Fünftes Buch Weisse Erde

Gefangen

Ich öffnete die Augen, oder vielmehr hatte ich den Eindruck, daß meine Augenlider hochgezogen oder vielleicht auch abgeschnitten wurden. Meine Sicht war trübe, die Wahrnehmung der Welt gebrochen; ich fragte mich, ob meine Augäpfel vereist wären — vielleicht sogar ganz gefroren. Ich starrte zu einem willkürlichen Punkt am dunklen, sternenlosen Himmel; an der Peripherie des Blickfeldes sah ich einen Hauch von Grün — vielleicht der Mond? — aber ich konnte mich nicht bewegen, um es genau festzustellen.

Ich atmete nicht. Im nachhinein sagt sich das leicht, aber es ist schwer, die Panik zu vermitteln, die ich bei der Feststellung dieses Sachverhalts spürte! Ich fühlte mich, als ob ich mich außerhalb meines Körpers befinden würde; es fehlte jegliche mechanische Aktivität — die Bewegung des Atems und das Klopfen des Herzens, die millionenfachen winzigen Zuckungen von Muskeln und Membranen — die alle, ohne daß sie überhaupt wahrgenommen werden, das Korsett unseres menschlichen Lebens bilden. Es war, als ob mein ganzes Sein, meine ganze Identität, sich in diesem offenen, starrenden, fixierten Blick verdichtet hätte.

Ich dachte mir, daß ich eigentlich hätte Furcht verspüren und wie ein Ertrinkender nach Luft schnappen müssen. Aber kein derartiger Drang überkam mich: ich fühlte mich nur schläfrig, kaum meiner Sinne mächtig, als ob ich narkotisiert worden wäre.

Ich glaube, daß es dieses Fehlen des Schreckens war, das mich davon überzeugte, tot zu sein.

Jetzt bewegte sich ein Schatten über mir und verstellte mir die Sicht auf den leeren Himmel. Es war annähernd pyramidenförmig, mit unscharfen Kanten; es war wie ein in Wolken gehüllter Berg, der mich überragte.

Natürlich erkannte ich diese Erscheinung wieder: es war das Ding, das vor mir gestanden hatte, als wir exponiert auf dem Eis lagen. Jetzt kam diese Maschine — das mußte sie in meinen Augen nämlich sein — auf mich zu. Sie bewegte sich auf eine seltsam fließende Art; wenn man sich vorstellt, wie die Sandkörner beim Kippen einer Sanduhr strahlförmig rieseln, kann man den Effekt ungefähr erahnen. Am Rande meines Blickfeldes sah ich, wie die verschwommene Kante der Maschine über meinen Bauch und die Brust glitt. Dann spürte ich, wie ein anhaltendes Prickeln — winzige Stiche — durch Brust und Bauch verlief.

Die Körperreaktionen hatten also wieder eingesetzt! — und zwar so blitzartig wie ein Gewehrschuß. Ich spürte ein leichtes Kratzen auf der Brust, als ob die Kleidung dort aufgeschnitten und abgestreift werden würde. Und jetzt wurde das Prickeln intensiver; es war, als ob sich winzige, insektenhafte Objekte in mein Fleisch bohrten und mich kontaminierten. Ich spürte Schmerzen — eine Million winziger Nadeln, die in die Eingeweide stachen.

Soviel zum Tod — soviel zur Körperlosigkeit! Und mit der Erkenntnis meiner fortdauernden Existenz kam auch die Angst zurück — sofort, und in einer großen Flut von chemischen Substanzen, die mich mit großer Intensität durchspülten.

Nun kroch der dräuende Schatten der montanen Kreatur, verwaschen und ominös, weiter über meinen Körper in Richtung des Kopfes. Gleich würde ich ersticken! Ich wollte schreien — aber ich konnte Mund, Lippen und Hals nicht spüren.

Noch nie hatte ich mich auf meinen Reisen so hilflos wie in diesem Augenblick gefühlt.

Im letzten Moment spürte ich, wie etwas über meine Hand glitt. Ich fühlte eine geisterhafte Kälte und einen Haarwuschel: es war Nebogipfels Hand, die meine hielt. Ich fragte mich, ob er hier neben mir lag, sogar jetzt, wo diese gespenstische Vivisektion durchgeführt wurde. Ich wollte seine Finger umschließen, konnte aber keinen Muskel bewegen.

