untersuchung des Areals. Ausgrabungen wurden durchgeführt…«
»Gütiger Himmel«, sagte ich. »Ihr habt nach meinen versteinerten Knochen gesucht!«
»Und denen von Nebogipfel. Man ging davon aus, daß wir euch beim Auftreten irgendwelcher Anomalien — Knochen oder Werkzeuge — anhand euer Lage in der jeweiligen Schicht ziemlich genau lokalisieren könnten…«
»Und seid ihr fündig geworden? Hilary…« Sie wollte sich wieder nicht äußern, und ich mußte auf einer Antwort bestehen.
»Sie haben einen Schädel gefunden.«
»Menschlich?«
»So in etwa.« Sie zögerte. »Klein und ziemlich deformiert — in einer Schicht, die fünfzig Millionen Jahre zu alt war, als daß dort irgendwelche menschliche Überreste hätten sein dürfen — und sauber in zwei Hälften getrennt.«
Klein und deformiert — das konnte nur Nebogipfel gewesen sein! Konnte das aus seiner Begegnung mit dem Pristichampus resultieren — aber in einer anderen Geschichte, in der Gibson nicht interveniert hatte?
Und befanden sich meine Knochen vielleicht, zermalmt und versteinert, in einer benachbarten, unentdeckten Lagerstelle?
Mich fröstelte, trotz der Sonnenhitze auf Rücken und Kopf. Plötzlich schien diese paradiesische Welt des Paläozäns zu verschwimmen — ein transparenter Schemen, durch den das gnadenlose Licht der Zeit fiel.
»Dann haben Sie also Spuren von Plattnerit gefunden, und uns gleich dazu«, resümierte ich. »Aber ich kann mir vorstellen, daß Sie enttäuscht waren, nur mich zu finden — schon wieder! — und keine Horde kriegerischer Preußen. Aber — schauen Sie — können Sie denn nicht erkennen, daß hier eine gewisse Paradoxie vorliegt?
Ihr entwickelt eure Zeit-Linienschiffe, weil ihr befürchtet, daß die Deutschen das gleiche tun. Sehr schön. Aber die Situation weist eine Symmetrie auf: von ihrem Standpunkt müssen die Deutschen befürchten, daß ihr zuerst eine solche Zeitmaschine entwickelt. Jede Seite verhält sich exakt so, daß sie bei ihrem Gegner die schlimmste Reaktion provoziert. Und so schlittern beide Seiten in die für uns alle schlimmste Situation.«
»Das mag so sein«, gab Bond zu. »Aber die Deutschen im Besitz der Zeittechnologie wären eine Katastrophe für die Sache der Alliierten. Diese Expedition hat den Auftrag, deutsche Zeitreisende aufzuspüren und zu verhindern, daß die Deutschen die Geschichte beschädigen.«
Ich warf die Hände in die Luft, und Paläozän-Wasser floß um meine Knöchel. »Aber — verdammt, Hauptmann Bond — es sind fünfzig Millionen Jahre bis zur Geburt Christi! Welche Bedeutung könnte denn dieser Eintagsfliegen-Krieg zwischen England und Deutschland — in einer derart entfernten Zukunft — hier haben?«
»Wir können nicht nachgeben«, beharrte sie mit grimmiger Erschöpfung. »Begreifen Sie das denn nicht? Wir müssen die Deutschen jagen, bis zum Ursprung der Schöpfung — wenn nötig.«
»Und wo wird dieser Krieg enden? Wollt ihr die ganze Ewigkeit aufzehren, bevor ihr endlich Ruhe gebt? Seht ihr nicht, daß das…« — ich machte eine ausladende Geste, um diese fürchterliche Zukunft aus zerstörten Städten und in unterirdischen Bunkern zusammengepferchten Menschen zu verdeutlichen — »daß das alles — einfach unmöglich ist? Oder wollt ihr weitermachen, bis noch zwei Menschen übrig sind — nur noch zwei — und der letzte sich seinem Nachbarn zuwendet und ihm mit einem Ziegelstein das Gehirn aus dem Schädel klopft? Oder was?«
Bond wandte sich ab — das vom Meer reflektierte Licht konturierte schonungslos die Falten ihres Gesichts — und sie sagte nichts.
Diese Phase der Ruhe, nach unserer ersten Begegnung mit Gibson, dauerte fünf Tage.
Es war der Mittag eines wolkenlosen, strahlenden Tages, und ich hatte den Morgen damit verbracht, meine amateurhaften medizinischen Talente in den Dienst des Gurkha-Doktors zu stellen. Mit einiger Erleichterung akzeptierte ich Hilarys Einladung, sie auf einem weiteren Spaziergang zum Strand zu begleiten.
Mühelos durchquerten wir den Urwald — die Soldaten hatten in der Zwischenzeit ordentliche Pfade angelegt, die strahlenförmig vom Hauptlager wegführten — und als wir den Strand erreichten, entledigte ich mich meiner Stiefel und Socken, deponierte sie am Waldsaum und lief zum Wasser hinunter. Hilary Bond zog ihr Schuhwerk ebenfalls aus und stapelte es zusammen mit ihrer Pistole auf dem Sand. Sie rollte die Hosenbeine hoch — ich sah die Verunstaltung ihres linken Beins, dessen Haut durch eine alte Brandverletzung zusammengeschrumpft war — und watete hinter mir in die schaumige Brandung.
Ich zog das Hemd aus (in diesem Waldlager achteten weder Männer noch Frauen groß auf die Etikette) und tauchte Kopf und Oberkörper in das klare Wasser, wobei ich nicht darauf achtete, daß die Hosenbeine durchnäßt wurden. Ich atmete tief ein und ließ das alles auf mich einwirken: die Hitze der auf meinem Gesicht prickelnden Sonne, das Glitzern des Wassers, der weiche Sand zwischen den Zehen und der scharfe Geruch nach Salz und Ozon.
»Ich sehe, daß es Ihnen hier gefällt«, stellte Hilary mit einem toleranten Lächeln fest.
»Ja, es gefällt mir hier.« Ich erzählte ihr davon, wie ich dem Doktor assistiert hatte. »Sie wissen, daß ich bereit bin — sogar mehr als das — zu helfen. Aber um zehn Uhr war mein Kopf schon so schwer von dem Gestank nach Chloroform, Äther und diversen antiseptischen Flüssigkeiten — und von rustikaleren Gerüchen! — daß…«
Sie hielt die Hände hoch. »Ich verstehe.«
Wir gingen zurück an Land, und ich trocknete mich mit meinem Hemd ab. Hilary nahm wieder ihre Waffe an sich, aber wir ließen unsere Stiefel am Strand und gingen an der Wasserlinie entlang. Nach ein paar dutzend Yards machte ich die niedrigen Vertiefungen aus, die auf die Existenz von corbicula hindeuteten — diese Bohrmuscheln, die den Strand in ungeheuren Mengen bevölkerten. Wir hockten uns in den Sand, und ich zeigte ihr, wie man die kompakten kleinen Lebewesen ausgrub. Nach wenigen Minuten hatten wir einen ordentlichen Hügel aufgeschüttet, und ein Haufen Muscheln trocknete in der Sonne.
Als sie die Muscheln mit der Faszination eines Kindes ausgrub, strahlte Hilary, deren kurzes Haar durch das Wasser am Kopf klebte, über das ganze Gesicht vor Freude über ihre banale Leistung. Wir waren allein am Strand — überhaupt hätten wir die einzigen Menschen in dieser ganzen Welt des Paläozäns sein können —, und ich spürte jede Schweißperle auf der Kopfhaut und das Reiben jedes Sandkorns an den Schienbeinen. Und das alles wurde überlagert von der animalischen Wärme der Frau neben mir; es war, als ob die Multiplen Welten, die ich bereist hatte, in diesen einen Augenblick der Lebendigkeit kollabiert wären — ins Hier und Jetzt.
Ich wollte Hilary diese Empfindungen irgendwie vermitteln. »Wissen Sie…«
Aber sie richtete sich auf und blickte auf das Meer hinaus. »Hören Sie?«
Verwirrt blickte ich mich um, zum Waldrand, dem plätschernden Wasser, der weiten Leere des Himmels. Die einzigen Geräusche kamen von dem Rauschen einer sanften Brise im Blätterdach und dem leisen Gurgeln der ans Ufer spülenden kleinen Wellen. »Was soll ich hören?«
Ihr Gesichtsausdruck war hart und mißtrauisch geworden — das Gesicht eines Soldaten, intelligent und wachsam. »Einmotorig«, diagnostizierte sie mit augenscheinlicher Konzentration. »Das ist ein Daimler-Benz DB — ein Zwölfzylinder, glaube ich…« Sie sprang auf und schirmte die Augen ab, indem sie die Hände an die Augenbrauen preßte.
Und dann hörte ich es auch, als meine älteren Ohren ansprachen. Es war ein entferntes Brummen — wie ein großes fernes Insekt — das von See auf uns zu kam.
»Schauen Sie«, sagte Hilary und streckte einen Arm aus. »Dort draußen. Sehen Sie es?«
Ich folgte der Richtung von Hilarys Arm und wurde mit einem flüchtigen Anblick belohnt: eine Verzerrung, die weit im Osten über dem Meer hing. Es war ein Flecken der Andersartigkeit — ein Flecken nicht größer als der Vollmond, eine Art funkelnder, grünlich schimmernder Spiegelung.
Dann hatte ich den Eindruck von etwas Festem in seiner Mitte, das sich verdichtete und rotierte — und dann erschien ein konturierter, dunkler kreuzförmiger Schatten, der sich im Tiefflug aus dem Himmel schälte — von Osten, aus der Richtung des noch nicht existierenden Deutschland. Dieses brummende Geräusch wurde immer lauter.
»Mein Gott«, sagte Hilary. »Es ist eine Messerschmitt — ein Adler; sieht aus wie eine Bf 109F…«
»Messerschmitt… Das ist ein deutscher Name«, erwiderte ich ziemlich einfältig.
Sie sah mich an. »Natürlich ist es ein deutscher Name. Verstehen Sie denn nicht?«
»Was?«
»Das ist ein deutsches Flugzeug. Es ist die Zeitmaschine, die uns aufspüren soll!«
Während es sich der Küste näherte, wendete das Flugzeug in der Luft, wie eine Möwe im Flug, und begann parallel zur Küstenlinie zu fliegen. Es fegte laut über uns hinweg, und noch dazu so schnell. Hilary und ich warfen uns in den Sand und verfolgten seinen Kurs; es flog über unsere Köpfe hinweg, keine hundert Fuß hoch.
Die Maschine war etwa dreißig Fuß lang; von Flügelspitze zu Flügelspitze maß sie vielleicht etwas mehr. An ihrer Nase wirbelte ein Propeller, der durch die Geschwindigkeit verschwommen wirkte. Die Unterseite des Flugzeuges war blaugrau gefleckt, und die Oberseite wies einen braunen und grünen Tarnanstrich auf. Große schwarze Kreuze an Rumpf und Flügeln bezeichneten die Herkunft der Maschine, und auf der lackierten Haut befanden sich noch mehr bunte militaristische Zeichnungen: ein Adlerkopf, ein nach oben weisendes Schwert und so weiter. Die Unterseite war ziemlich glatt, außer der einzigen Last des Flugzeugs: eine tropfenförmige Masse aus Metall mit einer Länge von etwa sechs Fuß, die mit dem allgegenwärtigen Blau gestrichen war.
Einige Augenblicke standen Bond und ich da, betäubt von dieser plötzlichen Erscheinung wie von einer religiösen Heimsuchung.
Der in mir vergrabene, begeisterungsfähige junge Mann — der Schatten des armen, verlorenen Moses — geriet angesichts dieser eleganten Maschine in Verzückung. Welch ein Abenteuer für diesen Piloten! Welch eine grandiose Aussicht! Und welch eines außerordentlichen Mutes es bedurft haben mußte, diese Maschine in die rauchverhangene Luft des Deutschland von 1944 zu schwingen — dieses Flugzeug so hoch steigen zu lassen, daß die Landschaft im Herzen Europas zu einer Art Landkarte reduziert wurde, eine strukturierte Tischplatte, die mit Sand und Meer und Wald bedeckt war, und mit winzigen, puppengleichen Menschen — und dann den Schalter umzulegen, der die Maschine durch die Zeit beförderte. Ich stellte mir vor, wie die Sonne wie ein Meteor über das Schiff ziehen würde, während unten der Bug, die Landschaft, von der Zeit umgestaltet wurde, immer wieder zerfloß und sich neu formierte…
Dann neigten sich die glitzernden Flügel erneut, und der Lärm des Propellers stürzte auf uns herab. Dann zog die Maschine hoch und verschwand, über den Wald und in Richtung des Expeditionskorps.
Hilary rannte den Strand hinauf, wobei ihr Humpeln asymmetrische Krater im Sand hinterließ.
»Wo wollen Sie hin?«
Sie erreichte ihre Stiefel und schlüpfte hastig hinein, ohne vorher die Strümpfe angezogen zu haben. »Ins Lager natürlich.«
»Aber…« Ich starrte auf unseren kleinen traurigen Hügel aus Muscheln. »Aber Sie können doch nicht mit dieser Messerschmitt mithalten. Was werden Sie tun?«
Sie nahm ihre Pistole und richtete sich auf. Sie schaute mich nur ausdruckslos an. Dann drehte sie sich um, stapfte durch die Palmenschößlinge, die den Waldrand säumten, und verschwand im Schatten der Dipterocarps.
Das Geräusch des Messerschmitt-Flugzeugs verklang allmählich und wurde vom Blätterdach des Waldes verschluckt. Ich war allein am Strand, mit den Muscheln und dem Plätschern der Brandung.
Es wirkte alles ziemlich irreal: Krieg, in diese Idylle im Paläozän importiert? Ich verspürte keine Furcht — nur ein Gefühl bizarrer Entrücktheit.
Ich schüttelte die Starre ab und schickte mich an, Bond in den Wald zu folgen.
Ich war noch nicht einmal bei meinen Stiefeln angekommen, als eine dünne, fließende Stimme über den Sand zu mir herüberdrang: »…Nein!… geh zum Wasser… nein!…«
Es war Nebogipfel: der Morlock taumelte durch den Sand auf mich zu, wobei seine improvisierte Krücke eine Reihe tiefer, kleiner Gruben hinterließ. Als er herantorkelte, sah ich, daß seine Gesichtsmaske an einer Seite lose herumbaumelte.
»Was ist? Siehst du denn nicht, was los ist? Die Zeitmaschine …«
»Das Wasser.« Er stützte sich auf die Krücke, so schlaff wie eine Stoffpuppe, und sein Keuchen ging stoßweise durch den ganzen Körper. Das Schnaufen hatte sich so verstärkt, daß seine Worte kaum noch zu verstehen waren. »Das Wasser… wir müssen ins…«
»Wir haben jetzt keine Zeit zum Baden, Mann!« blaffte ich indigniert. »Siehst du denn nicht…«
»Verstehst nicht«, keuchte er. »Du. Du verstehst nicht… Komm…«
Konsterniert drehte ich mich um und überblickte den Wald. Da konnte ich die schemenhafte Form der Zeitmaschine erkennen, die über den Baumwipfeln dahinjagte, wobei ihr grüner und blauer Anstrich einen lebhaften Kontrast zu den Blättern bildete. Ihre Geschwindigkeit war außerordentlich, und ihr entferntes Geräusch klang wie das zornige Brummen eines Insekts.
Dann hörte ich das stakkatoartige Belfern von Artilleriegeschützen und das Pfeifen von Granaten.
»Sie schlagen zurück«, sagte ich zu Nebogipfel, elektrisiert von diesem Streiflicht des Krieges. »Begreifst du? Die Flugmaschine hat das Expeditionskorps offensichtlich ausgemacht, aber sie beschießen es mit ihren Geschützen…«
»Das Meer«, meinte Nebogipfel nur. Mit Fingern, die so schwach waren wie die eines Babies, zupfte er an meinem Ärmel, und diese Geste war so unmittelbar, so flehend, daß ich meine Augen einfach von dem Luftkampf loßreißen mußte. Hinter der groben Maske waren seine Augen nur als Schlitze zu erkennen, und der Mund war eine nach unten gezogene, zitternde Öffnung. »Das ist der einzige Schutz, der nahe genug ist. Es könnte genug sein…«
»Schutz? Das Gefecht ist mehr als zwei Meilen entfernt. Wie könnten wir dann verletzt werden, wenn wir nur auf diesem leeren Strand stehen?«
»Aber die Bombe… die Bombe, die der Deutsche hat; hast du sie denn nicht gesehen?…« Sein Haar klebte feucht an dem schmalen Schädel. »Die Bomben dieser Historie sind zwar nicht sehr weit entwickelt — wenig mehr als Brocken reinen Carolinums, die mit unoxidiertem Cydonator-Zündstoff beschichtet und in einem hermetisch abgedichteten Membraniummantel eingeschlossen sind… Aber trotzdem sind sie noch effektiv genug.
Es gibt nichts, was du für die Expedition noch tun könntest! — nichts mehr… Wir müssen warten, bis die Schlacht zu Ende ist.« Er starrte zu mir hoch. »Begreifst du das? Komm!« sagte er und zog mich wieder am Arm. Er hatte die Krücke fallenlassen und stützte sich an meinem Arm ab.
Wie ein Kind ließ ich mich von ihm ins Wasser führen.
Bald waren wir bei einer Tiefe von vier Fuß angelangt. Das Wasser reichte dem Morlock bis zu den Schultern; er forderte mich auf, in die Hocke zu gehen, so daß auch ich mehr oder weniger vom Wasser bedeckt wurde.
Über dem Wald wendete die Messerschmitt und setzte zu einem neuen Anflug an, wobei sie wie ein Raubvogel aus Metall und Öl über die Bäume fegte; die Artilleriegeschütze feuerten brüllend auf die Zeitmaschine, und die Granaten zerplatzten in Rauchwolken, die sich in der Luft des Paläozäns verloren.
Ich gestehe, daß mich dieser Luftkampf in seinen Bann zog — der erste, den ich jemals erlebt hatte. In meinem Kopf überschlugen sich die Visionen ausgedehnter Luftkämpfe, mit denen 1944 der Himmel über Europa angefüllt gewesen sein mußte: Ich sah Männer, die in den Himmel stürmten und töteten und wie Erzengel fielen; ich sah Helden auf die erstaunte Erde regnen. Das war die Apotheose des Krieges, dachte ich naiv: was war der dumpfe Schlagabtausch von Schwertkämpfern, das Aufeinanderprallen von Streitwagen — und noch viel weniger der Dreck und Schmutz der Schützengräben — gegen diesen hehren Triumph, diesen rasenden Flug zu Ruhm oder Tod?
Nun schraubte sich die Messerschmitt fast träge aus den Flugbahnen der explodierenden Granaten und begann zu steigen. Im Scheitelpunkt dieses Manövers schien sie — nur für einen Moment — Tausende von Fuß reglos über der Erde zu schweben.
Dann sah ich, wie die Bombe — dieser tödliche blaue Metallbehälter — von ihrem Träger ausgeklinkt wurde und ihren Fall zur Erde begann.
Eine einzelne Granate stieg über den Wald empor und schlug ein Loch in den Flügel der fliegenden Maschine. Flammen loderten auf, und die Zeitmaschine schmierte in grotesken Schleifen ab, eingehüllt in Rauch.
