Erstes Buch Dunkle Nacht

Zeitreise

Es gibt drei Dimensionen des Raumes, in denen man sich frei bewegen kann. Und die Zeit ist einfach eine Vierte Dimension: in jeder wichtigen Hinsicht identisch mit den anderen drei, bis auf die Tatsache, daß unser Bewußtsein dazu gezwungen ist, sich stetig in ihr weiterzubewegen, wie mein Stift über diese Seite.

Wenn man nur — so hatte ich bei meinen Studien zu den besonderen Eigenschaften des Lichts spekuliert — wenn man nur die vier Dimensionen von Raum und Zeit anders konfigurieren könnte — z. B. Länge durch Zeit ersetzen — dann könnte man so leicht durch die Korridore der Geschichte streifen wie mit einem Taxi in der Stadt herumfahren!

Das im Material der Zeitmaschine eingelagerte Plattnerit war der Schlüssel zu ihrer Funktionsfähigkeit; das Plattnerit ermöglichte es der Maschine, auf eine spezielle Art und Weise in eine neue Konfiguration der Raumzeit zu rotieren. Deshalb berichteten Augenzeugen, die den Start der Zeitmaschine verfolgt hatten — wie z. B. mein Schriftsteller —, daß sie gesehen hätten, wie das Gerät vor seinem Verschwinden aus der Jetztzeit erratisch rotiert hätte; und deshalb litt der Zeitreisende — also ich — an durch die Zentrifugal- und Corioliskraft induzierten Schwindelgefühlen, die mich glauben ließen, von der Maschine abgeworfen zu werden.

Aber trotz all dieser Effekte hatte der durch das Plattnerit verursachte Spin eine andere Qualität als ein normaler Wirbel oder die langsame Drehung der Erde. Die Wahrnehmung bei dieser Rotation unterschied sich grundlegend von den anderen Varianten, denn der Zeitreisende hatte die Illusion, absolut ruhig im Sattel zu sitzen, während die Zeit an der Maschine vorbeiraste — es war nämlich eine Rotation aus der Raumzeit heraus.


Als sich Dunkelheit über den Tag legte, fielen die verschwommenen Konturen des Laboratoriums von mir weg, so daß ich mich schließlich in der freien Luft befand. Ich reiste wieder durch diesen Abschnitt in der Zukunft, in dem das Laboratorium vermutlich zerstört worden war. Die Sonne schoß wie eine Kanonenkugel über den Himmel, viele Male in der Minute, und beleuchtete die schwache, skelettartige Suggestion eines Gerüstes um mich herum, das aber bald verschwand und mich am freien Hang zurückließ.

Meine Geschwindigkeit durch die Zeit erhöhte sich. Das Flackern von Tag und Nacht verschmolz zu einem tiefblauen Zwielicht, und ich konnte den Mond sehen, der seine Phasen durcheilte wie ein Kinderkreisel. Und als sich die Geschwindigkeit nochmals steigerte, verwandelte sich die Kanonenkugel-Sonne in einen Lichtbogen, der sich durch den Raum spannte, ein Bogen, der am Himmel auf und ab zuckte. Um mich herum spulten sich die Jahreszeiten ab, die durch sukzessives schneeweißes Gestöber und Frühlingsgrün markiert wurden. Schließlich erreichte die Beschleunigung ein Maximum, und ich trat in eine neue, tiefe Stille ein, in der nur die jährlichen Zyklen der Erde selbst — der Umlauf um die Sonne mit den Extremen der Sonnenwende — wie ein Herzschlag über der sich entwickelnden Landschaft pulsierten.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich in meinem ersten Bericht die außergewöhnliche Stille referiert habe, in die man bei einer Zeitreise eintaucht. Das Singen der Vögel, das entfernte Rattern des Verkehrs über das Kopfsteinpflaster, das Ticken der Uhren — sogar das schwache Atmen der Struktur eines Hauses selbst — all diese Dinge bilden einen komplexen und unbewußten Hintergrund unseres Lebens. Aber jetzt, herausgerissen aus der Zeit, wurde ich nur von meiner eigenen Atmung begleitet und von der Zeitmaschine, die unter meinem Gewicht wie ein Fahrrad leise quietschte. Das Gefühl der Isolation war überwältigend — es war, als ob ich in ein fremdes, unheimliches Universum gestürzt wäre, durch dessen Wände unsere eigene Welt nur wie durch verschmutzte Fensterscheiben zu sehen war — aber in diesem neuen Universum war ich das einzige lebende Wesen. Ein profundes Gefühl der Verwirrung ergriff Besitz von mir und erregte in Kombination mit der schwindelerregenden Wahrnehmung des freien Falls, die einen Sturz in die Zukunft immer begleitet, Gefühle tiefen Ekels und der Depression.

Aber jetzt wurde das Schweigen unterbrochen. Ein tiefes Murmeln, dessen Quelle ich nicht ausmachen konnte, schien meine Ohren anzufüllen; es war ein leises Rauschen, wie das Geräusch eines großen Flusses. Ich hatte das schon bei meinem ersten Flug bemerkt; ich konnte mir seinen Ursprung zwar nicht erklären, aber es schien mir so, als ob es sich hierbei um eine Begleiterscheinung meiner unziemlichen Reise durch den gemächlichen Lauf der Zeit handeln würde.

Aber wie sehr sollte ich mich da irren — wie schon so oft bei meinen hastig aufgestellten Hypothesen!


Ich schaute auf die vier chronometrischen Uhren und nahm eine Funktionsprüfung vor, indem ich mit dem Fingernagel auf jede tippte. Auch der Zeiger der zweiten Uhr, der die Tage in Tausender-Intervallen anzeigte, hatte sich schon aus seiner Ruhestellung wegbewegt.

Diese Uhren — treue, stumme Diener — waren denen von Dampfmaschinen entlehnt. Sie maßen eine bestimmte Scherspannung in einem mit Plattnerit dotierten Quarzbrocken, eine Spannung, die durch die Verzerrungseffekte der Zeitreise induziert wurde. Die Uhren zählten Tage — keine Jahre oder Monate oder Schaltjahre oder bewegliche Feiertage! — und das hatte auch seinen guten Grund.

Als ich meine Untersuchungen hinsichtlich der Durchführbarkeit von Zeitreisen begann und insbesondere der Notwendigkeit, dabei die Position der Maschine zu bestimmen, verbrachte ich eine beträchtliche Zeitspanne damit, eine brauchbare chronometrische Uhr anzufertigen, die gleichzeitig Jahrhunderte, Jahre, Monate und Tage darstellen konnte. Mir wurde bald klar, daß ich mit diesem Projekt wahrscheinlich länger zugange sein würde als mit der Konstruktion der Zeitmaschine selbst!

Ich entwickelte eine immense Aversion gegen die Eigenheiten unseres antiken kalendarischen Systems, die aus einer Reihe von fehlerhaften Anpassungen herrühren: von den Versuchen, die Zeit für die Aussaat und die Wintermitte zu fixieren, die bis zu den Anfängen der menschlichen Gesellschaft zurückreichen. Unser Kalender ist eine historische Absurdität, die nicht einmal den mildernden Umstand der Präzision verdient — zumindest nicht im Rahmen der kosmologischen Zeitspannen, die ich überbrücken wollte.

Ich schrieb empörte Briefe an die Philosophical Transactions und später noch an die Times, in denen ich mit Reformvorschlägen aufwartete, die es uns ermöglichen würden, präzise und eindeutig auch in solchen Meßbereichen zu arbeiten, die für den modernen Wissenschaftler wirklich von Interesse sind. Zunächst einmal schlug ich vor, dieses unsinnige Hantieren mit den Schaltjahren zu vergessen. Das Jahr hat annähernd dreihundertfünfundsechzigeinviertel Tage; und dieses unglückliche Viertel ist der Grund für diese ganze lächerliche Scharade mit dem Schaltjahresausgleich. Ich bot zwei Alternativmodelle an, um mit dieser Absurdität aufzuräumen. Wir könnten z.B. den Tag als Basiseinheit festsetzen und dann den Monat und das Jahr als ein Vielfaches des Tages definieren: beispielsweise ein Dreihundert-Tage-Jahr mit zehn Monaten zu je dreißig Tagen. Natürlich würde dann bald die Synchronisierung des Jahreszeitenzyklus mit der Jahresstruktur auseinanderbrechen, aber in einer so entwickelten Zivilisation wie der unseren würde das wohl kaum ein größeres Problem darstellen. So könnte z. B. das Royal Observatory in Greenwich jedes Jahr einen Kalender mit den verschiedenen Sonnenständen herausgeben — Tag- und Nachtgleiche etc. — wie schon 1891 alle Kalender die beweglichen Feiertage der christlichen Kirchen aufgeführt hatten.

Wenn auf der anderen Seite der Jahreszeitenzyklus als Basiseinheit genommen würde, müßten wir einen Neuen Tag als den exakten Bruchteil — z. B. ein Hundertstel — des Jahres definieren. Das würde allerdings bedeuten, daß der Tagesrythmus, unsere Hell-Dunkel-Perioden, an jedem Neuen Tag auf andere Zeiten fallen würde. Aber was würde das schon ausmachen? Wie ich schon sagte, arbeiteten viele Städte bereits auf einer Vierundzwanzig-Stunden-Basis. Und was den menschlichen Aspekt betrifft, so läßt sich das Führen eines schlichten Tagebuches leicht erlernen; mit Hilfe korrekter Aufzeichnungen brauchte man seine Schlaf- und Wachphasen höchstens ein paar Tage im voraus festzulegen, ohne den Lebensrhythmus an sich zu beeinträchtigen.

Schließlich regte ich noch an, daß wir einmal zu dem Tag schauen sollten, an dem sich das Bewußtsein der Menschen von seinem Neunzehntes-Jahrhundert-Blickwinkel auf das Hier und Jetzt erweitert hat, und überlegen, wie die Dinge aussehen könnten, wenn wir in Zeiträumen von zehntausenden Jahren denken. Ich stellte mir einen neuen Kosmologischen Kalender vor, der auf der Präzession der Tag- und Nachtgleiche beruht — dem langsamen Taumeln der Achse unseres Planeten unter dem schwankenden gravitationalen Einfluß von Sonne und Mond — ein Zyklus, der fünfundzwanzigtausend Jahre umfaßt. Mit einem solchen ›Großen Jahr‹ könnten wir unser Schicksal eindeutig und präzise messen, jetzt und für alle Zeit. Die symbolische Bedeutung einer derartigen Korrektur, so argumentierte ich, würde weit über ihren bloßen Nutzeffekt hinausgehen — sie wäre eine geeignete Maßnahme, das heraufziehende neue Jahrhundert zu markieren — denn sie würde der gesamten Menschheit signalisieren, daß das neue Zeitalter des Wissenschaftlichen Denkens begonnen hatte.

Es erübrigt sich zu sagen, daß meine Beiträge ohne Resonanz blieben, abgesehen von spöttischen Kommentaren in einigen Boulevardblättern, die ich jedoch ignorierte.

Nach all diesen Vorkommnissen gab ich meine Versuche auf, ein kalendarisch gestütztes Chronometer-Zählwerk zu konstruieren, und verlegte mich statt dessen auf die simple Zählung von Tagen. Ich hatte schon immer ein Faible für Zahlen, und daher war es nicht schwer für mich, die von den Uhren angezeigten Tage im Kopf in Jahre umzurechnen. Auf meiner ersten Fahrt war ich bis zum Tag 292495934 gekommen, was sich — unter Berücksichtigung der Schaltjahre — als das Jahr 802701 n. Chr. herausstellte. Jetzt jedoch mußte ich so lange reisen, bis die Uhren den Stand von 292495940 Tagen anzeigten — der exakte Tag, an dem ich Weena, und mit ihr einen großen Teil meiner Selbstachtung, verloren hatte, in den Flammen dieses Waldes.


Ich hatte in einer Reihenhaussiedlung in der Petersham Road gewohnt, in dem Abschnitt unterhalb von Hill Rise, ein Stück vom Fluß entfernt. Jetzt, da mein Haus schon lange zerstört war, saß ich auf einem freien Hang. Die Flanke von Richmond Hill erhob sich hinter mir, eine vor Urzeiten entstandene geologische Formation. Die Bäume erblühten und schrumpften erzitternd zu Stümpfen zusammen, wobei ihre jahrhundertelange Existenz zu einigen Herzschlägen komprimiert wurde. Die Themse war ein Band aus silbrigem Licht, geglättet durch meine Reise durch die Zeit, und sie grub sich ein neues Bett: der Fluß schien sich in Gestalt eines großen, trägen Wurmes durch die Landschaft zu winden. Neue Gebäude erhoben sich wie Rauchsäulen: manche stiegen sogar um mich herum auf, an der Stelle meines alten Hauses. Einige dieser Gebäude verblüfften mich durch ihre Größe und Eleganz. Die Richmond Bridge meiner Zeit war längst verschwunden, aber ich erblickte einen neuen Bogen, vielleicht eine Meile lang, der sich freischwebend durch die Luft und über die Themse spannte; und da stießen Türme in die flimmernde Luft, um deren schlanke Silhouetten sich enorme Massen legten. Ich wollte schon meine Kodak nehmen und versuchen, diese Phantasmen zu fotografieren, aber ich wußte, daß die durch die Zeitreise in Mitleidenschaft gezogenen Bildplatten zu lichtschwach waren, um irgend etwas abbilden zu können. Die architektonische Technologie, die ich hier sah, schien mir so weit von den Möglichkeiten des neunzehnten Jahrhunderts entfernt zu sein wie die großen gotischen Kathedralen von den Römern oder Griechen. Sicherlich, überlegte ich, hatten die Menschen dieser zukünftigen Zeit es vermocht, dem gnadenlosen Zug der Schwerkraft Fesseln anzulegen; denn wie sonst hätten sich diese großen Strukturen in den Himmel erstrecken können?

Doch nicht lange, und die große Themsebrücke setzte braune und grüne Flecken an, die Farben des vergänglichen, zerstörerischen Lebens, und — mit einem Blinzeln, so schien es mir — brach sie im Mittelpunkt ein und kollabierte zu zwei nackten Stümpfen an den Ufern. Wie alles Menschenwerk, so sah ich, waren auch diese großen Strukturen vergängliche Schimären, der Vergänglichkeit anheimgegeben, verglichen mit der äonenlangen Geduld des Landes.

Ich fühlte mich der Welt außerordentlich entrückt, ein erhabenes Gefühl, das durch die Zeitreise verursacht wurde. Ich erinnerte mich an die Neugier und den Überschwang, den ich verspürt hatte, als ich zum erstenmal durch diese Träume der Zukunftsarchitektur gerast war; ich dachte zurück an die kurze, fieberhafte Spekulation über die Errungenschaften dieser zukünftigen Menschheit. Jetzt wußte ich es besser; jetzt wußte ich, daß ungeachtet dieser großen Leistungen die Menschheit unweigerlich zurückfallen würde, unter dem unerbittlichen Druck der Devolution, in die Dekadenz und den Niedergang der Eloi und Morlocks.

Ich war betroffen davon, wie unwissend wir Menschen sind — oder uns selbst machen —, was den Lauf der Zeit betrifft. Wie kurz unser Leben ist! — und wie bedeutungslos die Ereignisse, die unser kleines Selbst beschäftigen, wenn man sie aus der großen plastischen Perspektive der Geschichte betrachtet. Wir sind weniger als Eintagsfliegen, hilflos angesichts der permanenten Kräfte der Geologie und Evolution — Kräfte, die unerbittlich walten, und doch so langsam, daß wir uns im Alltagsleben ihrer Existenz nicht einmal bewußt sind.

Eine neue Vision

Bald hatte ich das Zeitalter der Großen Architektur hinter mir gelassen. Neue Häuser und Hallen, groß und scheinbar für die Ewigkeit errichtet, tauchten leuchtend um mich herum auf, alle im Tal der Themse gelegen, und nahmen in meinen Augen eine gewisse Opazität an, die durch den Dopplereffekt bewirkt wurde. Es schien mir, als ob der Bogen der Sonne, die den tiefblauen Himmel zwischen ihren beiden Wendepunkten durchlief, heller würde, und eine grüne Decke legte sich über Richmond Hill und ergriff Besitz von dem Land, verbannte die winterlichen Braun- und Weißtöne. Wieder einmal war ich in jene Ära vorgedrungen, in der die Menschheit eine Klimakontrolle eingerichtet hatte.

Ich überblickte eine Landschaft, die durch meine Geschwindigkeit wie eingefroren wirkte; alle Bewegungsabläufe, wie z. B. die Aktivitäten von Mensch und Tier und sogar die Bewegungen der Wolken am Himmel waren derart verlangsamt, daß mein schweifendes Auge sie nicht wahrnahm. Ich war in einer unheimlichen Stille gefangen. Wenn da nicht das oszillierende Band der Sonne und das intensive, unnatürlich blaue Zwielicht gewesen wären, hätte ich auch allein im Spätsommer in einem Park sitzen können.

Meine Uhren sagten mir, daß ich noch nicht einmal ein Drittel der Distanz meiner großen Fahrt bewältigt hatte — obwohl ich bereits eine Viertelmillion Jahre von meiner eigenen Zeit entfernt war — und doch schien es, als ob die Phase, in der die Menschen die Erde gestaltet hatten, schon vergangen sei. Der Planet hatte sich in einen Garten verwandelt, in dem der Stamm der Eloi unbekümmert in den Tag hinein lebte; und ich wußte, daß Proto-Morlocks sich schon unter die Erdoberfläche verzogen haben mußten und jetzt ihre riesigen, mit Maschinen vollgestellten Kavernen ausschachteten. Es würde sich nur noch wenig tun in dem Abschnitt von einer halben Million Jahren, den ich noch zu bewältigen hatte, abgesehen vom weiteren Niedergang der Menschheit und der Identität der Opfer in den Millionen winziger und schrecklicher Tragödien, aus denen von nun an die Geschichte der Menschen bestehen würde…

Als ich mich jedoch aus diesen morbiden Betrachtungen löste, bemerkte ich, daß es doch eine Veränderung gab, die langsam mit der Landschaft vor sich ging. Ich verspürte ein Unbehagen, das diesmal nicht nur vom üblichen Schaukeln der Zeitmaschine herrührte. Etwas war anders — aber was? War vielleicht etwas mit dem Licht?

Vom Sattel aus überflog ich die geisterhaften Bäume, die ebenen Wiesen um Petersham und die Biegung der geduldigen Themse.

Dann sah ich hoch zu dem durch die Zeit geglätteten Himmel, und plötzlich registrierte ich, daß das Sonnenband stationär am Firmament stand. Die Erde rotierte noch immer so schnell um ihre Achse, daß die Bewegung unseres Sterns im All verschwamm und die Wandelsterne überhaupt nicht zu sehen waren, aber dieses Band aus Sonnenlicht oszillierte nicht mehr zwischen seinen Wendepunkten: es war statisch und unbewegt wie eine Konstruktion.

Mit einemmal meldeten sich die Übelkeit und das Schwindelgefühl zurück. Ich mußte mich an den Streben der Maschine festhalten und schluckte, als ich mich bemühte, den Körper unter Kontrolle zu bekommen.

Es fällt mir schwer, den Eindruck zu vermitteln, den diese triviale Veränderung meiner Umgebung auf mich machte. Zunächst war ich von dem schieren technologischen Niveau geschockt, das die Suspendierung des Jahreszeitenzyklus ermöglicht hatte. Die Erdjahreszeiten wurden eigentlich durch die zur Bahnebene um die Sonne geneigte Planetenachse verursacht. Und jetzt schien es auf der Erde keine Jahreszeiten mehr zu geben. Das konnte nur bedeuten — schlagartig wurde mir das klar —, daß die Deklination des Planeten aufgehoben worden war.

Ich versuchte mir vorzustellen, wie sie das geschafft hatten. Welch riesige Maschinen mußten an den Polen installiert worden sein? Welche Maßnahmen waren getroffen worden, um sicherzustellen, daß die Erdoberfläche während dieses Vorgangs nicht von tektonischen Verwerfungen in Mitleidenschaft gezogen wurde? — Vielleicht, so spekulierte ich, hatten sie irgendeinen riesigen Magneten verwendet, der den flüssigen und magnetischen Kern des Planeten manipuliert hatte.

Aber es war nicht nur der Umfang dieses ›Terraformens‹, der mich beunruhigte: noch erschreckender war die Tatsache, daß ich diese Regulierung der Jahreszeiten nicht auch bei meinem ersten Abstecher in die Zukunft bemerkt hatte. Wie war es möglich, daß mir eine solch enorme und profunde Veränderung entgangen war? Schließlich bin ich zum Wissenschaftler ausgebildet worden; meine Profession ist es, zu beobachten.

Ich rieb mir die Augen, starrte hoch zu dem am Himmel hängenden Sonnenband und weigerte mich einfach, seine Bewegungslosigkeit hinzunehmen. Aufgrund meiner Reise durch die Zeit wurde ich durch den Dilatationseffekt von der Realität der alternden Welt um mich herum abgeschirmt, so daß ich die Wärme der Sonnenstrahlen nicht spüren konnte. Aber ihre Helligkeit stach mir in die Augen, und es hatte den Anschein, als ob das Band noch heller würde. Zunächst fragte ich mich, ob mir die Phantasie einen Streich spielte oder ob ich etwas an den Augen hätte. Benebelt senkte ich den Kopf, wischte ein paar Tränen am Jackenärmel ab und blinzelte, um die Augen von Streifen verschwommener Lichtpunkte zu befreien.

Ich bin weder ein Primitiver noch ein Feigling — schließlich hatte ich eine Zeitmaschine konstruiert und war in eine unbekannte Zukunft aufgebrochen — und doch, als ich auf dem Sitz hockte und an die immensen Leistungen dieser zukünftigen Menschen dachte, kam ich mir wie ein nackter und bemalter Wilder vor, der vor diesem komischen Götterhimmel kniete. Aus den Tiefen des Bewußtseins fühlte ich eine tiefe Besorgnis um meine geistige Gesundheit emporsteigen; und dennoch klammerte ich mich an den Glauben, daß ich es — irgendwie — doch versäumt hatte, dieses verblüffende astronomische Phänomen auf meiner ersten Reise zu registrieren. Denn die einzige Alternativhypothese jagte mir eine unsägliche Angst ein: daß ich mich auf meiner ersten Reise eben nicht vertan hatte; daß die Erdachse damals eben nicht verschoben war — sondern daß sich der Ablauf der Geschichte selbst geändert hatte.


Die fast unvergänglichen Konturen der Hügelkette waren unverändert — die Morphologie des uralten Landes wurde von diesem aufkommenden Licht am Himmel nicht beeinträchtigt — aber ich konnte erkennen, daß sich das weite Grün, von dem das Land bedeckt gewesen war, nun unter der stetigen Glut der intensivierten Sonne zurückgezogen hatte. Jetzt bemerkte ich ein entferntes Flackern über dem Kopf und schaute mit vorgehaltener Hand nach oben. Das Flackern ging von dem Sonnenband am Himmel aus — oder von dem, was einmal das Sonnenband gewesen war, denn ich registrierte, daß ich jetzt irgendwie wieder in der Lage war, den kanonenkugelartigen Flug der Sonne zu beobachten, wie sie auf ihrer täglichen Bahn über den Himmel schoß; ihre Bewegung war jetzt nicht mehr so rapide, daß ich sie nicht mehr hätte verfolgen können, und es war der Tag-Nacht-Rhythmus, der das von mir wahrgenommene Flackern hervorrief.

Zuerst dachte ich, daß meine Maschine langsamer werden würde. Als ich dann aber auf die Instrumente niederblickte, sah ich, daß die Zeiger mit der gleichen Geschwindigkeit wie bisher über die Skalen huschten.

Die perlgraue Uniformität des Lichts löste sich auf, und die Übergange zwischen Tag und Nacht wurden prononcierter. Die Sonne glitt über den Himmel und wurde mit jedem Durchlauf langsamer, heiß und hell und gelb; und bald erkannte ich, daß der flammende Stern viele Jahrhunderte benötigte, um einen Umlauf um die Himmelssphäre zu vollenden.

Schließlich kam die Sonne ganz zum Stillstand; sie verhielt am westlichen Horizont, heiß und gnadenlos und stetig. Die Eigenrotation der Erde hatte aufgehört; nun wandte sie ständig dieselbe Seite der Sonne zu!

Die Wissenschaftler des neunzehnten Jahrhunderts hatten vorhergesagt, die Gezeiteneffekte der Sonne und des Mondes würden irgendwann dazu führen, daß die Eigendrehung der Erde zum Erliegen käme und sie der Sonne dann immer dieselbe Seite zuwenden würde, genauso wie der Mond der Erde nur eine Seite zukehrte. Ich hatte das auf meiner ersten Reise in die Zukunft selbst beobachtet: aber dies war ein Ereignis, das eigentlich erst in vielen Millionen Jahren eintreten sollte. Und doch fand ich schon jetzt, kaum mehr als eine halbe Million Jahre in der Zukunft, eine zum Stillstand gebrachte Erde vor!

Ich realisierte, daß ich erneut die Hand der Menschheit am Werk gesehen hatte — vom Affen abstammende Finger, die mit der Attitüde von Göttern über die Jahrhunderte griffen. Nicht damit zufrieden, die Position seiner Welt verändert zu haben, hatte der Mensch die Rotation der Erde selbst aufgehoben und damit den uralten Zyklus von Tag und Nacht verbannt.

Ich ließ den Blick über Englands neue Wüste schweifen. Hier und da ortete ich die Konturen zäher Büsche — deren Form ein wenig an Oliven erinnerte —, die in dieser öden Landschaft um das Überleben kämpften. In diesem Land waren alles Gras und alle Pflanzen abgestorben und hatten nur einen ausgetrockneten Lehmboden zurückgelassen. Von der majestätischen Themse, die sich auf einer Breite von vielleicht einer Meile durch diese Ebene gezogen hatte, war am Schluß nur noch ein trockenes Flußbett zu sehen. Ich war kaum der Ansicht, daß diese jüngsten Veränderungen dem Ort zum Besseren gereicht hätten: wenigstens hatte die Welt der Morlocks und Eloi den Niedergang des urtümlichen Charakters der englischen Landschaft miterlebt, mit ihrem Reichtum an Vegetation und Wasser; wenn man die Britischen Inseln irgendwohin in die Tropen geschleppt hätte, wäre sicherlich der gleiche Effekt eingetreten.

Jetzt war die in den letzten paar Jahrtausenden eingetretene Wüstenbildung durch das Anhalten der Erdrotation indessen noch verstärkt worden. Ich stellte mir den armen Planeten vor, die eine Seite für immer auf die Sonne geheftet, die andere von ihr abgewandt. Ich überlegte mir, daß es am Äquator im Zentrum der Tagseite wohl so heiß sein mußte, daß man bei lebendigem Leibe geröstet wurde. Und die Luft mußte in Gestalt von Hurrikanen von der überhitzten Sonnenseite zu der kühleren Hemisphäre rasen, um sich dort als ein Schauer aus Sauerstoff und Stickstoff über den zugefrorenen Ozeanen niederzuschlagen. Wenn ich die Maschine jetzt anhielte, würde ich vielleicht von einem dieser Orkane mitgerissen werden, den letzten Atemstößen der Lunge eines Planeten! Der Prozeß würde erst dann abgeschlossen sein, wenn die Tagseite absolut verdorrt, ohne Atmosphäre und bar jeglichen Lebens und die Nachtseite unter einer dünnen Schicht gefrorener Atmosphäre begraben wäre.

Ich erkannte mit zunehmendem Schrecken, daß mir der Weg nach Hause abgeschnitten war! — denn um den Rückflug anzutreten, mußte ich die Maschine anhalten, und wenn ich das täte, würde ich wahlweise in ein Land des Vakuums oder der sengenden Hitze stürzen, so tot wie die Oberfläche des Mondes. Aber sollte ich weiterfliegen, in eine Ungewisse Zukunft, und hoffen, daß ich in den Tiefen der Zeit eine Welt finden würde, auf der ich überleben konnte?

Jetzt war ich mir sicher, daß die Wahrnehmungen während der Zeitreise bzw. die Erinnerungen daran ziemlich verzerrt sein mußten. Es war nämlich kaum vorstellbar, daß ich auf meinem ersten Flug in die Zukunft die Aufhebung der Neigung der Erdachse und die Eliminierung der Jahreszeiten übersehen haben konnte — obwohl ich es kaum glauben konnte —, indes hielt ich es für völlig unwahrscheinlich, die Verlangsamung der Erdrotation nicht bemerkt zu haben.

Es konnte kein Zweifel bestehen: Ich bewegte mich durch Ereignisse, die massiv von jenen abwichen, die ich auf meiner ersten Reise erlebt hatte.

Ich neige von Natur aus zu Spekulationen und bin im Grunde auch nie um eine oder zwei originelle Hypothesen verlegen; aber in jenem Moment saß der Schock so tief, daß ich nicht mehr klar denken konnte. Es war, als ob mein Körper noch immer durch die Zeit stürzte, das Gehirn jedoch zurückgelassen hätte, irgendwo in der klebrigen Vergangenheit. Ich glaube, daß ich vorher lediglich einen Pseudomut kultiviert hatte, eine Fassade, die von der selbstgefälligen Erwägung gestützt wurde, daß ich mich zwar in Gefahr begab, aber zumindest in eine solche, mit der ich schon einmal konfrontiert gewesen war. Jetzt hatte ich allerdings nicht die geringste Ahnung, was mich in den Korridoren der Zeit erwartete!

Während ich diesen morbiden Gedanken nachhing, registrierte ich fortdauernde Veränderungen am Himmel — als ob die Demontage der natürlichen Ordnung der Dinge noch nicht weit genug gediehen gewesen wäre! Die Lichtstärke der Sonne erhöhte sich weiter. Und — man konnte sich kaum sicher sein, bei der enormen Helligkeit — ich meinte wahrzunehmen, daß sich jetzt auch die Form des Sterns veränderte. Seine Konturen verschwammen am Himmel und verzerrten sich zu einem elliptischen Lichtfleck. Ich fragte mich, ob die Sonne sich jetzt schon so schnell drehte, daß sie durch die Rotationsgeschwindigkeit abgeplattet wurde.

Und dann — aus heiterem Himmel — explodierte die Sonne.

Im Schattenreich

Ich schrie auf und vergrub das Gesicht in den Händen; aber ich konnte dennoch das Licht der stärker gewordenen Sonne sehen, das sogar durch die Finger drang und grell vom Nickel und Messing der Zeitmaschine reflektiert wurde.

Lichtblitze eruptierten mit einem immensen Flackern an den Polen des Sterns. Innerhalb weniger Herzschläge hatte sich die Sonne in einen glühenden Mantel aus Licht gehüllt. Hitze und Licht stachen erneut auf die geschundene Erde herab.

Dann ließ der Lichtsturm wieder so schnell nach, wie er begonnen hatte, und eine Art Schale legte sich um die Sonne, als ob ein riesiges Maul das Gestirn verschlucken würde — und dann stürzte ich in die Dunkelheit!

Ich ließ die Hände sinken und fand mich in pechschwarzer Finsternis wieder, unfähig, etwas zu sehen, obwohl mir immer noch Sterne vor den Augen tanzten. Ich spürte den harten Sattel der Zeitmaschine unter mir, und als ich die Hände ausstreckte, ertastete ich die Gläser der kleinen Uhren; und die Maschine schaukelte noch immer, als ob sie ihren Flug durch die Zeit weiter fortsetzen würde. Ich begann mich zu fragen — angsterfüllt! —, ob ich mein Sehvermögen verloren hätte.

Verzweiflung wallte in mir auf, schwärzer als die mich umgebende Dunkelheit. Sollte mein zweites Abenteuer schon so früh und so ruhmlos enden? Ich streckte die Hände aus, tastete nach den Steuerhebeln, und mein auf Hochtouren arbeitendes Gehirn begann Szenarien zu entwerfen, wonach ich die Gläser von den Chronometern abnahm und mich womöglich durch das Zurückdrehen der Zeiger nach Hause durchschlug.

… Und dann merkte ich, daß ich doch nicht blind war: ich sah tatsächlich etwas.

In mancherlei Hinsicht war dies der bisher merkwürdigste Aspekt der ganzen Reise — so merkwürdig, daß ich zunächst überhaupt keine Angst verspürte.

Zuerst machte ich ein Licht in der Finsternis aus. Es war eine vage, verschwommene Helligkeit, einem Sonnenaufgang vergleichbar, und so schwach, daß ich nicht wußte, ob mir meine trüben Augen nur etwas vorgaukelten. Ich glaubte, überall um mich herum Sterne sehen zu können; aber sie waren schwach, ihr Licht gedämpft, als ob man sie durch eine Milchglasscheibe betrachten würde.

Und jetzt, in dem trüben Glühen, begann ich zu realisieren, daß ich nicht allein war.

Das Wesen stand ein paar Yards vor der Zeitmaschine — oder vielmehr hing es frei in der Luft. Es war eine Fleischkugel: etwas, das wie ein schwebender Kopf aussah, mit vier Extremitäten rundum und zwei Tentakelbüscheln, die wie groteske Finger herabbaumelten. Sein Mund war als fleischiger Schnabel ausgeformt, und es hatte keine Nase, zumindest keine, die ich als solche identifizieren konnte. Ich bemerkte jetzt, daß die Augen des Wesens — zwei an der Zahl, groß und dunkel — menschlich waren. Es schien Laute auszustoßen — ein leises, murmelndes Blubbern, wie ein Fluß — und ich realisierte mit einem Anflug von Angst, daß dies genau der Laut war, den ich schon früher auf dieser Expedition vernommen hatte, und auch schon auf meinem ersten Ausflug in die Zeit.

Hatte dieses Wesen — dieser Beobachter, wie ich es nannte — mich etwa unerkannt begleitet, auf beiden Expeditionen durch die Zeit?

Mit einemmal raste es auf mich zu. Dann schaute es zu mir hoch, keine drei Fuß von meinem Gesicht entfernt!

Jetzt gingen die Nerven mit mir durch. Ich schrie auf und riß unter Mißachtung der Konsequenzen an dem Hebel.

Die Zeitmaschine schmierte ab — der Beobachter verschwand — und ich wurde in die Luft geschleudert!

Ich versank in Bewußtlosigkeit — wie lange, weiß ich nicht. Langsam kam ich wieder zu mir, wobei ich mit dem Gesicht nach unten auf einer harten, sandigen Oberfläche lag. Ich glaubte, heißen Atem im Genick zu spüren — ein Flüstern, weiches Haar, das über meine Wange strich — als ich aber aufstöhnte und wieder auf die Füße kam, verschwanden diese Wahrnehmungen.

Ich war von tintenfarbener Dunkelheit umgeben. Ich verspürte weder Wärme noch Kälte. Ich saß auf einer harten, sandigen Fläche. Es ging kein Wind, und ein schaler Geruch hing in der Luft. Mein Kopf schmerzte durch den Stoß, den er erhalten hatte, und außerdem hatte ich meinen Hut verloren.

Ich streckte die Arme aus und tastete in meiner Umgebung herum. Zu meiner großen Erleichterung wurde ich fast sofort durch eine sanfte Kollision mit einem Gewirr aus Elfenbein und Messing belohnt: es war die Zeitmaschine, die wie ich in dieser dunklen Wüste gestrandet war. Ich streckte beide Hände aus und berührte die Verstrebungen und Vorsprünge der Maschine. Sie war zwar umgestürzt, aber in der Dunkelheit konnte ich nicht erkennen, ob sie vielleicht beschädigt war.