Und jetzt erreichte der pyramidenförmige Schatten mein Gesicht, und der freundliche Ausschnitt des Himmels wurde verdeckt. Ich fühlte, wie sich Nadeln in Hals, Kinn, Wangen und Stirn bohrten. Da war ein Prickeln — ein unerträgliches Jucken — auf der Oberfläche meiner exponierten Augen. Ich wollte den Blick abwenden und die Augen schließen, aber es gelang mir nicht: es war die ausgesuchteste Folter, die ich mir nur vorstellen konnte!

Dann, als dieses brennende Feuer sogar meine Augäpfel erfaßte, versank ich in gnädiger Bewußtlosigkeit.


Als ich wieder erwachte, hatte dieser Vorgang nicht mehr die alptraumhafte Qualität wie beim erstenmal. Ich stieg durch eine Schicht aus sonnenbeschienenen Träumen zur Oberfläche der Welt empor: Ich schwamm durch fragmentarische Visionen von Sand, Wald und Ozean: Ich schmeckte erneut feste, salzige Muscheln; und ich lag wieder mit Hilary Bond vereint in Wärme und Dunkelheit.

Dann kam langsam das volle Erwachen.

Ich lag auf einer harten Oberfläche. Mein Rücken, der jegliche Bewegungsversuche mit einem Stechen quittierte, war real genug; genauso wie meine gespreizten Beine, die Arme, die juckenden Finger, das pfeifende Geräusch, mit dem die Nase Luft ansaugte und das Pulsieren des Blutes in den Adern. Ich lag in Dunkelheit — absoluter Finsternis —, aber diese Randnotiz, die mich früher vielleicht erschreckt hätte, schien jetzt völlig belanglos, denn ich weilte wieder unter den Lebenden, umgeben vom vertrauten mechanischen Rasseln meines Körpers. Ich verspürte ein reines und intensives Gefühl der Erleichterung und stieß einen Freudenschrei aus!

Ich setzte mich auf. Als ich die Hand auf den Boden legte, spürte ich dort grobkörnige Partikel, als ob eine härtere Fläche mit Sand bestreut worden wäre. Obwohl ich nur Hemd, Hose und Stiefel anhatte, war mir ziemlich warm. Ich verblieb in völliger Dunkelheit; aber die Echos dieses exaltierten Schreis drangen schnell wieder an mein Ohr, und ich hatte den Eindruck, mich in einem begrenzten Raum zu befinden.

Ich drehte den Kopf hin und her, um ein Fenster oder eine Tür ausfindig zu machen, aber ohne jeden Erfolg. Allerdings registrierte ich jetzt etwas Schweres an meinem Kopf — etwas drückte auf meine Nase — und als ich den fraglichen Bereich abtastete, merkte ich, daß ich eine massive Brille aufhatte, deren Glas nahtlos in das Gestell integriert war. Ich fummelte an diesem klobigen Teil herum — und der Raum erstrahlte in hellem Licht.

Zuerst war ich geblendet und kniff die Augen zusammen. Ich nahm die Brille ab — und das Licht ging aus und ließ mich wieder in der Dunkelheit versinken. Und als ich die Brille wieder aufsetzte, kam auch das Licht zurück.

Ich mußte meine Intelligenz nicht übermäßig strapazieren, um zu erkennen, daß die Dunkelheit die Realität war und das Licht von der Brille selbst erzeugt wurde. Die Brille war ein Äquivalent zu Nebogipfels Sehhilfe, die der arme Morlock im Sturm des Paläozäns verloren hatte.

Die Augen stellten sich auf die Helligkeit ein, und ich stand auf und musterte mich. Ich war noch an einem Stück, und, wie es schien, auch heil; ich konnte weder an den Händen noch an den Armen Spuren der Aktionen finden, die dieses diffuse Pyramiden-Wesen auf meiner Haut veranstaltet hatte. Ich bemerkte jedoch im Gewebe meines Tropenanzugs einige weiße Streifen; als ich mit den Fingern daran entlangfuhr, ertastete ich flache, gezackte Nähte, als ob meine Kleidung oberflächlich ausgebessert worden wäre.

Ich befand mich in einer vielleicht zwölf Fuß breiten und annähernd genauso hohen Kammer — und es war der merkwürdigste Raum, in den es mich im bisherigen Verlauf meiner Zeitreisen verschlagen hatte. Um sich eine Vorstellung davon machen zu können, muß man mit einem Hotelzimmer des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts anfangen. Aber das Zimmer entsprach nicht dem zu meiner Zeit üblichen rechteckigen Schnitt; vielmehr war es ein Kegel, so wie das Innere eines Zeltes. Es gab weder eine Tür noch irgendwelches Inventar. Der Boden wurde von einer gleichmäßigen Sandschicht bedeckt, in der ich den Abdruck sehen konnte, wo ich geschlafen hatte.