Ich stieß einen Jubelschrei aus. »Gut getroffen! Nebogipfel — hast du das gesehen?«
Aber der Morlock hatte einen Arm aus dem Wasser gestreckt und drückte mit seiner weichen Hand auf meinen Kopf. »Runter!«, befahl er. »Geh unter Wasser!«
Das letzte, was ich von dem Kampf sah, war die Rauchspur, die den Pfad der trudelnden Messerschmitt markierte — und dann im Vordergrund einen aufleuchtenden Stern, der fast zu hell war, als daß man hätte hinsehen können: die explodierende Bombe.
Ich drückte den Kopf unter Wasser.
Schlagartig wurde das liebliche Licht des Paläozäns ausgeblendet.
Ein purpurrotes Lodern überflutete die Luft über der Wasseroberfläche. Ein ohrenbetäubendes Geräusch schlug über mir zusammen: das Krachen einer heftigen Explosion, das jedoch von einem Brüllen und vom Geräusch des Zertrümmerns und Zerfetzens überlagert wurde. Dieses ganze Szenario wurde zwar durch die paar Zoll Wasser über mir gefiltert, war aber immer noch so laut, daß ich die Hände auf die Ohren pressen mußte; ich schrie auf, und Luftblasen entwichen aus meinem Mund und glitten an meinem Gesicht vorbei.
Das anfängliche Krachen verschwand, aber das Brüllen hielt an. Bald ging mir die Luft aus, und ich mußte mit dem Kopf über Wasser. Ich schnappte nach Luft und schüttelte Wasser aus den Augen.
Der Lärm war ohrenbetäubend. Das vom Wald kommende Licht war zu grell, als daß ich hätte hinschauen können, aber meine geblendeten Augen hatten die Wahrnehmung eines großen roten Feuerballs, der inmitten des Waldes fast wie ein Lebewesen umherzuwirbeln schien. Die Bäume um dieses pirouettendrehende Feuer waren wie Kegel gefallen, und große Trümmer zerborstener Dipterocarps waren wie Streichhölzer angehoben und durch die Luft geschleudert worden. Ich sah, wie Tiere in wilder Flucht vor dem Feuersturm aus dem Forst taumelten: eine Diatryma-Familie torkelte in Panik mit zerrupftem und versengtem Federkleid auf das Wasser zu; und dort stampften die behuften Füße eines Pristichampus, eines stattlichen, ausgewachsenen Exemplars, durch den Sand.
Und jetzt schien der Feuerball die nackte Erde selbst anzugreifen, als ob er sich in sie eingraben wollte. Aus dem Herzen des zerschmetterten Waldes wurden Wolken dichten fluoreszierenden Dampfes und Felsentrümmer weithin umhergeschleudert; sie alle waren offensichtlich mit Carolinum gesättigt, denn jedes Fragment war ein Zentrum sengender und knisternder Energie, so daß man glauben konnte, die Entstehung einer Familie Miniatursterne zu beobachten.
Jetzt brach im Herzen des Waldes als Reaktion auf die göttergleiche, zerstörerische Berührung des Carolinums ein riesiges, loderndes Feuer aus; die Flammen schlugen Hunderte von Fuß in die Luft und vereinigten sich über dem Epizentrum der Explosion zu einem strahlenden Lichtkegel. Eine mit herumfliegenden Trümmerfragmenten gesättigte Rauch- und Aschewolke begann sich wie eine Gewitterwolke über dem Feuer zu formen. Und durch dieses Inferno stieß wie eine Faust aus Licht eine Säule kritisch erhitzten Dampfes, der aus dem von der Carolinumbombe geschlagenen Krater aufstieg, eine wie von einem Miniatur-Vulkan von unten rot angestrahlte Säule.
Nebogipfel und ich konnten nicht mehr tun, als solange wie möglich unter Wasser zu bleiben, und in den Intervallen, in denen wir zum Luftholen an die Oberfläche mußten, die Arme über den Kopf zu halten, um sie vor herabfallenden, versengten Trümmerstücken zu schützen.
Nach etlichen Stunden befand es Nebogipfel schließlich für sicher, wieder an Land zu gehen.
Ich war erschöpft, meine Glieder schwer vom Wasser. Auf Gesicht und Hals brannte der Sonnenbrand, und ich hatte einen höllischen Durst; doch selbst in diesem Zustand war ich noch gezwungen, den Morlock den größten Teil der Strecke bis zur Küste zu tragen, denn seine geringen Kräfte hatten ihn schon lange vor dem Ende unserer Qual verlassen.
Nur wenig erinnerte den Strand noch an den schönen Ort, an dem ich nur wenige Stunden zuvor mit Hilary Muscheln gesucht hatte. Der Sand war mit Trümmern aus dem Wald übersät — das meiste abgerissene Äste und Fragmente von Baumstämmen, von denen einige noch schwelten — und schlammige Rinnsale wanden sich durch den umgepflügten Boden. Die vom Wald ausgestrahlte Hitze war noch immer unerträglich — an vielen Stellen brannten Feuer — und das unheilvolle, purpurrote Glühen der Carolinum-Säule illuminierte das aufgewühlte Gewässer. Ich stolperte an einem versengten Leichnam vorbei, der wohl ein Diatryma-Junges sein mußte, und dann stieß ich auf einen ziemlich unversehrten Sandflecken. Ich beseitigte die hier niedergegangene Ascheschicht und setzte den Morlock auf der Erde ab.
Ich gelangte zu einem kleinen Bächlein und schöpfte mit den Händen Wasser. Die Flüssigkeit war lehmig und mit schwarzem Ruß durchsetzt — der Bach war von der verbrannten Materie von Bäumen und Tieren verschmutzt —, aber mein Durst war so groß, daß ich keine andere Wahl hatte, als es herunterzuschlucken, in großen, schmutzigen Portionen.
»Gut«, sagte ich dann, wobei meine Stimme durch den Rauch und die Anstrengungen zu einem Krächzen reduziert wurde, »das ist nun wirklich eine verdammt ekelhafte Angelegenheit. Die Menschen halten sich nicht einmal ein Jahr im Paläozän auf… und schon — dies hier!«
Nebogipfel bewegte sich. Er versuchte, die Arme unter sich zu schieben, konnte aber kaum das Gesicht aus dem Sand erheben. Er hatte seine Gesichtsmaske verloren, und die großen, weichen Lider seiner empfindlichen Augen waren sandverkrustet. Ich verspürte irgendwie ein zärtliches Gefühl. Erneut war dieser beklagenswerte Morlock gezwungen worden, die Schrecken des Krieges zwischen den Menschen zu erdulden — zwischen Angehörigen meiner eigenen, schäbigen Rasse — und hatte infolgedessen leiden müssen.
So vorsichtig, als ob ich ein Kind aufheben würde, hob ich ihn aus dem Sand, drehte ihn um und setzte ihn auf; seine Beine baumelten dabei wie Seile. »Nimm's nicht so schwer, alter Freund«, munterte ich ihn auf. »Du bist in Sicherheit.«
Sein blinder Kopf schwenkte zu mir herum, wobei sein unversehrtes Auge stark tränte. Er murmelte etwas vor sich hin.
»Was?« Ich beugte mich zu ihm hinunter, um ihn zu verstehen. »Was sagst du?«
Er verfiel in Englisch, »…nicht sicher…«
»Was?«
»Wir sind hier nicht sicher — überhaupt nicht…«
»Aber warum? Das Feuer kann uns jetzt nicht mehr erreichen.«
»Nicht das Feuer …die Strahlung… Selbst wenn das Glühen erloschen ist… in Wochen oder Monaten, werden die strahlenden Partikel noch immer wirksam sein… die Strahlung wird sich in den Körper fressen… Dies ist kein sicherer Ort.«
Ich legte meine Hand auf seine schmale, papierene Wange; und in diesem Moment — mit dem Sonnenbrand, völlig ausgedörrt vor Durst — hätte ich am liebsten alles hingeschmissen und mich trotzdem auf diesen verseuchten Strand gesetzt, ungeachtet des Feuers, der Bomben und strahlenden Partikel: mich hinsetzen und darauf warten, daß mich die letztendliche Dunkelheit umfing. Aber ein letzter Rest meiner alten Stärke gab mir die Kraft, Besorgnis für den geschwächten Zustand des Morlocks aufzubringen.
»Dann«, meinte ich, »werden wir eben von hier weggehen und einen geeigneten Lagerplatz suchen.«
Ich ignorierte die von der aufgerissenen Haut an den Schultern und im Gesicht verursachten Schmerzen, schob die Arme unter seinen schlaffen Körper und hob ihn auf.
Es war erst später Nachmittag, aber schon senkte sich Dunkelheit über das Land. Nach etwa einer Meile hatten wir uns so weit vom Explosionszentrum entfernt, daß der Himmel rauchfrei war, aber die rötliche Säule über dem Carolinum-Krater erhellte den sich verdunkelnden Himmel fast so, wie die Aldis-Lampen die Londoner Kuppel erleuchtet hatten.
Ich erschrak beim Anblick eines Pristichampus, der aus dem Waldrand brach. Das gelbweiße Maul der Bestie stand weit offen, um dem Tier Kühlung zu verschaffen, und ich sah, daß es auf einem Bein ziemlich schlimm humpelte; es schien fast blind und zu Tode erschreckt zu sein.
Der Pristichampus stolperte an uns vorbei und floh, wobei er gespenstisch schrie.
Ich spürte wieder sauberen Sand unter den Füßen und roch den vollen Salzgehalt des Meeres, dessen Gischt mir den Gestank nach Rauch und Asche vom Kopf wusch. Die Oberfläche des Ozeans glänzte im Carolinum-Licht, ungerührt von der Dummheit der Menschen; und ich dankte diesem geduldigen Meer — denn die See hatte mich beschützt, mir das Leben gerettet, während sich meine Mitmenschen in Stücke gerissen hatten.
Dieser verträumte Spaziergang wurde von einem entfernten Ruf unterbrochen.
»Halloo…«
Der Ruf kam vom Strand, und vielleicht vierhundert Yards von mir entfernt machte ich eine winkende Gestalt aus, die auf mich zuhielt.
Für einen Moment stand ich völlig bewegungsunfähig da. Ich hatte nämlich in irgendeinem morbiden Winkel meiner Seele vermutet, daß alle Mitglieder des Zeitexpeditionskorps in der Atomexplosion umgekommen waren und daß Nebogipfel und ich wieder allein in der Zeit gestrandet waren.
Es war ein Soldat, der sich offenbar weit genug von dem Schauplatz entfernt aufgehalten hatte; er war mit dem obligatorischen olivgrünen Twillhemd bekleidet, einem jagdgrünen Filzhut und einer Hose mit Fußschlaufe. Er hatte ein leichtes Maschinengewehr bei sich und lederne Munitionstaschen umgeschnallt. Er war groß, spindeldürr und rothaarig; und er kam mir bekannt vor. Ich hatte keine Ahnung, wie ich aussah: fürchterlich derangiert, konnte ich mir vorstellen, mit versengtem und geschwärztem Gesicht und Haar, weiß hervorstechenden Augen, nur mit einer Hose bekleidet und mit dem nichtmenschlichen Morlock-Bündel im Arm.
Der Soldat schob den Hut zurück. »Das ist ja eine schöne Bescherung, Sir.« Er hatte den abgehackten, teutonischen Akzent, wie er im Nordosten Englands vorherrschte.
Ich erinnerte mich an ihn. »Stubbins, richtig?«
»Das ist richtig, Sir.« Er wandte sich um und deutete in Richtung Strand. »Ich habe diese Strecke kartiert. War etwa sechs Meilen entfernt, als der Deutsche über das Wasser reinkam. Als ich diese große Feuersäule aufsteigen sah — nun, da wußte ich, was los war.« Er blickte unsicher in Richtung des einstigen Feldlagers.
Ich verlagerte mein Gewicht und versuchte, die Müdigkeit zu verbergen. »Aber ich sollte wohl noch nicht wieder zum Lager zurückgehen. Das Feuer brennt noch — und Nebogipfel warnt vor Strahlungsemissionen.«
»Wer?«
Statt zu antworten, hob ich Nebogipfel etwas an.
»Oh, er.« Stubbins kratzte sich am Hinterkopf.
»Es gibt nichts, was Sie tun könnten, Stubbins — noch nicht.«
Er seufzte. »Nun denn, Sir, was sollen wir sonst tun?«
»Ich glaube, daß wir ein Stück den Strand entlanggehen und irgendwo einen Schutz für die Nacht suchen sollten. Ich vermute, daß wir sicher sind — ich bezweifele, daß auch nur ein Tier des Paläozäns so unklug sein wird, sich heute nacht mit Menschen anzulegen — nach all dem, was passiert ist —, aber wir sollten vielleicht ein Feuer machen. Haben Sie Streichhölzer, Stubbins?«
»O ja, Sir.« Er schlug gegen seine Brusttasche, und eine Schachtel rasselte. »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen.«
»Werde ich nicht.«
Ich nahm meinen Marsch den Strand entlang wieder auf, aber die Arme schmerzten böse, und die Beine begannen allmählich zu zittern. Stubbins registrierte meine Befindlichkeit, und mit stillem Entgegenkommen hängte er sich das Maschinengewehr über den breiten Rücken und nahm mir den bewußtlosen Morlock aus den Armen. Er verfügte über eine drahtige Kraft und empfand Nebogipfel anscheinend nicht als Last.
Wir marschierten, bis wir am Waldrand eine geeignete Senke fanden, und dort schlugen wir unser Nachtlager auf.
Der Morgen dämmerte frisch und klar. Ich wachte vor Stubbins auf. Nebogipfel war noch immer bewußtlos. Ich ging über den Strand zur Wasserlinie hinunter. Die Sonne ging über dem Ozean auf und wärmte bereits kräftig. Ich vernahm das Klicken und Trillern der Dschungelfauna, die schon ihren kleinen Verrichtungen nachging; und eine glatte schwarze Form — ich hielt sie für einen Rochen — glitt einige hundert Yards vom Land entfernt durch das Wasser.
In diesen ersten Augenblicken des neuen Tages kam es mir so vor, als ob meine Welt des Paläozäns so lebendig und unberührt war wie vor dem Eintreffen von Gibson und seiner Expedition. Doch diese purpurne Feuersäule stach noch immer tausend Fuß oder noch höher aus der zentralen Wunde im Wald. Flammende Brocken — Fragmente aus geschmolzenem Felsen und Erdreich — wurden an den Flanken dieser Säule aufgewirbelt und beschrieben parabelförmige Flugbahnen. Und über allem hing noch immer ein Pilz aus Staub und Dampf, dessen Ränder durch die Brise ausgefranst wurden.
Wir bereiteten uns ein Frühstück aus Wasser und dem Mark von Kokosnüssen. Nebogipfel war still, geschwächt und sprach mit kratziger Stimme; aber er riet Stubbins und mir davon ab, das vernichtete Lager aufzusuchen. Denn nach allem, was wir wußten, sagte er, könnten wir drei allein im Paläozän zurückgelassen worden sein und müßten uns deshalb Gedanken über unser zukünftiges Überleben machen.
Nebogipfel schlug vor, daß wir noch weiter gehen sollten — ein paar Yards, wie er sagte — und an einem günstigeren Ort ein Lager errichten, sicher vor den Strahlungsemissionen des Carolinums.
Aber wie ich in Stubbins' Augen und den Tiefen meiner eigenen Seele auslotete, war diese Option für uns beide nicht zu realisieren.
»Ich werde zurückgehen«, verkündete Stubbins schließlich mit einer ungeschminkten Direktheit, die seine sonstige Zurückhaltung nicht hatte erwarten lassen. »Ich höre wohl, was Sie mir sagen, Sir, aber Tatsache ist, daß dort vielleicht verwundete und sterbende Menschen liegen. Ich kann sie nicht einfach sich selbst überlassen.« Er wandte sich mir zu, und sein offenes, aufrichtiges Gesicht war vor Sorge in Falten gelegt. »Es wäre doch nicht richtig, Sir, oder?«
»Nein, Stubbins«, beschied ich ihn. »Überhaupt nicht richtig.«
Und so stapften Stubbins und ich noch an diesem Morgen den Strand zurück in Richtung des zerstörten Feldlagers. Stubbins trug noch immer seine olivgrüne Uniform, die den gestrigen Tag unbeschadet überstanden hatte; ich war natürlich nur mit den Überresten der Khakihose bekleidet, die ich zum Zeitpunkt des Bombenangriffs angehabt hatte. Sogar meine Stiefel waren verloren, und ich fühlte mich sehr unzureichend ausgerüstet, als wir aufbrachen. Wir verfügten nicht über die geringsten medizinischen Mittel, abgesehen von dem kleinen Verbandspäckchen, das zu Stubbins' persönlicher Ausrüstung gehörte. Aber wir hatten einige Kokosnüsse gesammelt, ihre Milch abgezapft und die Schalen mit frischem Wasser gefüllt; Stubbins und ich hatten uns jeweils fünf oder sechs dieser Kugeln an Lianen um den Hals gehängt, und wir dachten, daß wir eventuellen Überlebenden des Bombenangriffs damit vielleicht Linderung verschaffen konnten.
Von der Abwurfstelle der Bombe ging ein Geräusch aus, das den ohrenbetäubenden Pegel eines donnernden Wasserfalls hatte. Nebogipfel hatte uns das Versprechen abgenommen, daß wir uns dem Explosionsherd auf höchstens eine Meile nähern durften; und als wir diesen Strandabschnitt erreichten, der nach unserer Schätzung eine Meile vom Epizentrum entfernt war, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Wir befanden uns bereits im Schatten dieser stationären, giftigen Pilzwolke; und das purpurrote Glühen war so intensiv, daß es vor mir einen Schatten auf den Strand zeichnete.
Wir nahmen ein Fußbad im Meer, und ich entlastete meine schmerzenden Knie und Waden. Ironischerweise blieb es ein schöner Tag, mit klarem Himmel und in Licht getauchter See. Ich stellte fest, daß die Wirkung der Gezeiten schon einen Großteil der Schäden behoben hatte, die wir Menschen am Vortag nach besten Kräften angerichtet hatten: Muscheln gruben sich wieder in den rußigen Sand, und ich sah eine Schildkröte so nahe durch das seichte Wasser paddeln, daß wir sie fast hätten fangen können.
Ich fühlte mich sehr alt und unendlich müde: völlig deplaziert, hier in der Morgendämmerung der Erde.
Wir verließen den Strand und drangen in den Wald vor. Furchterfüllt tauchte ich in die Düsternis dieses angeschlagenen Dschungels ein. Unser Plan bestand darin, uns in einem Kreisbogen mit dem sicheren Radius von einer Meile um das Lager durch den Wald zu arbeiten. Da genügte die Schulgeometrie, um einen annähernden Drei-Meilen-Marsch zu ermitteln, den wir entlang dieses Kreisumfangs bewältigen mußten, bis wir uns wieder im Schutz des Strandes befanden; aber ich wußte, daß es schwierig oder gar unmöglich werden würde, einen präzisen Kreis zu beschreiben, weswegen ich unsere Route deutlich länger veranschlagte und eine Dauer von wenigstens fünf Stunden ansetzte.