Natürlich mußte ich Licht haben. Ich suchte in der Tasche nach Streichhölzern — nur um dann keine zu finden; ich Narr hatte sie ganz tief im Rucksack unter den gesamten sonstigen Vorräten verpackt! Für einen Moment ergriff mich Panik; aber es gelang mir, sie zu unterdrücken, und ich stand zitternd auf und ging zur Zeitmaschine. Ich überprüfte sie durch Abtasten auf Schäden und suchte die gekrümmten Verstrebungen ab, bis ich den Rucksack fand, der noch immer sicher unter dem Sattel verstaut war. Ungeduldig fummelte ich den Beutel auf und durchstöberte ihn. Ich fand zwei Streichholzschachteln und steckte sie in die Jackentasche; dann nahm ich ein Streichholz heraus und riß es an der Schachtel an.

… Da war ein Gesicht, unmittelbar vor mir, gerade eineinhalb Fuß entfernt, und glühte im Lichtkreis des Streichholzes: Ich sah stumpfe weiße Haut, einen von flachsblondem Haar eingerahmten Schädel und große, graurote Augen.

Das Wesen artikulierte einen seltsamen, gurgelnden Schrei und verschwand in der außerhalb der Streichholzglut liegenden Dunkelheit.

Es war ein Morlock!

Das Streichholz brannte bis auf die Finger herunter, und ich warf es weg; als ich nach einem neuen kramte, hätte ich vor lauter Panik fast die wertvolle Schachtel fallen lassen.

In dunkler Nacht

Der stechende Schwefelgeruch der Streichhölzer stieg mir in die Nase, und ich bewegte mich über die sandige Fläche zurück, bis ich mit dem Rücken an die Messingrohre der umgestürzten Zeitmaschine stieß. Nachdem ich einige Minuten lang diesem Schrecken ausgesetzt gewesen war, kam mir endlich der Gedanke, eine Kerze aus dem Rucksack zu holen. Ich hielt die Kerze dicht vor das Gesicht und starrte in die gelbe Flamme, ohne das warme Wachs zu beachten, das mir über die Finger tröpfelte.

Allmählich gelang es mir, Strukturen in der Welt um mich herum zu erkennen. Ich konnte das Messinggewirr und das Quarz der umgestürzten Zeitmaschine erkennen, das im Kerzenlicht funkelte, und eine Form — wie eine große Statue oder ein großes Gebäude —, die sich bleich und massig nicht weit von meinem Standort in die Höhe reckte. Das Land war nicht völlig ohne Licht. Die Sonne mochte wohl verschwunden sein, aber abschnittsweise schienen die Sterne über mir noch, obwohl ihre Konstellation sich durch den Zeitablauf seit meiner Kindheit verändert hatte. Von unserem freundlichen Mond war indessen nichts zu sehen.

In einem Sektor des Himmels leuchteten überhaupt keine Sterne: Im Westen, auf den schwarzen Horizont zu, war eine flache Ellipse, die, ohne von Sternen unterbrochen zu werden, ein ganzes Viertel des Himmels einnahm. Das war die Sonne, verpackt in dieser erstaunlichen Schale!

Als ich wieder voll beisammen war, entschied ich, daß meine erste Aktion der Sicherung meiner Rückreise gelten mußte: Ich mußte die Zeitmaschine wieder flottmachen — aber natürlich nicht im Dunklen! Ich kniete mich hin und tastete den Boden ab. Der Sand war hart und feinkörnig. Ich setzte den Daumen als Grabwerkzeug ein und hob eine kleine Vertiefung aus; in diesen improvisierten Halter setzte ich die Kerze und hoffte, daß nach ein paar Augenblicken genügend Wachs produziert worden war, um sie noch sicherer zu verankern. Jetzt konnte ich meine Operationen bei permanentem Licht ausführen und hatte auch noch die Hände frei.

Ich biß die Zähne zusammen, holte tief Luft und begann mich mit dem Gewicht der Maschine abzumühen. Ich schob Hände und Knie unter ihren Rahmen und versuchte, das Ding wieder aufzurichten — die Maschine war auf Robustheit ausgelegt worden und nicht auf Handlichkeit — bis sie schließlich unter meinem Einsatz nachgab und wieder die richtige Position einnahm. Dabei streifte ein Nickelstab ziemlich schmerzhaft meine Schulter.

Ich legte eine Hand auf den Sattel und fühlte, daß sein Leder an einigen Stellen vom Sand dieser neuen Zukunft aufgerauht worden war. In der Dunkelheit meines eigenen Schattens streckte ich die Arme aus und stieß schließlich mit den tastenden Fingerspitzen auf die chronometrischen Instrumente — ein Glas war zerbrochen, aber die Mechanik selbst schien noch zu funktionieren — sowie auf die zwei weißen Hebel, mit denen ich nach Hause gelangen konnte. Als ich die Hebel berührte, erzitterte die Maschine wie ein Geist und erinnerte mich daran, daß sie — und ich — nicht aus dieser Zeit waren: daß ich jetzt jederzeit, ganz nach Belieben, nur auf die Maschine zu klettern brauchte, um in die Sicherheit des Jahres 1891 zurückzukehren, mit keinem größeren Risiko als einem leicht angeknacksten Stolz.

Zuerst einmal beschloß ich zu eruieren, in welchen Zeitabschnitt es mich überhaupt verschlagen hatte. Ich beugte mich über die Uhren, aber wegen des gesprungenen Glases und des Schattens der Kerze konnte ich sie unmöglich ablesen. So nahm ich die Kerze aus ihrer Vertiefung im Sand und hielt sie gegen die Uhren. Ich sah, daß sie den Tag 239 354 634 anzeigten: deshalb — nahm ich jedenfalls an — befand ich mich im Jahr 657208 n. Chr. Meine kühnen Überlegungen hinsichtlich der Veränderlichkeit von Vergangenheit und Zukunft mußten also stimmen; denn diese dunkle Hügelkette befand sich in einer Zeit, die hundertfünfzigtausend Jahre vor Weenas Geburt lag, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie sich jener sonnenüberflutete Garten aus dieser lichtlosen Finsternis hätte entwickeln sollen!

Ich weiß noch, wie mich mein Vater in meiner frühen Kindheit mit einem primitiven Wunderspielzeug unterhalten hatte, das ›Stereoskop‹ genannt wurde. Lieblos kolorierte Bilder wurden mittels einer fernglasähnlichen Optik auf eine Leinwand projiziert. Das Bild wurde zunächst von der rechten Linse des Apparates abgebildet; dann wurde das Licht auf die linke Seite verschoben, so daß das rechts dargestellte Bild langsam verblaßte, während das andere immer heller wurde. Als Kind hatte mich die Art tief beeindruckt, auf die sich eine klare Realität in ein Phantom verwandelte, schließlich verschwand und dann durch einen Nachfolger ersetzt wurde, dessen Gestalt zuvor nur in Umrissen zu erkennen gewesen war. Es waren magische Momente, als die beiden Bilder sich exakt in der Balance befanden, und es war schwer zu sagen, welche Details sich nun entwickelten oder abnehmende Realitäten waren, oder ob überhaupt irgendein Teil des Bilderensembles ›real‹ war.

Als ich also in der abgedunkelten Landschaft stand, fühlte ich, wie die dezidierte Beschreibung der Welt, die ich für mich konstruiert hatte, an Profil verlor und durch eine höchst vage Version ersetzt wurde, die zudem eher für Verwirrung als für Klarheit sorgte!

Die Divergenz der beiden Historien, die ich beobachtet hatte — zuerst das Gebäude in der Gartenwelt der Eloi; dann das Erlöschen der Sonne und die Entstehung dieser planetarischen Wüste — ging über meinen Verstand. Wie konnte sich etwas ereignen und dann doch nicht ereignen?

Ich gedachte der Worte des Thomas von Aquin: daß »Gott die Vergangenheit nicht ungeschehen machen kann. Es ist noch weniger möglich, als die Toten wieder lebendig zu machen…« Das hatte ich auch mal geglaubt! Ich neige eigentlich nicht zu philosophischen Spekulationen, aber ich hatte mir die Zukunft immer als eine Verlängerung der Vergangenheit vorgestellt: fest und unveränderlich, sogar für einen Gott — und ganz gewiß für den Menschen. In meiner Vorstellung war die Zukunft wie ein großer Raum, unverrückbar und statisch. Und mit meiner Zeitmaschine konnte ich quasi auf Expedition zu den Möbeln der Zukunft gehen.

Aber nun mußte ich mich offensichtlich damit vertraut machen, daß die Zukunft eben keine statische Sache war, sondern eine variable! Wenn dem wirklich so war, überlegte ich, welche Bedeutung würde dann überhaupt dem Leben der Menschen zukommen? Es war schon schlimm genug, den Gedanken zu ertragen, daß alle Leistungen, die man erbracht hatte, durch die Erosion der Zeit der Bedeutungslosigkeit anheimfallen würden — und wer hätte das besser wissen können als ich? —, aber wenigstens würde einem immer noch der Trost bleiben, daß die erschaffenen Monumente und die Dinge, die man geliebt hatte, einmal gewesen waren. Doch wenn die Geschichte zu dieser totalen Auslöschung und Modifikation in der Lage war, welchen möglichen Wert könnte man dann den menschlichen Aktivitäten überhaupt noch zuschreiben?

Beim Grübeln über diese beunruhigenden Perspektiven hatte ich den Eindruck, daß sich die Stringenz meiner Gedanken und die Präzision meiner Wahrnehmung der Welt auflösen würden. Ich starrte in das Kerzenlicht und suchte nach den Umrissen eines neuen Verständnisses.

Ich war noch nicht am Ende, überlegte ich mir dann; meine Furcht ließ nach, und mein Geist blieb standhaft und stark. Ich würde diese bizarre Welt erforschen, so viele Bilder wie möglich mit meiner Kodak machen und dann ins Jahr 1891 zurückkehren. Dort konnten sich dann versiertere Philosophen als ich mit diesem Paradoxon herumschlagen, zwei Zukünfte, die sich gegenseitig ausschlossen.

Ich ergriff den Rahmen der Zeitmaschine, schraubte die kleinen Hebel los, mit deren Hilfe ich die Reise durch die Zeit beginnen würde und verstaute sie sicher in der Tasche. Dann suchte ich herum, bis ich die solide Masse meines Schürhakens fand; er steckte noch immer dort, wo ich ihn in der Maschine untergebracht hatte. Ich packte seinen dicken Griff, zog ihn hervor und wog ihn in der Hand, wobei ich ihn wegen seines Gewichts als Waffe brauchbar fand. Meine Zuversicht wuchs, als ich mir vorstellte, einigen Morlocks die Weichbirnen mit diesem Stück primitiven Maschinenbaus einzuschlagen. Ich steckte den Schürhaken in eine Gürtelschlaufe. Dort behinderte er mich zwar etwas, beruhigte mich andererseits aber enorm, durch sein Gewicht und die Solidität sowie die Reminiszenzen an Zuhause, an meinen Kamin.


Ich hielt die Kerze in die Luft. Die gespenstische Statue bzw. das Gebäude, das ich in der Nähe der Maschine ausgemacht hatte, wurde düster illuminiert. Es war tatsächlich irgendein Monument — eine kolossale Figur, die aus weißem Stein gehauen war, wobei ihre Form im flackernden Kerzenlicht nur schwer zu bestimmen war.

Ich ging auf das Monument zu. Unterdessen meinte ich, am Rande meines Blickfeldes ein Paar grauroter, sich weitender Augen zu sehen und einen weißen Rücken, der sich mit einem Schaben nackter Füße über die Sandfläche zurückzog. Ich legte eine Hand auf den im Gürtel steckenden Messingknüppel und ging weiter.

Die Statue stand auf einem Sockel, der aus Bronze zu bestehen schien, und war mit konturiert gerahmten, filigranen Paneelen besetzt. Der Sockel war fleckig, als ob er schon vor langer Zeit Grünspan angesetzt hätte. Die Statue selbst bestand aus weißem Marmor, und die Löwenskulptur hatte große Schwingen ausgebreitet, die über mir zu schweben schienen. Ich fragte mich, wie diese großen Steinplatten abgestützt wurden, denn ich konnte keine Verstrebungen erkennen. Vielleicht wurden sie von einem Metallrahmen gehalten, überlegte ich — oder vielleicht existierten auch in dieser verlorenen Zeit noch Elemente der Beherrschung der Schwerkraft, die ich auf meiner Passage durch das Zeitalter der Großen Architektur unterstellt hatte. Das Antlitz des Marmortieres war menschlich und auf mich gerichtet; ich glaubte, daß diese leeren Steinaugen mich anschauten, und da lag ein Lächeln, sardonisch und grausam, auf den wettergegerbten Lippen…

Und auf einmal erkannte ich diese Konstruktion; wenn da nicht die Angst vor den Morlocks gewesen wäre, hätte ich vor Freude über das Wiedersehen aufgeschrien! Dies war das Monument, das ich die Weiße Sphinx getauft hatte — eine Struktur, die ich exakt an dieser Stelle schon während meines ersten Fluges in die Zukunft gesehen hatte. Es war fast so, als ob ich einen alten Freund begrüßt hätte!

Ich streifte auf der sandigen Hügelkette umher, an der Maschine vorbei, und erinnerte mich daran, wie der Ort früher ausgesehen hatte. Hier war überall Wiese gewesen, umgeben von Malvensträuchern und purpurnen Rhododendrons — Büsche, die bei meiner ersten Ankunft ihre Blüten in einem Hagelsturm auf mich hatten niedergehen lassen. Und über die ganze Szenerie wachend, in diesem Hagel zuerst gar nicht zu erkennen, hatte sich die imponierende Gestalt der Sphinx erhoben.

Nun, hier war ich wieder, hundertfünfzigtausend Jahre vor dieser Zeit. Die Büsche und die Wiese waren verschwunden — und würden wohl auch nicht wieder auftauchen, vermutete ich —, an die Stelle jenes sonnenbeschienenen Gartens war diese tote, dunkle Wüste getreten, und der Garten existierte nur noch in einem Winkel meiner Erinnerung. Doch die Sphinx war hier, unverwüstlich und fast unzerstörbar, wie es schien.

Ich hob die Kerze noch höher und versuchte, mein Blickfeld zu erweitern. Ich erinnerte mich, daß hier einige Gebäude gestanden hatten — in der anderen Zukunft; und tatsächlich konnte ich die trüben, klotzigen Strukturen der hiesigen Architektur ausmachen. Ich sah Silhouetten von Brüstungen, Säulen und dergleichen, aber alles lag im Dunkel, kaum von meiner Kerze erhellt, und ich konnte nicht sagen, ob das Layout der Gebäude dasselbe war wie im Jahr 802701.

Mit einem fast liebevollen Gefühl tätschelte ich die Bronzeplatten des Sockels der Sphinx. Irgendwie versicherte mir die Existenz der schon seit meiner letzten Visite bekannten Sphinx, daß ich das alles nicht nur träumte, daß ich nicht in irgendeiner dunklen Ecke meines Hauses des Jahres 1891 verrückt wurde! All das war objektiv real, und — ohne Zweifel, wie auch der Rest der Schöpfung — war es Teil eines logischen Musters. Die Weiße Sphinx war ein Teil dieses Musters, und es waren nur meine Ignoranz und geistige Beschränktheit, die es mir verwehrten, auch den Rest zu erfassen. Diese Erkenntnis richtete mich wieder auf, und ich spürte neue Entschlossenheit, meine Erkundungen fortzusetzen.

Einer Eingebung folgend ging ich zu der Seite des Sockels, die der Zeitmaschine am nächsten lag, und inspizierte im Kerzenlicht die verzierten Bronzeplatten. An dieser Stelle, so erinnerte ich mich, hatten die Morlocks — in jener Parallelhistorie — die hohle Basis der Sphinx geöffnet und die Zeitmaschine in der Absicht in den Sockel gezerrt, mich dort einzusperren. Ich hatte mich der Sphinx mit einem Stein genähert und gegen die Platte gehämmert — genau hier; ich fuhr mit den Fingerspitzen über das Relief. Ich hatte einige der Spiralen auf der Platte glattgeklopft, aber ohne jeden Erfolg. Und jetzt lagen diese Spiralen fest und rund unter meinen Fingern, so gut wie neu. Es war eine merkwürdige Vorstellung, daß sie erst in Jahrtausenden mit der Wucht meines Steines konfrontiert werden würden — oder vielleicht auch nie.

Ich beschloß, mich von der Maschine zu entfernen und meine Erkundung fortzusetzen. Aber die Präsenz der Sphinx hatte mich wieder an den Schrecken erinnert, den die in den Klauen der Morlocks verlorene Zeitmaschine bei mir hervorgerufen hatte. Ich schlug auf die Tasche — wenigstens konnte die Maschine ohne die kleinen Hebel nicht gestartet werden —, aber ich konnte diese abscheulichen Kreaturen wohl nicht daran hindern, in meiner Maschine herumzukriechen und sie vielleicht sogar zu zerstören oder wieder zu stehlen, sobald ich sie verlassen hatte.

Und außerdem, wie sollte ich mich in dieser düsteren Landschaft nicht verirren? Wie konnte ich sicher sein, die Maschine wiederzufinden, wenn ich mich erst einmal mehr als ein paar Yards von ihr entfernt hatte?

Ich dachte ein paar Augenblicke lang darüber nach, wobei mein Forscherdrang mit meiner Angst im Clinch lag. Dann kam mir eine Idee. Ich öffnete den Rucksack und nahm die Kerzen und Kampferblöcke heraus. Hektisch verstaute ich diese Artikel in diversen Öffnungen der komplexen Struktur der Zeitmaschine. Dann umrundete ich die Maschine mit brennenden Streichhölzern, bis alle Blöcke und Kerzen brannten.

Mit etlichem Stolz begutachtete ich aus einiger Entfernung den Feuerzauber. Die Kerzenflammen spiegelten sich in dem polierten Nickel und Messing, so daß die Zeitmaschine wie ein Weihnachtsbaum beleuchtet war. In dieser finsteren Landschaft würde ich meine Leuchtboje schon von weitem orten können, zumal die Maschine auf diesem nackten Hügel positioniert war. Mit etwas Glück würden die Flammen jeden Morlock abschrecken — und falls nicht, würde ich sofort die Verringerung der Lichtstärke registrieren und zurückgerannt kommen, um in den Kampf einzugreifen.

Ich befingerte den massiven Griff des Schürhakens. Ich vermute, daß ein Teil von mir genau darauf aus war; ich spürte ein Kribbeln in den Händen und Unterarmen, als ich an das merkwürdige, weiche Gefühl dachte, mit dem ich meine Fäuste in die Gesichter der Morlocks geklatscht hatte…

Auf jeden Fall war ich jetzt für meine Expedition gerüstet. Dann nahm ich die Kodak an mich, zündete eine kleine Petroleumlampe an und schlug einen Weg über den Hügel ein. Alle paar Schritte pausierte ich, um sicherzugehen, daß die Zeitmaschine noch unbehelligt war.

Die Quelle

Ich hielt die Lampe hoch, aber ihr Schein trug kaum weiter als zwei oder drei Schritte, und die Landschaft versteckte sich in der Dunkelheit. Alles war still — es ging kein Lufthauch, kein Wasser tröpfelte; und ich fragte mich, ob die Themse überhaupt noch Wasser führte.

Weil ich nicht wußte, wohin, entschied ich mich, die Richtung zu dem großen Lagerhaus einzuschlagen, an das ich mich aus Weenas Zeit erinnerte. Das Gebäude lag etwas weiter nordwestlich, an der Hügelkette hinter der Weißen Sphinx, und so wandelte ich erneut auf diesem Pfad — wiederholte im Raum, wenn schon nicht in der Zeit, meine erste Wanderung in Weenas Welt.

Ich erinnerte mich, daß der Boden mit Gras bewachsen war, als ich zuletzt diese kleine Reise gemacht hatte — zwar nicht von Gärtnerhand kultiviert, aber dennoch schön und kurz gewachsen und frei von Unkraut. Jetzt aber rieselte weicher, körniger Sand unter meinen Stiefeln, als ich den Hügel erkletterte.

Meine Augen paßten sich allmählich an diese Nacht mit ihrem fleckigen Sternenlicht an; obwohl Gebäude in der Gegend herumstanden und sich gegen den Himmel abhoben, fand ich jedoch keinen Hinweis auf meine Halle. Ich erinnerte mich ganz genau: es war ein graues Gebäude gewesen, verfallen und weitläufig, aus abgeschliffenem Stein und mit einem gemeißelten, verzierten Eingang; und als ich unter seinem Rundbogen hindurchgegangen war, waren die kleinen Eloi mit ihren bleichen Körpern und weichen Gewändern um mich herumgeflattert…

Nicht lange, und ich war so weit gewandert, daß ich die Position der Halle auf jeden Fall erreicht haben mußte. Es war offensichtlich, daß — im Gegensatz zu der Sphinx und den Morlocks — der Lebensmittelspeicher in dieser Historie nicht überlebt hatte — oder vielleicht gar nicht erst errichtet worden war, dachte ich schaudernd; womöglich hatte ich mich in einem Gebäude bewegt — geschlafen, sogar gegessen! —, das nie existiert hatte.

Der Pfad führte mich zu einer Quelle, einer Landmarke, die ich noch von meiner ersten Reise her kannte. Genau wie in meiner Erinnerung war sie mit Bronze eingefaßt und hatte als Wetterschutz eine kleine, sehr fragil wirkende Kuppel. Es gab etwas Vegetation — pechschwarz im Sternenlicht, zu dunkel, als daß man sie hätte erkennen können — um die Kuppel herum. Ich betrachtete das alles mit einer gewissen Beklommenheit, denn es waren diese großen Schächte gewesen, durch welche die Morlocks aus ihren höllischen Kavernen zur sonnigen Welt der Eloi emporgestiegen waren.

Die Öffnung der Quelle war ruhig. Das kam mir merkwürdig vor, denn ich erinnerte mich, damals aus diesen Quellen das Stampfen der großen Maschinen der Morlocks vernommen zu haben, die tief in ihren unterirdischen Kavernen rotiert hatten.

Ich setzte mich am Rand der Quelle hin. Die von mir beobachtete Vegetation erwies sich als eine Art Flechte; sie reagierte weich und trocken auf Druck, obwohl ich es nicht weiter ausprobierte und auch nicht versuchte, ihre Struktur zu ergründen. Ich hob die Lampe in die Höhe und wollte sie über den Rand halten, um zu sehen, ob vielleicht wieder Wasser von ihrem Licht reflektiert würde; aber die Flamme flackerte, als ob ein starker Zug ginge, und in einem Anfall von Panik beim Gedanken an die Dunkelheit riß ich die Lampe zurück.

Ich steckte den Kopf unter die Kuppel, beugte mich über den Rand und wurde von einem Schwall warmer, feuchter Luft begrüßt, die mir ins Gesicht wehte — es war, als ob ich die Tür zu einem türkischen Bad geöffnet hätte — völlig unerwartet in jener warmen, aber trockenen Nacht in der Zukunft. Ich hatte den unbestimmten Eindruck großer Tiefe und glaubte, daß meine jetzt an die Dunkelheit adaptierten Augen am Boden der Quelle ein warmes, rotes Glühen wahrnahmen. Trotz ihres Äußeren unterschied sich diese Quelle ganz entschieden von den Quellen der Morlocks vom letzten Mal. Es gab keine Anzeichen von vorstehenden Metallhaken an der Seite, die als Kletterhilfe gedacht waren, und nach wie vor waren die Maschinengeräusche, die ich beim erstenmal registriert hatte, nicht zu hören. Außerdem hatte ich das seltsame Gefühl, ohne indessen sagen zu können, weshalb, daß diese Quelle viel tiefer war als die Kavernenschächte der Morlocks, die ich kennengelernt hatte.

Aus einer Laune heraus ergriff ich meine Kodak und kramte das Blitzlicht hervor. Ich füllte die Platte der Lampe mit Blitzlichtpulver, hob die Kamera und überflutete die Quelle mit Magnesiumlicht. Die Reflexe blendeten mich, und die Helligkeit war so stark, wie man sie auf der Erde seit dem Erlöschen der Sonne, vor hunderttausend Jahren oder mehr, sicher nicht mehr gesehen hatte. Wenn schon nichts anderes, dann sollte wohl dies genügen, um die Morlocks zu verscheuchen! — und ich begann Schutzmechanismen zu ersinnen, durch die ich das Blitzlicht mit der unbeaufsichtigten Zeitmaschine koppeln konnte, so daß das Pulver bei einer Berührung der Maschine gezündet wurde.

Einer Eingebung folgend stand ich auf und investierte ein paar Minuten darin, das Blitzlicht wieder aufzufüllen und das Hügelareal um die Quelle mit meiner ungerichteten Lichtorgel zu bestreichen. Vielleicht hatte ich Glück, wünschte ich mir, und konnte zur Erbauung der Menschheit den Balg eines fliehenden, geschockten Morlock ablichten!

… Da ertönte ein Kratzen, leise und beharrlich, an einer anderen Stelle des Randes der Quelle, keine drei Fuß von meiner Position entfernt.

Mit einem Schrei fummelte ich den Schürhaken vom Gürtel los. Waren die Morlocks etwa über mich gekommen, während ich in Tagträumen versunken war?

Mit dem Schürhaken in der Hand ging ich vorsichtig weiter. Ich bemerkte, daß die schabenden Laute aus dem Flechtenbett kamen; es war eine Gestalt, die sich stetig durch diese winzigen, dunklen Pflanzen bewegte. Hier waren keine Morlocks; also ließ ich den Knüppel sinken und beugte mich über das Flechtenbett. Ich erspähte eine kleine, krabbenartige Kreatur, nicht größer als meine Hand; einsam und geduldig fräste sie sich mit einer einzigen, überdimensionierten Klaue einen Weg durch das Gewächs, und das Schaben, das ich gehört hatte, kam vom Reiben der Schere an den Flechten. Der Panzer der Krabbe schien pechschwarz zu sein, und das Wesen hatte keine Augen, wie eine blinde Tiefseekreatur.

So, dachte ich, während ich dieses kleine Drama beobachtete, der Kampf ums Überleben ging also weiter, sogar in dieser ewigen Dunkelheit. Es war mir schon aufgefallen, daß ich seit meinem Eintreffen hier — abgesehen von den Blicken der Morlocks — kein Zeichen von Leben im weiteren Umkreis der Quelle ausgemacht hatte. Die Existenz der Quelle war der Schlüssel hierzu. Ich bin zwar kein Biologe, aber es schien klar zu sein, daß die Präsenz dieses Föns mit seiner warmen, feuchten Luft Leben einfach anlocken mußte, hier, auf einer zur Wüste gewordenen Welt, genauso wie die Quelle diese blinde Krabbe und den Flechtenbewuchs angezogen hatte. Ich vermutete, daß die Wärme aus dem komprimierten Innern der Erde stammte — diese vulkanische Hitze, die schon in unserer Zeit spürbar war, würde in den darauffolgenden sechshunderttausend Jahren nicht merklich nachgelassen haben. Und vielleicht kam die Feuchtigkeit von artesischen Brunnen, die noch immer unterirdisch Wasser führten.

Vielleicht, spekulierte ich, war die ganze Oberfläche des Planeten mit solchen Quellen und Kuppeln übersät. Aber sie hatten nicht den Zweck, Zugang zur Welt der Morlocks zu gewähren — wie in jener anderen Historie —, sondern sie fungierten als Erdwärmeaustauscher, um mit der Hitze und dem Wasser diesen seiner Sonne beraubten Planeten zu wärmen und zu befeuchten; und das Leben, das diese monströsen Manipulationen, deren Zeuge ich gewesen war, überlebt hatte, drängte sich nun um diese Quellen der Wärme und Feuchtigkeit.

Meine Zuversicht stieg — einen Sinn in den Dingen zu erkennen verleiht meinem Mut immer einen enormen Schub, und nach diesem falschen Alarm mit der Krabbe fühlte ich mich nicht mehr bedroht — und ich setzte mich wieder auf den Rand der Quelle. Ich hatte die Pfeife und etwas Tabak in der Tasche, und ich stopfte die Pfeife und zündete sie an. Ich begann Spekulationen anzustellen, wie die Divergenz zwischen dieser Historie und der ersten zustandegekommen sein mochte, die ich erlebt hatte. Offensichtlich hatten einige Parallelen bestanden — auch hier gab es Morlocks und Eloi — aber ihre unheimliche Symbiose war schon seit Urzeiten aufgelöst worden.

Ich fragte mich, wie ein solcher Showdown zwischen zwei Völkern Zustandekommen konnte — denn die Morlocks waren auf ihre verrottete Art genauso abhängig von den Eloi wie die Eloi von den Morlocks, und das ganze Arrangement besaß mithin eine gewisse Stabilität.

Ich konnte mir vorstellen, wie es geschehen war. Bei den Morlocks handelte es sich schließlich um Untermenschen, und Logik ist nicht einmal unbedingt eine Stärke der Menschen. Die Morlocks mußten gewußt haben, daß ihre Existenz von den Eloi abhing; sie mußten sie bemitleidet und verachtet haben — ihre entfernten Cousins, und dennoch auf den Status von Nutztieren reduziert. Und doch…

Und doch, welch einen strahlenden Morgen stellte das kurze Leben der Eloi dar! Die kleinen Leute lachten und sangen und liebten sich auf der Oberfläche der Welt, die in einen Garten verwandelt worden war, während die Morlocks in den stinkenden Tiefen der Erde sich abplacken mußten, um den Eloi die Grundlage für ihr luxuriöses Leben zu liefern. Angenommen, die Morlocks waren für ein Leben in dieser Umgebung geschaffen und hätten sich ohne Zweifel mit Ekel vom Sonnenlicht der Eloi, von dem klaren Wasser und den Früchten abgewendet, selbst wenn sie es ihnen angeboten hätten — aber dennoch, hätten sie nicht in ihrer hinterhältigen und verschlagenen Art den Eloi ihre Unbeschwertheit neiden können?

Vielleicht wurde das Fleisch der Eloi faulig in den übelriechenden Mündern der Morlocks, während sie es in ihren versifften Kavernen verschlangen und über die gravierende Schieflage ihrer Schicksale nachdachten.

Dann stellte ich mir vor, wie die Morlocks — oder ein Teil von ihnen — eines Nachts aus ihren Tunnels unter der Erde emporstiegen und mit ihren Waffen und muskulösen Armen über die Eloi herfielen. Es wäre eine große Ernte — und diesmal ging es nicht darum, diszipliniert Fleisch zu machen, sondern um ein blutiges Gemetzel mit nur einem, unglaublichen Zweck: die letztendliche Auslöschung der Eloi.

Wie blutüberströmt mußten die Wiesen und Lebensmittelpaläste gewesen sein, während das kindliche Schreien der unglücklichen Eloi als Echo an diesen alten Steinen widerhallte!

In einem solchen Kampf konnte es natürlich nur einen Sieger geben. Die zarten Leute der Zukunft mit ihrer fragilen, schwindsüchtigen Schönheit hätten sich niemals gegen die organisierten und mörderischen Angriffe der Morlocks verteidigen können.

Ich hatte alles vor Augen — oder so glaubte ich wenigstens! Die schließlich siegreichen Morlocks waren die Erben der Erde. Ohne jede Verwendung für das Gartenland der Eloi, hatten sie es dem Untergang anheimfallen lassen; sie waren von der Erde aufgestiegen und hatten — irgendwie — mit ihrer stygischen Dunkelheit die Sonne ausgeblendet! Ich erinnerte mich, wie Weenas Volk die Nächte des neuen Mondes gefürchtet hatte — sie hatte sie ›Die Dunklen Nächte‹ genannt — jetzt, so kam es mir vor, hatten die Morlocks die Erde in eine endgültige dunkle Nacht gehüllt, für immer. Die Morlocks hatten die letzten der wahren Kinder der Erde ermordet, und sogar die Erde selbst.

So sah damals meine erste Hypothese aus: wild und spekulativ — und falsch, in jeder Hinsicht!

… Und mir wurde fast unter körperlichen Schmerzen bewußt, daß ich über all diesen historischen Spekulationen die regelmäßige Inspektion der zurückgelassenen Zeitmaschine vergessen hatte.

Ich kam auf die Füße und eilte über die Hügelkette zurück. Bald ortete ich die im Kerzenlicht glühende Maschine — aber die von mir angezündeten Lichter flackerten und schwankten, als ob sich dunkle Gestalten um die Maschine bewegten.

Das konnten nur Morlocks sein!

Meine Begegnung mit den Morlocks

Mit aufkeimender Angst — und, wie ich eingestehen muß, einer in meinem Kopf pulsierenden Mordlust — röhrte ich auf, erhob den Schürhaken und rannte den Pfad zurück. Achtlos ließ ich die Kodak fallen; hinter mir hörte ich das leise Splittern von zerbrechendem Glas. Nach allem, was ich weiß, liegt die Kamera immer noch dort, zurückgelassen in der Dunkelheit.

Als ich mich der Maschine näherte, sah ich, daß es sich wirklich um Morlocks handelte — vielleicht ein Dutzend von ihnen, die um die Maschine herumstrichen. Meine Lichter schienen sie abwechselnd anzuziehen und abzuschrecken, genau wie Motten, die um eine Kerze flogen. Es waren die gleichen affenartigen Kreaturen, die ich schon kannte — vielleicht etwas kleiner — mit diesem langen, flachsblonden Haar, die Hautfarbe wie Deckweiß, die Arme so lang wie die von Affen und mit diesen unangenehmen rotgrauen Augen. Sie brüllten und plapperten in ihrer komischen Sprache aufeinander ein. Mit etlicher Erleichterung registrierte ich, daß sie die Zeitmaschine noch nicht angerührt hatten, aber ich wußte, daß es nur noch eine Frage der Zeit war, bis diese unheimlichen Finger — affengleich, aber dennoch so geschickt wie die eines Menschen — sich nach dem funkelnden Messing und Nickel ausstrecken würden.

Aber dazu würden sie keine Zeit mehr haben, denn ich kam über diese Morlocks wie ein Racheengel.

Ich stürzte mich mit Schürhaken und Faust auf sie. Die Morlocks plapperten und quiekten und versuchten zu fliehen. Ich packte eine dieser Kreaturen, als sie an mir vorbeirannte, und wieder spürte ich die Leichenkälte des Morlock-Fleisches. Spinnwebenartiges Haar wischte über meinen Handrücken, und das Tier nagte mit seinen kleinen Zähnen das Fleisch meiner Hand an, aber ich ließ nicht locker. Ich schwang den Schürhaken und spürte den weichen, feuchten Kollaps von Fleisch und Knochen, als er auftraf.

Diese grau-roten Augen weiteten sich und schlossen sich dann für immer.

Ich schien das alles aus einer kleinen, entfernten Ecke meines Bewußtseins wahrzunehmen. Ich hatte meine Absicht, Beweise für die Durchführbarkeit der Zeitreise zu sammeln, völlig vergessen; ich dachte nicht einmal mehr daran, Weena zu finden: Ich glaubte in diesem Moment, daß es das war, weshalb ich in die Zukunft zurückgekehrt war — für diesen Augenblick der Rache: für Weena, und für die Ermordung der Erde, und mein eigenes unwürdiges Verhalten. Ich ließ den Morlock fallen — bewußtlos oder tot, er war nicht mehr als ein Bündel aus Haar und Knochen — und setzte knüppelschwingend seinen Spießgesellen nach.

Dann hörte ich eine Stimme — einwandfrei Morlock, hob sich jedoch in Ton und Tiefe deutlich von den anderen ab —, die eine einzige, befehlende Silbe ausstieß. Ich drehte mich um, mit bis zu den Ellenbogen meiner Jacke blutverschmierten Armen, und bereitete mich auf einen weiteren Kampf vor.

Doch jetzt stand mir ein Morlock gegenüber, der nicht vor mir davonlief. Obwohl er wie die anderen nackt war, schien seine Haarmähne gebürstet und frisiert zu sein, so daß er etwas von einem gestriegelten Hund hatte, der Männchen machte.