An den Wänden klebte eine ziemlich ausgefallene Tapete — eine purpurne Velourstapete — und etwas, das wie Fensterrahmen aussah, die mit schweren Vorhängen versehen waren. Aber die Rahmen enthielten kein Glas, sondern nur Bretter, die auch mit dieser Velourstapete überzogen waren.

Der Raum verfügte nicht über eine Lichtquelle. Statt dessen durchdrang ein steter und diffuser Schein die Luft, wie das Licht eines bewölkten Tages. Ich war allerdings davon überzeugt, daß die von mir wahrgenommene Illuminierung eher ein Phänomen meiner Brille als etwas Physikalisches war. Die Decke über mir war reich verziert und mit bemerkenswerten Gemälden geschmückt. Hier und da gelang es mir, in dieser barocken Kaskade Fragmente menschlicher Formen auszumachen, aber so durcheinandergewürfelt und verzerrt, daß ich nichts Genaues erkennen konnte: es war nicht grotesk, sondern nur plump und konfus — als ob der Künstler zwar über die technischen Fähigkeiten eines Michelangelo, aber lediglich über die Vision eines zurückgebliebenen Kindes verfügt hätte.

Und so sah es auch aus: die Stilelemente mußten wohl einem billigen Hotelzimmer meiner Zeit entlehnt sein — aber sie waren entstellt und in diese merkwürdige Geometrie verwandelt worden, wie Traumgebilde!

Ich lief umher, wobei die Stiefel im groben Sand knirschten. Ich fand keine Fuge in den Wänden, keinen Hinweis auf Türen oder Fenster. In einer Ecke des Raums stand ein aus weißem Porzellan bestehender, offener Würfel mit drei Fuß Seitenlänge. Als ich auf diesen Porzellanboden stieg, zischte völlig unerwartet Dampf aus Öffnungen in der Wand. Konsterniert wich ich zurück, und die Strahlen versiegten; die restlichen Dampfschwaden nebelten mich ein.

Dann stieß ich im Sand auf eine Reihe kleiner Schüsseln. Sie waren handbreit und flach, wie Untertassen. Einige der Schüsseln enthielten Wasser und andere Essen: frugales Zeug, Früchte, Nüsse, Beeren und dergleichen, aber nichts, das ich auf Anhieb identifizieren konnte. Weil ich Durst hatte, leerte ich einige der Wasserschalen. Die Schüsseln waren ergonomisch ungünstig geformt; ihr flaches Profil verlieh ihnen die Tendenz, daß mir ihr Inhalt übers Kinn tröpfelte, und sie wirkten auf mich weniger wie Tassen, sondern vielmehr wie Näpfe, in denen man Hunden oder Katzen ihr Fressen serviert. Ich knabberte ein wenig am Essen; die Fruchtstücke schmeckten zwar nach nichts, waren aber genießbar.

Danach klebten meine Hände und Lippen, und ich hielt nach einem Waschbecken oder einer Toilette Ausschau. Natürlich wurde ich nicht fündig; und so behalf ich mich mit dem Inhalt einer weiteren Wasserschüssel, woraufhin ich mir das Gesicht mit einem Hemdzipfel abtrocknete.

Ich fummelte an den Pseudo-Fenstern herum und sprang in die Höhe, um an der kitschigen Deckenverzierung herumzustochern, aber ohne Erfolg; das Material der Wände und der Decke war so glatt und unverwüstlich wie Marmor. Ich führte Grabungen im Sand des Fußbodens durch und ermittelte dabei eine Schichttiefe von zehn bis zwölf Zoll; darunter befand sich ein Mosaik aus bunten Fragmenten in Anlehnung an den römischen Stil — aber anders als die Decke zeigte das Mosaik kein Porträt oder Szenen, die ich hätte deuten können, sondern nur ein bruchstückhaftes Konglomerat von Entwürfen.

Ich war allein, und auch von der anderen Seite der Wände kam kein Laut: kein Laut in meinem Universum, außer dem Kratzen meines Atems und dem Pumpen des Herzens — dieselben Geräusche, deren Rückkehr ich jüngst so freudig begrüßt hatte!

Nach einiger Zeit forderten gewisse menschliche Bedürfnisse ihr Recht. Ich unterdrückte sie, so lange es ging, war aber schließlich doch gezwungen, flache Gruben auszuheben, um mich dort zu erleichtern.