Wir hatten uns dem Epizentrum der Druckwelle jetzt so weit genähert, daß die meisten Bäume umgestürzt und zerstört waren — Bäume, die sonst vielleicht Jahrhunderte überlebt hätten, in einem kurzen Augenblick vernichtet —, und wir mußten über die verkohlten, zertrümmerten Überreste von Baumstämmen und durch die versengten Überbleibsel des Blätterdachs steigen. Und selbst da, wo die Auswirkungen der ersten Druckwelle weniger gravierend waren, sahen wir die Wunden des Feuersturms, der ganze Gruppen von Dipterocarps in ein Gewirr verkohlter Stämme verwandelt hatte, wie riesige abgebrannte Streichhölzer. Die Kuppel aus Blättern war überwiegend zerstört, und das Tageslicht, das auf den Waldboden durchdrang, war intensiver, als ich es bisher gewohnt war. Aber noch immer war der Wald ein Ort der Schatten und des Zwielichts; und die purpurne Glut dieser tödlichen, anhaltenden Explosion überzog die verkohlten Überreste der Bäume und Fauna mit einem schwachen Glühen.
Es überraschte mich nicht, daß die überlebenden Tiere und Vögel — sogar die Insekten — aus dem verheerten Wald geflohen waren, und wir bewegten uns in einer unheimlichen Stille, die nur durch das Knacken unserer eigenen Schritte und den stöhnenden, heißen Atem der Höllenglut der Bombe durchbrochen wurde.
An einigen Stellen war das Holz noch so heiß, daß es rauchte oder gar dunkelrot glühte, und an meinen bloßen Füßen bildeten sich bald Brandblasen. Zu ihrem Schutz wickelte ich Gras um die Sohlen und erinnerte mich daran, wie ich mir auf die gleiche Art einen Weg aus dem Wald gebahnt hatte, den ich im Jahre 802701 in Brand gesetzt hatte. Mehrmals stießen wir auf die Kadaver von Tieren, die von einem Desaster weit jenseits ihrer Vorstellungskraft ereilt worden waren; trotz der Explosion waren die Selbstheilungskräfte des Waldes intensiv am Wirken, und wir mußten uns auf unserem Weg durch einen Gestank nach Verfall und Tod quälen. Einmal tappte ich auf die sich verflüssigenden Überreste einer kleinen Kreatur — es mußte wohl ein Planetatherium gewesen sein — und der arme Stubbins mußte auf mich warten, während ich mir fluchend die ekligen Reste des kleinen Tieres von den Füßen kratzte.
Nach vielleicht einer Stunde näherten wir uns einer reglosen, gekrümmten Gestalt auf dem Waldboden. Der Gestank war so übel, daß ich mir die Fetzen meines Taschentuchs auf das Gesicht drücken mußte. Der Körper war so schlimm verbrannt und entstellt, daß ich ihn zuerst für den Kadaver eines Tieres hielt — eines jungen Diatrymas vielleicht — aber dann hörte ich Stubbins etwas rufen. Ich trat an seine Seite; und da sah ich, am Ende einer am Boden ausgestreckten verkohlten Extremität, die unversehrte Hand einer Frau. Aufgrund irgendeines bizarren Zufalls hatte das Feuer die Hand fast ganz verschont; die Finger waren wie im Schlaf gekrümmt, und ein schmaler Goldring funkelte am vierten Ringfinger.
Der arme Stubbins stolperte zwischen die Bäume, wo ich ihn sich übergeben hörte. Ich fühlte mich elend, hilflos und desolat, wie ich hier in diesem zerstörten Wald mit den sinnlos am Hals baumelnden Trinkgefäßen stand.
»Was, wenn alles so aussieht wie das hier, Sir?« fragte Stubbins. »Sie wissen…« Er schaffte es nicht, die Leiche anzusehen oder auch nur darauf zu zeigen. »Was, wenn wir keine Überlebenden finden? Was, wenn sie alle tot sind, alle so verbrannt wie…?«
Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter und suchte in mir nach einer Stärke, die ich nicht hatte. »Wenn es wirklich so ist, gehen wir zum Strand zurück und suchen nach einer Möglichkeit zum Überleben«, erwiderte ich. »Wir werden das Beste daraus machen; das ist es, was wir tun werden, Stubbins. Aber Sie dürfen nicht aufgeben, Mann — wir haben doch gerade erst mit der Suche begonnen.«
Seine Augen standen weiß in einem Gesicht, das so schwarz war wie das eines Schornsteinfegers. »Nein«, sagte er. »Sie haben recht. Wir dürfen nicht aufgeben. Wir werden das Beste daraus machen; was bleibt uns auch anderes übrig? Aber…«
»Ja?«
»Oh — nichts«, winkte er ab; und dann richtete er seine Uniform, bereit zum Weitermarsch.
Er brauchte seinen Satz auch gar nicht zu beenden, um mir seine Bedeutung zu vermitteln! Wenn die ganze Expedition bis auf uns zwei und den Morlock ausgelöscht war, dann wußte Stubbins, daß wir bis an unser Lebensende in unseren Hütten am Strand sitzen würden. Danach würde die Flut unsere Knochen bedecken, und wir könnten noch von Glück sagen, als Fossilien zu enden, die ein neugieriger Hausbesitzer fünfzig Millionen Jahre später in Hampstead oder Kew beim Umgraben seines Gartens ausbuddeln würde.
Es war eine düstere, unbefriedigende Aussicht; und was — würde Stubbins sicher wissen wollen — war wohl das Beste, das man aus dieser Situation machen konnte?
In düsterem Schweigen ließen wir die verkohlte Leiche der jungen Frau zurück und gingen weiter.
Wir hatten keine Möglichkeit, im Wald die Zeit zu bestimmen, und der Tag war lang in diesem grauenhaften Trümmerfeld; selbst die Sonne schien ihren täglichen Umlauf am Himmel eingestellt zu haben, und die Schatten der Baumstümpfe schienen sich weder zu verkürzen noch über den Erdboden zu wandern. Aber in Wirklichkeit war es erst eine Stunde später, als wir ein splitterndes, krachendes Geräusch hörten, das aus dem Waldesinneren auf uns zukam.
Zuerst konnten wir die Quelle nicht ausmachen — Stubbins' vor Furcht geweitete Augen stachen so weiß wie Elfenbein aus dem Zwielicht — und wir warteten mit angehaltenem Atem.
Eine Gestalt näherte sich uns, schälte sich aus den verkohlten Schatten, stolperte und prallte gegen die Baumstümpfe; es war eine kleine, schmale Gestalt, ganz klar in Not — aber dennoch unverkennbar menschlich.
Mit einem Kloß im Hals eilte ich vorwärts, wobei ich nicht mehr auf den verkrusteten, geschwärzten Bewuchs unter den Füßen achtete. Stubbins hielt sich neben mir.
Es war eine Frau, deren Gesicht und Oberkörper indessen so verbrannt und schwarz waren, daß ich sie nicht identifizieren konnte. Mit einem gurgelnden, erleichtert klingenden Seufzer fiel sie in unsere Arme.
Stubbins lehnte die Frau mit dem Rücken an einen gesplitterten Baumstumpf und begleitete seine Bemühungen mit unbeholfenen, beruhigenden Worten: »Machen Sie sich keine Sorgen — es wird alles wieder gut, ich werde mich um Sie kümmern…« und dergleichen versicherte er mit würgender Stimme. Sie trug noch immer die Überreste eines Twillhemdes und einer Khakihose, aber das Ganze war geschwärzt und zerrissen; und ihre Arme waren böse verbrannt, vor allem an der Unterseite der Unterarme. Ihr Gesicht sah ebenfalls schlimm aus — sie mußte in die Richtung der Explosion geschaut haben — aber wie ich jetzt sah, befanden sich noch Abschnitte unversehrten Fleisches um Mund und Augen. Ich vermutete, daß sie bei der Explosion die Arme vor das Gesicht gehalten und dadurch die Unterarme ruiniert, aber wenigstens das Gesicht einigermaßen geschützt hatte.
Nun schlug sie die Augen auf: sie waren stahlblau. Ihr Mund öffnete sich, und ein insektengleiches Flüstern drang hervor. Ich beugte mich zu ihr hinunter, wobei ich den Ekel und Abscheu angesichts der geschwärzten Ruinen ihrer Nase und Ohren unterdrückte.
»Wasser. Um Gottes willen — Wasser…«
Es war Hilary Bond.
Stubbins und ich blieben für einige Stunden bei Hilary und flößten ihr Wasser aus unseren Nußschalen ein. In regelmäßigen Intervallen begab sich Stubbins auf kurze kreisförmige Wanderungen durch den Wald und rief laut, um die Aufmerksamkeit weiterer Überlebender zu erregen. Wir versuchten, Hilarys Wunden mit Stubbins' Verbandspäckchen zu behandeln; aber der Inhalt dieses Päckchens — das für Quetschungen, Schnittverletzungen und ähnliche kleinere Verwundungen gedacht war — reichte bei weitem nicht aus, um Verbrennungen solchen Ausmaßes und einer derartigen Schwere wie bei Hilary zu behandeln.
Hilary war zwar geschwächt, aber bei Bewußtsein, und sie war imstande, mir einen zusammenhängenden Bericht von ihren Eindrücken während des Bombenangriffes zu geben.
Nachdem sie mich am Strand verlassen hatte, war sie so schnell wie möglich durch den Wald geeilt. Dennoch befand sie sich noch etwa knapp eine Meile vom Lager entfernt, als die Messerschmitt kam.
»Ich sah die Bombe fallen«, flüsterte sie. »An der Art, wie sie brannte, wußte ich, daß es sich um Carolinum handelte — ich hatte es zwar noch nie zuvor gesehen, aber entsprechende Berichte gehört — und ich glaubte, ich wäre erledigt. Ich erstarrte wie ein Karnickel — oder wie ein Narr — und als ich wieder halbwegs bei Besinnung war, erkannte ich, daß ich keine Zeit mehr hatte, mich auf den Boden zu werfen oder hinter den Bäumen in Deckung zu gehen. Statt dessen hielt ich die Hände vor das Gesicht…«
Der Blitz war unmenschlich grell gewesen. »Das Licht verbrannte mein Fleisch… es war, als ob sich die Tore der Hölle geöffnet hätten… ich konnte schier spüren, wie meine Wangen schmolzen; und als ich hinschaute, sah ich meine Nasenspitze brennen wie eine kleine Kerze… es war der außergewöhnlichste…« Ihre weiteren Worte gingen in einem Hustenanfall unter.
Dann kam die Druckwelle — »wie ein starker Wind« — und sie wurde zurückgeschleudert. Sie war über den Waldboden getaumelt, bis sie gegen eine harte Oberfläche gestoßen war — vermutlich einen Baumstamm — und danach wußte sie nichts mehr.
Als sie wieder zu sich kam, erhob sich diese Säule aus roten und purpurnen Flammen wie ein Dämon aus dem Wald, mit seinem Gefolge aus glutflüssiger Erde und Dampf. Um sie herum wurden die Bäume geknickt und versengt, obwohl sie sich — zufällig — weit genug vom Epizentrum aufhielt, um den schlimmsten Schaden zu vermeiden, und sie war auch nicht weiter durch herabfallende Äste oder dergleichen verletzt worden.
Sie hatte eine Hand an die Nase geführt; und sie erinnerte sich nur an eine dumpfe Neugierde, als sie plötzlich ein Stück davon in der Hand hielt. »Aber ich verspürte keinen Schmerz — das war sehr merkwürdig… obwohl ich das dann später ausgiebig nachholte…«
Ich hörte mir das in morbidem Schweigen an, und lebhaft stand mir das schlanke, etwas ungelenke Mädchen vor Augen, mit dem ich nur wenige Stunden vor diesem schrecklichen Ereignis Muscheln gesammelt hatte.
Hilary dachte, daß sie geschlafen hätte. Als sie wieder zu Bewußtsein kam, war der Wald deutlich dunkler geworden — das Feuer begann herunterzubrennen — und aus irgendwelchen Gründen hatten ihre Schmerzen nachgelassen. Sie fragte sich schon, ob ihre Nerven in Mitleidenschaft gezogen worden wären.
Mit einer Kraftanstrengung, denn sie war durch den Durst bereits ziemlich geschwächt, kam sie auf die Füße und näherte sich dem Epizentrum der Explosion.
»Ich erinnere mich an das Glühen des Carolinums, dieses unirdische Purpur, das immer heller wurde, während ich mich zwischen den Bäumen hindurchbewegte… Die Hitze nahm zu, und ich fragte mich, wie nahe ich wohl herankommen könnte, bis ich wieder den Rückzug antreten mußte.«
Sie hatte den Rand der Lichtung mit den abgestellten Juggernauts erreicht.
»Ich konnte kaum etwas sehen, so intensiv war die Helligkeit des Carolinum-Feuers«, berichtete sie. »Die Bombe war mitten im Zentrum unseres Lagers niedergegangen — dieser Deutsche hatte gut gezielt — sie war wie ein kleiner Vulkan, aus dessen Krater Rauch und Flammen strömten, und es war ein Brüllen zu hören, wie herabstürzendes Wasser.
Unser Lager ist vernichtet, die meisten Ausrüstungsgegenstände sind zerstört. Sogar die 'Nauts sind Totalschaden: von den vieren hat nur einer seine ursprüngliche Form bewahrt, ist aber ausgebrannt; die anderen sind aufgeplatzt, wie Spielzeug umgestürzt, verbrannt und explodiert.
Ich habe keine Menschenseele gesehen«, meinte sie. »Ich glaube, ich hatte erwartet, daß…« Sie schwieg für einen Moment. »Aber da war nichts — nichts von ihnen übrig. Oh — etwas doch — höchst merkwürdig.« Sie legte eine Hand auf meinen Arm; sie war von den Flammen zu einer Klaue deformiert worden. »Von der Hülle dieses 'Naut hatte sich die Farbe zum größten Teil abgeschält — außer an einer Stelle, wo sich ein regelmäßiger Fleck befand… Es war wie ein Schatten, der eines geduckten Menschen.« Mit Augen, die in ihrem zerstörten Gesicht glühten, sah sie zu mir hoch. »Verstehen Sie? Es war ein Abdruck — der eines Soldaten, ich weiß nicht, wer er gewesen sein mag — der von einer derart intensiven Explosion erwischt wurde, daß sein Fleisch verdampfte und die Knochen überall verstreut wurden. Und doch blieb der Abdruck auf der Farbe.« Ihre Stimme klang ruhig und emotionslos, aber ihre Augen waren voller Tränen. »Ist das nicht seltsam?«
Hilary war für eine Weile am Rande des Lagers umhergestolpert. In der Gewißheit, daß sie dort keine Überlebenden mehr finden würde, kam ihr die vage Idee, nach Vorräten zu suchen. Aber wie sie sagte, hatte sie ihre Gedanken nicht unter Kontrolle, und die Schmerzen wurden wieder so heftig, daß sie sie zu überwältigen drohten; und mit ihren verletzten Händen konnte sie unmöglich auch nur mit einem Hauch von Systematik die verkohlten Trümmer des Lagers durchsuchen.
So hatte sie sich mit dem Ziel auf den Weg gemacht, das Meer zu erreichen.
Danach konnte sie sich kaum mehr an ihren stolpernden Marsch durch den Dschungel erinnern; er hatte die ganze Nacht gedauert, und doch hatte sie sich kaum von der Explosionsstelle entfernt, so daß sie nach meiner Einschätzung wohl im Kreis gelaufen sein mußte, bis Stubbins und ich sie fanden.
Stubbins und ich einigten uns darauf, daß es am besten wäre, Hilary aus dem Wald mit seinen gefährlichen Carolinumemissionen zu unserem Lager am Strand zu bringen, wo Nebogipfels überragender Einfallsreichtum vielleicht eine Möglichkeit ersinnen konnte, ihr mehr Bequemlichkeit zu verschaffen. Aber es war klar ersichtlich, daß Hilary nicht mehr die Kraft hatte, noch weiter zu gehen. Also improvisierten wir aus zwei langen, abgebrochenen Ästen und Stubbins' Hemd eine Bahre. Dann hoben wir Hilary auf diese behelfsmäßige Konstruktion, wobei wir auf ihre Brandwunden aufpaßten. Sie schrie auf, als wir sie bewegten, aber als wir sie erst einmal auf der Bahre liegen hatten, ließen die Schmerzen nach.
Danach marschierten wir durch den Wald zum Strand. Stubbins ging vor mir, und bald konnte ich beobachten, wie sich sein nackter, knochiger Rücken mit Schweiß und Schmutz überzog. Er stolperte in die verkohlte Düsternis des Waldes, wobei Lianen und niedrige Äste in sein ungeschütztes Gesicht schlugen; aber er beklagte sich nicht und behielt den Griff um die Stangen unserer Bahre bei. Was mich betraf, der ich in Unterhosen entlangtaumelte, war meine Kraft bald erschöpft, und meine ausgepumpten Muskeln begannen heftig zu zittern. Zuweilen schien es mir unmöglich, noch einen Fuß vor den anderen zu setzen oder diese runden Stangen mit meinen klauenartigen Händen festzuhalten. Aber angesichts der unerschütterlichen Geduld des vor mir gehenden Stubbins bemühte ich mich, meine Müdigkeit zu unterdrücken, um mit ihm Schritt zu halten.
Hilary befand sich in einem Dämmerzustand zwischen Wachen und Bewußtlosigkeit; ihre Glieder zuckten, und genuschelte Schreie kamen über ihre Lippen, wenn Schmerzimpulse durch ihr Nervensystem brandeten.
Als wir die Küste erreicht hatten, setzten wir Hilary im Schatten des Waldrandes ab, und Stubbins hob ihren Kopf an, stützte ihn mit einer Hand und flößte ihr schluckweise Wasser ein. Stubby war zwar ein Tolpatsch, aber er ging mit einer unbewußten Zartheit und Sensibilität zu Werke, welche die natürlichen Schranken seines Wesens überwanden; ich hatte den Eindruck, daß er sein ganzes Mitgefühl in diese einfachen Handreichungen für Hilary legte. Ich hielt Stubbins für einen durch und durch guten und liebenswerten Mann; und ich hielt ihm zugute, daß seine hingebungsvolle Pflege von Hilary durch nichts außer reines Mitleid motiviert wurde. Aber ich erkannte auch, daß es für den armen Stubbins unerträglich gewesen wäre, überlebt zu haben — nur weil er das Glück gehabt hatte, einen Auftrag außerhalb des Lagers auszuführen —, wenn alle seine Kameraden untergegangen waren; und ich wußte, daß er einen Großteil seiner restlichen Tage mit Grübeleien darüber verbringen würde.
Als wir Hilary nach besten Kräften versorgt hatten, nahmen wir die Bahre wieder auf und marschierten am Strand entlang. Stubbins und mein fast nackter Körper waren mit dem Ruß und der Asche des verbrannten Waldes bedeckt, und mit Hilarys zerstörtem Körper zwischen uns liefen wir durch den festeren, feuchten Sand an der Wasserlinie, dessen kühle, nasse Körner zwischen den Zehen kitzelten, und durch salzige Wellen, die an unsere Schienbeine platschten.