Ich machte einen Ausfallschritt vorwärts, wobei ich den Knüppel fest in beiden Händen hielt.

Ruhig hob der Morlock die rechte Hand — da glitzerte doch etwas —, und plötzlich ein grüner Blitz, und ich fühlte, wie die Welt nach unten wegkippte und ich neben meiner glühenden Maschine der Länge nach zu Boden stürzte. Und dann verlor ich das Bewußtsein.

Der Lichtkäfig

Langsam kam ich wieder zu Bewußtsein, als ob ich aus einem tiefen und erholsamen Schlaf erwachte. Ich lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Ich fühlte mich so wohl, daß ich für einen Moment dachte, in meinem eigenen Bett zu liegen, in meinem Haus in Richmond, und daß das durch die Augenlider dringende rosa Glühen die Morgensonne sein mußte, die durch die Vorhänge schien…

Aber dann registrierte ich, daß die Oberfläche unter mir — obwohl elastisch und recht warm — nicht so weich wie eine Matratze war. Ich spürte weder Bettzeug unter mir noch Decken über mir.

Dann fiel es mir schlagartig wieder ein: alles — mein zweiter Flug durch die Zeit, die Verdunkelung der Sonne und meine Begegnung mit den Morlocks.

Angst überflutete mich, versteifte die Muskeln und zog mir den Magen zusammen. Ich war von den Morlocks gefangengenommen worden! Ich riß die Augen auf…

Und sofort wurde ich von einem gleißenden Licht geblendet. Es kam von einer entfernten Scheibe, die direkt über mir ein intensives weißes Licht ausstrahlte. Ich schrie auf und legte einen Arm über die geblendeten Augen; ich rollte mich herum und preßte das Gesicht auf den Boden.

Dann nahm ich eine Krabbelposition ein. Der Boden war warm und nachgiebig, wie Leder. Zuerst war mein Blickfeld voller tanzender Abbilder dieser flammenden Scheibe, aber schließlich konnte ich meinen eigenen Schatten unter mir erkennen. Und dann, noch immer auf allen vieren, sah ich das bisher Merkwürdigste: die Fläche unter mir war durchsichtig, als ob sie aus flexiblem Glas bestünde, und — wo mein Schatten das Licht überlagerte — konnte ich Sterne sehen, ganz klar zu erkennen durch den Boden unter mir. Sie hatten mich also auf einer transparenten Plattform abgelegt, mit diesem Sternendiorama darunter: es war, als ob ich mich in einer Art Freilandplanetarium befunden hätte.

Ich verspürte ein flaues Gefühl im Magen, war aber in der Lage aufzustehen. Ich mußte mit einer Hand die Augen vor dem unerbittlich gleißenden Licht abschirmen; ich wünschte, ich hätte noch den Hut, den ich aus dem Jahre 1891 mitgenommen hatte! Ich hatte noch den leichten Anzug an, obwohl er jetzt Sand- und Blutflecken aufwies, vor allem an den Ärmeln — indessen waren Anstrengungen unternommen worden, mich zu säubern, wie ich mit Erstaunen bemerkte, und das Morlockblut, Schleim und sonstige Substanzen waren von Händen und Armen entfernt worden. Mein Schürhaken war verschwunden, und auch mein Rucksack war weg. Die Uhr, die an einer Kette an der Weste hing, hatten sie mir gelassen, aber Streichhölzer und Kerzen steckten nicht mehr in den Taschen. Die Pfeife und der Tabak waren auch weg, und ich verspürte darob einen unmotivierten Anflug des Bedauerns — angesichts all dieser Mysterien und der Gefahr!

Da kam mir ein Gedanke, und die Hände flogen zur Westentasche — und dort steckten noch immer die beiden Hebel der Zeitmaschine. Ich schnaufte vor Erleichterung.

Ich schaute mich um. Ich stand auf einem flachen, ebenen Boden aus der lederartigen, durchsichtigen Substanz, die ich bereits erwähnt habe. Ich befand mich nahe am Zentrum eines etwa dreißig Yard durchmessenden Lichtflecks, den der Strahler über mir auf diesen rätselhaften Boden warf. Die Luft war ziemlich staubig, so daß ich leicht den Strahlengang des auf mich herabflutenden Lichts erkennen konnte. Man muß sich vorstellen, daß ich da im Licht stand wie auf der Sohle eines staubigen Minenschachtes und nach oben in die Mittagssonne starrte. Und tatsächlich wirkte es auch wie Sonnenlicht — aber ich konnte weder verstehen, wie die Sonne wieder zum Leuchten gebracht worden war, noch, warum sie jetzt stationär über mir stand. Ich konnte es mir nur so erklären, daß ich während meiner Bewußtlosigkeit an irgendeinen Punkt des Äquators gebracht worden war.

Und jenseits meiner staubigen Lichtsäule war nur Dunkelheit, tief und kompakt. Es gab keinen Hinweis auf die Zeitmaschine.

Ich kämpfte die aufsteigende Panik nieder und umrundete den Lichtkreis. Ich war allein, und der Boden war frei — bis auf Platten, zwei an der Zahl, mit Behältern und Kartons, die vielleicht zehn Fuß entfernt von der Stelle standen, an der ich gelegen hatte. Ich versuchte die mich umgebende Dunkelheit zu durchdringen, konnte aber selbst mit beschirmten Augen nichts erkennen. Ich klatschte in die Hände und wirbelte Staubflocken auf, die in der erleuchteten Luft tanzten. Das Geräusch klang gedämpft und erzeugte kein Echo. Entweder waren die Wände weit entfernt, oder sie waren mit einer schallabsorbierenden Substanz beschichtet; was davon auch zutreffen mochte, ich hatte keinen Anhaltspunkt hinsichtlich ihrer Entfernung.

Ich verspürte eine tiefe, eigenartige Furcht, hier auf dieser Ebene aus weichem Glas; ich fühlte mich nackt und exponiert, ohne Rückendeckung, ohne eine Ecke, in die ich mich zurückziehen konnte.

Ich näherte mich den Platten. Ich betrachtete die Kartons und hob ihre Deckel an: da war ein großer, leerer Eimer und eine Schüssel mit etwas, das wie klares Wasser aussah, und die letzte Packung enthielt faustgroße Brocken von etwas, das ich als Nahrungsmittel interpretierte — aber wenn das zutreffen sollte, dann war dieses Essen zu einer glatten gelben, grünen und roten Substanz zusammengebacken worden, so daß nicht mehr auf seinen Ursprung geschlossen werden konnte. Ich stocherte zögernd mit einem Finger in dem Essen herum: es war kalt und glatt, so wie Käse. Ich hatte seit Mrs. Watchets' Frühstück nichts mehr gegessen, vor vielen Stunden meines komplizierten Lebens, und ich registrierte jetzt den zunehmenden Druck in meiner Blase: ein Druck, so nahm ich an, zu dessen Linderung der leere Eimer beitragen sollte. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, warum die Morlocks mich jetzt vergiften sollten, nachdem sie mich schon so lange am Leben gelassen hatten, aber nichtsdestoweniger zögerte ich, ihre Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen — und noch viel mehr, durch die Benutzung des Eimers meine Würde zu verlieren!

So umrundete ich das Tablett und diesen Lichtkreis, wobei ich wie ein Tier schnüffelte, das eine Falle wittert. Ich hob sogar die Kartons und Tabletts auf, um zu sehen, ob ich sie als Waffe verwenden könnte — vielleicht konnte ich mir eine Art Klinge zurechthämmern — aber die Tabletts bestanden aus einem silbrigen Metall, ähnlich wie Aluminium und so dünn und weich, daß es in meinen Händen zerknitterte. Damit konnte ich einen Morlock ebensowenig erstechen wie mit einem Blatt Papier.

Ich überlegte mir, daß diese Morlocks sich eigentlich bemerkenswert entgegenkommend verhalten hatten. Es wäre kein Aufwand gewesen, mich zu erledigen, als ich bewußtlos war, aber sie hatten an sich gehalten — und sogar mit überraschender Geschicklichkeit, wie es schien, Versuche unternommen, mich zu säubern.

Natürlich erweckte das mein Mißtrauen. Zu welchem Zweck hatten sie mein Leben geschont? Wollten sie mich lebend haben, um — mit welchen üblen Methoden auch immer — das Geheimnis der Zeitmaschine aus mir herauszuholen?

Ich wandte mich von dem Proviant ab, trat aus dem Lichtkreis hinaus und in die dahinterliegende Dunkelheit. Das Herz schlug mir bis zum Hals; es existierte nichts, was mich am Verlassen der Lichtsäule hätte hindern können, aber die Angst und der Drang zum Licht hielten mich fast genauso wirkungsvoll fest.

Schließlich entschied ich mich für irgendeine Richtung und ging in die Dunkelheit hinaus, wobei ich die Arme locker herunterhängen ließ und die Fäuste ballte. Ich zählte die Schritte — acht, neun, zehn… Jetzt, da ich mich nicht mehr in der Lichtzone befand, konnte ich die Sterne unter den Füßen klarer erkennen, eine invertierte Halbkugel; ich glaubte wieder, auf dem Dach eines Planetariums zu stehen. Ich drehte mich um und schaute zurück; da war die staubige Lichtsäule, die bis in die Unendlichkeit reichte, mit dem Durcheinander aus Tabletts und Essen an ihrer Basis auf dem blanken Boden.

Das alles überstieg bei weitem mein Fassungsvermögen!

Als sich der immer gleiche Boden unter mir hinzog, gab ich es bald auf, die Schritte zu zählen. Das einzige Licht kam vom schwachen Leuchten der Sterne unter mir, in dem ich gerade noch das Profil meiner Beine erkennen konnte, und vom Glühen dieser zentralen Lichtsäule; die einzigen Geräusche wurden von meinem rauhen Atem und dem weichen Auftreten der Stiefel auf der glasigen Oberfläche hervorgerufen.

Nach vielleicht hundert Yards beschrieb ich eine Kurve und begann einen Kurs um meine Lichtnadel abzuschreiten. Noch immer sah ich nichts anderes als Dunkelheit und die Sterne unter meinen Füßen. Ich fragte mich, ob ich in dieser undurchdringlichen Schwärze auf diese fremdartigen, schwebenden Beobachter stoßen würde, die mich auf meiner zweiten Reise durch die Zeit begleitet hatten.

Verzweiflung begann von mir Besitz zu ergreifen, während ich ziellos weitermarschierte, und ich wünschte mir bald, daß ich von diesem Ort zu Weenas Gartenwelt versetzt würde oder sogar zu dieser nächtlichen Landschaft, wo ich in Gefangenschaft geraten war — an irgendeinen Platz mit Felsen und Flora und Fauna und einem als solchen erkennbaren Himmel, Dinge, an denen ich mich orientieren konnte! Was war das hier für ein Ort? War ich etwa in einer Kammer, tief vergraben in der ausgehöhlten Erde? Welche fürchterlichen Qualen erdachten sich die Morlocks für mich? War es mir bestimmt, den Rest meines Lebens in dieser fremden Einöde zu verbringen?

Eine ganze Zeit war ich mental ziemlich derangiert, durch die Isolation und das schreckliche Bewußtsein, gestrandet zu sein. Ich wußte weder, wo ich war, noch, wo die Zeitmaschine steckte, und ich erwartete nicht mehr, die Heimat noch einmal wiederzusehen. Ich war eine fremde Entität, gestrandet in einer Welt voller Aliens. Ich rief in die Dunkelheit hinein, stieß abwechselnd Drohungen aus und bat dann schmeichelnd um Gnade oder Freilassung; und ich knallte die Fäuste auf den blanken, festen Boden, ohne jedes Ergebnis. Ich rannte schluchzend umher und verfluchte mich selbst wegen meiner einmaligen Blödheit — nachdem ich den Fängen der Morlocks schon einmal entkommen war —, gleich noch mal in dieselbe Falle gegangen zu sein!

Schließlich mußte ich wie ein frustriertes Kind gebrüllt haben, und nachdem ich meine Kräfte aufgebraucht hatte, sank ich völlig erschöpft zu Boden.


Ich mußte wohl eine Weile vor mich hingedöst haben. Als ich wieder voll da war, hatte sich an meinem Zustand nichts geändert. Ich kam auf die Füße. Mein Zorn und die Überdrehtheit hatten sich gelegt, und obwohl ich mich so fertig wie noch nie zuvor in meinem Leben fühlte, erlaubte ich meinem Körper, seinen fundamentalen menschlichen Bedürfnissen nachzukommen: Hunger und Durst nahmen dabei den ersten Platz ein.

Total schlapp kehrte ich zu meiner Lichtsäule zurück. Der Druck in der Blase hatte sich zwischenzeitlich verstärkt, so daß ich mit einem Gefühl der Resignation den für mich bereitgestellten Eimer ergriff, ihn ein Stück in die Dunkelheit mitnahm — aus Schamgefühl, denn ich wußte, daß die Morlocks mich ohne Zweifel beobachteten — und ihn dort stehenließ, außer Sichtweite.

Ich überprüfte den von den Morlocks gelieferten Proviant. Es war eine beklemmende Aussicht: das Essen sah keinen Deut appetitlicher aus als zuvor, aber jetzt hatte ich wirklich Hunger. Ich hob die Schüssel mit Wasser an — sie hatte die Größe einer Suppenschüssel — und führte sie an die Lippen. Es war schal und ohne Geschmack, als ob alle Mineralien herausdestilliert worden wären, aber es war klar und erfrischte den Mund. Für ein paar Sekunden hielt ich die Flüssigkeit auf der Zunge, verharrte vor dieser letzten Hürde; und dann schluckte ich sie energisch hinunter. Ebenso tunkte ich einen Zipfel meines Taschentuchs in die Schüssel und befeuchtete damit Gesicht und Hände.

Dann wandte ich mich dem Essen selbst zu. Ich nahm mir einen grünlichen Brocken davon. Ich schnickte eine Ecke weg: es brach leicht, war durchgehend grün und krümelte fast wie Cheddar. Ich schlug die Zähne in das Zeug. Was den Geschmack betraf — wenn man jemals Gemüse gegessen hat, z. B. Broccoli oder Rosenkohl, der bis an die Grenze der Auflösung zerkocht wurde, kann man sich eine ungefähre Vorstellung davon machen; Mitgliedern der weniger distinguierten Londoner Clubs werden die Symptome bekannt vorkommen! Doch ich verzehrte soviel von dem Brocken, bis die Hälfte weg war. Dann nahm ich die anderen Stücke und probierte auch diese; obwohl ihre Farben variierten, unterschieden sich Konsistenz und Geschmack nicht im geringsten.

Es genügten ein paar Bissen von dem Zeug, um mich zu sättigen, und ich legte die Reste auf das Tablett und schob es von mir weg.

Ich setzte mich auf den Boden und ließ den Blick durch die Dunkelheit schweifen. Ich verspürte eine enorme Dankbarkeit, daß die Morlocks mir wenigstens diese Beleuchtung bereitgestellt hatten, denn ich konnte mir vorstellen, daß ich schon verrückt geworden wäre, wenn ich auf dieser leeren, konturenlosen Fläche ausgesetzt worden wäre, in einer Dunkelheit, die nur von den Sternenabbildungen unter mir durchbrochen wurde. Und gleichzeitig war mir bewußt, daß die Morlocks diesen Lichtkreis auch aus Eigeninteresse geschaltet hatten, als effektive Maßnahme, um mich an diesem Ort zu halten. Ich war völlig hilflos, Gefangener eines bloßen Lichtstrahls!

Große Erschöpfung und Schlafbedürfnis kamen über mich. Ich wollte nicht schon wieder das Bewußtsein verlieren — und mich dadurch der Schutzlosigkeit aussetzen — aber ich sah auch wenig Sinn darin, ständig wach zu bleiben. Ich trat aus dem Lichtkreis hinaus und ging ein Stück in die Dunkelheit hinein, so daß ich durch die Illusion der Nacht zumindest etwas Sicherheit verspürte. Ich zog die Jacke aus und legte sie zu einem Kopfkissen zusammen. Die Luft war ziemlich warm, und der weiche Boden schien auch erwärmt, so daß ich also nicht frieren würde.

Solcherart, meinen korpulenten Körper über den Sternen ausgestreckt, schlief ich ein.

Ein Besucher

Ich kann nicht sagen, wieviel Zeit verstrichen war, als ich wieder aufwachte. Ich hob den Kopf und sah mich um. Ich befand mich allein in der Dunkelheit, und alles schien unverändert. Ich schlug auf die Westentasche; die Hebel der Zeitmaschine waren noch sicher aufbewahrt.

Als ich versuchte, mich zu bewegen, jagten die steifen Glieder eine Schmerzwelle durch die Beine und den Rücken. Ich setzte mich ungelenk auf und kam auf die Füße, wobei ich jedes einzelne Jahr spürte; ich war höchst dankbar, daß ich nicht aufspringen mußte, um einen Haufen marodierender Morlocks abzuwehren! Ich vollführte ein paar unbeholfene gymnastische Übungen, um die Muskeln zu lockern; dann hob ich die Jacke auf, strich die Falten glatt und zog sie an.

Dann trat ich wieder nach vorne in den Lichtkreis.

Wie ich feststellte, waren die Tabletts mit den Essenskartons und der Toiletteneimer ausgetauscht worden. Also beobachteten sie mich doch! — Gut, ich hatte auch nichts anderes erwartet. Ich nahm die Deckel von den Kartons ab, nur um erneut die gleichen deprimierenden Stücke des anonymen Futters zu finden. Ich stellte mir aus Wasser und etwas von dem grünlichen Zeug ein Frühstück zusammen. Meine Angst hatte sich gelegt und war von einem trüben Gefühl der Betäubung abgelöst worden — es ist erstaunlich, wie schnell der menschliche Geist sich selbst an die außergewöhnlichsten Situationen anpassen kann. Sollte das von nun an mein Schicksal sein? — ein hartes Bett, lauwarmes Wasser und eine Diät aus gekochten Gemüsebrocken? Es war wie damals in der Schule, dachte ich düster.

»Pau.«

Diese einzelne Silbe, leise gesprochen, dröhnte in dieser absoluten Stille wie ein Schuß in meinen Ohren.

Ich schrie auf, kam hastig auf die Füße und hielt die Gemüseriegel vor mich — es war absurd, aber ich hatte eben keine andere Waffe. Der Laut war hinter mir ausgestoßen worden, und ich wirbelte herum, wobei die Stiefel auf dem Boden quietschten.

Da stand ein Morlock, gerade im Zwielicht an der Grenze des Lichtkreises. Er stand aufrecht — nicht in dieser gebeugten, affenartigen Haltung wie jene Kreaturen, die ich vorher gesehen hatte — und er trug eine Brille, wie ein Schild aus blauem Glas, die seine Augen bedeckte und sie schwarz aussehen ließ. »Tik. Pau«, verbalisierte diese Erscheinung mit merkwürdig gurgelnder Stimme.

Ich stolperte zurück und trat auf das klappernde Tablett. Ich nahm die Fäuste hoch. »Komm mir nicht zu nahe!«

Der Morlock machte einen Schritt nach vorne und näherte sich der Lichtsäule; trotz der Brille wurde er etwas von der Helligkeit geblendet. Er mußte zu einer neuen Brut Morlocks gehören, die den Eindruck einer höheren Entwicklungsstufe vermittelte; ich erkannte, daß er einer von denen war, die mich betäubt hatten. Er schien nackt zu sein, aber das blonde Haar, das seinen Kopf und Rücken bedeckte, war geschnitten und — bewußt — in einem ziemlich strengen Stil frisiert; als Brust und Schultern bedeckendes Rechteck wirkte es wie eine Uniform. Er hatte ein kleines Gesicht ohne Kinn, wie ein häßliches Kindergesicht.

Die Erinnerung an dieses ergötzliche Gefühl, als ich dem Morlock mit dem Knüppel den Schädel eingeschlagen hatte, schlich sich wieder in meine Gedanken. Ich erwog, diesen Kameraden zu überrennen und auf die Bretter zu schicken. Aber welchen Nutzen hätte ich davon? Die Zahl der anderen, dort in der Dunkelheit, war ohne Zweifel Legion. Ich hatte keine Waffe, nicht einmal meinen Schürhaken, und ich dachte daran, wie der Verwandte dieses Wesens diese seltsame Waffe auf mich gerichtet und mich ohne jede Mühe außer Gefecht gesetzt hatte.

Ich beschloß, erst einmal abzuwarten.

Und außerdem — obwohl es sich komisch anhören mag! — spürte ich, daß mein Zorn nachließ und in einen unmotivierten Zustand der Belustigung überging. Trotz der obligaten Leichenblässe seiner Haut schaute der Morlock wirklich lustig aus — man stelle sich einen Orang Utan mit gestutztem und gelbweiß gefärbtem Haar vor, der Männchen macht und zudem noch eine schrille Brille aufhat — und man kann sich denken, wie er wirken mußte.

»Tik. Pau«, wiederholte er.

Ich ging einen Schritt auf ihn zu. »Was willst du mir sagen, du Primitivling?«

Er zuckte zusammen — was wohl auf meinen Tonfall zurückzuführen war — und deutete dann abwechselnd auf die Gemüseriegel in meinen Händen.

»Tik«, sagte er. »Pau.«

Ich verstand. »Gütiger Gott«, meinte ich, »du willst mit mir reden, richtig?« Abwechselnd hielt ich die Nahrungsmittelbrocken hoch. »Tik. Pau. Eins. Zwei. Sprichst du Englisch? Eins. Zwei…«

Der Morlock legte den Kopf schief — wie Hunde das manchmal machen — und dann sagte er — und er sprach es fast genauso aus wie ich —: »Eins. Zwei.«

»So wird's gemacht! Und wo das herkommt, gibt's auch noch mehr — eins, zwei, drei, vier…«

Der Morlock trat in meinen Lichtkreis, wobei mir indessen auffiel, daß er sich außerhalb meiner Reichweite hielt. Er deutete auf meine Wasserschüssel. »Agua.«

»Agua?« Das hatte wie Latein geklungen — andererseits war humanistische Bildung noch nie meine Sache gewesen. »Wasser«, erwiderte ich.

Wieder hörte der Morlock schweigend zu, den Kopf in Schräglage.

So machten wir weiter. Der Morlock deutete auf Alltagsgegenstände — Kleidungsstücke, oder Körperteile wie Kopf oder Gliedmaßen — und lieferte dann dazu einen Kommentar ab. Manche seiner Versuche waren schlichtweg unverständlich für mich, und einige klangen deutsch oder vielleicht auch altenglisch. Und ich nannte ihm dann meine gängige Terminologie. Ein paarmal versuchte ich, ihn in ein längeres Gespräch zu verwickeln — denn ich glaubte nicht, daß diese simple Aufzählung von Substantiven uns sehr weit bringen würde — aber er stand nur da, bis ich schließlich auch nichts mehr sagte, und dann machten wir mit dem alten Geduldsspiel weiter. Ich konfrontierte ihn mit einigen Brocken, die ich von Weenas Sprache behalten hatte, dieser vereinfachten, melodischen Mundart aus Zwei-Wörter-Sätzen; aber wieder stand der Morlock nur geduldig da, bis ich auch das aufgab.

So ging das für einige Stunden. Schließlich nahm der Morlock ganz formlos seinen Abschied — er verschwand in der Dunkelheit —; ich folgte ihm nicht (noch nicht! sagte ich erneut zu mir). Ich aß und schlief, und als ich aufwachte, kehrte er zurück, und wir setzten den Unterricht fort.

Als er um meinen Lichtkäfig herumging und auf Dinge zeigte und sie benannte, waren die Bewegungen des Morlocks flüssig und recht elegant, und seine Körpersprache wirkte intensiv; aber mir wurde bald bewußt, wie sehr man sich in der Alltagskommunikation von der Interpretation der Bewegungen seiner Mitmenschen leiten läßt. Was den Morlock betraf, war ich in dieser Hinsicht Analphabet. Es war unmöglich zu sagen, was er dachte oder fühlte — hatte er vielleicht Angst vor mir? War er etwa gelangweilt? — und infolgedessen fühlte ich mich in einer benachteiligten Position. Am Ende unserer zweiten Lehrstunde zog sich der Morlock von mir zurück.

»Das sollte genügen«, meinte er. »Verstehst du mich?«

Ich starrte ihn an, überwältigt von seiner plötzlichen fremdsprachlichen Kompetenz. Seine Aussprache war undeutlich — diese flüssige Sprache der Morlocks war anscheinend nicht für die härteren Konsonanten und Satzabbrüche des Englischen ausgelegt —, aber die Worte waren gut verständlich.

»Verstehst du mich?« wiederholte er, als ich nicht antwortete.

»Ich — ja. Ich meine: Ja, ich verstehe dich! Aber wie hast du das gemacht — wie konntest du meine Sprache lernen — mit so wenigen Wörtern?« Meiner Einschätzung nach hatten wir nämlich höchstens fünfhundert Wörter erarbeitet, überwiegend diese Substantive und einfache Verben.

»Ich habe Zugriff auf die Archive aller alten Sprachen der Menschheit, soweit sie rekonstruiert werden konnten — von Nostratisch bis zur Indo-Europäischen Gruppe mit ihren Vorläufern. Eine kleine Anzahl von Schlüsselwörtern genügt, um die entsprechende Variante aufzurufen. Du mußt mich darauf hinweisen, wenn ich etwas sage, das keinen Sinn ergibt.«

Ich machte einen vorsichtigen Schritt vorwärts. »Alt? Und woher willst du wissen, daß ich alt bin?«

Große Lider senkten sich wie raschelnde Papierblätter über seine Augen. »Deine körperliche Erscheinungsform ist archaisch. Und bei der Analyse deines Mageninhaltes…« Tatsächlich schauderte ihn, offenbar beim Gedanken an die Überreste von Mrs. Watchets' Frühstück. Ich war erstaunt: Ich hatte es mit einem empfindsamen Morlock zu tun! »Du bist nicht aus dieser Zeit«, erkannte er. »Wir wissen noch nicht, wie du auf die Erde gekommen bist. Aber wir werden sicher noch dahinterkommen.«

»Und in der Zwischenzeit«, sagte ich halbwegs energisch, »wollt ihr mich hier festhalten — in diesem Lichtkäfig. Als ob ich ein wildes Tier wäre und kein Mensch! Ihr laßt mich auf dem Boden schlafen und gebt mir einen Toiletteneimer…«

Der Morlock sagte nichts, sondern beobachtete mich nur teilnahmslos.

Die Gefühle der Frustration und des Zorns, die mich seit der Ankunft an diesem Ort befallen hatten, kamen wieder an die Oberfläche, jetzt, wo ich in der Lage war, sie zu artikulieren, und ich war der Ansicht, daß der Höflichkeiten genug gewechselt worden waren. »Wo wir jetzt miteinander sprechen können«, sagte ich, »wirst du mir sagen, wo auf der Erde ich mich befinde. Und wo ihr meine Maschine versteckt habt. Verstehst du das, Bursche, oder soll ich es dir vielleicht übersetzen?« Und ich streckte eine Hand nach ihm aus, um ihn an seinem Brusthaar zu packen.

Als ich mich ihm bis auf zwei Schritte genähert hatte, hob er die Hand. Das war alles. Ich kann mich nur noch an einen merkwürdigen grünen Blitz erinnern — die ganze Zeit, in der er in meiner Nähe war, hatte ich das Gerät, das er gehalten haben mußte, nicht gesehen — und dann verlor ich das Bewußtsein und stürzte zu Boden.

Offenbarungen und Einsprüche

Als ich wieder zu Bewußtsein kam, lag ich erneut breitbeinig auf dem Boden und starrte nach oben in dieses verdammte Licht.

Ich stützte mich auf die Ellbogen auf und rieb mir die geblendeten Augen. Mein Morlock-Freund war noch immer da und stand direkt an der Grenze des Lichtkreises. Zerknirscht stand ich auf. Ich erkannte, daß ich mit diesen neuen Morlocks meine liebe Mühe haben würde.

Der Morlock trat ins Licht, wobei seine blaue Brille glitzerte. Als ob unser Dialog überhaupt nicht unterbrochen worden wäre, sagte er: »Mein Name ist…« — seine Aussprache reduzierte sich wieder auf das übliche konturenlose Morlock-Muster — »Nebogipfel.«

»Nebogipfel.« Ich mußte das mehrmals aufsagen, bis ich den Dreh heraus hatte. »Sehr schön.« Im Gegenzug nannte ich ihm meinen Namen; nach ein paar Minuten konnte er ihn klar und präzise wiederholen.

Das, so realisierte ich, war der erste Morlock, dessen Namen ich kannte — der erste, der aus der Masse herausragte, der ich bisher begegnet war, und der erste, der kämpfte; der erste, der Merkmale einer eigenständigen Persönlichkeit aufwies.

»Also, Nebogipfel«, sagte ich. Ich saß mit untergeschlagenen Beinen neben meinen Tabletts und rieb die Abschürfungen, die ich mir beim letzten Sturz am Oberarm zugezogen hatte. »Du bist mir als Wärter zugeteilt worden, hier in diesem Zoo.«

»Zoo.« Sein Gesicht verzog sich unter der Haarmähne. »Nein. Ich wurde dir nicht zugeteilt. Ich habe mich freiwillig gemeldet, um mit dir zu arbeiten.«

»Mit mir zu arbeiten?«

»Ich — wir — wollen wissen, wie du hierher gekommen bist.«

»Wollt ihr also, beim Jupiter?« Ich stand auf und stiefelte in meinem Lichtkäfig umher. »Was, wenn ich euch sagen würde, daß ich in einer Maschine hergekommen bin, die einen Menschen durch die Zeit transportieren kann?« Ich hielt die Hände hoch. »Daß ich eine solche Maschine gebaut habe, mit diesen Händen? Was dann, hä?«

Er schien darüber nachzudenken. »Deine Ära, wie aus deiner Sprache und deinem Äußeren geschlossen werden kann, ist sehr weit von der unseren entfernt. Ihr seid in der Lage, High-Tech-Erzeugnisse zu produzieren — das sieht man an deiner Maschine, ob sie dich nun durch die Zeit trägt oder nicht, wie du behauptest. Und die Kleidung, die du trägst, der gepflegte Zustand deiner Hände und deiner Zähne — all das sind Indikatoren für einen hohen Stand der Zivilisation.«

»Ich fühle mich geschmeichelt«, kommentierte ich nicht ohne Stolz, »aber wenn ihr glaubt, daß ich zu solchen Dingen fähig bin — daß ich ein Mensch bin, kein Affe —, warum werde ich dann auf diese Art eingesperrt?«

»Weil«, antwortete er gleichmütig, »du bereits versucht hast, mich anzugreifen, mit allen Anzeichen, mir etwas antun zu wollen. Und auf der Erde hast du großen Schaden…«

Ich spürte erneut die Wut aufflackern. Ich ging auf ihn zu. »Ihr Affen habt an meiner Maschine rumgepfuscht«, schrie ich. »Was hattet ihr denn erwartet? Ich habe mich nur verteidigt. Ich…«

»Es waren Kinder«, sagte er.

Seine Worte ließen meinen Zorn wie einen Luftballon platzen. Ich versuchte noch, mich an die Reste meiner selbstgerechten Empörung zu klammern, aber sie fielen bereits von mir ab. »Was hast du gesagt?«

»Kinder. Es waren Kinder. Seit der Fertigstellung der Sphäre ist die Erde zu einem… Spielplatz geworden, einem Ort, an dem die Kinder sich austoben können. Sie waren neugierig auf deine Maschine. Das ist alles. Sie hätten weder dir noch ihr vorsätzlich einen Schaden zugefügt. Und doch hast du sie mit großer Aggression angegriffen.«

Ich wich von ihm zurück. Ich erinnerte mich — jetzt ließ ich den Gedanken freien Lauf —, daß mir die Morlocks, die so planlos um meine Maschine herumgehüpft waren, kleiner vorgekommen waren als die, denen ich zuvor begegnet war. Und sie hatten wirklich keinen Versuch unternommen, mich anzugreifen… außer dem armen Wesen, das ich erwischt hatte und das mir dann in die Hand biß — bevor ich ihm ins Gesicht schlug!

»Der eine, den ich geschlagen habe. Hat er — es — überlebt?«

Der Morlock blinzelte, mit einem erneuten raschelnden Wisch dieser großen Lider. »Die körperlichen Verletzungen waren reparabel. Aber…«

»Ja?«

»Die inneren Narben, die Narben an der Seele — die werden wohl kaum heilen.«

Ich ließ den Kopf sinken. Konnte das denn wahr sein? Hatte ich mich durch meinen Haß auf die Morlocks derart blenden lassen, daß ich nicht mehr fähig war, die Wesen bei der Maschine als das zu sehen, was sie wirklich waren: nicht die rattenartigen, üblen Kreaturen von Weenas Welt — sondern harmlose Kinder?

»Ich nehme nicht an, daß du weißt, wovon ich spreche — aber ich fühle mich, als ob ich wieder in so einer ›stereoskopischen Darstellung‹ gefangen wäre…«

»Du willst damit sagen, daß du Scham empfindest«, erkannte Nebogipfel.

Scham… Ich hätte nie gedacht, solche Vorhaltungen von einem Morlock zu hören und auch noch zu akzeptieren! Ich blickte ihn trotzig an. »Ja. Sehr richtig. Und macht mich das in deinen Augen jetzt zu einer größeren oder kleineren Bestie?«

Er sagte nichts.

Sogar während ich mit diesem persönlichen Horror konfrontiert wurde, beschäftigte sich der ›mathematische Coprozessor‹ meines Gehirns mit einer Äußerung, die Nebogipfel gemacht hatte. Seit der Fertigstellung der Sphäre ist die Erde zu einem Spielplatz geworden…

»Welche Sphäre?« wollte ich wissen.

»Du mußt noch viel über uns lernen.«

»Erzähl mir von der Sphäre!«

»Es ist eine Sphäre um die Sonne.«

Diese sieben einfachen Worte — schockierend! — und doch… Natürlich! Die Evolution der Sonne, die ich im Zeitraffer am Himmel verfolgt hatte, die Ausblendung des Sonnenlichts von der Erde — »Ich verstehe«, sagte ich zu Nebogipfel. »Ich habe ihren Bau beobachtet.«

Die Augen des Morlocks schienen sich auf eine sehr menschliche Art zu weiten, während er diese unerwartete Neuigkeit verdaute.

Und jetzt wurden mir auch andere Aspekte meiner Situation klar.

»Du hast gesagt«, referierte ich Nebogipfel, »daß ich auf der Erde großen Schaden angerichtet hätte… so in der Art.« Diese Aussage hörte sich sonderbar an, dachte ich jetzt — zumindest dann, wenn ich mich noch auf der Erde aufhalten würde. Ich hob den Kopf und schaute in das Licht. »Nebogipfel — unter meinen Füßen. Was sieht man da, durch diesen klaren Boden?«

»Sterne.«

»Keine Abbildungen, kein Planetarium…«

»Sterne.«

Ich nickte. »Und dieses Licht…«

»Das ist Sonnenlicht.«

Irgendwie hatte ich es ja geahnt. Ich wurde vom Licht einer Sonne beschienen, die vierundzwanzig Stunden am Tag im Zenit stand; ich befand mich auf einem Boden über den Sternen…

Ich fühlte mich, als ob sich die Welt um mich drehen würde; mein Kopf war leicht, und ein leises Klingeln ertönte in den Ohren. Meine Abenteuer hatten mich bereits durch die Wüsten der Zeit geführt, aber jetzt — dank meiner Gefangenschaft bei diesen erstaunlichen Morlocks — hatte ich mich auch durch den Raum bewegt. Ich war nicht mehr auf der Erde — ich war zu der Solarsphäre der Morlocks gebracht worden.