Als ich mich über die erste dieser Gruben hockte, schämte ich mich außerordentlich. Ich fragte mich, was die Sternen-Menschen dieses entfernten 1891 wohl von dieser Vorstellung hielten!

Als ich müde wurde, setzte ich mich mit dem Rücken an die Wand des Zimmers. Anfangs behielt ich die Licht-Brille noch auf, aber dann störte mich das helle Licht beim Einschlafen; also nahm ich sie ab und befestigte sie während des Schlafs an der Hand.

So begann mein Aufenthalt in diesem bizarren käfigartigen Raum. Als sich meine anfängliche Furcht gelegt hatte, überkam mich eine rastlose Langeweile. Dieses Gefängnis erinnerte mich an die Zeit im Lichtkäfig der Morlocks, und auf eine Neuauflage dieser Erfahrung war ich nun wirklich nicht erpicht. Langsam kam ich zu der Überzeugung, daß alles, selbst das Element der Gefahr, noch einem weiteren Verbleib in diesem düsteren, fensterlosen Gefängnis vorzuziehen sei. Mein Exil im Paläozän — fünfzig Millionen Jahre vom nächsten Zeitungsstand entfernt — hatte mich wohl von meinem alten Lese-Drang kuriert; aber dennoch glaubte ich manchmal, daß ich noch verrückt würde, weil ich niemanden zum Reden hatte.

Jedesmal, wenn ich schlief, wurden die Essens- und Wasserschüsseln aufgefüllt. Ich habe nie den Mechanismus ermitteln können, mit dem das geschah. Es gab keinen Hinweis auf Extruder, wie sie die Morlocks verwendeten; doch genausowenig sah ich jemals, daß die Schalen von einem Lebewesen aufgefüllt wurden. Einmal schlief ich versuchsweise mit einer unter dem Körper vergrabenen Schüssel. Ein sogartiges Gefühl unter den Rippen weckte mich. Als ich mich erhob, war die Schüssel wie durch einen wundersamen Vorgang wieder mit Wasser gefüllt.

Zögernd gelangte ich zu dem Schluß, daß eine unsichtbare Maschinerie in den Schalen selbst irgendwie den Inhalt zubereitete — entweder aus der Materie der Schalen oder aus der Luft. Ich hielt es für möglich — obwohl ich es gar nicht so genau wissen wollte! —, daß meine verscharrten Exkremente von derselben verborgenen Mechanik wiederaufbereitet wurden. Es war eine bizarre, und nicht sehr appetitanregende Vorstellung.

Experimente und Reflektionen

Nach drei oder vier Tagen verspürte ich das Bedürfnis, mich gründlich zu säubern. Wie ich schon sagte, gab es hier nichts, was auf sanitäre Einrichtungen hindeutete, und langsam genügte mir die Katzenwäsche nicht mehr, die ich mit dem Trinkwasser aus den Schüsseln durchführte. Ich sehnte mich nach einem Bad, oder, noch besser, einer Runde Schwimmen im Ozean des Paläozäns.

Es dauerte eine Weile — man mag mich in dieser Hinsicht für eine ziemliche Trantüte halten —, bevor ich meine Aufmerksamkeit wieder diesem Porzellanwürfel widmete, den ich seit der ersten zögerlichen Erkundung der Kammer nicht mehr beachtet hatte. Nun ging ich auf diesen Würfel zu und setzte vorsichtig einen Fuß auf die Porzellanfläche. Erneut trat sofort Dampf aus den Wänden aus.

Plötzlich begriff ich. Voller Eifer zog ich Stiefel und Kleider aus (die Brille legte ich aber nicht ab) und betrat die kleine Kabine. Dampf nebelte mich von allen Seiten ein; ich begann zu schwitzen, und die Brille beschlug. Ich hatte eigentlich erwartet, daß sich der Dampf im ganzen Raum verteilen und ihn in eine Art Sauna verwandeln würde. Aber er füllte nur die Kabine aus, zweifellos aufgrund einer Vorrichtung, die für einen unterschiedlichen Luftdruck sorgte.

Das war also mein Bad: es war zwar nicht ausgestattet wie die sanitären Einrichtungen meiner Zeit — aber warum hätte es das auch sein sollen? Mein Haus in der Petersham Road war schließlich in einer anderen Historie verloren. Ich erinnerte mich, daß z. B. Die Römer keine Seife oder sonstige Reinigungsmittel gekannt hatten; sie mußten sich mit dieser Art des Dampfbades behelfen, um den Schmutz aus den Poren zu schwitzen. Und auch in meinem Fall erwies sich die Sauna als ziemlich effektiv, obwohl ich nicht wie die Römer über eine Bürste verfügte und deshalb mit den Fingernägeln die Dreckkruste abkratzen mußte.