Als wir unser kleines Lager erreicht hatten, übernahm Nebogipfel das Kommando. Stubbins versuchte sich nützlich zu machen, war Nebogipfel aber nur im Weg, und der Morlock warf mir ein paar knurrige Blicke zu, bis ich Stubbins' Arm ergriff und ihn fortzog.
»Schau, junger Mann«, sagte ich, »der Morlock mag wohl etwas fremdartig aussehen, aber er versteht mehr von Medizin als ich — oder du, wie ich einmal unterstelle. Ich halte es für das beste, wenn wir ihm für eine Weile aus dem Weg gehen und ihn den Captain behandeln lassen.«
Stubbins' große Hände krümmten sich.
Dann kam mir eine Idee. »Wir müssen noch nach anderen Überlebenden suchen«, regte ich an. »Machen wir doch ein Feuer! Wenn du grünes Holz nimmst und für genügend Rauch sorgst, kannst du ein über viele Meilen sichtbares Signal erzeugen.«
Stubbins ging mit größtem Eifer auf diesen Vorschlag ein und tauchte im Wald unter. Er wirkte wie ein plumpes Tier, als er Äste aus dem Wald zerrte, aber ich war erleichtert, daß ich die in ihm brachliegenden Energien sinnvoll kanalisieren konnte.
Nebogipfel hatte eine Reihe geöffneter Kokosnußschalen im Sand plaziert, von denen jede mit einer milchigen Lotion gefüllt war. Er verlangte Stubbins' Klappmesser und schnitt damit Hilarys Kleidung auf. Nebogipfel schöpfte jeweils eine Handvoll von seiner Lotion und massierte sie mit seinen weichen Morlockfingern in das am schlimmsten verbrannte Fleisch ein.
Anfangs schrie Hilary bei dieser Behandlung auf; aber bald legte sich das, und sie schien in einen tieferen, friedlicheren Schlaf abzugleiten.
»Woraus besteht diese Lotion?«
»Es ist eine Salbe«, erklärte er, ohne seine Arbeit zu unterbrechen, »aus Kokosmilch, Muschelöl und Waldkräutern.« Er korrigierte den Sitz seiner Maske und hinterließ darauf Spuren der klebrigen Substanz. »Sie wird den Schmerz der Verbrennungen lindern.«
»Ich bin beeindruckt von deiner Umsicht«, lobte ich ihn.
»Dazu gehörte nicht viel Umsicht«, erwiderte er schlicht, »nach eurer selbstverschuldeten Katastrophe von gestern mit solchen Opfern zu rechnen.«
Das ärgerte mich irgendwie. Selbstverschuldet? Niemand von uns hatte den verdammten Deutschen gebeten, mit seiner Carolinumbombe durch die Zeit zu reisen. »Hol dich der Teufel, ich wollte dir nur zu deinen Bemühungen wegen dieses Mädchens gratulieren!«
»Aber mir wäre es lieber, wenn ihr mir nicht solche armen Opfer brächtet, bei denen ich mein Mitleid und Können unter Beweis stellen muß.«
Oh — verdammt! Der Morlock war manchmal wirklich unmöglich, dachte ich — richtig unmenschlich!
Stubbins und ich unterhielten unser Signalfeuer und schürten es mit so grünem Holz, daß es zischte und platzte und dichten weißen Rauch aufsteigen ließ. Stubbins begab sich auf kurze, ergebnislose Streifzüge durch den Wald; ich mußte ihm versprechen, unsere Expedition zum Epizentrum der Explosion wieder aufzunehmen, wenn das Feuer in ein paar Tagen noch keine Wirkung gezeigt haben sollte.
Es war am vierten Tag nach dem Bombenangriff, als weitere Überlebende bei uns ankamen. Sie kamen allein oder zu zweit, und alle waren sie verbrannt und erschöpft und steckten in den zerlumpten Überresten ihrer Tropenanzüge. Bald leitete Nebogipfel ein beachtliches Feldlazarett — eine Reihe mit Palmblättern bezogener Pritschen im Schatten der Dipterocarps — während die Einsatzfähigen unter uns zu pflegerischen Handreichungen und zur Vorratsbeschaffung eingeteilt wurden.
Eine Zeitlang hofften wir, daß es irgendwo noch ein besser ausgerüstetes Lager als das unsrige gäbe. Ich spekulierte, daß vielleicht Guy Gibson überlebt und die Dinge in seiner praktischen und vernünftigen Art in die Hand genommen hätte.
Wir verspürten einen kurzen Anflug von Optimismus, als ein Motorfahrzeug den Strand entlang gefahren kam. Der Wagen war mit zwei Soldaten besetzt, beides junge Frauen. Diese beiden Mädchen waren die am weitesten draußen operierende Forschungsgruppe gewesen, die das Korps ausgesandt hatte: sie waren der Küste in westlicher Richtung gefolgt und hatten nach einer Inlandspassage gesucht.
In den Wochen, die auf das Bombardement folgten, schickten wir Patrouillen am Strand entlang und in den Wald. Diese stießen gelegentlich auf die Überreste eines bedauernswerten Bombenopfers. Einige von ihnen schienen die Explosion zunächst überlebt zu haben, waren aber infolge ihrer Verletzungen zu schwach gewesen, sich selbst zu versorgen oder um Hilfe zu rufen. Manchmal wurden auch Ausrüstungsgegenstände mitgebracht. (Nebogipfel hatte darauf bestanden, daß alle Metallteile geborgen werden sollten, denn seiner Meinung nach würde es noch einige Zeit dauern, bis unsere kleine Kolonie in der Lage war, Erz zu schmelzen.) Aber wir fanden keine weiteren Überlebenden mehr; die zwei Frauen in ihrem Fahrzeug waren die letzten, die sich uns anschlossen.
Trotzdem hielten wir das Signalfeuer Tag und Nacht am Brennen, auch als schon lange keine realistische Aussicht auf weitere Überlebende mehr bestand.
Alles in allem hatten von den hundertzwölf Expeditionsteilnehmern einundzwanzig Personen — elf Frauen, neun Männer, und Nebogipfel — den Bombenangriff und den Feuersturm überlebt. Von Guy Gibson fand sich keine Spur, und auch der Gurkha-Doktor blieb verschwunden.
So beschäftigten wir uns mit der Versorgung der Verwundeten, mit der Suche nach den Dingen des täglichen Bedarfs und mit Überlegungen, wie unsere Kolonie in Zukunft aussehen sollte… denn nach der Zerstörung der Juggernauts wurde uns allen recht schnell klar, daß wir nicht mehr in unser Ausgangsjahrhundert zurückkehren konnten: die Erde des Paläozäns würde unser Grab werden.
Vier weitere starben kurz nach ihrer Einlieferung in das Lager an Brandwunden und anderen Verletzungen. Wenigstens schienen ihre Qualen nur kurz zu sein, und ich fragte mich, ob Nebogipfel seine improvisierten Medikamente nicht vielleicht irgendwie gepanscht hatte, um die Leiden der Betroffenen zu verkürzen.
Ich behielt diese Spekulationen indessen für mich.
Jeder Verlust traf unsere kleine Kolonie hart. Ich selbst fühlte mich benommen, als ob meine Seele sich im Griff eines solchen Schreckens befände, daß sie zu weiteren Reaktionen nicht mehr imstande wäre. Ich beobachtete, wie die zerschlagenen jungen Soldaten in ihren zerlumpten, blutigen Uniformresten ihr trauriges Tagewerk verrichteten; und ich wußte, daß diese neuen Todesfälle inmitten des brutalen, primitiven Schmutzes jeden von ihnen zwang, sich immer wieder von neuem seiner oder ihrer Sterblichkeit bewußt zu werden.
Und es kam noch schlimmer: nach einigen Wochen begann eine neue Krankheit in unseren ausgedünnten Reihen zu wüten. Sie befiel einige von denen, die schon verwundet waren, und leider auch andere, die das Bombardement heil überstanden hatten. Die Symptome waren erschreckend: Erbrechen, Blutungen aus allen Körperöffnungen, Haarausfall, Verlust von Fingernägeln und sogar der Zähne.
Nebogipfel nahm mich beiseite. »Es ist so, wie ich befürchtet habe«, flüsterte er. »Es ist eine Krankheit, die durch die Einwirkung der Carolinum-Strahlung verursacht wird.«
»Ist irgend jemand von uns sicher davor — oder werden wir alle sterben?«
»Wir haben keine Möglichkeit zu ihrer Behandlung und können höchstens einige der schlimmsten Symptome lindern. Und was die Sicherheit betrifft…«
»Ja?«
Er schob die Hände hinter die Maske und rieb sich die Augen. »Es gibt kein sicheres Niveau der Radioaktivität«, erklärte er. »Es gibt nur Risikoabstufungen — und den Zufall. Wir können alle überleben — oder auch alle sterben.«
Ich fand das höchst beunruhigend. Diese jungen Körper — schon vernarbt durch die Jahre des Krieges — jetzt zerbrochen im Sand liegen zu sehen, so zugerichtet von der Hand eines Mitmenschen, und nur mit der unzulänglichen Pflege eines Morlocks — eines gestrandeten Alien —, der ihre Wunden behandelte… Ich schämte mich für meine Rasse, und für mich selbst.
»Weißt du, früher einmal«, erzählte ich Nebogipfel, »hätte ein Teil von mir sicher argumentiert, daß der Krieg letztlich dem Guten dienen könnte — weil er die verknöcherten Strukturen der Alten Weltordnung aufbrechen und der Welt den Weg für Veränderungen bereiten könnte. Und außerdem habe ich einmal an eine der Menschheit innewohnende Weisheit geglaubt: daß nach dem Anblick einer solchen Vernichtung in einem Krieg wie diesem ein gewisser gesunder Menschenverstand einsetzen und all dem ein Ende machen würde.«
Nebogipfel rieb sein haariges Gesicht. »›Gesunder Menschenverstand‹?« fragte er maliziös.
»Nun, das habe ich mir wenigstens vorgestellt«, erwiderte ich. »Aber ich hatte ja auch keine Ahnung vom Krieg — jedenfalls nicht von einem richtigen. Wenn die Menschen einmal beginnen, aufeinander loszugehen, wird sie nur sehr wenig stoppen, bis sie von Erschöpfung und Verschleiß übermannt werden! Jetzt erkenne ich, daß Krieg keinen Sinn hat — nicht einmal im Falle des Sieges…«
Doch auf der anderen Seite, sagte ich Nebogipfel, war ich überwältigt von der selbstlosen Hingabe dieser paar Überlebenden, mit der sie sich umeinander kümmerten. Nun, da wir quasi zu den Ursprüngen zurückgekehrt waren — zu schlichtem menschlichen Leiden — hatten sich die Gegensätze von Klasse, Rasse, Glauben und Rang, die ich vor dem Bombenangriff bei diesem Expeditionskorps registriert hatte, in Luft aufgelöst.
Solcherart offenbarte sich mir, wenn ich mir den nüchternen Standpunkt eines Morlocks zu eigen machte, dieser widersprüchliche Komplex aus Stärken und Schwächen, der die Natur meiner Spezies konstituierte! Die Menschen sind zum einen brutaler und gleichzeitig in mancherlei Hinsicht noch engelhafter, als ich aufgrund der seichten Erfahrungen meiner ersten vier Lebensjahrzehnte angenommen hatte.
»Es ist etwas spät«, konzedierte ich, »solche profunden Einsichten in die Spezies zu erhalten, mit der ich seit über vierzig Jahren den Planeten teile. Aber besser spät als nie. Ich glaube jetzt, daß, wenn die Menschheit jemals Frieden und Stabilität erringen will — zumindest, bevor sie sich zu etwas Neuem entwickelt, z. B. zu Morlocks —, die Einheit der Rasse an der Basis beginnen muß: indem auf dem solidesten Fundament — dem einzigen Fundament — die instinktive Hilfsbereitschaft der Menschen untereinander entwickelt wird.« Ich schaute Nebogipfel an. »Siehst du, worauf ich hinaus will? Glaubst du, daß in dem, was ich sage, überhaupt ein Sinn liegt?«
Doch der Morlock reagierte weder zustimmend noch ablehnend auf diese jüngsten Überlegungen. Er erwiderte einfach meinen Blick: ruhig, kritisch, prüfend.
Die Strahlenkrankheit forderte drei weitere Opfer.
Andere zeigten zwar einige Symptome — Hilary Bond z. B. litt an gravierendem Haarausfall —, überlebten aber; und manche, sogar ein Mann, der dem Ort der Explosion am nächsten gewesen war, zeigte überhaupt keine Symptome einer Erkrankung. Aber Nebogipfel wies mich dann darauf hin, daß die vom Carolinum ausgehende Gefahr damit noch lange nicht gebannt war; denn andere Krankheiten — Krebs und sonstige Unbilden — könnten später noch jeden von uns ereilen.
Hilary Bond war der ranghöchste überlebende Offizier; und sobald sie in der Lage war, sich auf ihrer Pritsche aufzurichten, übernahm sie ruhig und bestimmt das Kommando. Eine natürliche militärische Disziplin begann sich innerhalb der Gruppe zu etablieren — natürlich nur mit sehr einfachen Strukturen, da bloß dreizehn Angehörige des Expeditionskorps überlebt hatten — und ich glaube, daß die Wiedererrichtung dieser vertrauten Strukturen den Soldaten, vor allem den jüngeren, einen großen Halt gab. Andererseits konnte diese militärische Ordnung natürlich keinen Bestand haben. Wenn unsere Kolonie gedieh, wuchs und über diese Generation hinaus überlebte, wäre ein militärisch geprägter Dienstweg weder wünschenswert noch sinnvoll. Aber fürs erste, befand ich, ging es wohl nicht anders.
Die meisten dieser Soldaten hatten Ehepartner, Eltern, Freunde — sogar Kinder — ›zuhause‹, im zwanzigsten Jahrhundert. Nun mußten sie sich mit der Tatsache arrangieren, daß niemand von uns heimkehren würde — und, als ihre restliche Ausrüstung in der Feuchtigkeit des Dschungels zerfiel, gelangten die Soldaten zu der Erkenntnis, daß ihr zukünftiges Überleben nur von ihrer eigenen Arbeit, Erfindungsgabe und gemeinschaftlichen Hilfe abhing.
Nebogipfel, der sich noch immer Sorgen wegen der Strahlungsemissionen machte, bestand darauf, daß wir weiter am Strand entlang ein befestigtes Lager errichteten. Wir schickten Erkundungstrupps aus und setzten dazu auch unser Motorfahrzeug ein, solange das Benzin reichte. Schließlich entschieden wir uns für das Delta eines breiten Flusses, das sich etwa fünf Meilen südwestlich vom Basislager der Expedition befand — es lag in der Nähe von Surbiton, glaube ich. Die von unserem Fluß durchzogene Ebene würde fruchtbar sein und gute Bewässerungsmöglichkeiten bieten, falls wir künftig Landwirtschaft betreiben wollten.
Wir führten den Umzug in mehreren Etappen durch, denn einige der Verwundeten mußten getragen werden. Anfangs nahmen wir das Auto, aber bald ging ihm das Benzin aus. Dennoch bestand Nebogipfel darauf, daß wir das Fahrzeug mitnahmen, um sein Gummi, Glas, Metall und andere Materialien zu nutzen; und so zogen und schoben wir das mit Verwundeten sowie unseren Vorräten und Ausrüstungsgegenständen beladene Fahrzeug auf seiner letzten Reise wie eine Karre durch den Sand.
Auf diese Art schleppten wir uns am Strand entlang, wir vierzehn Überlebenden, mit unserer zerlumpten Bekleidung und den oberflächlich versorgten Wunden. Wenn ein unbeteiligter Beobachter diesen kleinen Treck beobachtet hätte, wäre er wohl kaum zu dem Schluß gekommen, daß diese abgerissene Truppe von Überlebenden in diesem Zeitalter die einzigen Repräsentanten einer Spezies waren, die eines Tages ganze Welten zerschmettern würde!
Der Platz unserer neuen Kolonie war so weit vom ersten Lager der Expedition entfernt, daß der Wald hier keine nennenswerten Schäden aufwies. Das Bombardement konnten wir allerdings doch nicht vergessen; denn nachts war noch immer dieses purpurne Glühen im Osten zu sehen — Nebogipfel behauptete, daß es noch viele Jahre anhalten würde — und, erschöpft von des Tages Mühen, setzte ich mich oft an den Rand des Lagers, weg von den Lichtern und den Unterhaltungen der anderen, und beobachtete den Aufstieg der Sterne über diesem von Menschenhand geschaffenen Vulkan.
Zuerst war unser neues Lager arg provisorisch — nur wenig mehr als eine Reihe Unterstände, die aus Bruchholz und Palmwedeln zusammengestoppelt worden waren. Doch als wir uns dort einrichteten und die Versorgung mit Nahrung und Wasser sichergestellt war, wurde ein ehrgeizigeres Aufbauprogramm aufgelegt. Erste Priorität hatte übereinstimmend eine Versammlungshalle, die so groß war, daß wir alle im Falle eines Sturms oder einer anderen Katastrophe dort unterkommen konnten. Die neuen Kolonisten machten sich mit Elan an die Errichtung dieses Gebäudes. Sie befolgten dabei die ungefähren Vorgaben, die ich für den Bau meiner eigenen Hütte erstellt hatte: eine hölzerne Plattform auf einem stelzenartigen Fundament; nur waren die Abmessungen etwas ambitionierter.
Neben unserem Fluß wurde ein Feld gerodet, so daß Nebogipfel die geduldige Kultivierung von Nutzpflanzen überwachen konnte, die aus der ursprünglichen Flora gezüchtet wurden. Ein erstes Boot — ein grob gezimmerter Einbaum — wurde gebaut, so daß wir zum Fischen aufs Meer hinausfahren konnten.
Mit viel Mühe fingen wir schließlich eine kleine Diatryma-Familie ein und sperrten sie in ein Gehege. Obwohl diese Viecher mehrmals ausbrachen und einen ziemlichen Schaden in der Kolonie anrichteten, fingen wir sie jedesmal wieder ein und zähmten sie. Denn das Fleisch und die Eier, die eine domestizierte Diatryma-Schar liefern würden, waren eine verlockende Aussicht, und die Diatrymas wurden sogar versuchsweise vor den Pflug gespannt.
Die Kolonisten begegneten mir ständig mit einem gewissen höflichen Respekt, der meinem Alter auch gebührte — das nehme ich für mich in Anspruch! — und meiner größeren Erfahrung im Paläozän. Doch der mit dem Dschungel-Überlebenstraining gekoppelte Einfallsreichtum der jüngeren Leute ermöglichte es ihnen recht schnell, mein begrenztes Verständnis zu überflügeln; und bald registrierte ich ein gewisses tolerantes Amüsement in ihrem Umgang mit mir.
Was Nebogipfel betraf, so blieb er aus begreiflichen Gründen so etwas wie ein Einsiedler in dieser Gesellschaft aus jungen Menschen.