Ein Dialog mit einem Morlock

»Du sagst, daß du mit einer Zeitmaschine hierher gereist bist.« Rastlos strich ich über die kleine Scheibe aus Licht, die mein Gefängnis darstellte. »Das ist die präzise Bezeichnung. Es handelt sich um eine Maschine, die in beliebiger Richtung und Geschwindigkeit durch die Zeit reisen kann, ganz nach Wunsch des Maschinenführers.«

»Du behauptest also, daß du mit dieser Maschine hierher gekommen bist, aus der entfernten Vergangenheit — die Maschine, die wir zusammen mit dir auf der Erde gefunden haben.«

»Ja. Exakt«, erwiderte ich. Der Morlock schien Gefallen daran zu finden, für lange Stunden fast reglos dazustehen, während er sein Verhör durchführte. Doch ich bin ein Mensch modernen Zuschnitts, und unsere Mentalitäten waren nicht kompatibel. »Zum Teufel, Kamerad«, sagte ich, »du hast doch selbst festgestellt, daß ich eine — wie hast du mich bezeichnet — archaische Konstruktion bin. Wie sonst, wenn nicht mit Zeitreise, könntest du meine Präsenz hier erklären, im Jahr 657208 n. Chr.?«

Diese großen, vorhangartigen Augenlider blinzelten träge. »Es gäbe durchaus eine Reihe von Alternativen, von denen die meisten plausibler sind als eine Zeitreise.«

»Als da wäre?« »Genetische Rückkreuzung.«

»Genetisch?« Ich bin zwar nur Physiker, aber ich wußte in etwa, was er damit sagen wollte. »Du sprichst von den Mechanismen, auf denen die Vererbung beruht — durch die bestimmte Merkmale von Generation zu Generation weitergegeben werden.«

»Es ist nicht ausgeschlossen, durch eine Mutationskette Repliken archaischer Genotypen zu erzeu gen.«

»Du glaubst also, daß ich nicht mehr bin als eine Replik — rekonstruiert wie das fossile Skelett eines Urwelttieres in einem Museum? Ja?«

»Es gibt Präzedenzfälle, obwohl nicht von menschlichen Formen deiner Qualität. Ja. Es ist möglich.«

Ich fühlte mich beleidigt. »Und zu welchem Zweck hätte man mich wohl so zusammenstoppeln sollen?« Ich nahm meinen Streifzug durch den Käfig wieder auf. Der unangenehmste Aspekt dieses öden Platzes war das Fehlen von Wänden und das permanente Gefühl, daß ich keine Rückendeckung hatte. Lieber wäre ich in eine Gefängniszelle meiner eigenen Zeit gesteckt worden — ohne Zweifel primitiv und schmutzig, aber eingeschlossen. »Ich werde auf so etwas erst gar nicht anspringen. Das ist ausgemachter Unsinn. Ich habe eine Zeitmaschine konstruiert und gebaut und bin dann mit ihr hierher gereist; das ist eine Tatsache!«

»Wir werden deine Erklärung als Arbeitshypothese verwenden«, sagte Nebogipfel ungerührt. »Jetzt beschreibe mir bitte die Funktionsweise der Maschine.«

Ich setzte meine Wanderung fort. Jetzt befand ich mich in einem Dilemma. Gleich nachdem ich erkannt hatte, daß dieser Morlock-Stamm eloquent und intelligent war, im Gegensatz zu meinen früheren Begegnungen mit dieser Spezies, hatte ich eine derartige Befragung erwartet; wenn ein Zeitreisender aus dem alten Ägypten im London des neunzehnten Jahrhunderts aufgetaucht wäre, hätte ich schließlich auch alles darangesetzt, dem Untersuchungskomitee anzugehören. Aber sollte ich das Geheimnis meiner Maschine — dem einzigen Vorteil in dieser Welt — wirklich mit diesen Morlocks teilen?

Nachdem ich für geraume Zeit in ›Klausur‹ gegangen war, erkannte ich, daß ich wohl keine andere Wahl hatte. Ich zweifelte nicht daran, daß die Morlocks die Informationen mit Gewalt aus mir herausholen konnten, wenn sie das wollten. Außerdem war die mechanische Konstruktion meiner Maschine simpler als die eines Uhrwerkes. Eine Zivilisation, die dazu imstande war, einen Schirm um die Sonne zu legen, hätte wohl wenig Mühe damit gehabt, mein Erzeugnis einfachen Maschinenbaus zu rekonstruieren! Und wenn ich mit Nebogipfel kooperierte, könnte ich den Burschen vielleicht hinhalten und dabei versuchen, einen Vorteil aus meiner heiklen Lage zu ziehen. Ich wußte nämlich nach wie vor nicht, wo die Maschine abgeblieben war, und noch weniger, wie ich sie erreichen und nach Hause gelangen sollte.

Doch außerdem — und das ist die reine Wahrheit — lastete mein Wüten unter den Morlock-Kindern noch immer auf meiner Seele. Ich wollte nicht, daß Nebogipfel mich — bzw. die Menschheit, die ich repräsentierte — für Barbaren hielt. Deshalb war ich darauf aus, wie ein kleines Kind Eindruck zu schinden und Nebogipfel zu demonstrieren, wie intelligent ich war, wie handwerklich geschickt und wissenschaftlich beschlagen — wie weit die Menschen meines Zeitalters sich schon von den Affen fortentwickelt hatten.

Ich war jetzt zum erstenmal so verwegen, meinerseits Forderungen zu stellen.

»Na gut«, sagte ich zu Nebogipfel. »Aber zuerst…«

»Ja?«

»Schau mal«, meinte ich, »die Bedingungen, unter denen ihr mich haltet, sind doch etwas primitiv, stimmt's? Ich bin kein junger Spund mehr und kann nicht mehr den ganzen Tag stehen. Wie wär's mit einem Stuhl? Wäre das denn zuviel verlangt? Und was ist mit Bettdecken, wenn ich schon hierbleiben muß?«

»Stuhl.« Er hatte eine Sekunde lang mit der Antwort gewartet, als ob er das Wort in einem unsichtbaren Wörterbuch nachschlagen würde.

Ich erweiterte den Katalog meiner Forderungen. Ich brauchte mehr frisches Wasser, sagte ich, und so etwas wie Seife; und außerdem bat ich — wobei ich mit einer Ablehnung rechnete — um eine Rasierklinge.

Nebogipfel entfernte sich für eine Weile. Als er zurückkam, brachte er Decken und einen Stuhl mit; und nach meiner nächsten Schlafphase fand ich neben den beiden Essenstabletts ein drittes mit zusätzlichem Wasser.

Die Decken bestanden aus einem weichen Material, einem glatten, fließenden Gewebe, das zu fein strukturiert war, als daß ich Knüpfstellen hätte entdecken können. Der Stuhl — ein simples Modell von künstlerisch diktierter Unbequemlichkeit — hätte seinem Gewicht nach zu urteilen aus einem leichten Holz bestehen können, aber seine rote Oberfläche war glatt und fugenlos, und ich konnte weder die Farbe mit den Fingernägeln abkratzen noch irgendwelche Anzeichen von Bolzen, Nägeln, Schrauben oder Einzelteilen entdecken; das Möbel schien in irgendeinem unbekannten Herstellungsverfahren als Ganzes aus dem Extruder gezogen worden zu sein. Was meine Toilette betraf, so lag dem Wasser in der neuen Schüssel keine Seife bei, aber die Flüssigkeit selbst wirkte irgendwie seifig, und ich vermutete, daß sie einen Zusatz hineingekippt hatten. Wie durch ein kleines Wunder war das Wasser handwarm angeliefert worden — und es behielt diese Temperatur auch bei, gleichgültig, wie lange ich die Schüssel stehen ließ.

Eine Rasierklinge bekam ich indessen nicht — was mich auch gewundert hätte!

Als Nebogipfel mich das nächstemal alleinließ, entkleidete ich mich abschnittsweise und wusch den Schweiß von mehreren Tagen sowie die Reste von Morlockblut ab; ebenso ergriff ich die Gelegenheit und wusch die Unterwäsche und das Hemd.

So wurde mein Dasein im Käfig des Lichts einen Hauch zivilisierter. Wenn man sich das Inventar eines einfachen Hotelzimmers in der Mitte eines riesigen Ballsaales deponiert vorstellt, bekommt man eine Ahnung davon, wie ich lebte. Ich rückte den Stuhl, die Tabletts und die Decken zusammen und machte mir so ein gemütliches Nest; auf diese Art fühlte ich mich nicht mehr so exponiert. Ich plazierte mein Jackenkissen unter dem Stuhl und schlief so mit Kopf und Schultern im Schutz dieser kleinen Festung. Die meiste Zeit gelang es mir, die Anwesenheit der Sterne unter meinen Füßen zu verdrängen — aber manchmal ging meine Phantasie mit mir durch, und dann glaubte ich, über einem unendlichen Tropfen zu hängen, nur durch diesen durchsichtigen Boden geschützt.

All das war natürlich völlig unlogisch; aber ich bin eben auch nur ein Mensch und muß deswegen den instinktiven Bedürfnissen und Ängsten meiner Natur Rechnung tragen!

Nebogipfel registrierte das alles. Ich weiß nicht, ob er mit Neugier oder Verwirrung darauf reagierte oder vielleicht sogar mit schierem Befremden — wie ich z. B. die Mätzchen eines Vogels beim Nestbau betrachtet hätte.

Und so gingen die nächsten paar Tage ins Land — es müssen wohl vier oder fünf gewesen sein —, während ich mich bemühte, Nebogipfel die Funktionsweise meiner Zeitmaschine nahezubringen — und versuchte, ihm auf subtile Art einige Details dieser Historie zu entlocken, in der ich gelandet war.

Ich beschrieb die Forschungen zur optischen Physik, die mir die Einsicht in die Durchführbarkeit der Zeitreise verschafft hatten.

»Es setzt sich die Erkenntnis durch — bzw. tat sie das zu meiner Zeit —, daß die Ausbreitung des Lichts gewissen Anomalien unterworfen ist«, dozierte ich. »Die Geschwindigkeit des Lichts ist im Vakuum extrem hoch — es breitet sich mit einer Geschwindigkeit von etwa einhundertneunzigtausend Meilen pro Sekunde aus — aber sie ist endlich. Und, was noch wichtiger ist und einige Jahre vor meiner Abreise von Michelson und Morley am überzeugendsten dargelegt wurde — diese Geschwindigkeit ist isotropisch…«

Ich ging sehr vorsichtig bei der Erklärung dieser skurrilen Angelegenheit vor. Die zentrale Aussage ist, daß sich das Licht auf seiner Reise durch den Raum nicht wie ein materielles Objekt, z. B. wie ein D-Zug, bewegt.

Man stelle sich einen Lichtstrahl von einem entfernten Stern vor, der die Erde beispielsweise im Januar überholt, während unser Planet sich auf seiner Umlaufbahn um die Sonne befindet. Die Orbitalgeschwindigkeit der Erde beträgt ungefähr sechshundertneunzigtausend Meilen pro Stunde. Die Vorstellung scheint plausibel — wenn man die Geschwindigkeit dieses Sternenlichtstrahls von der Erde aus messen würde — daß dieser Betrag um die ca. sechshundertneunzigtausend Meilen pro Stunde verringert werden müßte.

Im Gegensatz hierzu befindet sich die Erde im Juli auf der entgegengesetzten Seite ihrer Umlaufbahn: sie wird nun auf Gegenkurs zum Pfad dieses Sternenlichtstrahls gehen. Bei einer erneuten Geschwindigkeitsmessung des Strahls würde sich die ermittelte Geschwindigkeit dann folgerichtigerweise um den Betrag der Orbitalgeschwindigkeit der Erde erhöhen.

Gut, wenn z. B. ein Zug von den Sternen auf uns zukäme, wäre das ohne Zweifel der Fall. Aber Michelson und Morley haben bewiesen — bei einer Genauigkeit von einem Sechstel der Umlaufgeschwindigkeit der Erde — daß dies bei Sternenlicht nicht gilt. Die von der Erde aus gemessene Geschwindigkeit des Sternenlichts ist jedesmal gleich — ob wir den Strahl überholen oder auf ihn zuhalten!

»Welch ein befremdliches, paradoxes Ergebnis das ist!« sagte ich zu Nebogipfel. »Scheinbar so abseitig, daß viele Theoretiker meiner Zeit die Forschungsergebnisse von Michelson und Morley von vornherein ignorieren.«

Aber die Beobachtungen von Michelson und Morley hatten mit dem Phänomen korreliert, das mir schon vor einigen Jahren beim Plattnerit aufgefallen war — obwohl ich die Ergebnisse meiner Experimente nicht veröffentlicht hatte — und auf dessen Basis ich eine Hypothese erstellt hatte.

»Man muß nur seiner Phantasie freien Lauf lassen — insbesondere, was die Betrachtung der Dimensionen betrifft —, um eine mögliche Erklärung für das Michelson-Morley-Phänomen zu finden. Wie messen wir denn z. B. die Geschwindigkeit? Nur mit Vorrichtungen, die Intervalle in verschiedenen Dimensionen aufzeichnen. Die Berechnung der Geschwindigkeit erfolgt über eine im Raum zurückgelegte Strecke, die mit einem simplen Yardmaß gemessen wird, und einem Intervall in der Zeit, das mit einer Uhr erfaßt werden kann. Und die Zeit ist nur eine Abart des Raumes, auch wenn wir sie nicht so wahrnehmen.

Wenn wir also die Empirie von Michelson und Morley zum Nennwert nehmen, dann müssen wir die Geschwindigkeit des Lichts als eine feste Größe betrachten und die Dimensionen als Variablen. In anderen Worten, die Länge meines Yardmaßes und die Geschwindigkeit, mit der meine Uhr tickt, variieren in Abhängigkeit von meiner Geschwindigkeit durch die Zeit: das Universum justiert sich quasi selbst nach, um das Meßergebnis für die Lichtgeschwindigkeit konstant zu halten.

Dann erkannte ich, daß man diesen Sachverhalt geometrisch darstellen kann, als eine Verschiebung der Dimensionen.« Ich hielt eine Hand hoch, wobei der Daumen und zwei Finger im rechten Winkel abstanden. »Nehmen wir an, wir befinden uns in einem Gerüst aus den vier Dimensionen — und dann lassen wir den ganzen Kram rotieren, ungefähr so…« — ich verdrehte das Handgelenk —, »daß die Längsachse dort zu liegen kommt, wo sich vorher die Querachse befunden hat und die Querachse ihrerseits den Platz der Hochachse einnimmt — und, was am wichtigsten ist, Dauer und Dimension des Raumes vertauscht werden. Siehst du? Man bräuchte natürlich keine vollständige Transposition — eine ansatzweise Verschiebung würde schon ausreichen. Und dann wäre eine Reise in die Vergangenheit oder Zukunft nicht schwieriger als ein Gang durch einen Raum.

Ich habe diese Spekulationen bisher für mich behalten«, sagte ich. »Ich habe keinen besonderen Ruf als Theoretiker. Außerdem habe ich Bedenken, etwas ohne experimentelle Verifikation zu veröffentlichen. Aber es gibt — gab — andere Leute, die in der gleichen Richtung denken — z. B. Fitzgerald in Dublin, Lorentz in Leiden und Henri Poincare in Frankreich — und es kann nicht mehr lange dauern, bis die Theorie vervollständigt wird, die sich mit dieser Relativität der Bezugsgrößen befaßt…«

»Dein Kenntnisstand ist bemerkenswert«, sagte der Morlock. »Du bist ein Mensch des Jahres 1891 — vierzehn Jahre vor dem Erscheinen von Einsteins erster Arbeit in den Annalen der Physik — und doch ähnelt deine Terminologie Minkowskis Formalismus der Raumzeit-Geometrie…«

Diese Namen aus der Zukunft sagten mir natürlich nichts, aber ich kann bei dem angenehmen Gedanken, bis zu einem gewissen Grad meiner Zeit voraus gewesen zu sein, einen Anflug von Arroganz nicht leugnen! »Das ist dann also die Quintessenz meiner Zeitmaschine«, schloß ich. »Die Maschine verdreht Raum und Zeit in sich selbst und verwandelt so die Zeit in eine räumliche Dimension — und dann ist die Reise in die Vergangenheit oder Zukunft so leicht wie Fahrradfahren.«

Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück; in Anbetracht der ungemütlichen Bedingungen dieser Vorlesung hielt ich mir zugute, eine bemerkenswerte Leistung geboten zu haben.

Doch mein Morlock war kein dankbarer Zuhörer. Er stand da und sah mich durch seine blaue Brille an. Dann meinte er schließlich: »Ja. Aber wie verhält sich das jetzt genau?«

Die Befreiung aus dem Käfig

Diese Reaktion irritierte mich ungemein! Ich bin sonst ein dankbareres Publikum gewöhnt.

Ich erhob mich vom Stuhl und begann im Käfig umherzugehen. Dabei näherte ich mich Nebogipfel und konnte gerade noch den Impuls unterdrücken, in eine affenartige Drohgeste zu verfallen. Ich weigerte mich jetzt strikt, weitere Fragen zu beantworten, solange er mir nicht etwas von seiner Sphären-Welt zeigte.

»Schau mal«, sagte ich, »glaubst du nicht auch, daß du etwas unfair bist? Schließlich habe ich sechshunderttausend Jahre zurückgelegt, um etwas von deiner Welt zu sehen. Und alles, was ich bisher davon hatte, war eine dunkle Hügelkette in Richmond, und…« — ich machte eine Handbewegung in Richtung der mich umgebenden Dunkelheit — »…das hier und deine endlosen Fragen!

Betrachte es einmal von diesem Standpunkt aus, Nebogipfel. Ich weiß, daß ich dir einen umfassenden Bericht meiner Reise durch die Zeit geben soll und auch darüber, was ich in der Vergangenheit gesehen hatte, als sie sich zu eurer Gegenwart entwickelte. Wie kann ich aber einen solchen Bericht machen, wenn ich nicht weiß, wie er endet? — ganz zu schweigen von der anderen Vergangenheit, die ich erlebt habe.«

Hier brach ich meine Rede ab und hoffte, daß ich ihn damit überzeugt hätte.

Er führte die Hand zu seinem Gesicht; die dünnen, weißlichen Finger rückten die Brille gerade, so wie jeder Gentleman einen Zwicker zurechtgerückt hätte. »Ich werde diesbezüglich Rücksprache halten«, verkündete er schließlich. »Wir sprechen uns wieder.«

Damit ging er. Ich sah ihn verschwinden, wobei seine nackten Füße auf den weichen, sternenunterlegten Boden patschten.

Nach einer weiteren Schlafperiode kehrte Nebogipfel zurück. Er hob eine Hand und winkte; es war eine steife, unnatürliche Geste, als ob er sie sich erst vor kurzem angeeignet hätte.

»Komm mit«, forderte er mich auf.

Mit einem Anflug von Überschwang — durchsetzt von einer nicht unbeträchtlichen Furcht — hob ich meine Jacke vom Boden auf.


Ich ging neben Nebogipfel her, in die Dunkelheit, die mich so viele Tage umgeben hatte. Mein in der Säule aus Sonnenlicht liegendes Nest verschwand hinter mir. Ich blickte zurück auf den kleinen Fleck, der mein ungemütliches Heim gewesen war, mit den unordentlich herumstehenden Tabletts, dem Haufen Decken und dem Stuhl — vielleicht dem weltweit einzigen Stuhl! Ich kann nicht gerade behaupten, daß mich bei seinem Verschwinden nostalgische Anwandlungen überkamen, denn ich hatte mich während des ganzen Aufenthalts in diesem Lichtkäfig nur elend und verängstigt gefühlt, aber ich fragte mich doch, ob ich ihn noch mal sehen würde.

Unter unseren Füßen hingen die Fixsterne wie eine Million chinesischer Lampions, die am Ufer eines unsichtbaren Flusses aufgereiht waren.

Während unseres Marsches hielt mir Nebogipfel eine blaue Brille hin, die starke Ähnlichkeit mit der hatte, die er selbst trug. Ich nahm sie zwar, protestierte jedoch: »Was soll ich damit? Ich bin nicht geblendet wie du…«

»Du brauchst sie nicht wegen des Lichts, sondern wegen der Dunkelheit. Setz sie auf.«

Ich führte die Brille ans Gesicht. Das Teil hatte zwei Riemen aus einem biegsamen Material, die sich auch um die blauen Gläser der Brille selbst legten. Als ich die Brille aufsetzte, schmiegten sich die Riemen sanft um den Kopf und fixierten die Brille leicht.

Ich wandte den Kopf. Trotz der Tönung der Brille sah ich nicht ›blau‹. Diese Säule aus Sonnenlicht schien so hell wie immer, und die Erscheinung von Nebogipfel sowie die Konturen meiner Arme, als ich an ihnen hinabblickte, waren so scharf wie zuvor. Ich schaute zu Nebogipfel hinüber. »Sie scheint nicht zu funktionieren«, beanstandete ich.

Anstatt zu antworten, beugte er den Kopf vor.

Ich folgte seinem Blick — und mein Schritt stockte. Denn unter meinen Füßen, jenseits des weichen Bodens, flammten die Sterne. Ihr Leuchten wurde jetzt nicht mehr durch den Glanz des Bodens bzw. die schlechte Akkomodation meiner Augen gefiltert; es war, als ob ich in einer sternenklaren Nacht auf den Bergen von Wales oder Schottland stehen würde! Wie man sich vorstellen kann, verspürte ich manchmal heftige Schwindelanfälle.

Ich nahm jetzt einen Anflug von Ungeduld bei Nebogipfel wahr — er schien vorwärts zu drängen. Wir marschierten schweigend weiter.

Nach nur wenigen Schritten — so kam es mir jedenfalls vor — wurde Nebogipfel langsamer, und nun sah ich, dank der Brille, eine wenige Yards vor uns liegende Wand. Ich streckte die Hand aus und berührte ihre tiefschwarze Oberfläche, aber sie hatte nur die gleiche weiche, warme Struktur wie der Boden auch. Ich konnte nicht begreifen, wie wir die Grenze dieser Kammer so schnell erreicht hatten. Ich fragte mich, ob wir uns vielleicht auf einer Art Laufband befunden hatten, das als Marscherleichterung diente; aber Nebogipfel rückte dazu keine Informationen heraus.

»Sag mir, was das für ein Ort ist, bevor wir ihn verlassen«, bat ich ihn.

Sein flachsblondes Haar wirbelte zu mir herum. »Eine leere Kammer.«

»Welcher Durchmesser?«

»Annähernd zweitausend Meilen.«

Ich versuchte, eine Reaktion darauf zu unterdrücken. Zweitausend Meilen? War ich etwa allein in einer Gefängniszelle gewesen, in der man einen Ozean hätte unterbringen können? »Ihr habt hier wirklich viel Platz«, bemerkte ich leichthin.

»Die Sphäre ist groß«, erklärte er. »Wenn man nur an planetarische Dimensionen gewöhnt ist, fällt es einem sicher schwer, die Größe zu erfassen. Die Sphäre reicht bis zum Orbit des Urplaneten, den ihr Venus genannt habt. Ihre Oberfläche entspricht dreihundert Millionen Erdoberflächen.«

»Dreihundert Millionen…«

Mein schieres Erstaunen traf nur auf den leeren Blick des Morlocks und noch mehr von dieser subtilen Ungeduld. Ich verstand seine Ruhelosigkeit, und doch verspürte ich Ressentiments — und eine leichte Verlegenheit. Für den Morlock war ich quasi ein Pygmäe, den es aus dem Kongo nach London verschlagen hatte und der nach Sinn und Zweck selbst der banalsten Dinge fragen mußte, wie etwa einer Gabel oder Hose!

In meinen Augen war die Sphäre natürlich eine gigantische Konstruktion! — aber das wären die Pyramiden für einen Neandertaler wohl auch gewesen. Für diesen selbstgefälligen Morlock gehörte die Sphäre um die Sonne praktisch zum historischen Inventar der Welt, mit keiner größeren Bedeutung als eine Wolkenbank oder die Gestalt der Landschaft.

Eine Tür öffnete sich vor uns — man beachte, daß sie nicht einfach aufschwang, sondern vielmehr wegglitt wie die Lamellen einer Kamera —, und wir gingen weiter.

Ich schnappte nach Luft und taumelte fast zurück. Nebogipfel musterte mich mit seiner üblichen analytischen Gelassenheit.

In einem Raum von der Größe einer ganzen Welt — einem mit Sternen ausgekleideten Raum — schwirrten eine Million Morlockgesichter um mich herum.

Die Morlocks in der Sphäre

Man muß sich diesen Ort einmal vorstellen: ein einziger riesiger Raum, mit einem Teppich aus Sternen und einer komplexen, maschinell errichteten Decke, und das alles dehnte sich unendlich weit aus, ohne Wände. Er war ein Ort, an dem Schwarz und Silber als einzige Farben vorherrschten. Der Boden wurde durch brusthohe Trennwände abgeteilt; richtige Wände gab es jedoch nicht: es existierten nirgendwo abgetrennte Bereiche, die Ähnlichkeit mit unseren Büros oder Wohnungen gehabt hätten.

Aber es gab Morlocks, eine bleiche Herde, die sich über diesen transparenten Boden verteilte; ihre Gesichter wirkten wie graue Schneeflocken, die den sternenübersäten Teppich bedeckten. Der Platz war mit ihren Stimmen angefüllt: ihr konstantes, fließendes Babbeln schlug über mir zusammen, ein Ozean für sich, ohne Ähnlichkeit mit den Lauten des menschlichen Gaumens — und ebenfalls ohne Ähnlichkeit mit der trockenen Stimme, mit der Nebogipfel in meiner Gegenwart gesprochen hatte.

An der Grenze zur Unendlichkeit, dort, wo das Dach und der Boden ineinander übergingen, verlief eine Linie, schnurgerade und durch Staub und Dunst etwas verschwommen. Und diese Linie wies nicht den Krümmungseffekt auf, den man manchmal beim Betrachten eines Ozeans erkennt. Es ist schwer zu beschreiben — es kann sein, daß man solche Dinge erst selbst erlebt haben muß, um sich eine Vorstellung von ihnen machen zu können —, aber in diesem Augenblick, als ich hier stand, wußte ich, daß ich mich nicht auf der Oberfläche eines Planeten befand. Es gab keinen Horizont, hinter dem sich weitere Morlocks verbargen, wie hinter der Kimm verschwindende Hochseeschiffe; vielmehr war mir klar, daß die runden, kompakten Konturen der Erde weit entfernt waren. Mein Mut wich einer großen Verzagtheit.

Nebogipfel kam auf mich zu. Er hatte sich seiner Brille entledigt, und ich hatte den Eindruck, daß er sich ohne sie wohler fühlte. »Komm«, forderte er mich höflich auf. »Hast du Angst? Das ist es doch, was du sehen wolltest. Wir machen einen Spaziergang. Und wir werden uns dabei weiter unterhalten.«

Mit großem Zögern — es kostete mich echte Überwindung, einen Schritt nach vorne zu machen und mich von der Wand meiner gigantischen Gefängniszelle zu lösen — folgte ich ihm.

Ich erregte eine ziemliche Aufwallung in der Morlock-Population. Ich war vollständig von ihren kleinen Gesichtern umgeben, mit großen Augen und ohne Kinn. Ich wich auf meinem Marsch vor ihnen zurück, mit erneutem Ekel vor ihrem kalten Fleisch. Einige von ihnen streckten ihre langen, behaarten Arme nach mir aus. Ich konnte ihren Körpergeruch wahrnehmen, eine nur zu bekannte süßliche, muffige Ausdünstung. Die meisten gingen in menschlicher Manier aufrecht, obwohl andere es vorzogen, wie Orang-Utans mit auf dem Boden schabenden Händen herumzuhüpfen. Viele hatten ihr Kopf- und Rückenhaar individuell frisiert, manche nüchtern und streng, wie Nebogipfel, und andere in einem fließenderen, dekorativen Stil. Aber da gab es noch einige, deren Haar genauso wild und struppig herumhing wie bei den Morlocks, denen ich in Weenas Welt begegnet war, und zuerst befürchtete ich, daß selbst diese Individuen hier in diesem High-Tech-Raum noch Wilde wären; aber sie verhielten sich genauso manierlich wie die anderen, und ich gelangte zu der Ansicht, daß diese Wallemähnen ihren Trägern im Grunde nur eine persönliche Note verleihen sollten — genauso wie manche Männer sich enorme Rauschebärte wachsen lassen.

Ich erkannte, daß ich mich mit einer beachtlichen Geschwindigkeit zwischen diesen Morlocks hindurchbewegte — viel schneller, als ich selbst hätte gehen können. Als ich das dann voll realisierte, wäre ich fast gestolpert. Ich blickte nach unten, aber der Abschnitt des transparenten Bodens, auf dem ich ging, unterschied sich in meinen Augen in nichts von der sonstigen Fläche; dennoch wußte ich, daß ich mich auf irgendeiner Art von Laufband befinden mußte.

Die dichtgedrängten, bleichen Morlockgesichter, das Fehlen jeglicher Farbe, der flache Horizont, die unnatürliche Geschwindigkeit, mit der ich mich durch diese bizarre Landschaft bewegte — und vor allem die Illusion, daß ich über einer bodenlosen Sternenquelle schwebte — flossen in eine Art Traum zusammen! — Aber dann rückten mir einige neugierige Morlocks zu nahe, und der durch diesen üblen Geruch erfolgte Kick katapultierte mich wieder in die Realität.

Dies war durchaus kein Traum: ich erkannte, daß ich verloren war, ausgesetzt in diesem Meer aus Morlocks, und wieder mußte ich mich zu einem steten Gang zwingen und den Drang unterdrücken, die Fäuste zu ballen und sie in die mich bedrängenden neugierigen Gesichter zu schmettern.

Ich sah, wie die Morlocks ihrem mysteriösen Tagewerk nachgingen. Einige spazierten umher, andere unterhielten sich und wieder andere kauten mit der Unbekümmertheit von Katzenkindern an diesem drögen, faden Essen, das auch mir vorgesetzt worden war. Diese Beobachtungen, verbunden mit der absoluten Unbegrenztheit des Raumes, ließen mich zu der Erkenntnis gelangen, daß die Morlocks in dieser Sphäre kein Bedürfnis nach einer Intimsphäre in dem Sinn, wie wir sie kennen, hatten.

Die meisten Morlocks schienen zu arbeiten, obwohl ich nicht erkennen konnte, woran. Die Oberflächen von einigen der Raumteiler bestanden aus einer blauen, glühenden Glaseinlage, und die Morlocks berührten diese Scheiben mit ihren dürren, wurmartigen Fingern oder redeten eindringlich auf sie ein. Im Gegenzug liefen Kurven, Darstellungen und Text über die Glasflächen. An einigen Stellen war diese bemerkenswerte Technik noch einen Schritt weiter entwickelt, und ich sah ausgefeilte Modelle — was sie darstellen sollten, entzog sich jedoch meiner Kenntnis —, die irgendwo aus dem Nichts zu entspringen schienen. Auf Befehl der Morlocks rotierten diese Modelle, öffneten sich und gaben einen Blick in ihr Inneres frei — oder sie flogen einfach davon, in kleiner werdenden Konfigurationen von schwebenden Würfeln aus farbigem Licht.

Diese Wesen waren eindeutig intelligent — jedes von ihnen konnte Nebogipfel das Wasser reichen —, aber es war schwierig für mich, auch immer daran zu denken! Als ich sah, wie ein struppiges Individuum mit seinem dicken Zeigefinger auf einem glühenden Bildschirm herumstocherte und dabei den Unterkiefer hängen ließ, mußte ich zwangsläufig an einen Affen im Zoo denken, der mit dem Finger auf einen vor ihm hängenden Spiegel einstach.

Und außerdem muß man berücksichtigen, daß all diese Aktivitäten permanent von dem fließenden, gutturalen Redefluß der Morlocks unterlegt wurden.

Jetzt kamen wir an einer Stelle vorbei, an der eine neue Trennwand hochgezogen wurde. Sie schien irgendwie aus einem Bottich mit Quecksilber gezogen zu werden; als sie fertiggestellt war, erhob sie sich als dünne Paneele vier Fuß über den Boden und wies drei dieser allgegenwärtigen blauen Fenster auf. Als ich mich bückte, um durch den transparenten Boden zu schauen, konnte ich unter der Oberfläche nichts erkennen: weder einen Behälter noch eine Fördermaschine. Es war, als ob die Wand aus dem Nichts erschienen wäre. »Wo ist sie hergekommen?« fragte ich Nebogipfel.

Nach etlicher Überlegung — offensichtlich mußte er seine Worte sorgfältig wählen — sagte er: »Die Sphäre hat ein Gedächtnis. Sie hat Maschinen, mit denen sie dieses Wissen speichern kann. Und die Form dieser Datenblöcke…« — er meinte die Trennwände — »…wird im Gedächtnis der Sphäre gespeichert, um nach Belieben in dieser materiellen Form rekonstruiert zu werden.«

Zu meiner Unterhaltung ließ Nebogipfel noch mehr solcher Gebilde entstehen: ich sah, wie auf einem Pfosten ein Tablett mit Speisen und Wasser aus dem Boden wuchs, als ob es von einem unsichtbaren Butler serviert worden wäre!

Diese Art, den gleichförmigen und blanken Boden als Extruder zu benutzen, verblüffte mich. Es erinnerte mich an Platons Hypothese, die von einigen Philosophen vertreten wurde: daß zu jedem bestehenden Objekt irgendwo eine Idealform existiert — eine Grundform des Stuhls, die Speicherung aller Merkmale eines Tisches etc. — und daß jedesmal, wenn in unserer Welt ein Gegenstand geformt wird, auf Matrizen zurückgegriffen wird, die in der Platonschen Überwelt gespeichert sind.

Nun, hier befand ich mich in einem Realität gewordenen Platonschen Universum: diese ganze mächtige, sonnenumspannende Sphäre war von einem künstlichen, gottgleichen Gedächtnis durchdrungen — einem Gedächtnis, in dessen Kammern wir uns bewegten, während wir miteinander sprachen. Und in diesem Gedächtnis war das Ideal jedes Objekts gespeichert, welches das Herz sich nur wünschen konnte — oder zumindest das Herz eines Morlocks.

Wie bequem es doch wäre, wenn man ganz nach Bedarf Gerät und Ausrüstung herstellen und wieder beseitigen könnte! Mein großes, zugiges Haus in Richmond könnte dann auf einen einzigen Raum reduziert werden, überlegte ich mir. Morgens könnten die Schlafzimmermöbel zurück in den Teppich verbannt werden, um sie dann durch die Badezimmereinrichtung und anschließend den Küchentisch ersetzen zu lassen. Wie durch Zauberei könnte ich die verschiedenen Geräte meines Laboratoriums aus den Wänden und der Decke fließen lassen, bis ich alles beisammen hatte, was ich für die Arbeit benötigte. Und schließlich könnte ich abends meinen Eßtisch herbeizitieren, in einem gemütlichen Zimmer mit Kamin und Tapete; und vielleicht könnte das Essen dann gleich mit auf dem Tisch stehen!

All unsere Berufsgruppen wie Bauarbeiter, Klempner, Zimmerleute usw. wären dann im Handumdrehen verschwunden, überlegte ich mir. Die Hausbewohner — die Besitzer eines solchen Intelligenten Raumes — müßten dann nicht mehr tun, als eine gelegentliche Putzhilfe zu engagieren (zumal der Raum das möglicherweise auch selbst übernehmen könnte!), und vielleicht würde das mechanische Gedächtnis des Zimmers gelegentlich aufgefrischt, um mit der neuesten Entwicklung Schritt zu halten…

So ließ ich meiner blühenden Phantasie freien Lauf.