Als erst einmal die drängendsten medizinischen Probleme gelöst waren und seine Zeit weniger in Anspruch genommen wurde, begann Nebogipfel, Zeit außerhalb der Kolonie zu verbringen. Er suchte unsere alte Hütte auf, die noch immer einige Meilen nordöstlich am Strand stand; und er brach zu ausgedehnten Erkundungen in den Wald auf. Er weihte mich nicht in den Zweck dieser Unternehmungen ein. Ich erinnerte mich an die Zeitmaschine, an deren Konstruktion er sich vor der Ankunft des Expeditionskorps versucht hatte, und ich vermutete, daß er sich jetzt erneut mit einem solchen Projekt befaßte; aber ich wußte auch, daß das Plattnerit der Kampffahrzeuge des Korps bei dem Bombenangriff vernichtet worden war, so daß ich keinen Sinn in einer weiteren Verfolgung dieses Plans erkennen konnte. Dennoch bedrängte ich Nebogipfel nicht wegen seiner Aktivitäten, weil er nämlich von uns allen der Isolierteste war — am weitesten von der Gesellschaft seiner Rasse entfernt — und deshalb vielleicht mit dem größten Bedarf an Toleranz.
Trotz der Torturen, die sie erduldet hatten, waren die Kolonisten junge Leute, sie waren widerstandsfähig und für große Ziele zu begeistern. Allmählich — als die Strahlenkrankheit keine weiteren Opfer mehr forderte und es klar wurde, daß wir nicht sofort verhungern oder ins Meer gespült werden würden — heiterte die Stimmung zusehends auf.
Eines Abends, als sich die Schatten der Dipterocarps bis zum Ozean erstreckten, fand mich Stubbins wie immer am Rand des Lagers sitzen und zurück zum Glühen des Bombenkraters blicken. Mit äußerster Schüchternheit — zu meinem Erstaunen — fragte er mich, ob ich an einem Fußballspiel teilnehmen wollte! Meine Hinweise darauf, daß ich noch nie in meinem Leben ein Spiel gespielt hatte, fruchteten nichts, und so ging ich mit ihm am Strand zurück zu einer Stelle, an der ein ungefähres Rechteck markiert worden war, und Pfosten — Restholz vom Bau der Halle — als Tore herhalten mußten. Der ›Ball‹ war eine Kokosnuß, deren Milch abgezapft worden war, und eine aus acht Leuten bestehende Truppe aus Männern und Frauen bereitete sich auf das Spiel vor.
Ich glaube kaum, daß dieses Geholze in die Annalen der Sportgeschichte eingehen wird. Mein eigener Beitrag zum Spiel war vernachlässigbar und decouvrierte nur den völligen Mangel an motorischer Koordination, der meine Schulzeit so beschwerlich gestaltet hatte. Stubbins hatte bei weitem das meiste Talent. Nur drei Spieler, einschließlich Stubbins, waren körperlich auf der Höhe — und einer davon war ich, wobei ich aber schon nach den ersten zehn Minuten völlig erschöpft war. Der Rest war ein Aufgebot mit verbundenen Wunden und — komisch bis pathetisch — fehlenden oder künstlichen Gliedmaßen! Als jedoch im Verlauf des Spiels Gelächter und Anfeuerungsrufe zunahmen, bekam ich den Eindruck, daß meine Mitspieler eigentlich kaum mehr als Kinder wären: erschöpft und verwirrt, und dazu in diesem frühen Zeitalter gestrandet — aber nichtsdestoweniger Kinder, die sich von ihren Wunden erholten.
Was mußte das für eine Spezies sein, fragte ich mich, die ihrem Nachwuchs solchen Schaden zufügte?
Als das Spiel beendet war, verließen wir lachend und erschöpft den Platz. Stubbins dankte mir für meine Teilnahme.
»Keine Ursache«, erwiderte ich. »Du bist ein guter Spieler, Stubbins. Hättest vielleicht Profispieler werden sollen.«
»Äh… das habe ich auch versucht«, meinte er versonnen. »Ich hatte schon bei Newcastle United unterschrieben… aber dann hat der Krieg dem Fußball ziemlich schnell den Garaus gemacht. Oh, es hat wohl auch nachher noch Spiele gegeben — Regionalliga und die League War Cups — aber seit fünf oder sechs Jahren läuft auch in dieser Hinsicht nichts mehr.«
»Ja, das ist wirklich eine Schande«, bedauerte ich ihn. »Du hast wirklich Talent, Stubbins.«
Er zuckte die Achseln, wobei sich seine offensichtliche Enttäuschung mit seiner natürlichen Bescheidenheit verquickte. »Es sollte eben nicht sein.«
»Aber jetzt hast du etwas viel Wichtigeres geleistet«, tröstete ich ihn. »Du hast am allerersten Fußballspiel auf Erden teilgenommen — und noch dazu einige Tore geschossen.« Ich klopfte ihm auf den Rücken. »Nun, dieser Lorbeer schmückt jeden Hut, Albert!«
Im Lauf der Zeit wurde zusehends deutlich — ich meine, auf der mentalen Ebene unterhalb des intellektuellen Bereiches, der das wahre Wissen beherbergt —, daß wir wirklich nie wieder nach Hause zurückkehren würden. Langsam — unvermeidlich, glaube ich — lösten sich Partnerschaften und Bindungen des zwanzigsten Jahrhunderts, und die Kolonisten schritten selbst zur Paarbindung. Dieser Vorgang scherte sich nicht um Rang, Klasse oder Rasse: zwischen Sepoys, Gurkhas und Engländern bildeten sich ohne Ansehen der Herkunft Liaisonen. Nur Hilary Bond mit ihrer Aura der Befehlshaberin stand über diesen Dingen.
Ich machte Hilary den Vorschlag, daß sie doch aufgrund ihres Ranges Hochzeitszeremonien abhalten sollte — wie das auch ein Schiffskapitän bei seinen Passagieren tun kann. Sie griff diese Anregung höflich dankend auf, aber ich hörte Skepsis aus ihrer Stimme heraus, und damit war die Sache erledigt.
Eine kleine Anordnung von Hütten erstreckte sich von unserer Landzunge die Küste entlang und das Flußtal aufwärts. Hilary nahm das alles mit einer liberalen Einstellung zur Kenntnis; ihr einziger Vorbehalt war der, daß — zumindest fürs erste — jedes Gebäude in Sichtweite zum vorigen errichtet werden sollte, und keines sollte mehr als eine Meile von der Position der Gemeinschaftshalle entfernt sein. Die Kolonisten akzeptierten diese Auflagen vorbehaltlos.
Hilarys Zurückhaltung hinsichtlich der Eheschließungen — und meine diesbezügliche Dummheit — sollte bald ihre Rechtfertigung erfahren, denn eines Tages sah ich Stubbins mit zwei jungen Frauen im Arm über den Strand flanieren. Ich grüßte sie alle freundlich — doch erst nachdem sie schon vorbei waren, realisierte ich, daß ich nicht wußte, welche von ihnen nun Stubbins' ›Frau‹ war!
Ich sprach Hilary darauf an, und hätte schwören können, daß sie ihre Belustigung unterdrückte.
»Aber«, protestierte ich, »ich habe Stubbins mit Sarah in der Scheune tanzen sehen — aber dann war da in der letzten Woche, als ich ihn morgens aus seiner Hütte rief, dieses andere Mädchen…«
Jetzt lachte sie und legte ihre vernarbten Hände auf meine Arme. »Mein lieber Freund«, sagte sie, »Sie haben die Weiten des Raums und der Zeit bereist — sie haben viele Male die Geschichte verändert; Sie sind ohne jeden Zweifel ein Genie —, aber Sie haben das neunzehnte Jahrhundert nie verlassen.«
Ich war verlegen. »Wie meinen Sie das?«
»Denken Sie darüber nach.« Sie fuhr mit der Hand über ihre versengte Kopfhaut, an der noch ein paar Büschel ergrauten Haares hafteten. »Wir sind dreizehn — ohne Ihren Freund Nebogipfel. Und diese Dreizehn besteht aus acht Frauen und fünf Männern.« Sie musterte mich spöttisch »Das ist die Lage. Es gibt keine Insel hinter dem Horizont, von der noch mehr junge Männer kommen und unsere Mädchen wegheiraten könnten…
Wenn wir alle stabile Ehen eingingen — wenn wir eine Monogamie etablieren würden, wie Sie vorschlagen —, würde unsere kleine Gesellschaft bald auseinanderfallen. Weil nämlich, wie Sie sehen, acht und fünf nicht hinkommen. Und deshalb glaube ich, daß eine gewisse Lockerheit unserer Arrangements angemessen wäre. Zum Besten aller. Meinen Sie nicht auch? Und außerdem ist es auch gut für die ›genetische Diversifikation‹, von der uns Nebogipfel immer erzählt.«
Ich war schockiert; nicht (glaubte ich wenigstens) wegen des moralischen Aspekts, sondern wegen der zugrundeliegenden Kalkulation!
Irritiert wollte ich sie verlassen — und dann fiel mir etwas ein. »Aber — Hilary — ich bin doch auch einer von den fünfen, von denen Sie gesprochen haben.«
»Natürlich.« Plötzlich wurde mir klar, daß sie sich lustig über mich machte.
»Aber ich habe keine — ich meine, ich habe keine…«
Sie grinste. »Dann wird es vielleicht Zeit, daß Sie hätten. Sie komplizieren die Dinge nur, wissen Sie!«
Verwirrt ging ich. Offensichtlich hatte sich die Gesellschaft zwischen 1891 und 1944 auf eine Weise verändert, die ich mir nie hätte träumen lassen!
Die Errichtung der großen Halle machte gute Fortschritte, und ein paar Monate nach dem Bombenangriff stand der Rohbau. Hilary Bond verkündete, daß anläßlich seiner Fertigstellung ein Gottesdienst stattfinden würde. Nebogipfel sträubte sich zunächst — mit der für einen Morlock charakteristischen Überanalyse konnte er keinen Sinn in einem solchen Akt erkennen — aber ich überzeugte ihn davon, daß in Anbetracht der zukünftigen Beziehungen zwischen den Kolonisten eine Beteiligung klug wäre.
Ich wusch und rasierte mich und machte mich so fein, wie das nur möglich war, wenn eine zerrissene Hose das einzige Kleidungsstück darstellte. Nebogipfel kämmte sich und stutzte seine flachsblonde Mähne. Angesichts der Besonderheiten unserer Situation liefen viele Kolonisten jetzt fast nackt herum, wobei die Blöße mit nur wenig mehr als Streifen aus Tuch oder Fell bedeckt wurde. An diesem Tag jedoch legten sie die Überreste ihrer so gut wie möglich gesäuberten und geflickten Uniformen an, und obwohl es eine Parade war, die vor keinem Feldwebel Gnade gefunden hätte, waren wir in der Lage, uns mit einer Haltung und Disziplin zu präsentieren, die ich zumindest bewegend fand.
Wir stiegen über eine niedrige, schiefe Treppe in das dunkle Innere der Halle. Der Boden — wenngleich auch uneben — war fest und gefegt, und das morgendliche Sonnenlicht stach durch die unverglasten Fenster. Ich verspürte sogar Ehrfurcht: trotz der rustikalen Architektur und Konstruktion verströmte dieser Ort eine Aura der Solidität, die Absicht zu bleiben.
Hilary Bond stand auf einem aus dem Kraftstoffbehälter des Fahrzeugs improvisierten Podest und stützte sich mit einer Hand auf Stubbins' breite Schulter. Ihr zerstörtes, von bizarren Haarbüscheln gekröntes Gesicht strahlte eine schlichte Würde aus.
Unsere neue Kolonie, verkündete sie, war nun gegründet und konnte einen Namen erhalten: sie schlug vor, sie Alt-London zu nennen. Dann forderte sie uns auf, sich ihr zu einem Gebet anzuschließen. Zusammen mit den anderen senkte ich den Kopf und faltete die Hände. Ich war in einem streng anglikanischen Haus erzogen worden, und Hilarys Worte weckten nun nostalgische Erinnerungen in mir und versetzten mich in eine weniger komplizierte Zeit meines Lebens zurück, eine Zeit voller Gewißheit und Sicherheit.
Und als Hilary in einfachen und prägnanten Worten weitersprach, gab ich meine analytischen Versuche auf und ließ mich einfach von dieser schlichten Gemeindefeier mittragen.
Die ersten Früchte der neuen Verbindungen erblickten noch im selben Jahr unter Nebogipfels Mitwirkung das Licht der Welt.
Nebogipfel untersuchte unseren neuen Kolonisten gründlich — wie ich hörte, hatte die Mutter größte Bedenken, dem Morlock ihr Baby anzuvertrauen, und legte Einspruch ein; aber Hilary Bond zerstreute ihre Befürchtungen — und schließlich verkündete Nebogipfel, daß es sich bei dem Baby um ein kerngesundes Mädchen handelte, und gab es seinen Eltern zurück.
Ziemlich schnell — so kam es mir jedenfalls vor — füllte sich die Siedlung mit Kindern. Es war ein alltäglicher Anblick, daß Stubbins seinen kleinen Jungen zur offensichtlichen Freude des kleinen Kerls auf den Schultern reiten ließ; und ich wußte, daß es nicht lange dauern würde, bis Stubbins den kleinen Burschen am Strand mit Kokosnüssen würde Fußball spielen sehen.
Die Kinder waren den Kolonisten ein Quell großer Freude. Vor den ersten Geburten hatten einige Kolonisten vor lauter Heimweh und Einsamkeit schwere depressive Anfälle erlitten. Nun aber mußte man sich um die Kinder kümmern: Kinder, deren einzige Heimat Alt-London sein würde und deren zukünftiges Wohlergehen ein Ziel — das wichtigste Ziel überhaupt — für ihre Eltern darstellte.
Was mich betraf, so hatte ich beim Anblick der weichen und glatten Gliedmaßen der Kinder, die im narbigen Fleisch ihrer selbst noch jungen Eltern gewiegt wurden, den Eindruck, als ob die Schatten dieses grausamen Krieges schließlich von ihnen wichen — ein Schatten, der vom strahlenden Licht des Paläozäns verdrängt wurde.
Dennoch untersuchte Nebogipfel nach wie vor jedes Neugeborene.
Dann kam der Tag, an dem er einer Mutter ihr Kind nicht wiedergeben konnte. Diese Geburt verwandelte sich in einen Anlaß zu privater Trauer, aus dem wir anderen uns heraushielten; und danach verschwand Nebogipfel im Wald und ging für lange Tage seinen geheimen Verrichtungen nach.
Nebogipfel verbrachte einen großen Teil seiner Zeit mit der Leitung von sogenannten ›Studiengruppen‹. Diese waren für alle Kolonisten zugänglich, obwohl in der Praxis dann jedesmal immer nur drei oder vier Zuhörer erschienen, je nach Interesse und sonstigen Verpflichtungen. Nebogipfel referierte über praktische Aspekte des Lebens im Paläozän, z.B. über die Herstellung von Kerzen und Stoffen aus den natürlichen Ressourcen; er entwickelte sogar eine Art Seife, eine zähe, körnige Paste aus Soda und Tierfett. Aber er ließ sich auch über andere Themen aus: Medizin, Physik, Mathematik, Chemie, Biologie, die Prinzipien der Zeitreise…
Ich nahm an einer Reihe dieser Sitzungen teil. Trotz der unheimlich klingenden Stimme und der eigentümlichen Art war die Präsentation des Morlocks immer bewundernswert verständlich, und er hatte eine Vorliebe, das Verständnis seines Auditoriums mit Fragen zu testen. Während ich ihm so zuhörte, wurde mir bewußt, daß sich die Dozenten der britischen Durchschnittsuniversität eine Scheibe oder zwei von ihm hätten abschneiden können!
Was die Vorlesungsinhalte betraf, so orientierte er sich strikt an der Sprache seiner Zuhörer — am Vokabular, wenn nicht gar am Jargon von 1944 — und er gab ihnen einen Überblick über die in den darauffolgenden Jahrzehnten erfolgten Entwicklungen auf jedem Gebiet. Wo es möglich war, betrieb er Anschauungsunterricht mit Metall- und Holzstücken oder zeichnete mit Stöcken Diagramme in den Sand; er ließ seine ›Studenten‹ jedes Stück Papier, das wir hatten retten können, mit seinem Wissen beschriften.
Es hatte den Anschein, als ob er ihnen auf diesen fragilen Schnipseln ein ganzes Jahrhundert an Wissen präsentierte.
In einer dunklen und mondlosen Nacht diskutierte ich das alles mit ihm. Er hatte seine neue Maske abgelegt, und die grauroten Augen schienen zu leuchten; mit einem groben Mörser und einem Stößel zerstampfte er Palmblätter in einer Flüssigkeit. »Papier«, erklärte er. »Oder zumindest ein Experiment in dieser Richtung… Wir brauchen mehr Papier! Euer verbales Gedächtnis ist nicht zuverlässig genug — sie werden alles wieder vergessen, wenn ich in ein paar Jahren gegangen bin…«
Ich interpretierte das — fälschlicherweise, wie sich dann herausstellte — als Bezugnahme auf eine Befürchtung oder sogar eine Todeserwartung. Ich setzte mich neben ihn und nahm ihm den Mörser und den Stößel aus der Hand. »Aber hat das alles überhaupt einen Sinn? Nebogipfel, wir können gerade mal das reine Überleben sichern. Und du erzählst ihnen etwas von Quantenmechanik und der Einheitlichen Feldtheorie der Physik! Wozu benötigen sie diese Kenntnisse denn?«
»Sie benötigen sie nicht«, stellte er fest. »Aber ihre Kinder werden sie brauchen — wenn sie überleben wollen. Schau: gemäß gesicherter Theorien benötigt jede große Säugetierspezies eine Population von mehreren hundert Individuen, um durch eine ausreichende genetische Vielfalt das langfristige Überleben zu gewährleisten.«
»Genetische Vielfalt — Hilary hat schon davon gesprochen.«
»Der hier verfügbare Bestand an Menschen ist ganz klar zu gering, um das Überleben der Kolonie zu ermöglichen — selbst wenn das gesamte genetische Material in einem Pool gesammelt würde.«
»Also?« meinte ich.
»Also besteht die einzige Aussicht, über zwei oder drei Generationen hinaus zu überleben, darin, daß diese Menschen sich schnell ein profundes technologisches Wissen aneignen. Auf diese Art können sie zu Herren ihres eigenen genetischen Schicksals werden: Sie müssen weder die Konsequenzen der Inzucht tolerieren noch die durch die Radioaktivität des Carolinums hervorgerufenen Folgeschäden. Wie du siehst, brauchen sie die Quantenmechanik und den Rest.«
Ich spielte mit dem Stößel. »Ja. Aber hier wirft sich eine Frage auf — soll denn die Menschheit überhaupt überleben, hier im Paläozän? Ich meine, es ist uns eigentlich nicht bestimmt, hier zu sein — nicht in den nächsten fünfzig Millionen Jahren.«
Er musterte mich. »Aber wie sieht denn die Alternative aus? Willst du etwa, daß diese Leute aussterben?«
Ich erinnerte mich an meinen Entschluß, die Existenz der Zeitmaschine zu beenden, bevor sie überhaupt in Dienst gestellt wurde — dieser endlosen Geschichtsklitterung ein Ende zu setzen. Nun — dank meines stümperhaften Vorgehens — hatte ich indirekt die Gründung dieser menschlichen Kolonie in der tiefen Vergangenheit verursacht, eine Gründung, die sicherlich die bisher gravierendste Verwerfung der Geschichte bewirken würde! Plötzlich glaubte ich zu fallen — es erinnerte mich irgendwie an den schwindelerregenden Sturz, den man bei einer Reise durch die Zeit erlebt — und ich spürte, daß diese Aufspaltung der Geschichte schon längst meiner Kontrolle entglitten war.