Bald begann ich Müdigkeit zu verspüren. Nebogipfel brachte mich an eine freie Stelle — obwohl ich in der Distanz auch von Morlocks umgeben war — und er stieß mit dem Fuß auf den Boden. Eine Art Unterstand kam zum Vorschein; er war vielleicht vier Fuß hoch und nicht mehr als ein Dach, das auf vier dicken Pfosten ruhte — in etwa mit einem soliden Tisch zu vergleichen. Unter dem Tisch erhoben sich ein Stapel Decken und ein kleines Buffet. Dankbar kletterte ich in der Hütte — es war der erste umbaute Raum, den ich seit meiner Ankunft in der Sphäre gesehen hatte — und ich erkannte, daß Nebogipfel sich bei seiner Erschaffung etwas gedacht hatte. Ich stellte mir aus Wasser und dem grünlichen Käsezeug eine Mahlzeit zusammen und nahm die Brille ab — nun war ich in die endlose Dunkelheit dieser Morlock-Welt gehüllt — und konnte schlafen, wobei ich den Kopf auf eine zusammengerollte Decke gelegt hatte.

Diese merkwürdige kleine Behausung war für die nächsten vier Tage mein Heim, während ich mit Nebogipfel die Besichtigung der ›Ein-Zimmer-Stadt‹ der Morlocks fortsetzte. Immer wenn ich aufstand, ließ Nebogipfel den Unterstand wieder im Boden versinken, und überall dort, wo wir haltmachten, schuf er sie von neuem — wir brauchten also kein Gepäck mitzuschleppen! Mir ist schon aufgefallen, daß die Morlocks nicht schlafen, und ich glaube, daß die Requisiten in meiner Hütte einen Quell beträchtlicher Faszination für die Eingeborenen der Sphäre darstellten — genauso wie die ›Besitztümer‹ eines Orang-Utans die Aufmerksamkeit eines Menschen erregen würden, vermute ich — und sie versammelten sich um mich, während ich schlief, und starrten mich mit ihren kleinen runden Gesichtern an, und an Ruhe wäre dabei wohl nicht zu denken gewesen, wenn Nebogipfel nicht bei mir geblieben wäre und diese Besichtigungstouren unterbunden hätte.

Das Leben der Morlocks

In all den Tagen, die Nebogipfel mich durch diese Welt der Morlocks geführt hatte, waren wir nie auf eine Wand, Tür oder sonstige signifikante Barriere gestoßen. Wie es sich meiner Beobachtung darbot, hatten wir uns — die ganze Zeit — nur in einem Raum aufgehalten: aber es war ein Raum mit gigantischen Dimensionen — nicht weniger als einhundertneunzigtausend Meilen lang und entsprach damit fast der Entfernung zwischen Erde und Mond! Die Stadtkammer war so groß, daß sie jegliches Vorstellungsvermögen übertraf — insbesondere deswegen, weil sie hinsichtlich ihrer Details homogen war; denn ich stieß überall auf diese Rudel von Morlocks, die ihren obskuren Verrichtungen nachgingen. Dabei mußten schon die einfachsten Tätigkeiten anspruchsvoll genug sein; ich mußte z. B. nur an die prosaischen Probleme denken, welche die Aufrechterhaltung einer hinsichtlich Zusammensetzung und Temperatur stabilen Atmosphäre sowie die Regelung von Luftdruck und — feuchtigkeit bei solchen Dimensionen mit sich brachte. Und doch gab mir Nebogipfel zu verstehen, daß es sich hier nur um eine Kammer in einem ganzen Verbund handelte, der die Sphäre von Pol zu Pol überzog.

Bald realisierte ich, daß es in dieser Sphäre keine Städte im modernen Sinne gab. Die Morlock-Population war über diese immensen Kammern verteilt, und es gab keine bestimmten Örtlichkeiten für spezifische Aktivitäten. Wenn die Morlocks einen Arbeitsbereich einrichten — oder ihn wieder räumen wollten — wurden die benötigten Geräte direkt aus dem Boden gezogen und im anderen Fall wieder absorbiert. So traten also anstelle von Städten Bevölkerungsknoten höherer Dichte auf — Knoten, die sich verlagerten und wanderten, ganz nach den Erfordernissen.

Ich brauchte eine Weile, bis ich diesen nächsten Punkt verstanden hatte, aber in gewisser Weise war die Morlock-Gesellschaft fast nicht technisiert — oder vielmehr, statt der Fülle von Gerätschaften, mit der wir Menschen uns im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts umgeben hatten, gab es nur die eine, allgegenwärtige Maschine, die all ihre Bedürfnisse befriedigte: damit meine ich die Sphäre und das Material des Bodens, aus der sie konstruiert war.

Folglich bestand auch keine Notwendigkeit für Farmen, Fabriken, Geschäfte oder sonstige Infrastruktur, wie wir sie haben, denn der Boden diente als Extruder für alles, was die Bevölkerung vielleicht brauchen mochte. Ich sah, daß fast unsere ganze physikalische Zivilisation durch diese eine, unglaubliche Erfindung obsolet geworden war! Es existierten indessen noch Konstruktionsbüros, in denen — nach meinem Kenntnisstand — das mechanische Gehirn der Sphäre darauf trainiert wurde, sich an neue Artefakte zu ›erinnern‹.


Nach einer weiteren Schlafphase war ich aus dem Unterstand geklettert, hatte mich mit untergeschlagenen Beinen auf den Boden gesetzt und trank Wasser. Nebogipfel, dem keine Müdigkeit anzumerken war, blieb stehen. Dann bemerkte ich, daß sich uns zwei Morlocks näherten, bei deren Anblick ich das Wasser etwas zu hastig hinunterschluckte; ich verschluckte mich, und einige Tropfen spritzten auf Jacke und Hose.

Ich hielt die beiden zunächst tatsächlich für Morlocks — aber sie hatten keine Ähnlichkeit mit den Morlocks, die ich bisher gesehen hatte: während Nebogipfel knapp viereinhalb Fuß groß war, ähnelten diese hier Comicfiguren, die sich zu einer Größe von vielleicht zehneinhalb Fuß erhoben!

Eine der langen Kreaturen bemerkte mich, und sie kam herübergestapft, wobei die Metallschienen an ihren Beinen klapperten; das Wesen stieg wie eine große Gazelle über die in seinem Weg liegenden Trennwände hinweg.

Es bückte sich und starrte mich an. Seine rotgrauen Augen waren so groß wie Teller, und ich schreckte vor ihm zurück. Die Ausdünstung des Wesens war stechend und ungewöhnlich, wie gebrannte Mandeln. Die Extremitäten waren lang und wirkten fragil, und die Haut spannte sich über dieses verlängerte Skelett: ich konnte durch die wie ein Trommelfell gespannte Haut ein Schienbein erkennen, das mindestens drei Fuß lang war. Die langen Beinknochen wurden durch Schienen aus einem weichen Metall gestützt, mit dem offensichtlichen Zweck, sie vor einem Bruch zu schützen. Diese schwächliche Kreatur schien nicht über mehr Follikel zu verfügen als ein Durchschnitts-Morlock, denn ihr Haar war auf sehr häßliche Weise über ihre lange Gestalt verteilt.

Das Wesen tauschte ein paar Silben mit Nebogipfel. Dann schloß es sich wieder seinem Gefährten an und ging — allerdings nicht, ohne mich noch mehrmals über die Schulter gemustert zu haben — seiner Wege.

Konsterniert wandte ich mich Nebogipfel zu; nach dieser Vision kam sogar er mir wie eine Oase der Normalität vor.

»Sie kommen…« — ein Wort, das ich nicht verstehen konnte — »von den höheren Breitengraden«, erklärte Nebogipfel. Er sah unseren zwei Besuchern nach. »Du siehst sofort, daß sie nicht an diese Äquatorregion angepaßt sind. Die Schienen sollen ihnen als Gehhilfe dienen, und…«

»Ich sehe überhaupt nichts«, fiel ich ihm ins Wort. »Was ist so anders in den höheren Breiten?«

»Die Gravitation«, sagte er.

Langsam dämmerte es mir.

Wie ich bereits dargelegt habe, handelt es sich bei der Sphäre der Morlocks um eine titanische Konstruktion, die sich bis zur früheren Umlaufbahn der Venus erstreckt. Und — wie Nebogipfel mir jetzt sagte — das ganze Ding rotierte um eine Achse. Früher hatte ein Venusjahr zweihundertfünfundzwanzig Tage betragen. Jetzt — so berichtete Nebogipfel — lag die Umlaufzeit der großen Sphäre bei gerade einmal sieben Tagen und dreizehn Stunden!

»Und deshalb erzeugt die Rotation…«, hob Nebogipfel an.

»…Zentrifugalkräfte, die der Erdgravitation in der Äquatorzone entsprechen. Ja«, meinte ich, »ich verstehe.«

Das Rotationsmoment der Sphäre preßte uns alle auf diesen Boden. Aber mit zunehmender Entfernung vom Äquator nahm auf der Sphäre der Radius zur Drehachse ab, und damit reduzierte sich auch die Schwerewirkung: an den Rotationspolen der Sphäre lag die Gravitation dann praktisch bei Null. Und in diesen außergewöhnlichen, ausgedehnten Zonen geringer Schwerkraft lebten solche bemerkenswerten, an die besonderen Umweltbedingungen angepaßten Tiere wie diese zwei hoppelnden Morlocks.

Ich schlug mir mit der Hand gegen die Stirn. »Manchmal glaube ich wirklich, daß ich der größte Narr aller Zeiten bin«, vertraute ich dem amüsierten Nebogipfel an. Ich hatte nämlich noch nicht daran gedacht, mich nach der Quelle meiner ›Masse‹ hier auf der Sphäre zu erkundigen. Was für ein Wissenschaftler war das, der es versäumte — ganz zu schweigen von einer vernünftigen Beobachtung —, die ›Gravitation‹ zu eruieren, die ihn in Ermangelung von etwas so Eindeutigem wie einem Planeten an die Oberfläche dieser Sphäre fesselte? Ich fragte mich, wieviele andere Wunder ich nur aus dem Grund noch übersehen haben mochte, nur weil ich nicht daran gedacht hatte, danach zu fragen — und für Nebogipfel waren solche Merkmale indessen nur ein Teil seiner Welt, nicht relevanter als ein Sonnenuntergang oder das Schlagen eines Schmetterlingsflügels.

Ich entlockte Nebogipfel Details über die Lebensweise der Morlocks. Es warschwierig, denn ich wußte nicht so recht, wie ich meine Fragen formulieren sollte. Es mag sich komisch anhören — aber wie sollte ich z. B. nach der Maschinerie fragen, welche die Energie für diesen besonderen Boden lieferte? Ich bezweifelte, daß mein Wortschatz die erforderliche Terminologie bereithielt, diese Fragen auch nur ansatzweise zu formulieren; genauso wie einem Neandertaler die linguistischen Werkzeuge gefehlt hätten, sich nach der Funktionsweise einer Uhr zu erkundigen. Und von den sozialen und anderen Arrangements, die unsichtbar das Leben der Millionen Morlocks in dieser Kammer regelten, wußte ich so wenig wie ein frisch aus Zentralafrika in London eingetroffener Buschneger von sozialen Strömungen, von Telephonen und Telegraphenleitungen, von der Parcels Delivery Company etc. Selbst ihre Abwasserentsorgung blieb ein Mysterium für mich!

Ich erkundigte mich bei Nebogipfel nach der Regierungsform der Morlocks. Er erläuterte mir — wobei ich den Eindruck hatte, daß dies auf eine etwas herablassende Art geschah —, daß die Sphäre so groß war, daß sie mehreren Morlock-›Nationen‹ Platz bieten konnte. Diese ›Nationen‹ unterschieden sich im wesentlichen durch die von ihnen gewählte Regierungsform, die jedoch fast überall auf demokratischen Prinzipien basierte. Mancherorts wurde auf der Grundlage eines Allgemeinen Wahlrechts ein repräsentatives Parlament gewählt, das im Grundsatz unserem Westminster-Parlament entsprach. Andernorts war das Wahlrecht nur einer elitären Sub-Gruppe zuerkannt, die aus solchen Personen bestand, denen man aufgrund ihres Naturells und ihrer Ausbildung eine besondere Befähigung zur Regierungsverantwortung unterstellte: ich glaube, daß in unserer Philosophie die Parallelen hierzu am ehesten in den klassischen Republiken bestehen oder vielleicht in der von Platon konzipierten Idealform der Republik; und ich muß gestehen, daß mir dieser Ansatz instinktiv am besten gefiel.

Aber in den meisten Bereichen hatte die Technologie der Sphäre eine Ausprägung des wahrhaft Universalen Wahlrechts ermöglicht, in dem die Bevölkerung mittels ihrer Maschinen und blauen Fenster über den aktuellen Diskurs auf dem laufenden gehalten wurden und ihre Präferenzen zu jedem Thema dann sofort auf ähnliche Art verlauten ließ. Es existierte also eine Art Basisdemokratie, wobei jede größere Entscheidung von der kollektiven Laune der gesamten Bevölkerung abhing.

Ich hatte wenig Vertrauen in ein derartiges System. »Aber es gibt doch auch sicher einige in der Bevölkerung, die man nicht mit einer solchen Autorität ausstatten kann! Was ist z. B. mit den Geisteskranken oder geistig Minderbemittelten?«

»Bei uns gibt es keine solchen Schwächen«, klärte er mich mit einer gewissen Pikiertheit auf.

Mir war danach, ein bißchen an seinem Utopia zu kratzen — selbst hier, im Zentrum dieses Utopia! »Und wie gewährleistet ihr das?«

Er ließ sich mit der Antwort Zeit. »Jedes Mitglied unserer erwachsenen Bevölkerung ist rational«, dozierte er statt dessen weiter, »und in der Lage, Entscheidungen für andere mitzutreffen — und das erwartet man auch von ihm. Unter solchen Umständen ist die Reinform der Demokratie nicht nur möglich, sondern nachgerade geboten — wegen der durch die Kombination der geistigen Potentiale generierten Synergieeffekte.«

Ich schnaufte. »Was sollen dann all die anderen Parlamente und Senate, die du beschrieben hast?«

»Nicht jeder ist der Ansicht, daß die Strukturen in diesem Teil der Sphäre ideal sind«, meinte er. »Macht das aber nicht gerade das Wesen der Freiheit aus? Nicht alle von uns interessieren sich so für die Mechanismen der Politik, daß sie sich daran beteiligen wollen; und manche ziehen es eben vor, ihre Macht nach dem Prinzip der Repräsentation an andere zu übertragen — oder sogar ganz ohne Repräsentation auszukommen. Das ist eine zulässige Entscheidung.«

»Schön. Aber was geschieht, wenn diese Entscheidungen zu Konflikten führen?«

»Wir haben Platz«, erwiderte er gewichtig. »Du darfst diese Tatsache nicht vergessen; du denkst nämlich nach wie vor nur in planetarischen Dimensionen. Es steht jedem Dissidenten frei, zu gehen, und woanders ein anderes System zu etablieren…«

Diese Morlock-›Nationen‹ waren flüchtige Gebilde, deren Angehörige nach Lust und Laune kamen und gingen. Soweit ich es erkennen konnte, gab es weder klar definierte Territorien oder Besitzstände noch festgelegte Grenzen; die ›Nationen‹ waren lediglich reine Interessenverbände, die sich über die Sphäre verteilten.

Die Morlocks kannten keinen Krieg.

Es dauerte eine Weile, bis ich das glaubte, aber schließlich war ich überzeugt. Es gab nämlich keinen Anlaß für einen Krieg. Dank der Mechanismen des Bodens gab es keine Versorgungsengpässe, so daß keine Nation eine Rechtfertigung für einen Wirtschaftskrieg gehabt hätte. Die Sphäre war so riesig, daß freies Land praktisch unbegrenzt zur Verfügung stand, wodurch auch Territorialkämpfe hinfällig wurden. Und — was am wichtigsten war — die Köpfe der Morlocks waren frei vom Gift der Religion, das über die Jahrhunderte so viele Konflikte verursacht hat.

»Ihr habt also keinen Gott«, unterstellte ich Nebogipfel mit einer gewissen Spannung: obwohl ich selbst einen gewissen Hang zur Religiosität verspüre, stellte ich mir vor, wie ich die Kleriker meiner Tage mit einer Wiedergabe dieser Unterhaltung hätte schockieren können!

»Wir brauchen keinen Gott«, entgegnete Nebogipfel patzig.

Die Morlocks betrachten eine religiöse Disposition — im Gegensatz zu einer rationalen Einstellung — als ein Merkmal, das von den Eltern geerbt, an die Kinder weitervererbt und durch die Kräfte der natürlichen Selektion modifiziert wird, mit keiner größeren intrinsischen Bedeutung als blaue Augen oder braunes Haar.

Je weiter Nebogipfel seine Maxime vertiefte, desto sinnvoller erschien sie mir.

Welche Vorstellung von Gott hat sich im Laufe der geistigen Entwicklung der Menschheit überhaupt noch gehalten? Nun, exakt die Vorstellung, die der Menschheit am besten ins Konzept paßte: ein Gott mit enormer Macht und dennoch auch mit Sinn für die Alltagssorgen der Menschen. Warum einen unnahbaren Gott verehren, selbst wenn er allmächtig wäre, wenn er sich nicht für die kleinlichen Streitereien der Menschen interessierte?

Man könnte meinen, daß in jedem Konflikt zwischen rationalen Menschen und religiösen Menschen die Rationalität obsiegen würde. Schließlich war sie es ja auch gewesen, die das Schießpulver erfunden hatte! Und doch — zumindest bis in unser neunzehntes Jahrhundert hinein — hatte generell die religiöse Tendenz die Oberhand behalten und uns eine Herde frömmelnder Schafe beschert, die — wie es mir zuweilen schien — von jedem glattzüngigen Prediger verführt werden konnte.

Dieses scheinbare Paradoxon erklärt sich dadurch, daß die Religion den Menschen ein Ziel bietet, für das sie kämpfen können. Der religiöse Mensch wird ein Stück ›geheiligtes‹ Land mit seinem Blut tränken und weit mehr opfern als nur den intrinsischen ökonomischen oder sonstigen Wert des Landes.

»Wir haben dieses Paradoxon jedoch aufgelöst«, sagte Nebogipfel zu mir. »Wir haben unser genetisches Erbe in den Griff bekommen: wir unterliegen nicht mehr dem Diktat der Vergangenheit, weder körperlich noch geistig…«

Aber ich verfolgte diesen interessanten Aspekt nicht weiter — weil die Frage, die es zu stellen galt, nämlich so lautete: »Worin liegt dann der Sinn eures Lebens, wenn es keinen Gott mehr gibt?« —, denn ich war von der Vorstellung gefangen, wie Mr. Darwin, mit all seinen Kritikern aus den Kirchen, diesen letztendlichen Triumph seiner Ideen über die Frömmler wohl genossen hätte!

Und wirklich — wie es sich herausstellte — setzte mein Verständnis des eigentlichen Sinns der Zivilisation der Morlocks nur wenig später ein.

Generell war ich beeindruckt von dem, was ich von dieser künstlichen Welt der Morlocks zu sehen bekam — selbst wenn ich mir nicht sicher bin, ob sich dieser Respekt auch in meinem vorliegenden Bericht niederschlägt. Dieser Stamm der Morlocks hatte in der Tat seine erblichen Schwächen ausgemerzt; sie hatten das Vermächtnis der Wildheit — unser Vermächtnis — abgeschüttelt und dadurch eine Stabilität erreicht, die sich die Menschheit des Jahres 1891 kaum hätte vorstellen können: ein Mensch wie ich, der in einer Welt aufgewachsen ist, die täglich durch Krieg, Habgier und Inkompetenz zerrissen wurde.

Und diese Bewältigung ihrer eigenen Natur war um so beeindruckender für mich durch ihren Kontrast zu diesen anderen Morlocks — Weenas Morlocks —, die ganz offensichtlich Opfer ihres inneren Schweinehunds geworden waren, ungeachtet ihrer mechanischen und sonstigen Kompetenz.

Konstruktionen und Divergenzen

Ich erörterte mit Nebogipfel die Konstruktion der Sphäre. »Ich nehme an, daß die Riesenplaneten — Jupiter und Saturn — auf der Grundlage großer Konstruktionspläne demontiert wurden und…«

»Nein«, tat Nebogipfel das ab. »Es gab keinen solchen Plan; die ursprünglichen Planeten — von der Erde nach außen — umkreisen noch immer das Herz der Sonne. Nicht einmal alle Planeten zusammen hätten die Substanz erbringen können, um mit der Konstruktion einer so großen Entität wie der Sphäre auch nur zu beginnen.«

»Wie dann…?«

Nebogipfel beschrieb, wie die Sonne von einer großen Flotte Raumschiffe eingekreist wurde, die immense Magnete mitführten, deren Konzeption — elektrische Schaltkreise, deren Widerstand irgendwie auf Null gebracht wurde — ich nicht nachvollziehen konnte. Die Raumer umkreisten die Sonne mit zunehmender Geschwindigkeit und legten einen magnetischen Gürtel um den eine Million Meilen durchmessenden Äquator des Sterns. Und — als ob dieser große Stern nicht mehr als eine weiche Frucht wäre, die mit einer Hand zerdrückt wurde — zwangen sie große Brocken der Sonnenmaterie, die ihrerseits selbst magnetisch ist, aus der Äquatorzone heraus und schöpften die Materie an den Magnetpolen der Sonne ab.

Weitere Raumschiffflotten verarbeiteten dieses gewonnene Material dann weiter und formten es schließlich zu einer Schale; und dann wurde diese Schale mit dem erneuten Einsatz gerichteter Magnet-felder komprimiert und in diese festen Strukturen umgewandelt, die ich jetzt um mich herum sah.

Die eingeschlossene Sonne schien noch immer, denn selbst die zur Konstruktion dieses großen Artefaktes abgebauten Massen stellten nur einen Bruchteil der gesamten Sonnenmasse dar; und innerhalb der Sphäre schien das Sonnenlicht unablässig über gigantischen Kontinenten, von denen jeder Millionen Erden hätte schlucken können.

»Ein Planet wie die Erde kann nur einen minimalen Bruchteil der Sonnenenergie nutzen«, referierte Nebogipfel, »und der Rest versickert nutzlos in den Tiefen des Alls. Jetzt wird jedoch die gesamte Sonnenenergie von der umgebenden Sphäre aufgefangen. Und das ist auch die zentrale Begründung für die Konstruktion der Sphäre: wir haben einen Stern gezähmt…«

In einer Million Jahren, sagte Nebogipfel, würde die Sphäre genug zusätzliche Sonnenmaterie eingefangen haben, um ihre Ausdehnung um einen Millimeter zu ermöglichen — ein an sich zwar vernachlässigbar geringer Zuwachs, aber über welch eine gigantische Fläche! Die umgeformte solare Materie würde dann für den weiteren Ausbau der Sphäre verwendet werden. In der Zwischenzeit würde ein Teil der Sonnenenergie für die Überlebenssysteme im Innern der Sphäre und als Energie für die verschiedenen Projekte der Morlocks abgezweigt werden.

Ich verspürte einen Anflug dieses Gefühls eines Wunders, das mit einem vertieften Verständnis einhergeht, denn jetzt, dachte ich, begann ich etwas von dem zu verstehen, das ich auf meiner Reise in die Zukunft gesehen hatte. Mit etlicher Aufregung beschrieb ich, wie ich die zunehmende Helligkeit der Sonne und diesen Fluß an den Polen gesehen hatte — und wie sich die Sonne verdunkelt hatte, als sie hinter der Sphäre verschwand.

Ich hatte den Eindruck, daß Nebogipfel mich mit einem gewissen Neid bedachte. »So«, meinte er, »da hast du also die Konstruktion der Sphäre beobachtet. Das hat zehntausend Jahre gedauert…«

»Aber für mich sind auf meiner Maschine nur ein paar Herzschläge verstrichen.«

»Du hast mir gesagt, daß dies deine zweite Reise in die Zukunft ist. Und daß du auf deiner ersten etwas anderes gesehen hattest.«

»Ja.« Jetzt wurde ich erneut mit diesem verblüffenden Mysterium konfrontiert. »Unterschiede im Ablauf der Geschichte… Nebogipfel, als ich zum erstenmal in die Zukunft reiste, hatte eure Sphäre nie existiert.«

Ich skizzierte Nebogipfel, wie ich seinerzeit weit über dieses Jahr 657208 n. Chr. hinaus gereist war. Auf jener ersten Fahrt hatte ich gesehen, wie sich eine Flut von sattem Grün über dieses Land ergossen hatte, als der Winter von der Erde verschwand und die Sonne um ein Vielfaches heller wurde. Aber — anders als bei meiner zweiten Reise — hatte ich weder einen Hinweis auf die Korrektur der Erdachse noch ein Anzeichen für die Verlangsamung der Erdrotation bemerkt. Und, was am bedeutendsten war, ohne die Errichtung der sonnenabschirmenden Sphäre war die Erde hell geblieben und nicht in der stygischen Dunkelheit der Morlocks versunken.

»Und so«, sagte ich zu Nebogipfel, »kam ich im Jahr 802701 an — hundertfünfzigtausend Jahre in eurer Zukunft — und doch kann ich nicht glauben, daß ich wieder die gleiche Welt vorgefunden hätte, wenn ich diesmal so weit gereist wäre!«

Ich gab Nebogipfel einen Abriß von dem, was ich auf Weenas Welt erlebt hatte, mit ihren Eloi und den vertierten Morlocks. Nebogipfel ließ das auf sich wirken. »Die Geschichtsschreibung verzeichnet keinen solchen Stand in der Evolution der Menschheit — in meiner Geschichte«, fügte er hinzu.

»Und da die Sphäre seit ihrer Fertigstellung autark ist, kann ich mir auch kaum vorstellen, daß in unserer Zukunft ein solcher Rückfall in die Barbarei denkbar wäre.«

»Da haben wir es ja«, stimmte ich zu. »Ich bin durch zwei völlig verschiedene Versionen der Geschichte gereist. Ist die Geschichte vielleicht wie ungebrannter Lehm, der neu geformt werden kann?«

»Vielleicht kann sie das«, murmelte Nebogipfel. »Als du in deine eigene Zeit zurückgekehrt warst — ins Jahr 1891 — hattest du da irgendwelche Beweise für deine Reisen mitgebracht?«

»Kaum«, gestand ich. »Aber ich hatte einige Blumen dabei, schöne weiße, malvenähnliche Blüten, die mir Weena — eine Eloi — in die Tasche gesteckt hatte. Meine Freunde untersuchten sie dann. Die Blumen wiesen Merkmale auf, die sie nicht bestimmen konnten, und ich erinnere mich noch, wie sie bei den Narben stutzten…«

»Freunde?« meinte Nebogipfel scharf. »Du hast einen Reisebericht verfaßt, bevor du wieder aufgebrochen bist?«

»Nichts Schriftliches. Aber ich habe einigen Freunden beim Abendessen einen vollständigen Bericht gegeben.« Ich lächelte. »Und wie ich einen aus dem Kreis kenne, hat er mitgeschrieben und die ganze Sache dann als Sensationsstory publik gemacht — vielleicht sogar als Roman veröffentlicht…«

Nebogipfel kam auf mich zu. »Dann«, sagte er in einem ungewohnt dramatischen Tonfall, »ist das deine Erklärung.«

»Erklärung?«

»Für die Divergenz der Geschichte.«

Ich sah ihn an, geschockt von der dämmernden Erkenntnis. »Du meinst, daß ich mit meinem Bericht — meiner Prophezeiung — die Geschichte verändert habe?«

»Ja. Im Besitz dieser Warnung gelang es der Menschheit, die Degeneration und den Konflikt zu vermeiden, der in der primitiven, grausamen Welt der Eloi und Morlock resultierte. Statt dessen entwickelten wir uns weiter; statt dessen haben wir die Sonne gezähmt.«

Ich war kaum imstande, die Konsequenzen dieser Hypothese zu verkraften — obwohl mir ihre Logik und Klarheit sofort eingingen. »Aber einige Dinge haben sich doch nicht geändert«, schrie ich. »Ihr Morlocks haust noch immer im Dunklen!«

»Wir sind keine Morlocks«, dementierte Nebogipfel leise. »Jedenfalls nicht die, die du kennst. Und was die Dunkelheit betrifft — was hätten wir denn von einer Lichtflut? Wir haben das Dunkel gewählt. Unsere Augen sind empfindliche Instrumente und in der Lage, viel Schönes zu erkennen. Ohne das brutale Gleißen der Sonne kann die volle Schönheit des Himmels viel besser erfaßt werden…«

»Trotzdem sage ich, ihr seid Morlocks«, insistierte ich; ich hatte einen Frosch im Hals, und die Stimme klang belegt. »Ihr lebt nämlich im Keller dieser Sphäre, und eure einzige Funktion besteht darin, die sonnenbeschienene Welt über euch zu versorgen — genau wie meine Morlocks, nur in diesem grandiosen Maßstab!«

Er wirkte verwirrt. »Dein Verständnis unseres Lebenszwecks ist nicht richtig«, sagte er.

Aber ich konnte keine Ablenkung mehr darin finden, in meinem Gedankenwust zu kramen oder Nebogipfel zu provozieren; ich mußte mich der Wahrheit stellen. Ich starrte auf meine Hände — große, verwitterte Hände, mit den Narben von jahrzehntelanger Arbeit bedeckt. Mein einziges Ziel, dem ich die Anstrengungen dieser Hände gewidmet hatte, war die Erforschung der Zeit gewesen! — zu ergründen, wie die Dinge sich im kosmologischen Maßstab entwickeln würden, jenseits meiner paar Eintagsfliegen-Lebensjahrzehnte. Aber wie es schien, war mir noch viel mehr gelungen.

Meine Entwicklung war viel durchschlagender als eine bloße Zeitmaschine: sie war eine Geschichts-Maschine, ein Weltenvernichter!

Ich war der Totengräber der Zukunft: ich realisierte, daß ich mir mehr Macht angeeignet hatte als Gott höchstselbst (wenn man Thomas von Aquin Glauben schenken will). Durch meine Destabilisierung der Geschichte hatte ich Milliarden ungeborener Leben ausgelöscht — Leben, die jetzt nie das Licht der Welt erblicken würden.

Ich konnte kaum leben mit dem Wissen dieser Anmaßung. Ich habe persönlicher Macht immer mißtraut — denn ich bin noch nie einem Menschen begegnet, der weise genug gewesen wäre, daß man sie ihm hätte anvertrauen können — aber jetzt hatte ich mir selbst mehr Macht genommen als irgendein Mensch, der jemals gelebt hatte!

Wenn ich jemals wieder in den Besitz meiner Zeitmaschine gelangen sollte — das schwor ich mir damals — würde ich in die Vergangenheit zurückreisen, eine finale, abschließende Einstellung der Geschichte vornehmen und dann das von mir ersonnene infernalische Gerät vernichten.

… Und ich erkannte jetzt, daß ich Weena nie wiedersehen würde. Ich hatte nämlich nicht nur ihren Tod verursacht — jetzt stellte sich auch noch heraus, daß ich ihre ganze Existenz aufgehoben hatte!

In diesem Sturm der Emotionen klang der kleine Verlust lieblich und klar, wie der Ton einer Oboe inmitten des Getöses eines großen Orchesters.

Leben und Sterben der Morlocks

Eines Tages führte mich Nebogipfel zu einem Ort, der vielleicht das Unangenehmste darstellte, was ich bisher in dieser ›Ein-Zimmer-Stadt‹ gesehen hatte.

Wir näherten uns einem quadratischen Sektor mit einer Seitenlänge von ca. achthundert Yards, wo die Trennwände niedriger als sonst zu sein schienen. Beim Näherkommen registrierte ich einen anschwellenden Geräuschpegel — einen steten Strom fließenden Gemurmels — und einen stechenden Geruch nach Morlocks, der intensiver war als üblich, mit seiner charakteristischen muffigen, morbiden Süßlichkeit. Nebogipfel gab mir die Order, an der Grenze dieses Areals stehenzubleiben.

Durch meine Brille konnte ich erkennen, daß die Oberfläche dieses freien Abschnittes belebt war — sie pulsierte regelrecht — und zwar mit schreienden, sich krümmenden und krabbelnden Babies. Es waren Tausende von ihnen, dieser unbeholfene Morlock-Nachwuchs, wobei ihre kleinen Hände und Füße an den struppigen Haarbüscheln ihrer Kameraden herumzerrten. Sie rollten herum wie junge Affen und bearbeiteten ›Junior-Versionen‹ der Informationswände, die ich schon erwähnt hatte, oder stopften Essen in ihre großen Rachen; hier und da bewegten sich Erwachsene durch die Menge, hoben hier jemanden auf, der hingefallen war, schlichteten dort einen kleinen Streit und beruhigten irgendwo im Hintergrund ein weinendes Kind.

Belustigt ließ ich den Blick über dieses Meer aus Kindern schweifen. Vielleicht mochten manche ihre Freude an einer solchen Kollektion Menschenkinder haben — nicht jedoch ich als eingefleischter Junggeselle — aber das hier waren Morlocks… Man muß sich daran erinnern, daß die Morlocks für menschliche Begriffe ohnehin nicht sehr attraktive Wesen sind, nicht einmal als Kind, mit ihrem leichenblassen Fleisch, der kalten Haut und diesem Gestrüpp auf dem Kopf. Wenn Sie sich einen gigantischen Tisch vorstellen, der von sich krümmenden Maden übersät ist, dann vermittelt Ihnen das eine ungefähre Ahnung von den Eindrücken, die mir hier vermittelt wurden!

Ich wandte mich Nebogipfel zu. »Aber wo sind ihre Eltern?«

Er zögerte, als ob er nach den richtigen Worten suchen würde. »Sie haben keine Eltern. Dies hier ist eine Gebärfarm. Wenn sie alt genug sind, werden die Kinder von hier zu einer Tagesstätte gebracht, entweder in der Sphäre oder…«

Doch ich hörte schon nicht mehr zu. Ich musterte Nebogipfel von oben bis unten, aber sein Haar verdeckte die Konturen des Körpers.

Mit einem intensiven Gefühl des Wunders erkannte ich nun eine weitere dieser so offensichtlichen Tatsachen, die mir seit meiner Ankunft hier ins Auge gestochen hatten, ohne daß ich sie indessen interpretiert hätte: es gab keine Anzeichen sexueller Diskriminierung, weder bei Nebogipfel noch bei irgendeinem der anderen Morlocks, mit denen ich bisher zu tun gehabt hatte — nicht einmal bei solchen Vertretern wie meinen Niedergravitations-Besuchern, deren Körper nur spärlichen Haarwuchs aufwiesen und die deshalb um so leichter ausgemacht werden konnten. Der Durch-schnitts-Morlock hatte die Statur eines Kindes, er hatte weder erkennbare sekundäre Geschlechtsmerkmale noch eine besondere Ausprägung von Hüfte oder Brust… Mit einem Schock realisierte ich, daß ich von den Liebes- und Geburtsriten der Morlocks weder etwas wußte noch mir bisher Gedanken darüber gemacht hatte!

Nebogipfel gab mir einen kurzen Überblick über die Aufzucht und Erziehung der jungen Morlocks.

Das Leben der Morlocks nahm in diesen Gebärfarmen und Kindertagesstätten seinen Anfang — zu meiner schmerzlichen Erinnerung war die ganze Erde in eine solche verwandelt worden — und dort wurde den Kindern zusätzlich zu den Grundformen zivilisierten Verhaltens eine essentielle Fertigkeit vermittelt: Lernfähigkeit. Wie wenn ein Schuljunge des neunzehnten Jahrhunderts — anstatt sich eine Menge Unfug über Griechisch und Latein und obskure geometrische Theoreme in seinen armen Schädel zu prügeln — gelernt hätte, sich zu konzentrieren, Bibliotheken zu benutzen, sich Wissen anzueignen — und vor allem, zu denken. Gemäß dieser Philosophie erfolgte die Aneignung von spezifischem Wissen in Abhängigkeit von den anstehenden Aufgaben und den Neigungen des Individuums.

Als Nebogipfel mir das referierte, verspürte ich fast eine körperliche Reaktion, als ich die Simplizität dieser Logik erfaßte. Natürlich! — sagte ich mir — soviel zu Schulen! Welch ein Kontrast zu dem Schlachtfeld der Ignoranz und Inkompetenz, das meine eigene reizlose Schulzeit dargestellt hatte!

Ich verspürte den Drang, Nebogipfel nach seinem Beruf zu fragen.

»Unsere Tätigkeiten nehmen uns nicht so in Anspruch, wie das bei euch der Fall ist«, entgegnete er. »Ich habe zwei Vorlieben — Berufungen.« Seine Augen waren nicht zu sehen und machten es daher um so schwieriger, seine Emotionen zu interpretieren. Er sagte: »Physik und die Ausbildung der Kinder.«

Ausbildung und Training aller Art zogen sich durch das ganze Leben der Morlocks, und es war nicht ungewöhnlich, daß ein Individuum drei oder vier ›Laufbahnen‹ einschlug, um es in meiner Sprache auszudrücken — nacheinander oder sogar parallel. Das generelle Intelligenzniveau der Morlocks lag nach meiner Einschätzung etwas höher als bei den Menschen meines Jahrhunderts.

Dennoch war ich von Nebogipfel Berufswahl überrascht; ich hatte angenommen, daß Nebogipfel sich ausschließlich auf die Naturwissenschaften spezialisiert haben mußte, so profund war seine Kompetenz, meinen zuweilen etwas verworrenen Ausführungen zur Theorie der Zeitmaschine und der Evolution der Geschichte zu folgen.

»Sag mir«, verlangte ich leichthin, »aufgrund welcher Fähigkeit haben sie dich zu meinem Aufseher gemacht? Wegen deiner Expertise in Physik — oder deiner Begabung als Kindermädchen?«

Ich hatte den Eindruck, daß sich sein schwarzer, mit kleinen Zähnen besetzter Mund zu einem Grinsen verzog.

Dann traf mich der Schlag der Erkenntnis — und ich verspürte eine gewisse Demütigung bei dem Gedanken. Ich bin in meiner Zeit ein bedeutender Mann, und trotzdem war ich der Aufsicht einer Person unterstellt worden, deren Fachgebiet eher der Kindergarten war!

…Und doch, reflektierte ich jetzt, was war denn mein Patzer, gleich nach meiner Ankunft im Jahre 657208, sonst gewesen, wenn nicht der Handlung eines Kindes vergleichbar?

Jetzt führte Nebogipfel mich zu einer Ecke der Kinderstation. Dieser besondere Ort wurde von einer Struktur überdacht, die annähernd die Größe und Gestalt eines kleinen Wintergartens hatte und aus dem blassen, durchsichtigen Material des Bodens bestand — überhaupt war das einer der wenigen überdachten Stellen in dieser Stadt-Kammer. Der Unterstand verfügte weder über Möbel noch irgendwelche Geräte, außer ein paar Trennwänden mit ihren glühenden Bildschirmen, die ich schon vorher gesehen hatte. Und, im Zentrum des Bodens, befand sich etwas, das wie ein kleines Bündel aussah — Kleidungsstücke vielleicht —, die aus dem Glas gezogen worden waren.

Mir fiel auf, daß die hier versammelten Morlocks ernsthafter wirkten als jene, welche die Kinder beaufsichtigten. Auf ihren mit wasserstoffblondem Haar bewachsenen Körpern trugen sie lockere Kittel — westenähnliche Kutten mit vielen Taschen —, die mit Werkzeugen vollgestopft waren, deren Zweck mir überwiegend verborgen blieb. Einige dieser Werkzeuge glühten leicht. Diese neue Klasse von Morlocks hatte etwas an sich, das mich irgendwie an Ingenieure erinnerte: ein merkwürdiger Kontrapunkt in diesem Meer aus Babies; und, obwohl sie durch meine deplazierte Präsenz abgelenkt waren, beobachteten die Ingenieure das kleine Bündel auf dem Boden und sondierten es periodisch mit irgendwelchen Instrumenten.

Meine Neugier verstärkte sich, und ich ging auf dieses Bündel im Mittelpunkt zu. Nebogipfel blieb zurück und ließ mich allein weitergehen. Das Ding war nur wenige Zoll lang und noch halb ins Glas eingebettet, wie eine aus einer felsigen Oberfläche gehauene Skulptur. Tatsächlich sah es auch aus wie eine kleine Statue: hier waren die Ansätze zweier Arme, dachte ich, und da etwas, aus dem ein Gesicht werden mochte — eine mit Haaren bedeckte Scheibe, die von einem dünnen Mund geteilt wurde. Die Genese des Bündels schien nur langsam voranzugehen, und ich fragte mich, weshalb die verborgenen Maschinen sich mit der Herstellung dieses Artefaktes so schwer taten. War es vielleicht besonders komplex?

Und dann — es war ein Augenblick, der mich bis an mein Lebensende verfolgen wird — öffnete sich dieser winzige Mund. Die Lippen teilten sich mit einem leise schmatzenden Geräusch, und ein Wimmern, schwächer als das eines neugeborenen Kätzchens, durchdrang die Luft; und das Miniaturgesicht verzog sich, als ob es sich irgendwie echauffieren würde.

Ich stolperte zurück, so geschockt, als ob man mir einen Fausthieb versetzt hätte.

Nebogipfel schien meine Reaktion irgendwie vorausgesehen zu haben, denn er sagte: »Du mußt daran denken, daß du eine halbe Million Jahre in der Zeit versetzt bist: der Abstand zwischen uns ist zehnmal so groß wie das Alter deiner Spezies…«

»Nebogipfel — kann das denn wahr sein? Daß euer Nachwuchs — ihr selbst — aus diesem Boden gezogen werdet, hergestellt mit der gleichen Profanität wie eine Teetasse?« Die Morlocks hatten in der Tat ›ihr genetisches Erbe bewältigt‹ dachte ich — denn sie hatten die Geschlechter aufgehoben und die Geburten abgeschafft.

Auch die Toten — so erfuhr ich später — wurden von der Sphäre entsorgt, wobei die Leichen zwecks Zerlegung und Wiederverwendung ihres Materials vom Boden absorbiert wurden, ohne daß ihnen im feierlichen Rahmen die letzte Ehre erwiesen worden wäre.

»Nebogipfel«, sagte ich schaudernd, »das ist — unmenschlich.«

Er neigte den Kopf; offensichtlich bedeutete ihm das Wort nichts. »Unsere Politik gilt der Optimierung des Potentials der menschlichen Gestalt — denn wir sind auch menschlich«, beteuerte er. »Diese Gestalt wird von einer Sequenz aus einer Million Genen definiert, und deshalb ist die Anzahl der potentiellen menschlichen Individuen — wenn auch groß — endlich. Und all diese Individuen können…« — er zögerte — »…von der Intelligenz der Sphäre projiziert werden. Die Sphäre synthetisiert die Materialien, die benötigt werden, um das selektierte Individuum zum Leben zu erwecken, und…«

›»Selektiert‹?« Ich wandte mich dem Morlock zu, und der Zorn und die Gewalttätigkeit, die ich so lange aus meinen Gedanken verdrängt hatte, fluteten in meine Seele zurück. »Wirklich sehr rational. Aber was hast du sonst noch alles wegrationalisiert, Morlock? Was ist mit Zärtlichkeit? Was mit Liebe?«

Entscheidung und Abschied

Ich taumelte aus dieser schrecklichen Gebärhütte und schaute mich in der großen Stadt-Kammer um, mit ihren Kohorten geduldiger Morlocks, die ihren unverständlichen Verrichtungen nachgingen. Ich hätte sie anbrüllen, die Fäuste in ihr weiches Fleisch stoßen und ihre selbstgefällige Perfektion zerschlagen mögen; aber selbst in diesem dunklen Moment wußte ich, daß ich es mir nicht leisten konnte, ihnen ein noch schlechteres Bild von mir zu vermitteln.

Am liebsten wäre ich sogar vor Nebogipfel geflohen. Ich wußte wohl, daß er mir Höflichkeit und Verständnis entgegengebracht hatte: vielleicht mehr, als ich eigentlich verdient hatte, und vielleicht auch mehr, als meine Zeitgenossen einem wütenden Wilden des Jahres 500000 v. Chr. zugestanden hätten. Aber dennoch hatte ich den Eindruck, daß ihn meine Reaktion auf den Gebärvorgang fasziniert und amüsiert hatte. Vielleicht hatte er ja auch nur eine Show arrangiert, um ebendiese extreme Reaktion bei mir zu provozieren! Nun, wenn das seine Absicht gewesen sein sollte, hatte Nebogipfel wohl Erfolg gehabt. Aber jetzt waren meine Erniedrigung und der diffuse Zorn so groß, daß ich den Anblick seiner würdevoll frisierten Gestalt kaum ertragen konnte.

Aber wohin hätte ich denn gehen sollen? Ob es mir nun gefiel oder nicht, Nebogipfel war mein einziger Bezugspunkt in dieser fremden Welt der Morlocks: das einzige lebende Individuum, dessen Namen ich kannte, und — nach allem, was ich bisher wußte — mein einziger Beschützer.

Vielleicht spürte Nebogipfel diesen Konflikt in mir. Auf jeden Fall drängte er mir nicht seine Gesellschaft auf; vielmehr wandte er mir den Rücken zu und ließ wieder die kleine Schlafhütte aus dem Boden wachsen. Ich kletterte hinein und hockte mich in die dunkelste Ecke, wobei ich die Arme um den Körper schlang — ich verkroch mich wie ein wildes Tier, das man nach New York gebracht hatte!

Dort blieb ich für einige Stunden — vielleicht schlief ich sogar ein. Schließlich spürte ich, wie sich wieder etwas Zuversicht einstellte, und ich aß eine Kleinigkeit und machte eine Katzenwäsche.

Ich glaube, daß — jedenfalls vor dem Zwischenfall auf der Gebärfarm — die Einblicke in diese Welt der Morlocks mich in ihren Bann zogen. Ich habe mich immer als einen rationalen Menschen verstanden, und ich war fasziniert von dieser Vision, wie eine Welt Rationaler Wesen ihre Belange regeln konnte — wie Naturwissenschaften und Maschinenbau zur Erschaffung einer besseren Welt beitragen konnten. Es hatte mich beeindruckt, welche Toleranz sie z. B. für unterschiedliche Meinungen zu Politik und Regierungsform aufbrachten. Aber der Anblick dieses halbfertigen Homunkulus hatte mir den Rest gegeben. Vielleicht demonstriert meine Reaktion auch nur, wie tief die grundsätzlichen Werte und Instinkte unserer Spezies verwurzelt sind.

Wenn es denn stimmte, daß die Morlocks ihr genetisches Erbe bezwungen hatten, den Makel der Urmeere, dann beneidete ich sie in diesem Moment um ihren Gleichmut!


Ich wußte, daß ich mich von der Gesellschaft der Morlocks lösen mußte — ich wurde zwar geduldet, aber es gab hier genauso wenig Platz für mich wie für einen Gorilla im Mayfair Hotel — und ich begann eine neue Entschlossenheit zu entwickeln.

Ich kam aus meiner Hütte hervorgekrochen. Nebogipfel stand da und wartete, als ob er immer in ihrer Nähe gewesen wäre. Er wischte mit einer Hand über eine Konsole und veranlaßte, daß die leere Hütte wieder vom Boden aufgesogen wurde.

»Nebogipfel«, sagte ich energisch, »dir muß doch klar sein, daß ich hier so fehl am Platze bin wie ein Zootier, das in die Stadt ausgebrochen ist.«

Er antwortete nicht; sein Blick wirkte unbeteiligt.

»Wenn es nicht in eurer Absicht liegt, mich als Gefangenen zu halten oder als Probe in einem Laboratorium zu betrachten, dann verspüre ich nicht das Verlangen, hier zu bleiben. Ich wünsche, daß ihr mir Zugang zu meiner Zeitmaschine gewährt, damit ich in meine eigene Zeit zurückkehren kann.«

»Du bist kein Gefangener«, sagte er. »Für dieses Wort gibt es in unserer Sprache keine Entsprechung. Du bist ein denkendes und fühlendes Wesen, und als solches hast du Rechte. Die einzige Auflage für dich besteht darin, daß du mit deinen Aktionen niemandem mehr Schaden zufügen sollst…«

»Was ich akzeptiere«, meinte ich steif.

»…und«, fuhr er fort, »daß du nicht mit deiner Zeitmaschine abreist.«

»Soviel also zu meinen Rechten«, knurrte ich ihn an. »Ich bin hier ein Gefangener — und ein Gefangener in der Zeit!«

»Obwohl die Theorie der Zeitreise klar genug ist — und die mechanische Struktur deiner Maschine ist auch kein Geheimnis — fehlt uns bisher noch jedes Verständnis der zugrundeliegenden Prinzipien«, sagte der Morlock. Ich interpretierte das so, daß sie noch nicht hinter die Wirkungsweise des Plattnerits gekommen waren. »Aber«, fuhr Nebogipfel fort, »wir sind der Ansicht, daß diese Technologie von großem Nutzen für unsere Spezies sein könnte.«

»Da bin ich mir sicher!« Ich hatte eine plötzliche Vision von diesen Morlocks, wie sie mit ihren magischen Geräten und Wunderwaffen auf modifizierten Zeitmaschinen über das London von 1891 hereinbrachen. Wie würden die Menschen meines Jahrhunderts wohl auf eine solche Invasion affenartiger Untermenschen aus der Zukunft reagieren?

Die Antwort auf diese Frage war mir nur zu bekannt: mit Gewalt und Abscheu. Es würde ein Krieg ausbrechen, wie die Welt ihn noch nicht gesehen hatte — und mit einem unausweichlichen Sieg der Morlocks enden.

Und dann, unterworfen und gezähmt, würden Männer, Frauen und Kinder in großen Reservationen eingeschlossen werden, ihrer Maschinen und Waffen beraubt — ihrer Macht beraubt, Entscheidungen zu treffen —, während die Morlocks mit der langsamen Transformation der Erde in eine Welt der Dunkelheit begannen.

Die Morlocks würden für die Sicherheit und das leibliche Wohl der Menschheit sorgen. Aber, ihrer Seele beraubt und am Schluß vielleicht auch noch ihrer Kinder, konnte die Menschheit in meinen Augen höchstens noch ein paar Generationen überleben!

Der Horror, den ich bei dieser Vorstellung empfand, ließ das Blut durch die Adern pulsieren — und doch wies mich selbst in diesem Moment ein entfernter, rationaler Winkel meines Geistes auf gewisse Unstimmigkeiten dieses Bildes hin. »Schau mal«, sagte ich zu mir, »wenn die ganze moderne Menschheit wirklich auf diese Art ausgelöscht würde — denn der moderne Mensch ist eben der Vorfahre der Morlocks — dann könnten sich die Morlocks überhaupt nicht erst entwickeln und somit auch nicht meine Maschine beschlagnahmen und durch die Zeit zurückreisen… Es ist paradox, nicht wahr? Denn beide Möglichkeiten zusammen gehen nicht.« Es ist nämlich so, daß in einer entlegenen Ecke meines Hirns das ungelöste Problem meiner zweiten Zeitreise — mit den divergierenden Vergangenheiten, die ich beobachtet hatte — noch immer vor sich hingärte, und ich wußte im tiefsten Herzen, daß mein Verständnis der diesem Zeitreise-Paradigma zugrundeliegenden Philosophie im besten Falle nach wie vor begrenzt war.

Aber ich schob das alles beiseite, als ich mich wieder Nebogipfel zuwandte. »Niemals. Ich werde euch niemals bei einem Zeitreiseprojekt unterstützen.«

Nebogipfel sah mich an. »Dann — im Rahmen der Vorbehalte, die ich dir genannt habe — steht es dir frei, jede beliebige deiner Welten aufzusuchen.«

»In diesem Fall«, sagte ich, »bitte ich euch, mich an einen Ort zu bringen — wo auch immer er sich in diesem künstlichen Sonnensystem befinden mag — an dem Menschen wie ich noch existieren können.«

Ich glaube, daß ich ihm diesen Köder nur hingeworfen hatte, um eine Ablehnung zu provozieren. Aber zu meiner Überraschung kam Nebogipfel auf mich zu. »Nicht exakt wie du«, meinte er. »Aber dennoch — komm!«

Dann schritt er ohne weiteren Kommentar wieder über diese immense, bevölkerte Ebene. Mir kamen seine letzten Worte mehr als ominös vor, aber ich konnte ihre Bedeutung nicht verstehen — und überhaupt hatte ich kaum eine andere Wahl, als ihm zu folgen.


Wir erreichten eine freie Fläche mit einem Durchmesser von vielleicht einer Viertelmeile. Ich hatte schon lange jeden Orientierungssinn in dieser großen Stadt-Kammer verloren. Nebogipfel setzte seine Brille auf, und ich tat es ihm nach.

Plötzlich stach ein Lichtbogen durch das Dach über uns und hüllte uns ein. Ich schaute nach oben, in ein warmes Gelb, und sah Staubflocken in der Luft herumtanzen; für einen Augenblick dachte ich, daß ich wieder zu jenem Lichtkäfig in der kleineren Kammer zurückgekehrt wäre, in der man mich gefangengehalten hatte.

Ich wartete — ich konnte nicht sehen, ob Nebogipfel der unsichtbaren Maschine, die diesen Ort versorgte, irgendwelche Befehle gegeben hatte — jedenfalls ging ein heftiges Rucken durch den Boden unter mir. Ich taumelte, denn es war wie ein leichtes Erdbeben und kam dazu noch unerwartet; aber ich fing mich schnell wieder.

»Was war das?«

Nebogipfel war ungerührt. »Vielleicht hätte ich dich warnen sollen. Unser Aszent ist gestartet.«

»Aszent?«

Jetzt sah ich, daß sich eine etwa eine Viertelmeile durchmessende Scheibe aus Glas vom Boden erhob und mich und Nebogipfel in die Höhe beförderte. Es war, als ob ich auf der Oberfläche eines immensen Pfeilers gestanden hätte, der sich aus dem Boden schob. Wir waren bereits etwa zehn Fuß hoch, und unsere Geschwindigkeit schien sich noch zu erhöhen; ich verspürte einen Lufthauch an der Stirn.

Ich ging ein Stück auf die Abbruchkante der Scheibe zu und beobachtete, wie sich diese immense, komplexe Stadt der Morlocks unter mir entfaltete. Die Stadt erstreckte sich über die Grenzen meines Blickfeldes hinaus, völlig eben und gleichmäßig bebaut. Sie wirkte wie eine präzise Kartographie, vielleicht eine Sternkarte, wo auf schwarzem Hintergrund silberne Linien aufgetragen waren — und die den wirklichen Sternenhimmel dahinter überlagerten. Ein paar silbrige Gesichter blickten mir bei meinem Aufstieg nach, aber die Masse der Morlocks wirkte völlig indifferent.

»Nebogipfel — wohin…?« »Ins Innere«, erklärte er ruhig.

Ich registrierte eine Veränderung des Lichts. Es wirkte jetzt viel heller und diffuser — nicht mehr nur zu einem einzigen Strahl gebündelt, wie es am Fuß der Quelle den Anschein hatte.

Ich legte den Kopf in den Nacken. Während ich hinsah, erweiterte sich die Lichtscheibe über mir, so daß ich nun um die zentrale Scheibe der Sonne einen ringförmigen Himmelsausschnitt ausmachen konnte. Der Himmel war blau und mit hohen, flockigen Wolken durchsetzt; aber er hatte eine merkwürdige Struktur, eine verwaschene Färbung, die ich zunächst auf die Brille zurückführte, die ich noch aufhatte.

Nebogipfel wandte sich von mir ab. Er tippte mit einem Fuß auf die Basis unserer Plattform, und ein Objekt kam zum Vorschein — zuerst konnte ich es nicht identifizieren —, das sich dann als eine flache Schüssel entpuppte, aus deren Mitte ein Stab herauswuchs. Erst als Nebogipfel das Teil aufhob und sich über den Kopf hielt, wußte ich, was es darstellen sollte: ein einfacher Sonnenschirm, um die Sonne von seiner bleichen Haut fernzuhalten.

Solcherart gerüstet stiegen wir zum Licht empor — die Säule verbreiterte sich — und schließlich tauchte mein Neunzehnter-Jahrhundert-Kopf in eine Ebene aus Gras ein!

Im Inneren

»Willkommen im Inneren«, sagte der mit seinem Sonnenschirm irgendwie skurril wirkende Nebogipfel.

Unsere eine Viertelmeile durchmessende Glassäule beendete lautlos die letzten paar Fuß ihres Aufstieges. Ich fühlte mich, als ob ich wie der Assistent eines Zauberkünstlers auf eine Bühne emporschweben würde. Ich nahm die Brille ab und beschirmte mit den Händen die Augen.

Die Plattform verzögerte und kam zum Stillstand, wobei ihre Kante bündig mit der umliegenden, aus kurzem, drahtigen Gras bestehenden Wiese abschloß, so nahtlos, als ob sie ein gegossenes Betonfundament gewesen wäre. An diesem Ort war jetzt Mittag; natürlich, überall im Inneren war Mittag, den ganzen Tag und jeden Tag! Die blendende Sonne stach auf Kopf und Hals — ich mußte wohl bald mit einem Sonnenbrand rechnen — aber das angenehme Gefühl dieses eingefangenen Sonnenlichts war diesen Preis wert, zumindest für den Augenblick.

Ich drehte mich um und studierte die Landschaft.

Gras — eine konturenlose Fläche — erstreckte sich bis zum Horizont — mit der Ausnahme indessen, daß es überhaupt keinen Horizont gab, hier auf diesem platten Land. Ich schaute hoch, in der Erwartung, daß die Welt sich nach oben krümmen würde: ich klebte schließlich nicht mehr an der Außenfläche einer kleinen Felsenkugel wie der Erde, sondern stand auf der Innenseite einer gigantischen, hohlen Schale. Aber es gab keinen derartigen optischen Effekt; ich sah nur Gras und in weiter Entfernung etwas, das vielleicht Baum- oder Buschinseln darstellte. Der Himmel war eine bläuliche Wand mit weit oben driftenden Schäfchenwolken, der an einer flachen Nahtstelle aus Dunst und Staub mit dem Land verschmolz.

»Ich habe den Eindruck, auf einer riesigen Tischplatte zu stehen«, eröffnete ich Nebogipfel. »Ich hatte zuerst geglaubt, daß die Landschaft wie eine große Schüssel aussehen würde. Was für ein Paradoxon, daß ich nicht sagen kann, ob ich mich innerhalb einer großen Kugel oder auf der Oberfläche eines gigantischen Planeten befinde.«

»Man kann es doch sagen«, erwiderte Nebogipfel unter seinem Sonnenschirm. »Schau mal nach oben.«

Ich legte den Kopf in den Nacken. Zunächst konnte ich nur den Himmel und die Sonne erkennen — er sah aus wie jeder beliebige Himmel. Dann begann ich jedoch allmählich etwas über den Wolken auszumachen. Es war diese verwaschene Struktur des Himmels, die mir schon früher aufgefallen war und die ich irrtümlicherweise einem Defekt der Brille zugeschrieben hatte. Die Kleckse hatten etwas von einem großen, in Blau und Grau und Grün gehaltenen Aquarell, waren aber sehr detailliert, so daß noch der größte Fleck gegen den kleinsten Wolkenfetzen wie ein Zwerg wirkte. Das Bild sah eher wie eine Landkarte aus — oder wie mehrere Landkartenfolien, die man übereinandergelegt hatte und nun aus großer Entfernung betrachtete.

Und es war diese Analogie, die mich auf die Spur brachte.

»Es ist die Rückseite der Sphäre, der Sonne abgewandt… Ich nehme an, daß es sich bei den Farben, die ich sehe, um Ozeane handelt und Kontinente und Bergketten und Savannen — vielleicht sogar Städte!« Es war ein bemerkenswerter Anblick — als ob Tausende von Welten ihrer felsigen Mäntel beraubt und dann wie Kaninchen an den Haken gehängt worden wären. Die Dimensionen der Sphäre waren so gewaltig, daß nirgendwo eine Krümmung zu erkennen war. Vielmehr kam es mir so vor, als ob ich zwischen verschiedenen Schichten eingeschlossen wäre, d. h. zwischen diesem platten Grasland und einem Deckel aus verschwommenem Himmel, wobei die Sonne wie eine Laterne dazwischen hing — und die Tiefen des Alls gerade ein oder zwei Meilen unter den Füßen.

»Denk daran, daß du dich auf der Höhe des Venusorbits befindest«, erinnerte mich Nebogipfel. »Aus einer solchen Entfernung wäre die Erde nur als bloßer Lichtpunkt zu sehen. Die meisten der hiesigen topographischen Strukturen haben viel größere Dimensionen als auf der Erde.«

»Es muß also Ozeane geben, in denen man die Erde versenken könnte«, überlegte ich. »Ich vermute, daß die tektonischen Kräfte in einer Struktur wie dieser…«

»Es gibt hier keine Tektonik«, fiel mir Nebogipfel ins Wort. »Das Innere und seine Landschaften sind künstlich. Alles, was du siehst, ist im Grunde durchkonstruiert — und in diesem Zustand wird alles auch ganz bewußt belassen.« Er wirkte ungewöhnlich nachdenklich. »Diese Geschichte unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von jener anderen, die du uns beschrieben hast. Aber dennoch gleichen sich auch einige Dinge: Dies ist eine Welt des ewigen Tages — im Gegensatz zu meiner Heimatwelt, auf der ewige Nacht herrscht. Wir haben uns in der Tat zu einer Spezies der Extreme entwickelt, von Licht und Dunkel, genau wie in jener anderen Historie.«

Dann führte Nebogipfel mich zur Kante unserer Glasscheibe. Er verhielt auf der Plattform, den Kopf unter dem Sonnenschirm verborgen; ich aber betrat kühn das umgebende Gras. Der Boden fühlte sich hart unter den Füßen an, aber ich genoß die Wahrnehmung, einen anderen Boden unter mir zu spüren, nach den Tagen auf diesem klaren, elastischen Glas. Das Gras war zwar kurz, aber hart und drahtig, von der Sorte, die man gewöhnlich in Küstennähe findet; und als ich mich bückte und die Finger in den Boden grub, merkte ich, daß das Erdreich ziemlich sandig und trocken war. In der Reihe von kleinen Gruben, die ich ausgehoben hatte, kam ein kleiner Käfer zum Vorschein; er wühlte sich tiefer in den Sand und verschwand aus meinem Blickfeld.

Eine Brise wehte über das Gras. Ich registrierte das Fehlen von Vogelgezwitscher; ich hörte überhaupt keine Tiergeräusche.

»Der Boden ist ja nicht sehr fruchtbar«, rief ich Nebogipfel zu.

»Nein«, bestätigte er. »Aber der…« — ein gurgelndes Wort, das ich nicht identifizieren konnte — »…erholt sich wieder.«

»Was hast du gesagt?«

»Ich meine das interdependent funktionierende System von Pflanzen und Insekten und Tieren. Der Krieg liegt erst vierzigtausend Jahre zurück.«

»Welcher Krieg?«

Jetzt zuckte Nebogipfel die Achseln — seine Schultern hoben sich, und sein Körperhaar raschelte — auf eine Art, die er nur von mir kopiert haben konnte! »Wer weiß? Die Ursache ist längst vergessen, die Kombattanten — die Nationen und ihre Kinder — alle tot.«

»Du hast mir doch erzählt, daß es hier nie einen Krieg gegeben hätte«, hielt ich ihm vor.

»Nicht zwischen den Morlocks«, meinte er. »Aber im Inneren… Jener Krieg war sehr verlustreich. Große Bomben fielen. Das Land hier wurde zerstört — alles Leben ausgelöscht.«

»Aber wenigstens die Pflanzen und die kleineren Tiere…«

»Alles. Du verstehst nicht. Alles auf einer Fläche von einer Million Quadratmeilen ist untergegangen, außer dem Gras und den Insekten. Und erst jetzt ist das Land wieder sicher geworden.«

»Nebogipfel, welche Wesen haben hier gelebt? Waren sie wie ich?«

Er zögerte. »Einige waren archaische Varianten wie du. Aber es hatte noch ältere Formen gegeben; ich weiß von einer Kolonie nachgezüchteter Neandertaler, welche die Religion dieses ausgestorbenen Volkes wiederbelebt hatte… Und es gab auch welche, die weiter entwickelt waren als du: Die sich nicht weniger von dir unterschieden wie ich, wenn auch auf unterschiedliche Art. Die Sphäre ist groß. Wenn du möchtest, werde ich dich zu einer Kolonie von Wesen bringen, die annähernd von deiner Art sind…«

»Oh — ich weiß nicht, ob ich das will!« winkte ich ab. »Nebogipfel, ich bin von diesem Ort überwältigt, dieser Welt aller Welten. Ich möchte erst alles gesehen haben, bevor ich mich entscheide, wo ich mein Leben verbringen werde. Kannst du das verstehen?«

Er diskutierte diesen Vorschlag nicht; vielmehr schien er aus dem Licht verschwinden zu wollen. »Sehr gut. Halte dich in der Nähe der Plattform auf. Wenn du willst, daß ich erscheine, begib dich in ihren Mittelpunkt und rufe meinen Namen.«

Und so begann mein einsamer Ausflug in das Innere der Sphäre.


In dieser Welt der ewigen Nacht gab es keinen Tag-Nacht-Rhythmus, anhand dessen man den Verlauf der Zeit hätte ermitteln können. Wenigstens hatte ich noch meine Taschenuhr: die von ihr angezeigte Zeit hatte wegen meiner Reisen durch Raum und Zeit zwar keine Bedeutung, half mir aber immerhin, Vierund-zwanzigstunden-Perioden zu definieren.

Nebogipfel hatte auf der Plattform einen Unterstand entstehen lassen — eine schlichte, viereckige Hütte mit einem Fenster und einer Tür, die sich auf die schon beschriebene Art öffnete. Er hatte mir auch ein Tablett mit Essen und Wasser bereitgestellt und zeigte mir, wie ich für Nachschub sorgen konnte: Ich mußte das Tablett wieder in die Oberfläche der Plattform hineindrücken — das war wirklich ein seltsames Gefühl — und nach wenigen Sekunden erschien dann ein anderes, vollbeladenes Tablett auf der Oberfläche. Dieser unnatürliche Vorgang verursachte mir Übelkeit, aber ich hatte keine andere Nahrungsmittelquelle und unterdrückte daher mein Unbehagen. Nebogipfel zeigte mir auch, wie ich Gegenstände in den Boden schieben mußte, um sie zu säubern; er wandte diese Technik sogar bei seinen Händen an. Ich nutzte diese Möglichkeit, meine Kleidung und Stiefel zu reinigen — die Hose wurde völlig faltenfrei wieder ausgeliefert! — aber ich konnte mich nicht dazu überwinden, irgendeinen Teil meines Körpers auf diese Art zu behandeln. Der Gedanke, eine Hand oder einen Fuß — oder noch schlimmer, das Gesicht — in diese klare Fläche zu stecken, war mehr, als ich verkraften konnte, und ich benutzte weiterhin Wasser zum Waschen.

Ich verfügte indessen nach wie vor nicht über Rasierzeug und hatte schon einen schönen Vollbart entwickelt — aber er war eine deprimierende feste Masse aus Eisengrau.

Nebogipfel zeigte mir, wie ich die Einsatzmöglichkeiten meiner Brille erweitern konnte. Indem ich die Gläser auf eine bestimmte Art berührte, konnte ich entfernte Objekte stark vergrößern lassen und sie nahe und lebensecht heranholen. Sofort setzte ich die Brille auf und fokussierte sie auf den entfernten Schatten, den ich für eine Bauminsel gehalten hatte. Er erwies sich dann aber nur als ein Felsen, der ziemlich verwittert bzw. geschmolzen wirkte.

Die ersten Tage genügte es mir, einfach nur da zu sein, in diesem geschundenen Grasland. Ich begab mich auf lange Wanderungen; ich zog die Stiefel aus und erfreute mich an dem Gefühl von Gras und Sand zwischen den Zehen, und oft entkleidete ich mich im heißen Sonnenlicht bis auf die Hose. Bald war ich richtig schokoladenbraun geworden — obwohl ich auf der Stirn unter dem zurückweichenden Haaransatz einen ziemlichen Sonnenbrand bekommen hatte — es war wie ein Kuraufenthalt in Bognor!

Abends zog ich mich in meine Hütte zurück. Bei geschlossener Tür war es recht gemütlich da drin, und ich schlief gut, mit zu einem Kissen zusammengerollter Jacke und der warmen Elastizität der Plattform unter mir.

Den überwiegenden Teil meiner Zeit verbrachte ich damit, das Innere mit der Vergrößerungsoptik meiner Brille zu inspizieren. Ich saß am Rand der Plattform oder lag mit dem Kopf auf der Jacke auf einem weichen Grasabschnitt und beobachtete den komplexen Himmel.

Der meiner Position entgegengesetzte Teil des Inneren mußte im Äquatorbereich der Sphäre liegen; und so stellte ich mir vor, daß diese Region am erdähnlichsten wäre — mit der stärksten Gravitation und der höchsten Luftdichte. Dieser Zentralgürtel war vergleichsweise schmal — nicht breiter als einige Dutzend Millionen Meilen. (Ich sage so leichthin ›nicht breiten, aber ich weiß natürlich, daß die Erde vor diesem titanischen Hintergrund nicht mehr als ein bloßer Fleck wäre!) Jenseits dieses Zentrumsgürtels wirkte die Oberfläche mattgrau, schwierig zu differenzieren durch den Blaufilter des Himmels, und ich konnte nur wenige Details erkennen. In einer dieser Höhenregionen befand sich ein silbrig-weißer Fleck, in den in feinem Grau Meeresumrisse eingebettet waren, die mich irgendwie an den Mond erinnerten; und ein anderer Fleck aus Signalorange — in fast perfekter Ellipsenform —, dessen Natur ich nicht ermitteln konnte. Ich dachte an die degenerierten Morlocks, denen ich begegnet war und die aus den Niedergravitations-Regionen der äußeren Hülle stammten, weit weg vom Äquator; und ich fragte mich, ob sie vielleicht mutierte Menschen waren, die in diesen entfernten Weltkarten geringer Schwerkraft der höheren Breiten des Inneren lebten.

Als ich über diesen inneren, erdähnlichen Zentralgürtel nachdachte, kam mir die Vermutung, daß selbst dieser nur sehr dünn bevölkert war. Ich stellte mir vor, wie immense Ozeane und Wüsten, die ganze Welten verschlucken konnten, im endlosen Sonnenlicht glitzerten. Diese Abschnitte aus Land und Wasser trennten Insel-Welten voneinander: Regionen, die kaum größer als die Erde gewesen sein mochten und die man in ihrer ganzen Detailfülle abgehäutet und über diese Oberfläche gespannt hatte.

Hier sah ich eine Welt aus Gras und Wald, mit Städten aus funkelnden Gebäuden, die sich über die Bäume erhoben. Dort erkannte ich eine Eiswelt, deren Bewohner nach dem Vorbild meiner Ahnen in den europäischen Eiszeiten überleben mußten: vielleicht wurde diese Welt gekühlt, so dachte ich mir, indem man sie auf einer riesigen Plattform fixiert und damit über die Atmosphäre erhoben hatte. Auf einigen Welten sah ich auch Anzeichen von Industrie: ein komplexes Netz aus Städten, dunstigen Smog, von Brücken überspannte Buchten, das schaumige Kielwasser von Schiffen auf Binnenmeeren — und manchmal eine Dampfspur in der oberen Atmosphäre, von der ich annahm, daß sie von irgendeinem Fluggerät verursacht worden war.