Und dann dachte ich an den Ausdruck in Stubbins' Gesicht, als er sein erstes Kind betrachtet hatte.
Ich bin ein Mensch und kein Gott! Ich mußte mich von meinen menschlichen Instinkten leiten lassen, denn ich war sicher nicht imstande, die Evolution verschiedener Historien zu managen. Jeder von uns, dachte ich, konnte nur wenig am Lauf der Dinge ändern — ja eigentlich konnte alles, was wir unternahmen, sich so unkontrolliert auswirken, daß es mehr schadete als nutzte — und dennoch sollten wir nicht zulassen, daß das große Panorama über uns, die unzähligen Multiplen Historien, uns einfach überwältigten. Die Perspektive der Multiplizität ließ jeden von uns und unsere Handlungen winzig erscheinen, überlegte ich — aber nicht bedeutungslos; und jeder von uns muß sein Leben mit Stoizismus und Tapferkeit weiterleben, als ob es das alles — den Letztendlichen Untergang der Menschheit, die unzähligen Multiplizitäten — überhaupt nicht gäbe.
Wie auch immer die Auswirkungen auf die Zukunft in fünfzig Millionen Jahren aussehen würden, diese Kolonie des Paläozäns hatte in meinen Augen ihre Daseinsberechtigung. So konnte meine Antwort auf Nebogipfels Frage auch gar nicht anders ausfallen.
»Nein. Nein, natürlich müssen wir alles in unserer Macht stehende tun, um das Überleben der Kolonisten und ihrer Nachkommen zu sichern.«
»Deshalb…«
»Ja?«
»Deshalb muß ich irgendwie Papier herstellen.«
Ich setzte die Arbeit mit dem Stößel und dem Mörser fort.
Eines Tages verkündete Hilary, daß sich der Bombenangriff in einer Woche zum erstenmal jährte und daß anläßlich der Gründung unseres kleinen Dorfes eine Feier stattfinden würde.
Die Kolonisten griffen dieses Vorhaben begeistert auf, und bald waren die Vorbereitungen schon weit gediehen. Die große Halle wurde mit Lianen und großen Blumengirlanden geschmückt, die aus dem Wald geholt worden waren, und es wurden Vorbereitungen getroffen, aus der wertvollen Diatryma-Schar der Kolonie ein Tier zu schlachten und zu braten.
Ich hingegen suchte Trichter und Röhren zusammen und begann in der Abgeschiedenheit meiner alten Hütte mit der Durchführung intensiver geheimer Experimente. Das weckte natürlich die Neugier der Kolonisten, und ich mußte sogar in der alten Behausung schlafen, um das Geheimnis meines improvisierten Apparillos zu bewahren. Ich hatte nämlich befunden, daß es endlich an der Zeit war, meine wissenschaftliche Kompetenz in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen!
Schließlich dämmerte der Festtag herauf. Wir versammelten uns im strahlenden Morgenlicht vor der Gemeinschaftshalle, und große Aufregung und Spannung lag in der Luft. Wieder einmal waren die Überreste der Uniformen gereinigt und angelegt worden, und der militärische Nachwuchs war in die neuen Kleider gehüllt, die Nebogipfel aus einer Art Baumwolle gefertigt und mit Pflanzenfarben rot und purpur gefärbt hatte. Ich streifte durch die Menschenansammlung und hielt Ausschau nach meinen engeren Freunden… — als plötzlich Zweige knackten und ein tiefes, krächzendes Bellen ertönte.
Geschrei ertönte. »Pristichampus — es ist ein Pristichampus! Schaut nur…«
Und wirklich war es das für dieses große, auf dem Land lebende Krokodil charakteristische Bellen gewesen. Die Leute rannten umher, und ich suchte nach einer Waffe, wobei ich mich wegen meiner Sorglosigkeit selbst verfluchte.
Dann drang eine andere, angenehmere und vertrautere Stimme zu uns herüber. »Hi! Habt keine Angst — seht mal!«
Die Panik legte sich, und vereinzeltes Gelächter kam auf.
Der Pristichampus — ein stolzes Männchen — stakste auf den freien Platz vor der Halle. Wir traten zurück, um ihm Platz zu machen, und seine behuften Füße hinterließen große Abdrücke im Sand… und auf seinem Rücken, mit breitem Grinsen und im Sonnenlicht flammenden roten Haar, saß Stubbins!
Ich näherte mich dem Krokodil. Seine schuppige Haut stank nach verwesendem Fleisch, und ein kaltes Auge fixierte mich und folgte meinen Bewegungen. Der mit freiem Oberkörper dasitzende Stubbins grinste mich von oben an; in seinen sehnigen Händen hielt er einen Zügel aus geflochtenen Lianen, der um den Kopf des Pristichampus geschlungen war.
»Stubbins«, meinte ich, »das ist wirklich eine Leistung.«
»Nun, ich weiß zwar, daß wir einen Diatryma als Zugtier für einen Pflug einsetzen, aber dieses Tier ist weitaus agiler. Mit ihm könnten wir meilenweit reisen — er ist besser als ein Pferd…«
»Nur mal langsam«, bremste ich ihn. »Und, Stubbins, wenn du nachher mal bei mir vorbeikommst…«
»Ja?«
»Ich hätte eine Überraschung für dich.«
Stubbins zog am Kopf des Pristichampus. Er mußte sich ziemlich anstrengen, aber dann konnte er das Vieh wenden. Die große Kreatur verließ den freien Platz und lief zum Wald zurück, wobei die Muskeln der großen Beine wie Kolben arbeiteten.
Nebogipfel, dessen Schädel fast völlig unter einem großen, breitkrempigen Hut verschwand, schloß sich mir an.
»Das ist eine beachtliche Leistung«, bemerkte ich. »Aber — siehst du — er hatte das Monster kaum unter Kontrolle…«
»Er wird gewinnen«, gab Nebogipfel sich optimistisch. »Die Menschen gewinnen nämlich immer.« Er kam auf mich zu, wobei sein weißes Fell im Licht der Morgensonne schimmerte. »Hör mir mal zu.«
Sein plötzliches, unmotiviertes Flüstern irritierte mich. »Was? Was ist los?«
»Ich habe meine Konstruktion fertiggestellt.«
»Welche Konstruktion?«
»Ich werde morgen verschwinden. Wenn du mich begleiten möchtest, bist du willkommen.«
Und er drehte sich um und schlich lautlos zum Wald davon; mit einemmal war sein weißer Rücken in der Dunkelheit der Bäume verschwunden. Ich stand da, ließ mir die Sonne auf den Hals scheinen und starrte dem rätselhaften Morlock nach — und es war, als ob der Tag nicht mehr derselbe wäre, denn meine Gedanken befanden sich in hellem Aufruhr.
Eine schwere Hand legte sich auf meinen Rücken. »Also«, fragte Stubbins, »wo ist dieses großartige Geheimnis, das du für mich hast?«
Ich drehte mich zu ihm um, hatte aber für einige Sekunden Schwierigkeiten, mich auf sein Gesicht zu konzentrieren. »Komm mit«, forderte ich ihn dann mit soviel Elan und guter Laune auf, wie ich aufbringen konnte.
Ein paar Minuten später erhoben Stubbins — und der Rest der Kolonisten — Schalen, die bis zum Rand mit meiner vergorenen Kokosmilch gefüllt waren.
Der übrige Tag verging in einem heiteren Tran. Mein Likör stieß auf ungeahnte Nachfrage — obwohl ich noch viel lieber in der Lage gewesen wäre, eine Pfeifenladung Tabak zu improvisieren! Es wurde ausgiebig getanzt, wobei amateurhaft interpretierte Lieder und Händeklatschen die Geräuschkulisse bildeten. Dargeboten wurde eine beschwingte Musik aus dem Jahre 1944, die von Stubbins als ›Swing‹ bezeichnet wurde und von der ich gerne noch mehr gehört hätte. Ich wünschte mir von ihnen das Lied The Land of the Leal, und ich legte mit meiner üblichen Gesetztheit einen meiner bewährten improvisierten Tänze hin: teils ein Can-can, teils ein Steptanz, und auch noch ein Rest Eigenkreation; auf jeden Fall erregte er große Bewunderung und Heiterkeit. Das Diatryma wurde auf dem Grill geröstet — seine Zubereitung nahm fast den ganzen Tag in Anspruch — und der Abend sah uns im Sand ausgestreckt, mit Tellern, auf denen sich saftiges Fleisch häufte.
Als die Sonne hinter den Baumwipfeln versank, nahm die Zahl der Partybesucher schnell ab; denn die meisten von uns hatten sich an einen Tagesrhythmus gewöhnt, der sich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang erstreckte. Ich sagte ein letztes ›Gute Nacht‹ und verzog mich in die Ruinen meiner improvisierten Hütte. Ich setzte mich vor den Eingang des Unterstandes, schlürfte den letzten Rest meines Kokosweins und beobachtete, wie der Schatten des Waldes über das Meer des Paläozäns wanderte. Dunkle Schemen glitten durch das Wasser: Rochen vielleicht oder Haie.
Ich dachte an das Gespräch mit Nebogipfel und versuchte, zu einer Entscheidung zu gelangen. Nach einiger Zeit hörte ich leise, unregelmäßige Schritte im Sand.
Ich drehte mich um. Es war Hilary Bond — ich konnte ihr Gesicht im letzten Licht des Tages kaum erkennen — und doch war ich irgendwie nicht überrascht, sie zu sehen.
Sie lächelte. »Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten? Haben Sie noch was von diesem Vergorenen da?«
Ich bedeutete ihr, sich neben mich in den Sand zu setzen und reichte ihr meine Schale. Sie trank zurückhaltend. »Es ist ein guter Tag gewesen«, sagte sie.
»Dank Ihnen.«
»Nein. Wir haben alle dazu beigetragen.« Sie streckte plötzlich den Arm aus und ergriff meine Hand, und die Berührung ihrer Haut traf mich wie ein elektrischer Schlag. »Ich möchte Ihnen für alles danken, was Sie für uns getan haben«, meinte sie. »Ihnen und Nebogipfel.«
»Wir haben nicht…«
»Ich bezweifle, daß wir ohne Sie jene ersten paar Tage überlebt hätten.« Ihre leise Stimme war dennoch ziemlich bestimmt. »Und jetzt, mit dem, was Sie uns gezeigt haben und Nebogipfel uns gelehrt hat — nun, ich glaube, daß wir eine echte Chance haben, uns hier eine neue Welt aufzubauen.«
Ihre Finger schmiegten sich zart in meine Hand, und doch konnte ich die Narben ihrer Brandwunden spüren. »Danke Ihnen für die Lobrede. Aber Sie hören sich an, als ob wir weggehen wollten…«
»Das wollen Sie doch«, unterstellte sie. »Oder?«
»Sie wissen von Nebogipfels Plänen?«
Sie zuckte die Achseln. »Ansatzweise.« »Dann wissen Sie mehr als ich. Wenn er ein Zeitfahrzeug gebaut hat — woher hatte er dann z. B. das Plattnerit? Die Juggernauts sind doch zerstört worden.«
»Aus dem Wrack der deutschen Zeitmaschine natürlich.« Sie klang amüsiert. »Haben Sie daran denn nicht gedacht?«
»Und Sie wollen mit Nebogipfel gehen. Richtig?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Sehen Sie, manchmal fühle ich mich alt — und müde — als ob ich bereits genug gesehen hätte!«
Sie schnaufte verächtlich ob dieser Worte. »Quatsch. Schauen Sie: Sie haben es begonnen…« Sie gestikulierte herum. »All das. Zeitreisen — und die ganzen Veränderungen, die sie bewirkt haben.« Sie schaute auf das ruhige Meer. »Und dies hier ist die größte Veränderung überhaupt. Stimmt's?« Sie schüttelte den Kopf. »Sie müssen wissen, daß ich unter anderem auch mit der strategischen Planung am Direktorat für Zeitverschiebungs-Kriegsführung zu tun hatte, und die Engstirnigkeit dieser Typen hat mir jedesmal fast alle Nerven gekostet. Hier den Verlauf einer Schlacht modifizieren, dort ein Attentat auf einen Zinnsoldaten ausführen… Wenn man schon ein solches Gerät wie ein Zeitverschiebungs-Fahrzeug besitzt, und wenn man, wie wir, über das Wissen verfügt, daß der Lauf der Geschichte verändert werden kann, würden Sie, sollten Sie sich dann mit solchen Kinkerlitzchen bescheiden? Warum sich auf ein paar Jahrzehnte beschränken und in der Kindheit Bismarcks oder des Kaisers herumpfuschen, wenn man fünfzig Millionen Jahre zurückgehen kann — was wir auch getan haben? Nun, unseren Kinder bleiben jetzt fünfzig Millionen Jahre, die Welt neu zu gestalten… Wir werden die menschliche Rasse neu erschaffen — oder?« Sie wandte sich mir zu. »Aber Sie haben das Ende noch nicht erreicht. Was, glauben Sie, ist die Ultimate Veränderung? Können Sie den ganzen Weg bis zur Erschaffung der Welt zurückgehen und noch einmal von vorne anfangen? Wie weit kann dieses — Verändern — überhaupt gehen?«
Ich erinnerte mich an Gödel und seine Träume von der Letztgültigen Welt. »Ich weiß nicht, wie weit das gehen kann«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Ich kann es mir nicht einmal vorstellen.«
Ihr Gesicht war meinem ganz nah, und ihre Augen waren wie schwarze Löcher in dem schwindenden Licht. »Dann«, empfahl sie mir, »müssen Sie Weiterreisen und es herausfinden. Stimmt's?« Sie rückte näher, und meine Hand verstärkte den Griff um die ihre, und ihr Atem strich warm über meine Wange.
Ich verspürte eine Starre an ihr — eine Zurückhaltung, die zu überwinden sie gewillt schien, und sei es mit schierer Willenskraft. Ich berührte ihren Arm, spürte vernarbtes Fleisch, und ein Schauer durchlief sie, als ob ich Finger aus Eis hätte. Aber dann umklammerte sie meine Hand und hielt sie gegen ihren Arm. »Sie müssen mir verzeihen«, sagte sie. »Nähe fällt mir schwer.«
»Warum? Wegen der Verantwortung deiner Position?«
»Nein«, meinte sie, und ihr Ton ließ mich dumm und tölpelhaft erscheinen. »Wegen des Krieges. Wegen all jener, die gegangen sind… Manchmal kann ich nur schwer einschlafen. Man leidet jetzt, nicht damals — und das ist die Tragik der Sache. Du spürst, daß du nicht vergessen kannst — und daß du eigentlich kein Recht hast, noch am Leben zu sein. Wenn du uns, die wir gefallen sind, die Treue aufkündigst/ Wir werden nicht schlafen, wo der Mohn blüht/ Auf Flanderns Feldern…«
Ich zog sie näher an mich heran, und sie schmiegte sich an mich, ein zerbrechliches, verwundetes Wesen.
»Warum, Hilary? Warum jetzt?« flüsterte ich im letzten Moment.
»Genetische Vielfalt«, erwiderte sie mit erstickender Stimme. »Genetische Vielfalt…«
Und dann reisten wir weiter — nicht ans Ende der Zeit — sondern zu den Grenzen unseres Menschseins, dort an der Küste dieses Urmeeres.
Als ich erwachte, war es noch dunkel, und Hilary war fort.
Ich erreichte unser altes Lager im hellen Tageslicht. Nebogipfel nahm kaum Notiz von mir durch seine Maske, als ich eintrat; offensichtlich überraschte ihn meine Entscheidung genauso wenig wie Hilary.
Das Zeitfahrzeug war fertig. Es war ein Kasten mit einer Seitenlänge von etwa fünf Fuß, und überall sah ich Fragmente eines mir unbekannten Metalls: das mußten wohl Teile der Messerschmitt sein, die der Morlock geborgen hatte. Da war eine Bank, die aus dem Holz eines Dipterocarps zusammengestoppelt worden war, und ein kleines Instrumentenbord — ein primitives Teil mit Schaltern und Knöpfen —, an dem der blaue Kippschalter prangte, den Nebogipfel aus unserem ersten Zeitfahrzeug gerettet hatte.
»Ich habe ein paar Kleider für dich«, sagte Nebogipfel. Er hielt Stiefel in die Höhe, ein Twillhemd und eine Hose, alles in gutem Zustand. »Ich glaube nicht, daß unsere Kolonisten sie vermissen werden.«
»Danke.« Ich hatte bisher eine Fellhose getragen, die ich jetzt schnell wechselte.
»Wohin willst du?«
Ich zuckte die Achseln.
»Nach Hause. 1891.«
Er verzog das Gesicht. »Ist in der Multiplizität verloren.«
»Ich weiß.« Ich kletterte in die Konstruktion. »Laß uns erstmal in die Zukunft reisen und sehen, wohin es uns verschlägt.«
Ich warf einen letzten Blick auf das Meer des Paläozäns. Ich dachte an Stubbins, den zahmen Diatryma und die morgendlichen Lichtreflexe des Meeres. Ich wußte, daß ich dem Zustand des Glücks hier sehr nahe gekommen war — einer Zufriedenheit, die ich mein ganzes Leben nicht gefunden hatte. Aber Hilary hatte recht: es war noch nicht genug.
Ich verspürte noch immer dieses starke Heimweh; etwas in mir zog mich auf dem Fluß der Zeit entlang, das wohl so stark wie der Instinkt war, der einen Lachs zu seinen Laichgründen zurücklotste. Aber ich wußte, was auch Nebogipfel schon gesagt hatte, daß nämlich mein 1891, diese gemütliche Welt von Richmond Hill, in der Multiplizität verloren war.
Nun: wenn ich schon nicht nach Hause konnte, würde ich weitergehen: Ich würde dieser Straße folgen, bis an ihr Ende!
Nebogipfel schaute mich an. »Bist du bereit?«
Ich bin kein Freund langer Abschiedszeremonien.
»Ich bin soweit.«
Nebogipfel kletterte vorsichtig in die Maschine, wobei er auf sein schlecht gerichtetes Bein achtgab. Ohne weitere Umschweife griff er nach den Instrumenten und legte den blauen Kippschalter um.
Flüchtig nahm ich noch zwei Leute wahr — einen Mann und eine Frau, beide nackt — die über den Strand rannten. Ein Schatten fiel kurz über das Fahrzeug, der vielleicht von einem der riesigen Tiere dieses Zeitalters geworfen wurde; aber bald waren wir schon zu schnell, um solche Details noch erkennen zu können, und wir stürzten in das farblose Wallen der Zeitreise.
Die intensive Sonne des Paläozäns sauste über den Himmel, und ich stellte mir vor, wie die Erde sich aus unserer Perspektive als Zeitreisende wie ein Kreisel um ihre Achse drehte und um ihren Stern raste. Auch der Mond war als eine sich rapide bewegende Scheibe zu erkennen, die durch das Flackern der Mondphasen verwaschen wirkte. Bald verwandelte sich der tägliche Lauf der Sonne in ein silbernes Lichtband, das sich zwischen den Begrenzungen des Äquinoktiums erstreckte, und Tag und Nacht verschmolzen zu dem diffusen blaugrauen Glühen, das ich schon früher beschrieben habe.