So viele vertraute Eindrücke — aber manche Welten waren auch absolut fremdartig.

Mein Blick schweifte über Städte, die in der Luft schwebten, über ihrem eigenen Schatten; und riesige Gebäude, im Vergleich zu denen die Chinesische Mauer ein Gartenmäuerchen gewesen sein mußte, zogen sich durch künstliche Landschaften… Ich konnte mir nicht einmal ansatzweise das Äußere der Wesen vorstellen, die an einem solchen Ort lebten.


Eines Tages erwachte ich in relativer Dunkelheit. Eine große Wolkendecke hatte sich wie ein Deckel über das Land gelegt, und binnen kurzem setzte starker Regen ein. Es kam mir so vor, als ob das Wetter im Inneren der Sphäre reguliert würde — was ohne Frage auch auf alle anderen Aspekte ihrer Struktur zutraf —, denn ich konnte mir lebhaft die immensen zyklonischen Energien vorstellen, die durch die schnelle Rotation dieser riesigen Welt erzeugt werden mußten. Ich spazierte ein wenig im Regen umher und genoß den Geruch des frischen Wassers. Dank der Wolkendecke hatte der Ort jetzt viel mehr Ähnlichkeit mit der Erde, wobei die fremdartige Rückseite des Inneren und sein dubioser Horizont von Regen und Wolken verdeckt waren. Nach langen Beobachtungen mit der Teleskop-Brille hatte ich ermittelt, daß die grasbewachsene Ebene um mich herum genauso leer war, wie sie schon auf den ersten Blick gewirkt hatte. Eines Tages — es war klar und heiß — beschloß ich, diese felsige Wucherung aufzusuchen, die das einzige erkennbare Merkmal am sich neblig abzeichnenden Horizont war. Ich schnürte aus meiner strapazierten Jacke ein Bündel mit Proviant und Wasser und machte mich auf den Weg. Ich marschierte, bis ich müde wurde, und dann legte ich mich hin und versuchte zu schlafen. Aber ich konnte keine Ruhe finden, nicht unter dem Licht der Sonne, und nach ein paar Stunden gab ich es auf. Ich ging noch ein Stück weiter, aber der Felsen schien nicht näherzurücken, und ich begann Angst zu verspüren, so weit von der Plattform entfernt. Was, wenn mich Erschöpfung überkäme oder ich verletzt würde? Ich wäre dann niemals in der Lage, Nebogipfel herbeizurufen und würde damit jegliche Aussicht auf eine Rückkehr in meine eigene Zeit verwirken: Ich würde dann wie eine verwundete Gazelle im Gras verenden. Und das alles wegen einer Exkursion zu einem nichtssagenden Felsbrocken! Mit dem Gefühl, ein Narr zu sein, machte ich kehrt und strebte wieder der Plattform zu.

Die Neuen Eloi

Einige Tage später kroch ich nach dem Schlaf aus meiner Hütte und bemerkte, daß das Licht etwas heller als sonst war. Ich sah in die Höhe und registrierte, daß die Extra-Beleuchtung von einem stechenden Lichtpunkt hervorgerufen wurde, der einige Winkelgrade neben der statischen Sonne stand. Ich setzte die Brille auf und observierte diesen neuen Stern.

Er war eine brennende Insel-Welt. Ich sah, daß heftige Explosionen die Oberfläche erschütterten und Wolken aufstiegen, die sich wie liebliche, tödliche Blumen entfalteten. Ich mutmaßte, daß jegliches Leben auf dieser Insel-Welt bereits erloschen sein mußte, denn nichts hätte die von mir beobachteten Brände überleben können, und noch immer peitschten Explosionen über die Oberfläche — und das alles in einer gespenstischen Stille!

Die Insel-Welt loderte für mehrere Stunden heller als die Sonne.

Überall an diesem felsigen Himmel — ich mußte nur gründlich genug hinsehen — erkannte ich die Zeichen des Krieges.

Hier war eine Welt, in der weite Landstriche einem vernichtenden und zerstörerischen Stellungskrieg zum Opfer gefallen waren: Ich sah braune Abschnitte umgepflügter Landschaften, immense Schützengräben, Hunderte von Meilen breit, in denen, so stellte ich mir vor, Menschen — oder Derivate von Menschen — gekämpft hatten und gestorben waren, Jahr um Jahr. Hier war eine brennende Stadt, über die sich weiße Rauchbögen spannten; und ich fragte mich, ob hier Waffen aus der Luft eingesetzt wurden. Und dann stieß ich auf eine vom Krieg verwüstete Welt, mit verkohlten und eingeäscherten Kontinenten, auf denen die Konturen der Städte durch eine wandernde schwarze Rauchsäule kaum zu sehen waren.

Ich fragte mich, wie viele dieser Lustbarkeiten wohl meine eigene Welt in den Jahren nach meiner Abreise heimgesucht hatten!

Nachdem ich mir das einige Tage angesehen hatte, setzte ich die Brille für eine lange Zeit ab. Langsam wirkte dieses überall in den Farben des Krieges gehaltene Dach unerträglich bedrückend auf mich.

Manche Menschen meiner Zeit befürworteten den Krieg — hätten ihn meiner Ansicht nach z. B. als Druckausgleich für die Spannungen zwischen den Großmächten begrüßt. Die Menschen betrachteten den Krieg — zumindest den nächsten! — als eine große Säuberungsaktion, als den letzten Krieg, der jemals ausgetragen werden mußte. Aber dem war nicht so — wie ich jetzt erkannte — die Menschheit führte Krieg wegen ihres barbarischen Erbes, und jede Begründung war nur eine Ausflucht unserer übergroßen Hirne.

Ich stellte mir vor, daß Großbritannien und Deutschland irgendwo hierher projiziert würden, als zwei weitere Spritzer am felsigen Himmel. Ich dachte an diese beiden Nationen, die mir jetzt, aus meiner erhöhten Perspektive, in einem Zustand der völligen wirtschaftlichen und moralischen Unordnung zu sein schienen, über die nachzudenken die wenigsten von uns den Mut aufbrachten. Da war z. B. eine in beiden Ländern aktive Klasse von lautstarken Kriegstreibern, welche die Leute dazu anhielten und überredeten, alle verfügbaren materiellen Ressourcen und ihre gesamte Energie in das rein destruktive und verschwenderische Geschäft des Krieges zu investieren. Und ich bezweifle, daß es im Jahre 1891 auch nur einen Menschen gegeben hatte, der mir den Nutzen eines solchen Krieges hätte nennen können, ungeachtet seines Ausgangs! — Und wie lächerlich und sinnlos ein solcher Konflikt erscheinen würde, wenn Großbritannien und Deutschland in das Innere dieser monströsen Sphäre projiziert worden wären.

Überall in der Sphäre fielen Millionen unersetzlicher Menschenleben solchen Konflikten zum Opfer — die mir so entfernt und bedeutungslos vorkamen wie die Deckengemälde einer Kathedrale — und doch, welchen Zweck konnte die Menschheit angesichts der ganzen Ressourcen dieser großen Sphäre benennen, um dieses endlose Gemetzel zu rechtfertigen? Man hätte annehmen können, daß die Menschen, die in dieser Sphäre lebten — und in der Lage waren, Millionen Insel-Welten wie die ihren zu sehen — ihre belanglosen kleinen Zwistigkeiten aufgegeben hätten und zu der Erkenntnis gelangt wären, die jetzt mir zuteil geworden war. Aber anscheinend lagen die Dinge anders; nach wie vor dominierten die niederen Instinkte der Menschen, sogar im Jahre 657208 n. Chr. Hier in der Sphäre reichte offensichtlich nicht einmal der Anschauungsunterricht aus, den Tausende, ja Millionen Kriege überall am Himmel boten, der Menschheit die Augen für die Sinnlosigkeit und Grausamkeit von gewaltsamen Auseinandersetzungen zu öffnen!

Im Kontrast hierzu schweiften meine Gedanken zu Nebogipfel und seinen Leuten ab, zu ihrer rationalen Gesellschaft. Ich will nicht verhehlen, daß mich beim Gedanken an die Morlocks und ihre unnatürlichen Praktiken noch eine gewisse Abscheu touchierte, aber ich begriff jetzt, daß dies auf meine primitiven Vorurteile und die schlechten Erfahrungen auf Weenas Welt zurückzuführen war, die aber als Beurteilungskriterien für Nebogipfel völlig untauglich waren.

Ich konnte mir denken, wie die Aufhebung der Zweigeschlechtlichkeit bei den Morlocks zustandegekommen war. Zunächst muß man um seine eigene Existenz und die der eigenen Kinder kämpfen. Dann wird man für seine Geschwister kämpfen — aber vermutlich nur mit verringerter Intensität, weil nämlich das gemeinsame Erbe geteilt werden muß. Aufgrund der nächsten Priorität wird man dann für seine Neffen und Nichten kämpfen und weiterhin mit abnehmender Intensität für die entferntere Verwandtschaft.

Somit können die Aktivitäten und Loyalitäten der Menschen mit deprimierender Verläßlichkeit vorhergesagt werden; denn nur in einer solchen Treuehierarchie — in einer Welt der Knappheit und Instabilität — kann das Erbe der Menschen für zukünftige Generationen aufbewahrt werden.

Aber das Erbe der Morlocks war gesichert — und nicht durch ein einzelnes Kind oder eine Familie, sondern durch die große kollektive Ressource in Gestalt der Sphäre. Und so wurde die Differenzierung und Spezialisierung der Geschlechter irrelevant — und schadete sogar dem ordentlichen Ablauf der Dinge.

Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dachte ich, daß es genau diese Diagnose war — das Verschwinden der Geschlechter von einer stabil, wohlhabend und friedlich gewordenen Welt —, die ich einst den überzüchteten und dekadenten Eloi gestellt hatte. Und jetzt mußte ich erkennen, daß es ihre häßlichen Cousins, die Morlocks, waren, die — in dieser Version der Historie — tatsächlich dieses ferne Ziel erreicht hatten!

All das ging mir durch den Kopf. Und langsam — es dauerte einige Tage — gelangte ich zu einer Entscheidung, was meine Zukunft betraf.

Meines Bleibens in diesem Sphäreninneren war nicht länger; nach der gottähnlichen Perspektive, die Nebogipfel mir verschafft hatte, konnte ich es nicht mehr ertragen, mein ganzes Leben und alle Energien an einen der bedeutungslosen Konflikte zu verschwenden, die wie Buschfeuer über diese weiten Ebenen rasten. Ebensowenig konnte ich bei Nebogipfel und den Morlocks bleiben; denn ich bin nun mal kein Morlock, und meine fundamentalen menschlichen Bedürfnisse machten es mir unmöglich, ein solches Leben wie Nebogipfel zu führen.

Außerdem — wie ich bereits gesagt habe — konnte ich nicht mit dem Wissen leben, daß meine Zeitmaschine noch existierte, eine Maschine, welche die Geschichte derart beschädigen konnte!

Ich begann eine Problemlösung für das alles zu entwerfen und rief dann Nebogipfel.


»Beim Bau der Sphäre«, dozierte Nebogipfel, »ereignete sich eine Abspaltung. Diejenigen, die an der bisherigen Lebensweise der Menschheit festhalten wollten, ließen sich im Inneren nieder. Und diejenigen, welche die alte Dominanz der Gene eliminieren wollten…«

»…wurden Morlocks. Und so ziehen sich die Kriege — ohne Sinn und Ende — wie Wellen über die grenzenlose Oberfläche des Inneren.«

»Ja.«

»Nebogipfel, besteht der Zweck der Sphäre darin, diesen Quasi-Menschen — diesen neuen Eloi — Platz für ihre Kriegsführung zu geben, ohne die Menschheit zu vernichten?«

»Nein.« Er hielt seinen Sonnenschirm in einer würdevollen Haltung hoch, die ich nicht länger komisch fand. »Natürlich nicht. Die Sphäre ist für die Morlocks erschaffen worden: um die Energien eines Sterns für den Erwerb von Wissen nutzbar zu machen.« Er blinzelte mit seinen großen Augen. »Denn welche anderen Ziele könnten intelligente Wesen haben, wenn nicht die Gewinnung und Speicherung von Informationen?«

Das mechanische Gedächtnis der Sphäre, sagte er, war wie eine riesige Bibliothek, die das Wissen der Rasse speicherte, welches über eine halbe Million Jahre angehäuft worden war. Und ein großer Teil der geduldigen Arbeit der Morlocks, die ich gesehen hatte, war der weiteren Sammlung von Informationen gewidmet bzw. der Klassifikation und Neubewertung schon vorhandener Daten.

Sie waren ein Volk von Gelehrten! — und die ganze Energie der Sonne wurde dem geduldigen, korallenartigen Wachstum dieser großen Bibliothek zugeführt.

Ich nibbelte mir den Bart. »Ich verstehe das — zumindest das Motiv. Ich glaube, daß es sich nicht sonderlich von den Impulsen unterscheidet, die auch mein eigenes Leben bestimmen. Aber befürchtet ihr denn nicht, daß ihr eines Tages diese Suche mal beenden werdet? Was wollt ihr tun, wenn die Mathematik perfektioniert und der praktische Beweis der Weltformel erbracht worden ist?«

Er schüttelte den Kopf, eine weitere Geste, die er mir abgeschaut hatte. »Das ist nicht möglich. Ein Mann deiner Zeit — Kurt Gödel — hat das als erster gezeigt.«

»Wer?«

»Kurt Gödel: Ein Mathematiker, der zehn Jahre nach deiner Abreise in die Zeit geboren wurde…«

Dieser Gödel — so erfuhr ich mit Erstaunen — würde in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts nachweisen, daß die Mathematik keine endliche Struktur ist; vielmehr müssen ihre logischen Systeme ständig durch die Integration wahrer oder falscher Axiome angereichert werden…

»Der Gedanke daran verursacht mir Kopfschmerzen! — ich kann mir vorstellen, wie man den armen Gödel empfangen hatte, als er der Welt diese Neuigkeit präsentierte. Mein alter Algebralehrer hätte ihn jedenfalls des Klassenzimmers verwiesen.«

Nebogipfel sagte: »Gödel hat gezeigt, daß unser Bestreben, Wissen und Verstehen zu mehren, nie beendet werden kann.«

Ich begriff. »Er hat euch einen unendlichen Sinn gestiftet.« Ich erkannte jetzt, daß die Morlocks wie eine Welt geduldiger Mönche waren, die unermüdlich daran arbeiteten, die Geheimnisse unseres großen Universums zu enträtseln. Und schließlich — am Ende der Zeiten — würde diese große Sphäre, mit ihrem maschinellen Verstand und seinen geduldigen Morlock-Dienern, eine Art Gott werden, der die Sonne umfaßte.

Ich stimmte mit Nebogipfel darin überein, daß eine intelligente Spezies sich kein höheres Ziel setzen konnte.

Ich hatte mir meine nächsten Worte schon zurechtgelegt und äußerte sie jetzt vorsichtig: »Nebogipfel, ich möchte zur Erde zurückkehren. Ich werde mit euch an meiner Zeitmaschine arbeiten.«

Er ließ den Kopf nach vorne sinken. »Ich bin erfreut. Der Beitrag zu unserem Verständnis wird immens sein.«

Wir diskutierten den Vorschlag weiter, aber es bedurfte keiner weiteren Überzeugung mehr! — denn Nebogipfel wirkte nicht mißtrauisch und stellte mir keine weiteren Fragen.


Und so traf ich kurze Vorbereitungen, diese bedeutungslose Prärie zu verlassen. Bei der Arbeit behielt ich meine Gedanken für mich. Ich hatte gewußt, daß Nebogipfel — begierig wie er war, die Technologie der Zeitreise zu erwerben — meinem Vorschlag zustimmen würde. Und es verursachte mir einigen Schmerz, daß ich in Anbetracht meines neuen Verständnisses der fundamentalen Würde der Morlocks gezwungen war, ihn zu belügen!

Ich würde wohl mit Nebogipfel auf die Erde zurückkehren — aber ich hatte nicht die Absicht, auch dort zu bleiben; denn sobald ich meine Maschine wieder in den Händen hatte, würde ich mit ihr in die Vergangenheit verschwinden.

Wie ich den interplanetarischen Raum durchquerte

Ich mußte geschlagene drei Tage warten, bis Nebogipfel geneigt war, die Abreise anzutreten. Er erklärte mir, daß es darum gegangen wäre, zu warten, bis die Erde und die Sphäre die richtige Konfiguration zueinander eingenommen hätten.

Ich blickte der anstehenden Reise mit gemischten Gefühlen entgegen — Angst würde ich nicht sagen, denn schließlich hatte ich bereits eine derartige Passage durch den interplanetarischen Raum überstanden, wenn auch im Zustand der Bewußtlosigkeit —, sondern eher mit steigendem Interesse. Ich stellte Spekulationen an hinsichtlich der Antriebsart von Nebogipfel Raumjacht. Ich dachte dabei an Verne, der seine streitsüchtigen Baltimore-Rabauken diese lächerliche Kanone abfeuern ließ, damit die Hülle, in welcher der Passagier steckte, die Distanz zwischen Erde und Mond überbrücken konnte. Aber es bedurfte nur einer geringen geistigen Anstrengung, um zu erkennen, daß die zur Überwindung der Erdgravitation erforderliche Beschleunigung eines Projektils so stark gewesen wäre, mich und Nebogipfel zu Erdbeermarmelade zu zerquetschen.

Was dann?

Es ist allgemein bekannt, daß der interplanetarische Raum luftleer ist. Deshalb konnten wir nicht wie die Vögel zur Erde fliegen, denn die Vögel brauchen Luft, um dann mit ihren Flügeln gegen den Luftwiderstand Schub zu erzeugen. Keine Luft — kein Schub! Vielleicht, so mutmaßte ich, würde meine Jacht von einer weiterentwickelten Form einer Feuerwerksrakete angetrieben — denn eine Rakete, die durch den rückwärtigen Ausstoß ihres eigenen verbrauchten Treibstoffes fliegt, könnte auch im Vakuum des Weltraums funktionieren, wenn sie Sauerstoff zur Aufrechterhaltung der Verbrennung mitführte…

Aber das waren müßige Spekulationen, die auf meiner durch das neunzehnte Jahrhundert geprägten Perspektive basierten. Wie hätte ich schon sagen können, welche Möglichkeiten das Jahr 657208 n. Chr. bereithielt? Ich stellte mir Schiffe vor, die sich gegen die Schwerkraft der Sonne stemmten wie gegen einen unsichtbaren Wind; außerdem hielt ich es für denkbar, daß mit manipulierten Magnet- oder sonstigen Feldern gearbeitet wurde.

Solcherart wucherten meine Spekulationen, bis Nebogipfel kam, um mich zum letztenmal aus dem Inneren zu holen.

Als wir wieder in die Dunkelheit der Morlocks zurückfielen, stand ich mit zurückgelegtem Kopf da und schaute zu dem schwächer werdenden Sonnenlicht hoch; und — kurz, bevor ich meine Brille aufsetzte — schwor ich mir, daß, wenn ich das nächste Mal die Wärme der Sonne auf dem Gesicht spürte, dies in meinem eigenen Jahrhundert der Fall sein würde!


Ich mußte wohl erwartet haben, zum Morlock-Äquivalent eines Hafens gebracht zu werden, wo sich große ebenholzfarbene Raumschiffe an die Sphäre drängten wie Ozeanschiffe an einem Dock.

Doch nichts in der Art; statt dessen eskortierte Nebogipfel mich — über eine Distanz von nur wenigen Meilen, wobei wir uns wie auf Laufbändern fortbewegten — zu einem Areal, in dem sich weder Artefakte, Trennwände noch Morlocks befanden und das auch sonst keine Besonderheiten aufwies. Und in der Mitte dieses Abschnitts war eine kleine Kammer, eine Box mit durchsichtigen Wänden, die kaum größer war als ich — wie eine Aufzugskabine — und die hier klobig auf dem sternenunterlegten Boden stand.

Auf Nebogipfels entsprechende Geste betrat ich die Kabine. Nebogipfel folgte, und hinter uns verriegelte sich die Kabine mit einem Zischen ihrer Membran-Tür. Die Kabine war annähernd rechteckig, wobei die abgerundeten Ecken und Kanten ihr irgendwie das Aussehen einer Tablette verliehen. Es gab zwar kein Mobiliar, aber senkrechte Stangen, die in gleichmäßigen Abschnitten in der Kabine angebracht waren.

Nebogipfel packte eine dieser Stangen. »Du solltest dich vorbereiten. Bei unserem Start wird sich die Gravitationsbelastung schlagartig erhöhen…«

Diese beiläufig gesprochenen Worte beunruhigten mich! Nebogipfels Augen, von seiner Brille geschwärzt, fixierten mich mit ihrer üblichen irritierenden Mischung aus Neugier und Analyse; und jetzt sah ich, daß seine Hand die Stange noch fester umklammerte.

Und dann — es ging so schnell, daß ich mich nicht an die Details erinnern kann — öffnete sich der Boden. Die Kabine fiel aus der Sphäre hinaus, und ich und Nebogipfel mit ihr!


Ich schrie auf und ergriff die Stange wie ein Kleinkind, das sich am Bein seiner Mutter festklammert.

Ich schaute nach oben und erblickte die Oberfläche der Sphäre, die sich jetzt in ein riesiges schwarzes Dach verwandelt hatte und das halbe Universum aus meinem Blickfeld ausblendete. Im Mittelpunkt dieser Decke konnte ich ein Rechteck erkennen, das sich etwas von der umgebenden Dunkelheit abhob. Es war die Tür, durch die wir gekommen waren; ich beobachtete, daß die Türöffnung sich mit zunehmender Entfernung verkleinerte, und dann hatte sie sich wieder geschlossen. An der Art, wie die Tür mit majestätischer Gemessenheit über mein Blickfeld hinwegzog, erkannte ich, daß unsere Kabinen-Kapsel sich in den Weltraum hinausbewegte. Mir war klar, was sich ereignet hatte: jeder Schuljunge kann den gleichen Effekt erzielen, indem er eine Kastanie im Sacktuch an einer Schnur über dem Kopf herumwirbelt und dann losläßt. Nun, die ›Schnur‹, die uns im Inneren der rotierenden Sphäre gehalten hatte — ihr fester Boden — war jetzt verschwunden, und wir waren in den Weltraum geworfen worden, ohne jede Verabschiedung.

Und unter mir — ich konnte mich kaum überwinden, nach unten zu blicken — war eine Grube aus Sternen, eine bodenlose Kaverne, in die ich und Nebogipfel für immer fielen!

»Nebogipfel — um Himmels willen —, was ist mit uns geschehen? Hat es eine Panne gegeben?«

Er sah mich an. Es irritierte mich, daß seine Füße ein paar Zoll über dem Boden der Kapsel schwebten — denn während die Kapsel durch das All stürzte, stürzten wir in ihrem Inneren mit, wie Erbsen in einer Streichholzschachtel!

»Wir haben die Sphäre verlassen. Die Auswirkungen ihrer Rotation sind…«

»Das ist mir schon klar«, unterbrach ich ihn, »aber warum? Sollen wir denn die ganze Strecke bis zur Erde fallen?«

Ich fand seine Antwort reichlich erschreckend.

»Eigentlich«, bestätigte er, »ja.«

Und dann brachte ich keine Energie mehr für weitere Fragen auf, denn ich bemerkte, daß ich wie ein Ballon in dieser kleinen Kabine umherdriftete; und diese Erkenntnis löste einen Kampf gegen die Übelkeit aus, der viele Minuten dauerte.

Schließlich erlangte ich die Kontrolle über meinen Körper wenigstens zum Teil zurück.

Ich ließ mir von Nebogipfel die Prinzipien dieses Fluges zur Erde erklären. Und als er geendet hatte, realisierte ich, wie elegant und wirtschaftlich die Lösung der Morlocks für die Reise zwischen der Sphäre und ihrem Kordon aus den übriggebliebenen Planeten war — sie war so eingängig, daß ich auch von selbst darauf hätte kommen müssen, und ich vergaß all die unsinnigen Spekulationen über Raketen —, und doch eröffnete sich hier eine weitere Facette der unmenschlichen Disposition der Morlockseele! Anstelle der grandiosen Raumjacht, die ich eigentlich erwartet hatte, würde ich die Distanz vom Venusorbit bis zur Erde in nichts Großartigerem als diesem tablettenförmigen Sarg zurücklegen.

Nur wenige Menschen meines Jahrhunderts wissen, daß das Universum zum überwiegenden Teil leer ist, durchzogen von einigen Inseln der Wärme und des Lebens, und welch immense Geschwindigkeiten erforderlich sind, um interplanetarische Entfernungen in einer vertretbaren Zeit zurückzulegen. Aber am Äquator bewegte sich die Sphäre der Morlocks bereits mit einer sehr hohen Geschwindigkeit. Daher brauchten die Morlocks auch keine Raketen oder Kanonen, um auf interplanetarische Geschwindigkeiten zu beschleunigen. Sie ließen einfach ihre Kapseln aus der Sphäre fallen und die Rotation den Rest erledigen.

So waren sie auch mit uns verfahren. Bei solchen Geschwindigkeiten, sagte mir der Morlock, würden wir in knapp siebenundvierzig Stunden im Zielgebiet eintreffen.

Ich schaute mich in der Kapsel um, aber ich konnte weder Anzeichen von Raketen noch sonstiger Antriebskräfte erkennen. Ich schwebte in dieser kleinen Kabine und fühlte mich groß und plump: mein Bart driftete vor meinen Augen in einer grauen Wolke, und meine Jacke zerrte ständig an den Schulterblättern und wollte sich mir über den Kopf ziehen. »Ich verstehe die Prinzipien des Starts«, sagte ich zu Nebogipfel. »Aber wie wird diese Kapsel gesteuert?«

Er zögerte. »Es gibt keine Steuerung. Hast du das, was ich dir erklärt habe, denn nicht verstanden? Die Kapsel benötigt keinen eigenen Antrieb, denn die Geschwindigkeit, die sie durch die Sphäre erfährt…«

»Ja«, meinte ich ungeduldig, »das weiß ich. Aber was, wenn wir feststellen sollten, daß wir wegen eines Startfehlers vom Kurs abgekommen sind — daß wir die Erde verfehlen werden?«

Ich erkannte nämlich, daß schon die kleinste Abweichung an der Sphäre, bloß der Bruchteil einer Bogenminute, uns — aufgrund der gigantischen interplanetarischen Distanzen — um mehrere Millionen Meilen an der Erde vorbeischicken konnte — und dann würden wir vermutlich bis in alle Ewigkeit in der Leere zwischen den Sternen dahintreiben und dieses Thema diskutieren, bis uns die Luft ausging! Er wirkte verwirrt. »Es ist kein Fehler aufgetreten.« »Aber trotzdem«, hakte ich nach, »wenn einer aufgetreten wäre, vielleicht wegen eines mechanischen Defektes — wie sollten wir dann, in dieser Kapsel, unsere Flugbahn korrigieren?«

Er ließ sich mit der Antwort Zeit. »Es treten keine Defekte auf«, erwiderte er. »Und deswegen benötigt diese Kapsel keinen Hilfsantrieb, wie du glaubst.«

Zunächst konnte ich das nicht ganz glauben, und ich mußte es Nebogipfel mehrmals wiederholen lassen, bevor ich seine Aussage endlich akzeptierte. Aber irgendwie hatte ich doch recht! — nach dem Start bewegte sich die Kabine genauso steuerlos wie ein geworfener Stein: meine Kapsel fiel so hilflos durch das All wie Vernes lunare Kanonenkugel.

Als ich die Unausgegorenheit dieses Arrangements beanstandete, bekam ich den Eindruck, daß der Morlock sich zu echauffieren begann — als ob ich mit einem vorgeblich liberalen Vikar einen moralisch heiklen Aspekt diskutieren würde —, und ich gab es auf.

Die Kapsel rotierte langsam und bewirkte, daß die entfernten Sterne und die immense Wandung der Sphäre um uns herumwirbelten. Ich glaube, daß ich mir ohne diese Rotation möglicherweise hätte einreden können, mich in sicherer Ruhe zu befinden, vielleicht in einer Wüstennacht; aber das Taumeln ließ mich unmöglich vergessen, daß ich mich in einer isolierten, fragilen Kiste befand, die ohne Antrieb und Halt vor sich hinstürzte. Die ersten paar Stunden in dieser Kapsel verbrachte ich in einer Angststarre! Ich konnte mich weder an die Transparenz der Wände um uns herum gewöhnen noch an die Vorstellung, daß wir jetzt, nach unserem Start, keine Möglichkeit hatten, den Flug zu steuern. Die Reise hatte Elemente eines Alptraums — ein Sturz durch endlose Dunkelheit, ohne eine Handhabe, Rettungsmaßnahmen zu ergreifen. Und hier, in einer Nußschale, trat die fundamentale Diskrepanz in der Mentalität von Morlocks und Menschen zutage. Denn welcher Mensch hätte sein Leben einer ballistischen Reise über interplanetarische Distanzen anvertraut, ohne die Möglichkeit einer Kurskorrektur?

Aber so waren die Morlocks eben: Nach einer halben Million Jahren steter technologischer Weiterentwicklung verließen sich die Morlocks blind auf ihre Maschinen, denn die Maschinen ließen sie nie im Stich.

Ich hingegen war kein Morlock! Allmählich legte sich jedoch meine Angst. Abgesehen vom langsamen Taumeln der Kapsel, das meine Reise zur Erde ständig begleitete, verflossen die Stunden in einer Stille und Ruhe, die nur durch das an ein Flüstern erinnernde Atmen meines Morlock-Kameraden unterbrochen wurde. Es war angenehm warm im Boot, so daß es mir körperlich rundum gut ging. Die Wandung bestand aus diesem aus dem Boden gezogenen Zeug, und auf eine Berührung von Nebogipfel hin wurde ich mit Essen, Trinken und anderen Dingen versorgt, obwohl die Auswahl begrenzter war als in der Sphäre, die einen größeren Speicher hatte.

Mit absoluter Leichtigkeit flogen wir durch die große Kathedrale des interplanetarischen Raums. Ich begann mich allmählich richtig körperlos zu fühlen, und eine Stimmung völliger Losgelöstheit und Unabhängigkeit ergriff von mir Besitz. Es war nicht mehr eine Reise oder sogar — wie in diesen ersten Stunden — ein Alptraum; vielmehr bekam der Flug die Qualität eines Traumes.

Meine Erlebnisse in der Ersten Zukunft

Am zweiten Tag unseres Fluges befragte mich Nebogipfel erneut über meine erste Reise in die Zukunft.

»Es ist dir gelungen, deine Maschine von den Morlocks zurückzuholen«, stellte er fest. »Und dann bist du weitergereist, weiter in die Zukunft jener Historie…«

»Lange Zeit hatte ich mich nur auf der Maschine gehalten«, erinnerte ich mich, »genauso wie ich mich jetzt an diesen Stangen festhalte, ohne zu wissen, wohin die Reise ging. Und endlich konnte ich mich überwinden, auf meine Chronometer zu blicken, und ich sah, daß die Zeiger mit enormer Geschwindigkeit weiterrasten, weiter in die Zukunft.

Du mußt nämlich bedenken«, sagte ich zu ihm, »daß in dieser anderen Historie die Erdachse und ihre Rotation nicht korrigiert worden waren. Tag und Nacht flatterten wie Schwingen über der Erde, und der Pfad der Sonne verlief im Wechsel der Jahreszeiten zwischen seinen Wendepunkten. Aber allmählich bemerkte ich doch eine Veränderung: daß, trotz meiner gleichbleibenden Geschwindigkeit durch die Zeit, das Flackern von Tag und Nacht wiederkehrte und noch akzentuierter wurde.«

»Die Rotation der Erde verlangsamte sich«, kommentierte Nebogipfel.

»Ja. Schließlich schienen sich die Tage über Jahrhunderte zu erstrecken. Die Wanderung der Sonne über den Himmel kam ganz zum Erliegen. Der Tag hatte sich in eine Kuppel verwandelt — und riesig und zornig glühte sie in ihrer verminderten Hitze. Zuweilen verstärkte sich ihre Leuchtkraft wieder oder nahm ab — Zuckungen, die eine Reminiszenz an ihre frühere Helligkeit darstellten. Aber jedesmal fiel sie wieder in ihr düsteres Rot zurück.

Ich begann meinen Sturz durch die Zeit abzubremsen…«

Ich hielt auf einer Landschaft an, wie ich sie immer auf dem Mars vermutet hatte. Die riesige, reglose Sonne hing am Horizont; und an der anderen Hälfte des Himmels leuchteten noch die Sterne wie Knochen. Die über das Land verstreuten Felsen waren von einem virulenten Rot und wiesen auf ihrer Westseite intensive grüne Flecken auf, wie Flechtenbesatz.

Meine Maschine stand auf einem Strand, der zu einem Meer abfiel, das so unbewegt war, als ob man Öl auf die Wellen gegossen hätte. Die Luft war kalt und ziemlich dünn; ich glaubte auf dem Gipfel eines hohen Berges zu stehen. Wenig war von der vertrauten Topographie des Themsetales übriggeblieben; ich stellte mir vor, wie die Erosion der Eiszeiten und das langsame Ansteigen der Meere alle Spuren der mir bekannten Landschaft verwischt hatten — und jede Spur der Menschheit…

Nebogipfel und ich schwebten dort in der Enge unserer glitzernden Kiste, und ich erzählte ihm flüsternd die Geschichte meiner Ersten Zukunft; in dieser Ruhe durchstöberte ich meine Gedanken nach Details, die, wie ich glaube, ich meinen Freunden in Richmond noch nicht mitgeteilt hatte.

»Ich sah ein känguruhähnliches Wesen«, erinnerte ich mich. »Es war vielleicht drei Fuß groß… plump, mit schweren Gliedern und runden Schultern. Es hüpfte über den Strand — es wirkte irgendwie verloren auf mich — sein graues Fell war struppig, und es bearbeitete mit den Pfoten zaghaft die Felsen, wobei es offenbar versuchte, etwas von den Flechten abzukratzen, um sich ein karges Mahl zu verschaffen. Ich hielt es für ein ausgesprochen degeneriertes Tier. Dann stellte ich zu meiner Überraschung fest, daß das Geschöpf an allen Füßen fünf verschwommene Zehen hatte — seine Hände waren so menschlich wie die eines Frosches… Und es hatte einen rundlichen Kopf, mit vorspringender Stirn und nach vorne gerichteten Augen. Irgendwie hatte ich kein gutes Gefühl bei diesem Wesen.

Aber dann berührte etwas mein Ohr — wie Haare, die mich streiften — und ich drehte mich im Sattel um.

Direkt hinter der Maschine war eine Kreatur. Sie wirkte auf mich wie ein Zehnfüßler, aber was für einer! — zwischen drei und viereinhalb Fuß breit, vielleicht zehn Yards lang, mit Segmenten wie große Autoreifen, und das Chitin seines Panzers — er war rötlich — knisterte bei jeder Bewegung. Fühler, jeder ein Fuß lang, wedelten feucht in der Luft herum; und einer von diesen Fühlern hatte mich berührt. Nun hob dieses Vieh seinen stumpfen Kopf, und sein Maul klaffte weit auf, wobei feuchte Mandibeln vor ihm herumschlackerten; die Entität hatte sechseckig konfigurierte Augen, die herumschwenkten und mich fixierten.

Ich berührte den Hebel und brachte einen Monat zwischen mich und dieses Monster…

Und landete wieder auf demselben öden Strand, aber jetzt erblickte ich gleich ein ganzes Rudel dieser Centipeden, die mit schabenden Panzern aufeinander herumkrabbelten. Sie hatten eine Vielzahl Füße, mit deren Hilfe sie sich bewegten, und sie krümmten ihre Körper beim Vormarsch wie Raupen. Und in der Mitte dieses Schwarms sah ich eine Erhöhung — niedrig und blutig — und ich mußte dabei an das arme Känguruh-Wesen denken, das ich zuvor beobachtet hatte.