Die Dipterocarps-Bäume des Waldes zitterten im Lebenszyklus und wurden vom ungestümen Wachstum jüngerer Pflanzen verdrängt; aber die Szenerie um uns herum — der Wald, das durch unsere Zeitreise zu einer glasigen Ebene erstarrte Meer — blieb in ihren Grundzügen statisch, und ich fragte mich, ob die Menschheit trotz meiner und Nebogipfels Bemühungen letztlich doch nicht im Paläozän hatte überleben können.
Dann — plötzlich — starb der Wald und verschwand.
Es war, als ob eine grüne Decke von der Erde gerissen worden wäre. Aber das Land veränderte sich wieder; kaum war der Wald verschwunden, überzog eine Mischung aus regelmäßigem Braun und Grau — die Gebäude des sich ausdehnenden Alt-Londons — die Erde. Die Stadt expandierte über die abgeholzten Hügel und an uns vorbei hinunter zum Meer, wo Docks und Hafenanlagen entstanden. Die einzelnen Konstruktionen erzitterten und vergingen so schnell wieder, daß wir fast kaum folgen konnten, obwohl ein oder zwei Bauten lange genug bestanden — es müssen wohl einige Jahrhunderte gewesen sein — und fast dunkel wurden, wie grobe Umrisse. Die See verlor ihren blauen Farbton und mutierte zu einer schmutzig-grauen Fläche, wobei wir auf unserer Reise ihre Wellen und Gezeiten nur verschwommen wahrnahmen; die Luft schien einen Stich ins Bräunliche bekommen zu haben, wie der Londoner Nebel von 1890, was die Szenerie in einem düsteren Zwielicht glühen ließ, und die Atmosphäre hatte sich erwärmt.
Erstaunlicherweise wandelte sich im Lauf der Jahrhunderte, ungeachtet des Schicksals einzelner Gebäude, das allgemeine Bild der Stadt nicht. Ich stellte fest, daß das Band des mitten durch die Stadt fließenden Flusses — die Proto-Themse — und die Narben der Hauptstraßen sich im Zeitablauf grundsätzlich nicht veränderten: es war eine eindrucksvolle Demonstration, wie die Geomorphologie, die Gestalt der Landschaft, die menschliche Geographie dominiert.
»Unsere Kolonisten haben offenbar überlebt«, sagte ich zu Nebogipfel. »Sie haben sich zu einer Rasse Neuer Menschen entwickelt, und sie verändern ihre Welt.«
»Ja.« Er schob seine aus Fell geschneiderte Maske zurecht. »Aber bedenke, daß wir mit einer Geschwindigkeit von einigen Jahrhunderten pro Sekunde reisen; wir befinden uns mitten in einer Stadt, die schon ein paar tausend Jahre existiert. Ich bezweifele, daß von dem Alt-London, dessen Gründung wir erlebt hatten, noch viel übrig ist.«
Neugierig blickte ich mich um. Meine kleine Gruppe Exilanten mußte bereits so weit von diesen Neuen Menschen entfernt sein wie die Sumerer von 1891. Ob in dieser großen und quirligen Zivilisation wohl noch irgendwelche Erinnerungen an die Anfänge der menschlichen Rasse in diesem antiken Zeitalter existierten?
Dann registrierte ich eine Veränderung am Himmel: ein merkwürdiges, grünlich flackerndes Licht. Bald realisierte ich, daß das der Mond war, der noch immer die Erde umkreiste und dessen Phasen sich im alten Zyklus so schnell abspulten, daß ich sie nicht verfolgen konnte — aber die Oberfläche dieses geduldigen Trabanten war jetzt grün und blau gefleckt — die Farben der Erde und des Lebens.
Ein besiedelter, erdähnlicher Mond! Diese Neue Menschheit war offensichtlich mit Raumschiffen zu ihrer Schwesterwelt geflogen, hatte sie terraformt und kolonisiert. Vielleicht hatten sie sich zu einer Spezies von Mond-Menschen verwandelt, so groß und spindeldürr wie die Niedergravitations-Morlocks, denen ich im Jahre 657208 begegnet war! Natürlich konnte ich keine Details erkennen, weil der monatelange Orbit des Mondes aus meiner Perspektive zu einem rasend schnellen Umlauf verdichtet wurde; ich bedauerte das, denn ich hätte gerne mit einem Teleskop die neuen Ozeane beobachtet, die in diesen tiefen, alten Kratern schwappten, und die Wälder, die sich über die großen Mondmeere erstreckten. Wie wäre es wohl, auf diesen felsigen Ebenen zu stehen — abgeschnitten von Mutter Erdes Schürzenzipfeln? Bei jedem Schritt in dieser verminderten Schwerkraft würde man durch die dünne, kalte Luft fliegen, wobei die Sonne kraftvoll und unbeweglich am Himmel hing; es wäre wie eine Traumlandschaft, dachte ich mir, in diesem hellen Schein, wo die Pflanzen noch fremdartiger waren als die irdischen Gewächse, die auf dem Meeresgrund zwischen den Felsen sprossen…
Nun, es war ein Anblick, den ich nie erleben sollte. Mit Mühe riß ich mich aus meinen Mondphantasien und konzentrierte die Aufmerksamkeit wieder auf unsere Situation.
Jetzt bewegte sich etwas am westlichen Himmel, tief am Horizont: vereinzelte Lichter flackerten auf, hüpften über den Himmel und nahmen dann eine feste Position ein, um dort für lange Jahrtausende zu verharren. Bald war eine ganze Ansammlung dieser Funken beisammen, und sie verdichteten sich zu einer Art Brücke, die sich zwischen den Horizonten über den Himmel spannte; an ihrem höchsten Punkt zählte ich etliche Dutzend Lichter in dieser Himmelsstadt.
Ich machte Nebogipfel darauf aufmerksam. »Sind das Sterne?«
»Nein«, erwiderte er gleichmütig. »Die Erde dreht sich noch immer, und die echten Sterne sind wohl zu verhangen, um sichtbar zu sein. Die Lichter, die wir sehen, hängen in einer stationären Position über der Erde…«
»Was stellen sie dann dar? Künstliche Monde?«
»Vielleicht. Sie sind sicher von Menschenhand dort errichtet worden. Diese Objekte können künstlich sein — aus Material konstruiert, das von der Erde hochgeschafft wurde, oder vom Mond, dessen Gravitationsquelle viel schwächer ist. Aber es können auch natürliche Objekte sein, die mit Raketen an ihre Positionen rund um die Erde gebracht wurden: eingefangene Asteroiden oder Kometen vielleicht.«
Ich starrte mit der gleichen Ehrfurcht auf diese Lichter, mit der ein Höhlenmensch das Licht eines Kometen beäugt haben mochte, der über seinen nach oben gerichteten, dumpfen Schädel hinwegzog!
»Welchen Zweck könnten solche Raumstationen denn haben?«
»Ein solcher Satellit ist wie ein über der Erde fixierter Turm mit einer Höhe von zweiundzwanzig-tausend Meilen…«
Ich schnitt eine Grimasse. »Welch ein Anblick. Man könnte darin sitzen und die meteorologische Entwicklung einer Erdhälfte überwachen.«
»Oder die Station könnte für die Übermittlung telegraphischer Nachrichten von einem Kontinent zum anderen genutzt werden. Oder, noch radikaler, könnte man sich die Auslagerung großer Industriebetriebe — Schwerindustrie oder Energieerzeugung vielleicht — in die relative Sicherheit der Erdumlaufbahn vorstellen.«
»Aber könnte eine solche Orbital-Industrie denn überhaupt wirtschaftlich arbeiten?«
»Sicherlich — selbst in Anbetracht der knappen Budgets, die das Denken deines Jahrhunderts prägten«, bestätigte er. »Eine derartige Entwicklung bedingt zwar hohe Kapitalkosten, aber sie könnte sich schon nach wenigen Jahrzehnten amortisiert haben. Und längerfristig ist die Auslagerung der Schwerindustrie weg von der Erde ohnehin notwendig, wenn das Wirtschaftswachstum der Menschheit gesichert werden soll.«
»Wie das?«
Er öffnete die Hände. »Du erkennst selbst die Verschmutzung der Luft und des Wassers um uns herum. Die Erde verfügt nur über eine beschränkte Kapazität, die industriellen Abfallprodukte zu absorbieren, und irgendwann könnte der Planet deswegen sogar unbewohnbar werden.
Im Orbit hingegen wären dem Wachstum praktisch keine Grenzen gesetzt: denke dabei nur an die Sphäre, die meine Spezies konstruiert hat.«
Die Temperatur stieg mit zunehmender Luftverschmutzung an. Nebogipfels improvisiertes Zeitfahrzeug funktionierte zufriedenstellend, war aber schlecht kalibriert und schaukelte und schüttelte sich. Ich klammerte mich völlig erledigt an der Bank fest, denn die Kombination aus Hitze, der Schaukelei und dem üblichen, durch die Zeitreise hervorgerufenen Schwindelgefühl verursachte mir starke Übelkeit.
Die um den Äquator verlaufende Orbitalstadt entwickelte sich weiter. Ich sah, daß die zunächst chaotische Konfiguration dieser künstlichen Lichter jetzt bedeutend regelmäßiger war. Nun gab es eine aus sieben oder acht Stationen bestehende Kette, die alle hell strahlten und in gleichmäßigen Abständen um den Globus verteilt waren; ich vermutete, daß hinter dem Horizont noch mehr solcher Stationen positioniert waren, die sich in stetem Umlauf um den Äquator des Planeten befanden. Offensichtlich war die Orbitalstadt in ein neues Entwicklungsstadium eingetreten.
Nun wuchsen dünne Lichtfäden aus den glühenden Stationen und griffen wie zögernde Finger nach der Erde. Die Bewegungen waren gleichförmig und so langsam, daß wir sie mitverfolgen konnten, und ich erkannte, daß ich Zeuge gigantischer Bauprojekte wurde — Projekte, die sich über Tausende von Meilen durch den Raum erstreckten und ganze Jahrtausende umfaßten — und Ehrfurcht überkam mich angesichts der Energie und der Fähigkeiten der Neuen Menschen.
Nach einigen Sekunden tauchten die ersten dieser Lichtfäden unter den nebelverhangenen Horizont. Dann verschwand ein solcher Faden, und die Station, von der er ausgeschickt worden war, wurde wie ein Kerzenlicht in einer Brise ausgelöscht. Offenbar war der Faden heruntergefallen oder abgerissen, und seine Ankerstation war zerstört worden. Ich betrachtete die bleichen, lautlosen Bilder und fragte mich, welchen immensen Schaden — und wieviele Tote — sie wohl repräsentierten! Nach wenigen Augenblicken füllte jedoch eine neue Station die Lücke in der Äquatorialkette aus, und ein neuer Faden wurde abgewickelt.
»Ich traue meinen Augen nicht«, sagte ich zu dem Morlock. »Ich habe den Eindruck, daß sie diese Kabel aus dem Weltraum an der Erde befestigen!«
»Diesen Eindruck habe ich auch«, meinte der Morlock. »Wir sind Zeugen der Konstruktion eines Raum-Aufzuges — einer Verbindung, die zwischen der Erdoberfläche und den Stationen im Orbit eingerichtet wird.«
Ich grinste bei dieser Vorstellung. »Ein Weltraum-Aufzug! Ich würde gerne mal in einem solchen Ding mitfahren: sich über die Wolken erheben und in die majestätische Stille des Raums eintauchen — wenn der Lift aber gläserne Wände hätte, wäre das nur etwas für Schwindelfreie.«
»Wie wahr.«
Jetzt sah ich, daß weitere Lichtkabel zwischen den geostationären Stationen verlegt wurden. Bald waren die glühenden Punkte alle vernetzt, und die Fäden verdickten sich zu einem glühenden Band, das so breit und hell wie die Stationen selbst war. Erneut — obwohl ich unsere Zeitreise im Grunde nicht abbrechen wollte — wünschte ich mir, mehr von dieser großen, weltumspannenden Himmelsstadt sehen zu können.
Die Entwicklung der Erde selbst verlief in dieser Phase indessen weit unspektakulärer. Vielmehr schien es mir, als ob Alt-London stagnierte oder sogar aufgelassen worden wäre. Einige der Gebäude standen bereits so lange, daß sie uns fast fest vorkamen, obwohl sie düster, klotzig und häßlich waren; wohingegen andere zerfielen, ohne ersetzt zu werden. (Dieser Prozeß stellte sich uns als eine mit brutaler Abruptheit auftretende Lückenbildung in der komplexen Skyline dar). Es hatte den Anschein, als ob die Luft noch stickiger und das geduldige Meer noch grauer würde, und ich fragte mich, ob die Menschen sich von der verwüsteten Erde zu den Sternen oder in heimeligere Gefilde unter der Erde abgesetzt hatten.
Ich diskutierte diese Optionen mit dem Morlock.
»Vielleicht«, meinte er vage. »Aber du mußt bedenken, daß seit der Errichtung der ursprünglichen Kolonie durch Hilary Bond und ihre Leute bereits über eine Million Jahre vergangen sind. Die evolutionäre Distanz zwischen dir und den Neuen Menschen dieser Ära ist mittlerweile größer als zwischen dir und den Morlocks meiner eigenen Zeit. Wir können also bestenfalls kluge Spekulationen bezüglich der Lebensweise der hiesigen Rasse und ihrer Motive anstellen — und hinsichtlich ihrer biologischen Beschaffenheit.«
»Ja«, sagte ich nachdenklich. »Aber trotzdem…«
»Ja?«
»Aber trotzdem scheint noch die Sonne. Also hat sich die Entwicklung dieser Neuen Menschen bereits von deiner eigenen abgespalten. Auch wenn sie sich offensichtlich wie ihr im Besitz von Raumschiffen befinden, haben sie nicht das Bedürfnis, die Sonne zu verpacken, wie ihr Morlocks das getan habt.«
»Offensichtlich nicht.« Er streckte seine bleiche Hand in den Himmel. »Es sieht nämlich so aus, daß sie noch viel ambitioniertere Pläne verfolgen.«
Ich wandte den Kopf, um zu sehen, was er damit sagen wollte. Wie ich bemerkte, tat sich schon wieder etwas in dieser großen Orbitalstadt. Diesmal wurden große Schalen — unregelmäßig geformt und sicher mehrere tausend Meilen durchmessend — um die glühende lineare Stadt konfiguriert, wie Früchte an einem Ast. Und sobald eine Schale fertiggestellt war, löste sie sich von der Erde, erstrahlte in einem Feuer, welches das Land erhellte, und verschwand. Aus unserer Perspektive dauerte die Entwicklung eines solchen Artefakts vom Embryonalzustand bis zum flugfähigen Gerät höchstens eine Sekunde; aber ich konnte mir denken, daß jede Dosis dieses grellen Lichts die Erde für Jahrzehnte illuminiert haben mußte.
Es war ein beeindruckender Anblick, und er hielt noch einige Zeit an — mehrere tausend Jahre, nach meiner Schätzung.
Diese Schalen waren natürlich riesige Raumschiffe, die in den Raum aufbrachen.
»Also«, wandte ich mich an den Morlock, »die Menschen verlassen in diesen großen Raumschiffen die Erde. Aber was meinst du, wohin sie gehen? Zu den Planeten? Mars, Jupiter, oder…«
Nebogipfel saß da, hatte den maskierten Kopf in den Nacken gelegt, die Hände im Schoß gefaltet, und die Lichter der Schiffe spielten auf seinem Gesichtsfell. »Man braucht keine derart spektakulären Energien, wie wir sie hier gesehen haben, um solch lächerliche Distanzen zu überwinden. Mit einem Antrieb wie diesem… Ich vermute, daß diese Neuen Menschen ein größeres Ziel verfolgen. Ich glaube, daß sie das Sonnensystem verlassen, genauso wie sie die Erde verlassen haben.«
Ehrfürchtig schaute ich den abfliegenden Schiffen nach. »Was müssen diese Neuen Menschen für bemerkenswerte Leute sein! Ich will ja nichts gegen euch Morlocks sagen, alter Freund, aber trotzdem — welch ein Unterschied in Kompetenz und Motivation! Ich meine — eine Sphäre um die Sonne ist eine Sache, aber ein Aufbruch zu den Sternen…«
»Es ist zutreffend, daß sich unsere Ambitionen auf die sorgfältige Zähmung eines einzigen Sterns beschränkten — und das aus gutem Grund, denn wenn sich die Spezies auf diese Art einen größeren Lebensraum erschließen will, dann bedeutet das tausend, eine Million interstellarer Schiffsreisen.«
»Ja, vielleicht«, konzedierte ich, »aber so dramatisch wird es dann wohl doch nicht, oder?«
Er schob seine rustikale Fellmaske zurecht und überflog die ruinierte Erde. »Möglicherweise nicht. Aber der vernünftige Umgang mit begrenzten Ressourcen — sogar mit dieser Erde — scheint ja nicht gerade in den Kompetenzbereich deiner Neuen Menschen zu fallen.«
Ich mußte ihm rechtgeben. Selbst als das Feuer der Raumschiffe das Meer erhellte, verfielen die Überreste Alt-Londons weiter — die einstürzenden Ruinen schienen zu brodeln, als ob sie schmölzen — und das Meer wurde noch grauer, die Luft noch verpesteter. Die Hitze war jetzt enorm, und ich zog mir das durchgeschwitzte Hemd aus.
Nebogipfel rutschte auf seiner Bank herum und schaute sich unbehaglich um. »Ich glaube — wenn es passiert, wird es schnell geschehen…«
»Was wird?«
Die Hitze übertraf jetzt alles, was ich jemals im Dschungel des Paläozäns ertragen hatte. Die über schmutzigbraune Hügel verstreuten Ruinen der Stadt schienen zu schimmern und irreal zu werden…
Und dann — mit einem Blitz, der so grell war, daß er die Sonne ausblendete, explodierte die Stadt!
Dieses vernichtende Feuer verschluckte uns in Sekundenbruchteilen. Eine neue Hitze — absolut unerträglich — pulsierte durch das Zeitfahrzeug, und ich schrie auf. Aber gnädigerweise ließ die Hitze nach, als die Stadt eingeäschert war.
Dieser Blitz hatte die alte Stadt ausgelöscht. Alt-London war von der Erde verschwunden, und übrig geblieben waren nur einige Aschehügel und geschmolzene Steine, sowie hier und da die Spuren eines Fundaments. Bald ergriff das Leben wieder unermüdlich Besitz von der verbrannten Erde — ein grüner Bezug legte sich über die Hügel und die Ebene, und kleine Bäume zitterten an der Küste durch den Jahreszeitenzyklus — aber die Entwicklung dieses neuen Lebens ging nur langsam voran und schien sich nicht wieder zur alten Pracht zu entfalten; denn alles wurde von einem perlgrauen Nebel bedeckt, der sogar das Nachglühen der Orbitalstadt überlagerte.