Ich konnte diese Schlächterszene nicht mehr ertragen! Ich betätigte die Hebel und reiste eine Million Jahre weiter.

Dieser gräßliche Strand existierte immer noch. Aber jetzt, als ich mich landeinwärts wandte, sah ich weit oben auf dem öden Hang vor mir ein Ding wie einen riesigen weißen Schmetterling, das schimmernd über den Himmel flatterte. Sein Torso hatte vielleicht die Größe einer kleinen Frau gehabt, und es war mit großen blassen, transparenten Fühlern besetzt. Das Wesen gab dissonante Laute von sich — merkwürdig menschlich — und eine große Verzweiflung legte sich auf meine Seele.

Dann registrierte ich in meiner Nähe eine Bewegung in der Landschaft: ein Ding wie ein marsroter Felsbrocken, der sich durch den Sand auf mich zuschob. Es war eine Art Krabbe: ein tischgroßes Teil, dessen zahlreiche Beine über den Strand staksten und mit Augen — rötlichgrau, aber mit menschlicher Form — auf Stielen, die in meine Richtung wedelten. Das Maul der Krabbe war so komplex wie eine Werkzeugmaschine, und das Ding schien sich die nicht vorhandenen Lippen zu lecken, während es sich vorwärtsbewegte; seine metallische Hülle war mit grünen Flecken der geduldigen Flechte besetzt.

Als der Schmetterling, häßlich und fragil, über mich hinwegflatterte, griff das Krabbenwesen mit seinen großen Scheren nach ihm. Es verfehlte ihn zwar — aber ich glaubte trotzdem, einige Fasern weißlichen Fleisches in diesen großen Klauen gesehen zu haben.

Ich habe so intensiv über diese Szenerie nachgedacht«, sagte ich zu Nebogipfel, »daß sich jetzt eine dumpfe Angst in meinem Geist eingenistet hat. Ich habe nämlich den Eindruck, daß dieses Arrangement von kräftigem Räuber und zerbrechlicher Beute eine Konsequenz des Verhältnisses zwischen Eloi und Morlocks sein könnte, das ich schon früher beobachtet hatte.«

»Aber ihre Gestalten waren doch so unterschiedlich: die Centipeden, und dann diese Krabben…«

»Über solch riesige Zeitspannen«, insistierte ich, »ist der Evolutionsdruck so massiv, daß die Erscheinungsformen der Spezies nachgerade plastisch sind — das behauptet jedenfalls Darwin — und die zoologische Retrogression ist eine dynamische Kraft. Bedenke, daß du und ich — und die Eloi und Morlocks —, wenn man es in einem ausreichend großen Maßstab betrachtet, alle Verwandte innerhalb der gleichen urzeitlichen Schlammfisch-Familie sind!«

Vielleicht, so spekulierte ich, hatten sich die Eloi in ihrem verzweifelten Versuch, den Morlocks zu entkommen, in die Lüfte geschwungen; und diese Räuber waren aus ihren Höhlen hervorgekrochen, hatten schließlich ihr ganzes technologisches Know-how verloren und krabbelten jetzt an diesen kalten Stränden entlang und warteten darauf, daß ein Schmetterlings-Eloi schlappmachte und vom Himmel fiel. So war der antike Konflikt schließlich auf die Ebene des reinen Instinkts reduziert worden.

»Ich setzte die Reise fort«, erzählte ich Nebogipfel, »in Tausendjahresschritten in die Zukunft. Noch immer kroch dieser Pulk von Schalentieren zwischen den Flechten und Felsen umher. Das Volumen der Sonne vergrößerte sich bei abnehmender Lichtstärke, und das Leben auf der Erde verlagerte sich in die Luft.

Mein letzter Halt war dreißig Millionen Jahre in der Zukunft, wo die Sonne zu einer Kuppel geworden war, die den Himmel in einem weiten Bogen ausblendete. Es fiel Schnee — ein harter, gnadenloser Regen. Ich fröstelte und mußte die Hände in die Jackenärmel schieben. Ich konnte Schnee auf den bleich im Sternenlicht liegenden Hügelkämmen erkennen, und große Eisberge drifteten im Meer. Es war die finale Eiszeit, das Eis, das am Ende die Erde bedecken wird.

Die Krabben waren verschwunden, aber das kräftige Grün der Flechten hielt sich noch. Ich glaubte, auf einem Riff im Meer ein schwarzes Objekt gesehen zu haben, in dem auch noch Leben zu stecken schien.

Eine Sonnenfinsternis — die dadurch verursacht wurde, daß sich einer der inneren Planeten auf seinem Umlauf vor die Sonne schob — warf seinen Schatten auf die Erde. Nebogipfel, das wäre etwas für dich gewesen! — aber ich wurde von einem großen Schrecken gepackt und bestieg wieder die Maschine, um mich davonzumachen. Dann, als die Sichel der roten Sonne wieder am Himmel erschien, sah ich, daß sich das Ding auf dem Riff tatsächlich bewegte. Es war eine Fleischkugel — wie ein körperloser Kopf, mit einem Durchmesser von drei Fuß oder mehr und mit zwei Tentakelbüscheln, die wie Finger über das Riff baumelten. Der Mund des Wesens war schnabelförmig, und es hatte keine Nase. Seine Augen — deren zwei, groß und dunkel — wirkten humanoid…«

Und selbst als ich dem geduldigen Nebogipfel das Ding beschrieb, realisierte ich die Ähnlichkeit mit dieser Vision der Zukunft und meinem merkwürdigen Begleiter auf meiner letzten Reise durch die Zeit — dem schwebenden, grün fluoreszierenden Ding, das ich Beobachter genannt hatte. Konnte es sein, fragte ich mich, daß mein Beobachter nicht mehr als eine Heimsuchung war, vom Ende der Zeit?

»Und so«, sagte ich schließlich, »kletterte ich wieder auf meine Maschine — ich verspürte großes Unbehagen dabei, dort zu liegen, hilflos in dieser grimmigen Kälte — und kehrte in mein eigenes Jahrhundert zurück.«

Im Flüsterton sprach ich weiter, wobei die großen Augen von Nebogipfel auf mich fixiert waren, und ich erkannte in ihnen ein rudimentäres Flackern dieser Neugier und des Wunders, das die Menschheit charakterisiert.


Diese paar Tage im Weltraum schienen kaum eine Bedeutung für mein restliches Leben gehabt zu haben; manchmal kam mir die Periode, die ich in dieser Kabine schwebend verbrachte, kürzer als ein Herzschlag im großen Fluß meines Lebens vor, und dann wiederum hatte es den Anschein, als ob ich eine Ewigkeit in der Kapsel verbracht hätte, während ich zwischen den Welten driftete. Es war, als ob ich mich von meinem Leben gelöst hätte und in der Lage wäre, es gleichsam als Außenstehender zu betrachten, als ob es ein noch nicht vollendeter Roman wäre. Hier war ich als junger Mann, der mit seinen Versuchsanordnungen und Vorrichtungen und Plattneritstapeln hantierte, die Gelegenheit verschmähte, unter Leute zu kommen, das Leben, die Liebe, die Politik und Künste kennenzulernen — ich weigerte mich sogar zu schlafen! — auf der Suche nach der absoluten Erkenntnis. Ich hatte sogar den Eindruck, daß ich mich nach der Beendigung dieser interplanetarischen Reise sah, mit meinem Plan, die Morlocks zu überlisten und in meine eigene Zeit zu entfliehen. Sie müssen verstehen, daß ich nach wie vor fest entschlossen war, diesen Plan durchzuführen — aber es schien mir, als ob ich die Aktionen einer anderen Figur beobachtete, die unbedeutender war als ich.

Schließlich bekam ich den Eindruck, daß ich mich nicht nur meiner Ursprungswelt entfremdete — sondern allen Welten und sogar dem Raum und der Zeit.

Was sollte in meiner eigenen Zukunft aus mir werden, wenn nicht wieder der vom Wind der Zeit getriebene Hauch eines Bewußtseins?

Erst als die Erde merklich näherrückte — ein dunklerer Schatten im All, wobei das Licht der Sterne von den Weltmeeren reflektiert wurde — wandte ich mich wieder den trivialen Belangen der Menschheit zu. Erneut liefen die Details meiner Pläne — und meine Hoffnungen und Ängste in bezug auf die Zukunft — wie ein Uhrwerk in meinem Gehirn ab, und ich tauchte wieder in das pralle Leben ein.

Ich habe dieses kurze interplanetarische Zwischenspiel nie vergessen, und manchmal — im Zustand zwischen Wachen und Schlafen — stelle ich mir vor, daß ich wieder zwischen der Sphäre und der Erde treibe, nur in der Gesellschaft eines geduldigen Morlocks.


Nebogipfel ließ meine Vision der Ersten Zukunft auf sich wirken. »Du sagst, du wärst dreißig Millionen Jahre weit gereist.«

»Soviel oder noch mehr«, bestätigte ich. »Vielleicht könnte ich die Chronologie noch präziser bestimmen, wenn…«

Er wischte das beiseite. »Etwas stimmt hier nicht. Deine Beschreibung der Evolution der Sonne ist zwar plausibel, aber sie ist eine schleichende Zerstörung, die — nach Angaben unserer Wissenschaftler — in einem Zeitraum von Tausenden von Millionen Jahren abläuft und nicht in nur ein paar Millionen.«

Ich fühlte mich in die Verteidigung gedrängt. »Ich gebe nur das wieder, was ich gesehen habe, authentisch und akkurat.«

»Daran zweifle ich auch nicht«, konzedierte Nebogipfel. »Aber die einzige Schlußfolgerung ist, daß in dieser anderen Historie — wie auch in meiner eigenen — die Evolution der Sonne nicht ohne fremde Intervention vonstatten ging.«

»Du meinst…«

»Ich meine, daß ein stümperhafter Versuch unternommen worden sein muß, die Intensität der Sonne bzw. ihre Lebensdauer zu manipulieren, um den Stern auszuschlachten.«

Nebogipfels Hypothese war die, daß meine Eloi und Morlocks vielleicht nicht die ganze Geschichte der Menschheit geprägt hatten, in dieser traurigen, verlorenen Historie. Vielleicht — so spekulierte Nebogipfel — hatte eine Rasse von Ingenieuren die Erde verlassen und sich an der Modifikation der Sonne versucht, wie es auch Nebogipfels Vorfahren getan hatten.

»Aber der Versuch mißlang«, stellte ich konsterniert fest.

»Ja. Die Ingenieure kehrten nie mehr zur Erde zurück — die dann der langsamen Tragödie der Eloi und Morlocks anheimfiel. Und die Sonne verblieb in einem Zustand der Instabilität, der ihre eigentlich lange und stabile Brenndauer drastisch verkürzte.«

Ich war geschockt und konnte dieses Thema einfach nicht mehr weiterverfolgen. Ich klammerte mich an eine Stange und versenkte mich in meine Gedanken.

Ich dachte wieder an diesen desolaten Strand, an diese widerwärtigen, degenerierten Lebensformen ohne einen Hauch von Intelligenz, die den Abgesang auf die Menschheit darstellten. Diese Vision war schon übel genug gewesen, als ich sie für den finalen Sieg des unausweichlichen Drucks der Evolution und Retrogression über den menschlichen Traum von der Vernunft gehalten hatte — aber nun erkannte ich, daß es die Menschheit selbst gewesen war, die in ihrem überbordenden Ehrgeiz das Gleichgewicht der Kräfte gestört und damit ihren eigenen Untergang beschleunigt hatte!


Unser Landeanflug auf die Erde war ausgefeilt. Wir mußten einen Geschwindigkeitsüberschuß von einigen Millionen Stundenkilometern aufzehren, um uns der Umlaufgeschwindigkeit der Erde um die Sonne anzugleichen.

Wir flogen mehrmals in enger werdenden Kreisen um den Planeten herum; Nebogipfel sagte mir, daß die Kapsel mit dem Gravitations- und Magnetfeld des Planeten in Wechselwirkung trat — eine Koppelung, die durch bestimmte Materialien der Hülle und die Einwirkung von Satelliten zustandekam: künstliche Monde, welche die Erde umkreisten und ihre natürlichen Effekte manipulierte. Ich verstand jedenfalls soviel, daß unsere Geschwindigkeit gegen die der Erde ausgetauscht wurde — die danach mit unmerklich erhöhter Geschwindigkeit die Sonne umkreisen würde.

Ich klebte an der Wand der Kapsel und beobachtete, wie sich die Landschaften der Erde entfalteten. Hier und da konnte ich das Glühen der größeren Wärmequellen der Morlocks erkennen. Ich registrierte einige große, schlanke Türme, die sich noch über die Atmosphäre zu erheben schienen. Nebogipfel erklärte mir, daß die Türme für die Kapseln gebraucht wurden, die von der Erde zur Sphäre flogen. Die Türme dienten als Aufzüge bis über die Atmosphäre, und eine ähnliche Serie von Kopplungsmanövern wie die unsrige — die jedoch umgekehrt ablief, wenn Sie wissen, was ich meine — würde jede Kapsel in den Weltraum katapultieren.

Ich sah Lichtflecken, welche die Türme hochkletterten: es waren interplanetarische Kapseln, die Morlocks zur Sphäre transportierten. Mir wurde klar, daß es ein solcher Turm gewesen sein mußte, der mich — in bewußtlosem Zustand — in den Raum befördert und zur Sphäre geschafft hatte.

Die beim Start von den Kapseln erlangte Geschwindigkeit entsprach natürlich nicht derjenigen, die durch die Rotation der Sphäre vermittelt wurde, und deswegen dauerte die Reise dorthin länger als in Gegenrichtung. Doch beim Erreichen der Sphäre würde die Kapsel von Magnetfeldern eingefangen und exakt auf die Rotationsgeschwindigkeit der Sphäre beschleunigt werden, was ein problemloses Anlegemanöver gewährleistete.

Schließlich tauchten wir in die Erdatmosphäre ein. Die Reibungshitze brachte die Hülle zum Glühen, und die Kapsel erzitterte — es war die erste Bewegung, die ich seit Tagen wahrnahm — aber Nebogipfel hatte mich vorgewarnt, und so hatte ich mich rechtzeitig an die Haltestangen geklammert.

Mit diesem meteorischen Feuerball verloren wir auch den Rest unserer interplanetarischen Geschwindigkeit. Mit etlichem Unbehagen betrachtete ich während unseres Falls die abgedunkelte Landschaft unter uns — ich glaubte, das breite, gewundene Band der Themse sehen zu können — und ich fragte mich, ob ich nach dieser ganzen Reise am Ende noch auf den harten Felsen der Erde zerschellen könnte!

Aber dann…

Meine Impressionen der letzten Phase unseres taumelnden Abstiegs sind nur verschwommen und unvollständig. Ich beschränke mich darauf, die Erinnerung an ein Fahrzeug wiederzugeben, das wie ein großer Vogel aus dem Himmel hereinkam und uns in einem Laderaum deponierte, der irgendwie den Eindruck eines Magens vermittelte. In der Dunkelheit verspürte ich einen heftigen Ruck, als sich dieses Gerät durch die Luft schob und seine Geschwindigkeit reduzierte; und dann verlief unsere Landung extrem sanft.

Als ich dann wieder die Sterne sehen konnte, gab es keine Spur mehr von dem Vogelschiff. Unsere Kapsel war auf dem ausgetrockneten, leblosen Boden von Richmond Hill gelandet, keine hundert Yards von der weißen Sphinx entfernt.

Richmond Hill

Nebogipfel ließ die Kapsel auffahren, und ich trat aus ihr hinaus und setzte mir die Brille auf die Nase. Plötzlich gewann die nächtliche Landschaft an Konturen und Details, und zum erstenmal war ich in der Lage, einige Einzelheiten dieser Welt des Jahres 657208 n. Chr. auszumachen.

Es war eine klare Nacht — die Sterne funkelten nur so am Himmel — und der dräuende Schemen, den die Sphäre darstellte, war gut zu erkennen. Ein rostiger Geruch und eine gewisse Feuchtigkeit, wie von Flechten und Moos, gingen von dem allgegenwärtigen Sand aus. Und überall lag der süßliche Gestank der Morlocks drückend in der Luft.

Ich war erleichtert, endlich dieser Tablette entkommen zu sein und festen Boden unter den Füßen zu haben. Ich erklomm den Hügel bis zum bronzebeschichteten Sockel der Sphinx, und da stand ich nun, auf halber Höhe von Richmond Hill, an dem Ort, der einst meine Heimat gewesen war. Etwas weiter oben am Hügel stand ein neues Bauwerk, eine kleine, flache Hütte. Ich sah keine Morlocks. Es war ein scharfer Kontrast zu den Eindrücken, die ich bei meinem letzten Aufenthalt hier gehabt hatte, als sie — während ich in der Dunkelheit umherstolperte — überall zu sein schienen.

Keinerlei Hinweise auf meine Zeitmaschine — nur tief in den Sand gefräste Spuren und die seltsamen kleinen Fußabdrücke der Morlocks. Hatten sie die Maschine etwa wieder in die Basis der Sphinx geschleppt? So wiederholte sich also die Geschichte! — dachte ich zumindest. Ich spürte, wie sich die Hände zu Fäusten ballten, so schnell hatte sich meine galaktische Stimmung verflüchtigt; und Panik wallte in mir auf. Ich beruhigte mich wieder. War ich denn ein Narr, daß ich erwartet hatte, die Zeitmaschine würde beim Verlassen der Kapsel auf mich warten? Ich durfte mich nicht auf Gewalt verlegen — nicht jetzt! — nicht, wo mein Fluchtplan kurz vor seiner Ausführung stand.

Nebogipfel schloß zu mir auf.

»Wir scheinen hier allein zu sein«, bemerkte ich.

»Die Kinder sind aus diesem Sektor weggebracht worden.«

Ich spürte, wie mich erneut Scham überkam. »Bin ich denn tatsächlich so gefährlich?… Sag mir, wo sich die Maschine befindet.«

Er hatte die Brille abgenommen, doch ich konnte den Ausdruck in diesen grauroten Augen nicht interpretieren. »Sie ist in Sicherheit. Sie ist an einen günstigeren Ort gebracht worden. Wenn du willst, kannst du sie inspizieren.«

Ich fühlte mich, als ob ich durch ein Stahlseil mit meiner Zeitmaschine verbunden wäre und zu ihr hingezogen würde! Ich wäre am liebsten zur Maschine gerannt, hätte mich in den Sattel geschwungen — fertig mit dieser Welt der Dunkelheit und den Morlocks, und ab in die Vergangenheit! — Aber ich mußte an mich halten. »Das ist nicht nötig«, bluffte ich und versuchte dabei unbeteiligt zu klingen.

Nebogipfel führte mich den Hügel hinauf, zu dem kleinen Gebäude, das mir schon früher aufgefallen war. Es war in dem üblichen fugenlosen, schlichten Morlock-Design erbaut und wirkte wie ein Puppenhaus, mit einer primitiv angeflanschten Tür und einem schrägen Dach. Im Innern befand sich eine Pritsche als Schlafgelegenheit, mit einer Decke, außerdem ein Stuhl und ein kleines Tablett mit Essen und Wasser — alles machte einen vertrauenerweckend soliden Eindruck. Mein Rucksack lag auf der Pritsche.

Ich wandte mich Nebogipfel zu. »Du hast an alles gedacht«, lobte ich ihn aufrichtig.

»Wir respektieren deine Rechte.« Er verließ meine Hütte. Als ich die Brille abnahm, verschwamm er zu einem Schatten.

Mit einiger Erleichterung schloß ich die Tür. Es war ein Genuß, für eine Weile allein zu sein. Ich schämte mich, daß ich so systematisch plante, ihn und sein Volk zu hintergehen! Aber mein Plan hatte mich bereits über eine Distanz von mehreren hundert Millionen Meilen geführt — bis auf einige hundert Yards an die Zeitmaschine heran — und ich konnte die Vorstellung des Scheiterns jetzt nicht mehr ertragen.

Wenn ich Nebogipfel verletzen mußte, um zu fliehen, dann würde ich es sicher tun!

Ich öffnete den Rucksack, fand eine Kerze und zündete sie an. Ein gemütliches gelbes Licht und ein Rauchwölkchen verwandelten diese inhumane kleine Kiste in ein Heim. Die Morlocks hatten meinen Schürhaken nicht wieder herausgegeben — was ich mir auch hätte denken können —, aber der Großteil der übrigen Ausrüstung war vorhanden. Sogar mein Klappmesser war noch da. Mit dieser Klinge und dem Morlock-Tablett als improvisiertem Spiegel schabte ich mir den lästigen Bartwuchs ab und rasierte mich so gründlich, wie es eben ging. Ich konnte sogar die Unterwäsche wechseln — ich hätte nie gedacht, daß mir das Gefühl wirklich sauberer Socken eine solche Wahrnehmung sinnlichen Genusses bescheren könnte! — und ich dachte zärtlich an Mrs. Watchets, die mir diese wertvollen Sachen eingepackt hatte.

Schließlich — und dies war das größte Vergnügen — holte ich meine Pfeife aus dem Rucksack, stopfte sie mit Tabak und zündete sie an der Kerzenflamme an.

In diesem Zustand, mit meinen wenigen Habseligkeiten umgeben und noch das Aroma meines besten Tabaks in der Nase, legte ich mich auf das kleine Bett, zog mir die Decke über und schlief ein.


Ich erwachte im Dunklen.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, ohne Tageslicht aufzuwachen — als ob man mitten in der Nacht aufgeweckt worden wäre — und solange ich mich in der Ewigen Nacht der Morlocks befunden hatte, war ich noch nie richtig ausgeschlafen gewesen. Es hatte den Anschein, als ob mein Körper nicht imstande sei, die Tageszeit zu bestimmen.

Ich hatte Nebogipfel gesagt, daß ich die Zeitmaschine in Augenschein nehmen wollte, und ich verspürte eine große Nervosität, als ich meine Morgentoilette erledigte und ein kleines Frühstück einnahm. Mein Plan wies eigentlich keine strategische Komponente auf: es ging mir lediglich darum, bei der erstbesten Gelegenheit von der Maschine Besitz zu ergreifen! Mein Spiel basierte auf der Unterstellung, daß die Morlocks nach Jahrtausenden mit hochentwickelten Maschinen nichts mehr mit einem so primitiv konstruierten Gerät anzufangen wußten, wie diese Zeitmaschine eines war. Ich hielt es für unwahrscheinlich, daß sie erwarteten, mit einem so simplen Handgriff wie dem Einstecken zweier Hebel die Funktionsfähigkeit der Maschine wieder herzustellen — oder zumindest betete ich, daß dem so war!

Ich verließ die Hütte. Nach all meinen Abenteuern steckten die Hebel der Zeitmaschine noch sicher in der Innentasche meiner Jacke.

Nebogipfel kam auf mich zu; seine schmalen Füße hinterließen verwaschene Abdrücke im Sand, und seine beiden Hände waren leer. Ich fragte mich, wie lange er wohl schon in der Nähe gewesen war und auf mein Erscheinen gewartet hatte.

Wir marschierten zusammen an der Flanke des Hügels entlang und hielten uns südlich in Richtung Richmond Park. Wir hatten uns ohne größere Vorreden auf den Weg gemacht, denn die Morlocks halten nicht viel von unnötiger Konversation.

Ich hatte bereits erwähnt, daß mein Haus in der Petersham Road gestanden hatte, auf dem Abschnitt unterhalb von Hill Rise. Somit hatte es sich auf halber Höhe von Richmond Hill befunden, mit einer schönen Aussicht nach Westen — oder vielmehr hätte es die gehabt, wenn da nicht einige Bäume im Weg gewesen wären — und ich hatte einen Ausschnitt der Wiesen von Petersham jenseits des Flusses sehen können. Nun, im Jahr 657208 n. Chr. war das ganze störende Zeugs weggefegt worden, und ich konnte an der Flanke eines tiefen Tales hinabschauen, wo die Themse in ihrem neuen Bett floß, glitzernd im Sternenlicht. Hier und da konnte ich die glühenden Schlünde der Wärmequellen der Morlocks ausmachen, die sich punktuell über das abgedunkelte Land verteilten. Die Hügelkette bestand jetzt zum überwiegenden Teil aus Sand oder war mit Moos überzogen. Außerdem konnte ich noch Flecken sehen, die wie das weiche Glas aussahen, mit dem die Sphäre ausgekleidet war, und die im verstärkten Licht der Sterne funkelten.

Der Fluß selbst hatte sich etwas eine Meile von seinem Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts entfernt ein neues Bett gegraben; es hatte den Anschein, als ob der Bogen zwischen Hampton und Kew begradigt worden wäre, so daß Twickenham und Teddington jetzt an seinem östlichen Ufer lagen, und es schien mir, daß das Tal deutlich tiefer war als zu meiner Zeit — oder vielleicht war Richmond Hill auch aufgrund irgendeines geologischen Prozesses gehoben worden. Ich erinnerte mich an eine ähnliche Wanderung der Themse während meiner ersten Zeitreise. Also gewann ich den Eindruck, daß die historischen Diskrepanzen bloß vergängliches Menschenwerk waren; unter ihrer Oberfläche liefen unerbittlich und geduldig die langsamen Prozesse der Tektonik und Erosion ab.

Ich gönnte mir einen Moment, am Hügel zum Park hochzuschauen, denn ich fragte mich, wie lange dieses alte Waldland und die Rudel von Rot- und Damwild dem Wind der Veränderung widerstanden hatten. Jetzt konnte der Park nicht mehr als eine dunkle Wüste sein, in der höchstens noch Kakteen und ein paar Olivenbäume gediehen. Ich spürte, wie mir das Herz schwer wurde. Vielleicht waren diese Morlocks weise und geduldig — vielleicht verdiente ihr stetes Streben nach Wissen in der Sphäre Anerkennung — aber ihre Behandlung der alten Erde war eine Schande!

Wir kamen in die Nähe des Richmond Gate des Parks, das sich dicht am Standort des Star and Garter befand, vielleicht eine halbe Meile von der Position meines Hauses entfernt. Ein ebenes Stück Land war mit einer rechteckigen Plattform aus weichem Glas überzogen worden; die Plattform schimmerte im fleckigen Sternenlicht. Sie schien aus diesem wundersamen, glasigen Material gefertigt zu sein, aus dem auch der Boden der Sphäre bestand; und aus ihrer Oberfläche waren eine Vielzahl der Sockel und Trennwände gezogen worden, die ich mittlerweile als charakteristische Werkzeuge der Morlocks identifizierte. Der Platz war jetzt unbelebt; außer Nebogipfel und mir war niemand hier. Und dort — im Zentrum der Plattform — erblickte ich ein niedriges und häßliches Gewirr aus Messing und Nickel, mit Elfenbein, das im Licht der Sterne wie ausgebleichte Knochen schimmerte, sowie einem Sattel in der Mitte des Gebildes: es war meine Zeitmaschine, offensichtlich intakt und bereit, mich nach Hause zu bringen!

Rotationen und Täuschungen

Ich spürte, wie mein Herz pulsierte und hatte Schwierigkeiten, mit Nebogipfel Schritt zu halten — aber ich blieb ihm auf den Fersen. Ich steckte die Hände in die Jackentaschen und ergriff die zwei dort verstauten Steuerungshebel. Ich hatte mich der Maschine bereits so weit genähert, daß ich die Stümpfe sah, in welche die Hebel gesteckt werden mußten, um das Ding zum Leben zu erwecken — und ich wollte die Maschine so schnell wie möglich starten und von diesem Ort verschwinden!

»Wie du siehst«, meinte Nebogipfel, »ist die Maschine unbeschädigt — wir haben sie zwar bewegt, aber nicht versucht, ihr Innenleben auszuforschen…«

Ich versuchte, seine Aufmerksamkeit irgendwie abzulenken. »Sag mir eines: Jetzt, da ihr meine Maschine studiert und meinen Theorien zu diesem Thema gelauscht habt, welchen Eindruck habt ihr bekommen?«

»Deine Maschine ist eine außergewöhnliche Leistung — ihrer Zeit weit voraus…«

Ich habe noch nie viel Sinn für Komplimente gehabt. »Aber es ist das Plattnerit, das mich zu ihrer Konstruktion befähigt hatte«, sagte ich.

»Ja. Ich würde dieses ›Plattnerit‹ auch gerne näher untersuchen.« Er setzte seine Brille auf und musterte die schimmernden Quarzstangen der Maschine. »Wir haben uns — ein wenig — über multiple Historien unterhalten: über die mögliche Existenz mehrerer Versionen der Welt. Du selbst hast bereits zwei gesehen…«

»Weenas Welt und die Variante mit der Sphäre.«

»Du mußt dir diese Versionen der Geschichte als parallele Korridore vorstellen, die sich vor dir erstrecken. Deine Maschine ermöglicht es dir, dich auf einem solchen Korridor vor- und zurückzubewegen. Die Korridore existieren unabhängig voneinander: ein Mensch, der von einem beliebigen Standort aus einen Korridor entlangblickt, wird eine vollständige und kausal abgeschlossene Historie sehen — er kann weder von einem anderen Korridor etwas wissen noch können die Korridore sich gegenseitig beeinflussen.

Doch in manchen Korridoren können unterschiedliche Bedingungen herrschen. In einigen können sogar die Gesetze der Physik voneinander abweichen…«

»Weiter!«

»Du hast gesagt, daß das Funktionieren deiner Maschine auf einer Verzerrung von Raum und Zeit beruht«, resümierte er. »Eine Reise durch die Zeit wird in eine Reise durch den Raum umgewandelt. Gut, ich stimme dem zu: genau das ist der Effekt des Plattnerits. Aber wie kommt er zustande?«

»Stellen wir uns nun«, fuhr er fort, »ein Universum vor — eine andere Historie — in der diese Raum-Zeit-Verzerrung massiv ausgeprägt ist.«

Im folgenden beschrieb er eine Version des Universums, die fast jenseits meiner Vorstellungskraft lag: in dem Rotation in die Struktur des Universums verwoben war.

»Rotation durchdringt jeden Punkt von Raum und Zeit. Ein von jedem beliebigen Punkt nach außen geworfener Stein würde eine spiralförmige Flugbahn beschreiben: seine Massenträgheit würde wie ein Kompaß wirken, der um den Startpunkt schwingt. Manche Wissenschaftler vertreten sogar die Annahme, daß auch unser eigenes Universum einer solchen Rotation unterworfen wäre, aber nur mit einer vernachlässigbar geringen Geschwindigkeit: hundert Milliarden Jahre für eine einzige Drehung…

Dieses Theorem eines rotierenden Universums wurde einige Jahrzehnte nach deinem Abflug zum erstenmal vorgestellt — von eben jenem Kurt Gödel.«

»Gödel?« Es dauerte einen Augenblick, bis ich den Namen zuordnen konnte. »Der Mann, der die permanente Unvollkommenheit der Mathematik beweisen wird?«

»Genau dieser…«

Wir gingen um die Maschine herum, und ich hielt die Hebel in den klammen Händen. Ich hatte vor, mich an exakt dem günstigsten Punkt zum Erreichen der Maschine zu begeben. »Sag mir, wie das die Funktionsweise meiner Maschine erklärt.«

»Es hat mit Achsentorsion zu tun. In einem rotierenden Universum ist eine Reise durch die Zeit möglich, ohne jedoch den Beginn der Vergangenheit oder das Ende der Zukunft zu erreichen. In unserem Universum würde diese Reise so langsam verlaufen, daß ein solcher Pfad eine Länge von hundert Milliarden Lichtjahren hätte und man annähernd eine Billion Jahre zu seiner Überwindung brauchte!«

»Also von geringem praktischen Nutzen.«

»Aber jetzt stell dir ein Universum mit einer größeren Dichte als das unsrige vor: ein Universum, das überall die Dichte eines Atomkerns hätte. Dort würde eine Rotation in Sekundenbruchteilen erfolgen.«

»Aber wir befinden uns nicht in einem derartigen Universum.« Ich fuchtelte mit der Hand in der Luft herum. »Das steht mal fest.«

»Vielleicht doch! — jedenfalls für den Bruchteil einer Sekunde, dank deiner Maschine — oder zumindest aufgrund ihrer Plattnerit-Komponente.

Meine Hypothese sieht so aus, daß deine Maschine wegen gewisser Eigenschaften des Plattnerits zwischen dem Standarduniversum und jenem ultradichten Universum hin- und herpendelt und bei jedem Transfer die Achsenverzerrung dieser Realität ausnutzt, um sich entlang einer Abfolge von Schleifen in die Vergangenheit oder Zukunft zu bewegen! Du reist also spiralförmig durch die Zeit…«

Ich ließ mir diese Ausführungen durch den Kopf gehen. Sie waren außergewöhnlich — klarer Fall! — aber dennoch schienen sie mir bloß eine phantasievolle Weiterführung meiner eigenen Überlegungen hinsichtlich der Verquickung von Raum und Zeit und der Verschiebung ihrer Dimensionsachsen zu sein. Und außerdem waren auch meine subjektiven Empfindungen bei der Zeitreise mit einem Gefühl der Verzerrung verknüpft — von Rotation.

»Diese Ideen sind überzeugend — aber ich glaube, daß sie noch weiterer Untersuchungen bedürfen«, sagte ich zu Nebogipfel.

Er schaute zu mir hoch. »Deine geistige Flexibilität ist für einen Menschen deines Jahrhunderts wirklich beeindruckend.«

Ich hörte ihn kaum. Jetzt war ich nahe genug. Nebogipfel berührte mit einem vorsichtigen Finger das Geländer der Maschine. Das schimmernde Gerät wirkte kleiner als es war, und ich spürte eine Brise, welche die feinen Härchen auf Nebogipfels Arm aufrichtete. Er riß die Hand zurück. Ich starrte auf die Stümpfe und spielte in Gedanken den einfachen Vorgang durch, die Hebel aus der Tasche zu holen und sie in ihre Aufnahmen zu stecken. Es würde nicht mal eine Sekunde dauern! Konnte ich die Aktion beenden, bevor Nebogipfel mich mit seinen grünen Strahlen wieder ins Reich der Träume schickte?

Dunkelheit hüllte mich ein, und der stechende Gestank der Morlocks lag in der Luft. In einem Augenblick, überlegte ich mit plötzlich aufwallender Energie, würde ich das alles hinter mir haben…

»Stimmt etwas nicht?« Nebogipfel musterte mein Gesicht mit diesen großen, dunklen Augen, und seine Haltung war aufrecht und angespannt. Er hatte schon Verdacht geschöpft! — hatte ich mich selbst verraten? Und außerdem wußte ich, daß in der uns umfassenden Dunkelheit bereits die Mündungen zahlloser Waffen auf mich gerichtet sein mußten — es blieben mir nur noch Sekunden, bevor ich verloren war!

Das Blut rauschte mir in den Ohren — ich riß die Hebel aus der Tasche — und mit einem Aufschrei stürzte ich mich auf die Maschine. Ich rammte die kleinen Griffe in ihre Halterungen und riß die Hebel mit einer fließenden Bewegung zurück. Die Maschine erzitterte — im letzten Moment glaubte ich noch, einen grünen Blitz gesehen und damit ausgespielt zu haben! — und dann verschwanden die Sterne, und Stille umgab mich. Ich spürte ein starkes zerrendes Gefühl und dann diese unangenehme Wahrnehmung des freien Falls — aber ich begrüßte diese Unbilden sogar, denn sie waren die bekannten Indizien der Zeitreise!

Ich schrie laut auf. Es war mir gelungen — ich war frei!

… Und dann registrierte ich die Kühle um meinen Hals — etwas Weiches, als ob sich ein Insekt darauf niedergelassen hätte, ein Rascheln.

Ich führte eine Hand zum Hals — und berührte Morlock-Haar!

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