»Alt-London ist also zerstört«, rekapitulierte ich perplex. »Glaubst du, daß es ein Krieg war? Dieses Feuer muß Jahrzehnte gewütet haben, bis es keine Nahrung mehr fand.«
»Es war kein Krieg«, stellte Nebogipfel richtig. »Aber dennoch glaube ich, daß es eine von Menschen verursachte Katastrophe gewesen sein muß.«
Was ich jetzt sah, war mir noch nie untergekommen. Die neuen, kärglichen Bäume entwickelten sich zurück, aber sie starben aus meiner Zeitrafferperspektive nicht einfach ab, wie die Dipterocarps, die ich zuvor beobachtet hatte. Vielmehr gingen die Bäume in Flammen auf — sie brannten wie große Streichhölzer — und dann waren sie alle verschwunden. Außerdem sah ich, wie ein großes Feuer das Gras und die Sträucher verzehrte, eine Schwärze, die sich über die Jahreszeiten erstreckte, bis am Ende kein Grashalm mehr wuchs und der Erdboden kahl und dunkel war.
Währenddessen wurden diese perlgrauen Wolken immer größer, und die Bänder der Sonne und des Mondes verdunkelten sich.
»Ich glaube, daß das dort oben Aschewolken sind«, sagte ich zu Nebogipfel. »Es ist, als ob die Erde verbrennte… Nebogipfel, was geschieht da?«
»Es ist so, wie ich befürchtet habe«, meinte er. »Deine Freunde — diese Neuen Menschen…«
»Ja?«
»Mit ihren Manipulationen und ihrer Unachtsamkeit haben sie die klimatische Stabilität des Planeten zerstört.«
Ich erschauerte, denn es war kälter geworden: es war, als ob ein unsichtbarer Wärmetauscher der Welt sämtliche Wärme entziehen würde. Zunächst begrüßte ich dies noch als Linderung der vorher so sengenden Hitze; aber die Kälte wurde schnell unangenehm. »Instabil? Diesen Eindruck könnte man wirklich bekommen.«
»Wir erleben eine Phase erhöhten Sauerstoffgehalts der Atmosphäre und eines erhöhten Luftdrucks«, erläuterte Nebogipfel. »Gebäude, Pflanzen und Gräser — sogar feuchtes Holz — werden sich unter solchen Bedingungen spontan entzünden. Aber es wird nicht lange dauern. Es ist ein Übergang… Eben die Instabilität.«
Jetzt erfolgte ein Temperatursturz — es wurde kalt wie im November — und ich mummelte mich in mein Tropenhemd ein. Ich glaubte, ein kurzes weißes Flackern wahrzunehmen — es waren Schnee und Eis, die im Zyklus der Jahreszeiten das Land bedeckten und dann wieder freigaben — und dann legten sich unabhängig von den Jahreszeiten Eis und Permafrost über die Erde, eine harte grauweiße Oberfläche, die sich allen Anschein der Dauerhaftigkeit verlieh.
Die Erde wurde umgestaltet. Im Westen, Norden und Süden wurden die Konturen des Landes von dieser Schicht aus Eis und Schnee nachgezeichnet. Im Osten war unser Meer des Paläozäns um einige Meilen zurückgewichen; ich konnte seine eisbedeckte Küste sehen, und — weit oben im Norden — ein konstantes weißes Glitzern, das auf Eisberge hindeutete. Die Luft war klar, und ich sah wieder, wie die Sonne und der grüne Mond ihre Bahnen über den Himmel beschrieben, aber nun leuchtete der Himmel in diesem perlgrauen Licht, mit dem sich im Winter Schneefälle ankündigen.
Nebogipfel hatte sich schier zusammengefaltet, die Hände in die Armbeugen gesteckt und die Beine untergeschlagen. Als ich seine Schulter berührte, war das Fleisch eiskalt — es war, als ob seine Lebensgeister sich in den wärmsten Winkel des Körpers verkrochen hätten. Das Haar auf Gesicht und Rücken hatte sich aufgeplustert, wie das Federkleid eines Vogels. Ich spürte einen Anflug von Schuld wegen seines Zustandes, denn wie ich vielleicht schon gesagt hatte, fühlte ich mich für Nebogipfels Verwundungen verantwortlich, entweder direkt oder indirekt. »Komm schon, Nebogipfel. Das ist doch nicht die erste Eiszeit, die wir erleben — die anderen waren viel schlimmer als diese hier — und wir haben sie auch überlebt. Wir legen alle paar Sekunden ein Jahrtausend zurück. Wir werden auch das überstehen und schon bald wieder Sonnenlicht sehen.«
»Du verstehst nicht«, zischte er.
»Was?«
»Das ist nicht nur eine Eiszeit. Siehst du das denn nicht? Es ist ein qualitativer Unterschied… die Instabilität…« Er schloß wieder die Augen.
»Was meinst du damit? Wird das länger dauern als zuvor? Hunderttausend, eine halbe Million Jahre? Wie lange?«
Aber er antwortete nicht.
Ich schlug die Arme um den Körper und versuchte mich zu wärmen. Die Kälte schlug ihre Klauen tiefer in die Erde, und jedes Jahrhundert wurde die Eisdecke dicker, wie eine langsam steigende Flut. Der Himmel über uns schien sich aufzuhellen — das Licht des Sonnenbandes war hell und intensiv, offensichtlich jedoch ohne Wärme — und ich vermutete, daß der Schaden, der dieser dünnen, lebensspendenden Gashülle zugefügt worden war, langsam wieder heilte, wo die Menschen von der Erde verschwunden waren. Diese Orbitalstadt hing noch immer glühend und unzugänglich am Himmel über dem gefrorenen Land, aber es gab keine Spuren von Leben mehr auf der Erde, ganz zu schweigen von Menschen.
Nach einer Million Jahren begann ich die Wahrheit zu ahnen!
»Nebogipfel«, sprach ich. »Sie wird nie zu Ende gehen — diese Eiszeit. Stimmt's?«
Er drehte den Kopf und nuschelte etwas.
»Was?« Ich legte mein Ohr dicht an seinen Mund. »Was hast du gesagt?«
Er hatte die Augen geschlossen; er war bewußtlos.
Ich nahm Nebogipfel und hob ihn von der Bank. Dann legte ich ihn auf den Holzboden des Zeitfahrzeugs, legte mich neben ihn und preßte meinen Körper gegen den seinen. Es war nicht schrecklich unbequem: der Morlock lag wie ein gefrorenes Stück Fleisch auf meiner Brust und ließ mich nur noch mehr frieren; und außerdem mußte ich meinen unterschwelligen Ekel vor der Spezies der Morlocks unterdrücken. Aber ich ertrug das alles, denn ich hoffte, daß meine Körperwärme ihn etwas länger am Leben erhalten würde. Ich sprach zu ihm und massierte seine Schultern und Oberarme; auf diese Art machte ich weiter, bis er aufwachte, denn ich glaubte, daß er — wenn er weiter bewußtlos geblieben wäre — in diesem Zustand in den Tod hätte abgleiten können.
»Erzähl mir von dieser klimatischen Instabilität«, verlangte ich.
Er verdrehte den Kopf und nuschelte: »Was soll das jetzt noch für einen Sinn haben? Deine Freunde, die Neuen Menschen, bringen uns um…«
»Der Sinn ist der, daß ich gerne wüßte, was mich umbringt.«
Nach weiteren einschlägigen Überredungsversuchen zeigte sich Nebogipfel endlich gesprächsbereit.
Er erzählte mir, daß die Erdatmosphäre eine dynamische Angelegenheit sei. Nebogipfel sagte, daß sie zwei natürliche, stabile Zustände annehmen konnte, die beide lebensfeindlich waren, und sie würde das auch tun und aus dem schmalen Band, in dem Leben gedeihen konnte, heraustreten, wenn sie zu stark gestört wurde.
»Aber das verstehe ich nicht. Wenn die Atmosphäre wirklich eine so instabile Mischung ist, wie du sagst, warum hat sie uns dann über so viele Millionen Jahre am Leben erhalten?«
Er erklärte mir, daß die Entwicklung der Atmosphäre von den Prozessen des Lebens selbst stark beeinflußt worden war. »Es besteht ein Gleichgewicht — von atmosphärischen Gasen, Temperatur und Druck — das ideal für das Leben ist. Und so trägt das Leben — in großen, unbewußten Zyklen, in die Billiarden emsig arbeitender Organismen involviert sind — zur Aufrechterhaltung dieses Gleichgewichts bei.
Aber diese Balance ist inhärent instabil. Verstehst du? Sie ist wie ein Bleistift, der auf seiner Spitze balanciert: er wird bei der geringsten Störung sofort umkippen.« Er drehte den Kopf. »Wir Morlocks wissen, daß ihr in die Lebenszyklen eingreift; wir wissen, daß man, wenn die diversen Stabilisierungsmechanismen der Atmosphäre schon beeinträchtigt worden sind, diese zumindest reparieren oder austauschen muß. Wie bedauerlich«, sagte er seufzend, »daß diese Neuen Menschen — deine Helden des Weltraums — diese einfachen Lektionen nicht gelernt hatten!«
»Erzähl mir etwas über die zwei Stabilitäten, Morlock; es hat nämlich den Anschein, daß wir in eine von beiden hineingeraten!«
Im ersten dieser stabilen Zustände würde laut Nebogipfel die Erdoberfläche verbrennen: die Atmosphäre würde so undurchdringlich wie die Wolken über der Venus werden und die Abstrahlung der Sonnenwärme verhindern. Solche kilometerdicken Wolken würden den größten Teil des Sonnenlichts abhalten und nur ein trübes, rötliches Glühen durchlassen; weder die Sonne noch die Planeten und Sterne wären dann von der Erdoberfläche aus zu sehen. In der trüben Atmosphäre würden ständig Gewitter toben, und der Erdboden wäre rotglühend: alles Leben verbrannt.
»So könnte es vielleicht sein«, meinte ich und versuchte ein Schaudern zu unterdrücken, »aber verglichen mit dieser verdammten Kälte klingt das direkt nach einem angenehmen Urlaubsort… Und der zweite deiner stabilen Zustände?«
»Weiße Erde.«
Er schloß die Augen und sprach nicht mehr mit mir.
Ich weiß nicht, wie lange wir dort lagen, zusammengerollt auf dem Boden des Zeitfahrzeugs, und versuchten, den letzten Rest von Körperwärme zu bewahren. Ich konnte mir vorstellen, daß wir die einzigen noch lebenden Wesen auf dem Planeten waren — mit Ausnahme vielleicht einiger robuster Flechten, die sich an einen gefrorenen Felsen klammerten.
Ich stieß Nebogipfel an und redete auf ihn ein.
»Laß mich schlafen«, murmelte er.
»Nein«, lehnte ich so barsch wie möglich ab. »Morlocks schlafen nicht.«
»Ich schon. Ich bin schon zu lange bei den Menschen.«
»Wenn du schläfst, wirst du sterben, Nebogipfel. Ich glaube, daß wir das Fahrzeug anhalten müssen.«
Er sagte eine Weile nichts. »Warum?«
»Wir müssen ins Paläozän zurück. Die Erde ist tot — erstarrt im Griff dieses ewigen Winters — und daher müssen wir in eine geeignetere Vergangenheit zurückgehen.«
»Das ist eine gute Idee…« — er hustete —, »abgesehen von dem Detail, daß sie undurchführbar ist. Ich hatte nämlich keine Möglichkeit, eine komplexe Steuerung in die Maschine einzubauen.«
»Was willst du damit sagen?«
»Daß dieses Zeitfahrzeug rein ballistisch ist. Ich konnte es wohl in die Zukunft oder in die Vergangenheit vektorieren und auch eine bestimmte Distanz vorgeben — wir könnten zum Beispiel ins Jahr 1891 dieser Historie gelangen — aber nach der Vektorierung und dem Start kann ich seinen Flug nicht mehr beeinflussen.
Begreifst du? Das Fahrzeug folgt einem Pfad durch die Zeit, der durch die ursprünglichen Einstellungen und die Kapazität des deutschen Plattnerits definiert wird. Wir werden im Jahre 1891 ankommen — einem vereisten 1891 — und nicht früher…«
Ich spürte, wie mein Zittern nachließ — aber nicht, weil ich mich jetzt vielleicht besser fühlte, sondern, wie ich nun merkte, wegen meiner nachlassenden Kräfte.
Aber vielleicht hatten wir trotzdem noch nicht verloren, spekulierte ich wild: wenn der Planet nun doch nicht verlassen war — wenn die Menschen die Erde wieder aufbauten — vielleicht fanden wir auch eine bewohnbare Klimazone.
»Und die Menschheit? Was ist mit der Menschheit?« drängte ich Nebogipfel.
Er grunzte, und sein geschlossenes Auge rollte. »Wie hätte die Menschheit denn überleben sollen? Die Menschen haben den Planeten aufgegeben — oder sie sind allesamt ausgelöscht worden…«
»Die Erde aufgegeben?« protestierte ich. »Nicht einmal ihr Morlocks, mit eurer Sphäre um die Sonne, seid so weit gegangen!«
Ich schob mich von ihm weg und stützte mich auf die Ellbogen, so daß ich aus dem Zeitfahrzeug nach Süden sehen konnte. Denn hier — dessen war ich jetzt sicher — in Richtung der Orbitalstadt lag unsere Hoffnung.
Aber was ich dann sah, nahm mir jegliche Hoffnung.
Dieser Gürtel um die Erde war zwar noch da, und die Verbindungen zwischen den leuchtenden Stationen standen so hell wie immer —, aber ich bemerkte, daß die senkrechten Linien, mit denen die Stadt auf dem Planeten verankert gewesen war, verschwunden waren. Während ich mit dem Morlock beschäftigt war, hatten die Bewohner der Orbitalstadt ihre Aufzüge abgebaut und damit die Nabelschnur zur Mutter Erde durchtrennt.
Außerdem sah ich, daß ein gleißendes Licht aus einigen der Stationen drang. Dieses Glühen wurde von den Eisflächen der Erde reflektiert, wie ein Kranz aus Miniatursonnen. Der Metallring verließ seine Position über dem Äquator. Zuerst nahm er nur langsam Fahrt auf; aber dann schien sich die Stadt um ihre Achse zu drehen — glühend wie ein Feuerrad — bis sie sich so schnell bewegte, daß ich die einzelnen Stationen nicht mehr erkennen konnte.
Dann war sie weg, von der Erde losgelöst und im Weltall verschwunden.
Die Symbolik dieser großen Absatzbewegung war überwältigend, und ohne das Feuer aus den großen Triebwerken wirkten die Eisfelder der verlassenen Erde noch kälter und grauer als zuvor.
Ich setzte mich wieder ins Fahrzeug. »Es stimmt«, sagte ich zu Nebogipfel.
»Was stimmt?«
»Daß die Erde aufgegeben ist — die Orbitalstadt hat sich losgelöst und ist verschwunden. Der Planet ist am Ende, Nebogipfel — und wir auch, wie ich befürchte!«
Trotz all meiner Bemühungen, ihn wach zu halten, tauchte Nebogipfel in die Bewußtlosigkeit ab; und irgendwann fehlte mir dann die Kraft, weiterzumachen. Ich schmiegte mich an den Morlock und versuchte, seinen klammen, kalten Körper vor der schlimmsten Kälte zu schützen, aber wie mir klar war, ohne viel Erfolg. Ich wußte, daß unsere Reise in Anbetracht des Zeitreisefaktors nicht länger als insgesamt dreißig Stunden dauern konnte — aber was, wenn das deutsche Plattnerit oder Nebogipfels improvisierte Konstruktion fehlerhaft waren? Dann wäre ich für immer in diesem Kontinuum gefangen und würde langsam tiefgefroren — oder ich konnte jeden Moment auf das ewige Eis stürzen.
Ich muß wohl eingeschlafen sein — oder das Bewußtsein verloren haben.
Ich glaubte, den Beobachter — diesen großen breiten Kopf — vor meinen Augen schweben zu sehen, und hinter seinem gliederlosen Torso konnte ich dieses grünliche Sternenfeld erkennen. Ich versuchte, nach den Sternen zu greifen, denn sie schienen so hell und warm; aber ich konnte mich nicht bewegen — vielleicht träumte ich das alles auch nur — und dann war der Beobachter verschwunden.
Schließlich war die Kapazität des Plattnerits erschöpft; das Fahrzeug schlich nur noch dahin, und dann fiel es wieder in die Realzeit zurück.
Das perlartige Glühen des Himmels löste sich auf, und das blasse Sonnenlicht verschwand, als ob ein Schalter betätigt worden wäre: und ich stürzte in die Dunkelheit.
Der letzte Rest unserer aus dem Paläozän importierten Wärme verpuffte in der kalten Luft. Ich spürte, wie Eis an meinem Fleisch nagte — es brannte wie Feuer — und ich konnte nicht atmen, wobei ich nicht wußte, ob das an der Kälte oder an irgendwelchen Schadstoffen in der Luft lag, und bald spürte ich einen starken Druck auf der Brust, als ob ich ertrinken würde.
Ich wußte, daß ich gleich für längere Zeit das Bewußtsein verlieren würde. Deshalb beschloß ich, mir wenigstens dieses 1891 anzusehen, das sich so sehr von meiner eigenen Welt unterschied, bevor ich starb.
Ich zog die Arme unter den Körper — ich konnte die Hände schon nicht mehr spüren — und stemmte mich hoch, bis ich halb saß.
Die Erde lag in einem silbernen Licht, das an Mondlicht erinnerte (zuerst kam es mir jedenfalls so vor). Das Zeitfahrzeug stand wie ein ramponiertes Spielzeug im Zentrum einer alten Eisfläche. Es war Nacht, und es waren keine Sterne zu sehen — zunächst glaubte ich, daß sie sich hinter Wolken verbargen — aber dann sah ich tief am Himmel die Sichel des Neumondes, und ich konnte mir das Fehlen der Sterne nicht erklären; ich fragte mich, ob meine Augen vielleicht unter der Kälte gelitten hätten. Erfreut stellte ich fest, daß die Schwesterwelt noch immer grün war; vielleicht lebten dort noch Menschen. Wie strahlend mußte die gefrorene Erde am Himmel dieser jungen Welt stehen! Dicht beim Mond leuchtete ein helles Licht: kein Stern, denn dazu war es zu nahe — vielleicht war es der Reflex der Sonne auf einem lunaren Meer.
Ein Winkel meines versagenden Gehirns veranlaßte mich, nach der Quelle des silbrigen ›Mondlichts‹ zu suchen, denn es spiegelte sich jetzt an der Wandung des Zeitfahrzeugs, die sich bereits mit einer Eisschicht überzog. Wenn der Mond noch immer grün war, konnte er nicht der Ursprung dieses elfenhaften Glühens sein. Was also dann?
Mit letzter Kraft hob ich den Kopf. Und da, weit über mir am sternenlosen Himmel, hing eine glühende Scheibe: ein schimmerndes, hauchzartes Gebilde, das wie eine Spinnwebe wirkte und ein dutzendmal größer als die Scheibe des Vollmonds war.
Und auf der Eisfläche hinter dem Zeitfahrzeug stand geduldig…
Ich konnte es nicht erkennen; ich fragte mich, ob meine Augen wirklich den Dienst quittierten. Es war pyramidenförmig, etwa mannshoch, aber seine Konturen waren verschwommen, als ob es sich in ständiger insektenhafter Wallung befinden würde.
»Bist du lebendig?« wollte ich diese häßliche Vision fragen. Aber mein Hals war wie zugeschnürt, meine Stimme eingefroren, und ich konnte keine Fragen mehr stellen.
Schwärze umfing mich, und die Kälte fiel endlich von mir ab.