Als ich die Sauna verließ, suchte ich nach einer Möglichkeit, mich abzutrocknen, denn ein Handtuch hatte ich nicht. Zuerst dachte ich, ungern zwar, an die Kleidung; und dann hatte ich eine Eingebung und wandte mich dem Sand zu. Ich stellte fest, daß das körnige Zeug zwar auf der Haut kratzte, die Feuchtigkeit aber recht gut aufsog.

Meine Erfahrung mit der Sauna veranlaßte mich zu selbstkritischer Betrachtung. Wie beschränkt mußte ich sein, daß ich so lange gebraucht hatte, die Funktion eines derart offensichtlichen Einrichtungsgegenstandes zu deduzieren? Schließlich gab es in der Welt meiner Zeit viele Orte, die nicht die Freuden moderner Klempnerkunst und Porzellanbadewannen kannten — unter anderem auch viele Stadtteile von London, wenn man den Schauergeschichten in der Pall Mall Gazette Glauben schenkte.

Es war klar, daß die unbekannten Sternen-Menschen dieses Zeitalters keine Mühen gescheut hatten, mich in einem Raum unterzubringen, der alles Notwendige enthielt. Ich befand mich ja jetzt auch in einer grundlegend anderen Historie; und vielleicht war die Fremdartigkeit dieser Kammer — das Fehlen erkennbarer sanitärer Einrichtungen, die ungewöhnliche Nahrung etc. — im Grunde gar nicht so signifikant oder bizarr, wie es für mich den Anschein hatte.

Man hatte mich mit den Elementen eines Hotelzimmers meiner eigenen Zeit ausgestattet — aber sie waren eben mit einer sanitären Anlage kombiniert worden, die aus der Zeit der Geburt Christi zu stammen schien; und was das Essen betraf, so schienen diese Teller mit Nüssen und Früchten, an denen ich mich laben sollte, eher in die Zeit meiner frühen Jäger-und-Sammler-Vorfahren zu gehören — so ungefähr vierzigtausend Jahre vor meiner Geburt.

Es war eine wahllos zusammengestellte Mischung aus Fragmenten verschiedener Abschnitte der Menschheitsgeschichte! Aber trotzdem glaubte ich, ein bestimmtes Muster darin zu erkennen.

Ich überlegte, was mich und die Bewohner dieser Welt trennen mochte. Seit der Gründung Alt-Londons war die Entwicklung fünfzig Millionen Jahre weit fortgeschritten — und übertraf damit die evolutionäre Lücke zwischen mir und dem Morlock um das mehr als Hundertfache. Über solch unvorstellbare Zeitabschnitte wird die Zeit komprimiert — als ob Schichten von Sedimentgestein von den darüberliegenden Gesteinsmassen zusammengedrückt würden — bis die Distanzen zwischen mir und Gaius Julius Cäsar, oder sogar zwischen dem ersten Menschen auf Erden und mir — Perioden, die aus meiner Perspektive so immens wirkten — praktisch auf Null zusammenschrumpften.

In Anbetracht all dessen, dachte ich, hatten meine unsichtbaren Gastgeber bei der Auswahl der Konditionen, die mir zusagen könnten, wirklich gut getroffen.

Auf jeden Fall schien es, daß meine Erwartungen selbst nach all den bisherigen Erfahrungen noch auf mein eigenes Jahrhundert und einen kleinen Ausschnitt des Globus fixiert waren! Das war eine heilsame Erkenntnis — das Bewußtsein meiner eigenen Kleinheit —, und ich versank für einige Zeit in Kontemplation. Aber prinzipiell neige ich nicht zur Nachdenklichkeit, und bald echauffierte ich mich wieder über meine restriktive Situation. Mochte es auch undankbar sein, aber ich wollte meine Freiheit zurück! — obwohl ich nicht wußte, wie ich das hätte bewerkstelligen können.


Ich schätze, daß ich mich vielleicht zwei Wochen in diesem Käfig befand. Meine Freilassung erfolgte ebenso plötzlich wie unerwartet.

Als ich aufwachte, war es dunkel. Zuerst konnte ich nicht erkennen, was meinen Schlaf gestört hatte — und dann hörte ich es: ein leises Geräusch, ein sanftes, entferntes Atmen. Es war ein sehr leises Geräusch — fast nicht wahrzunehmen, und ich wußte, daß es mich nicht aufgeweckt hätte, wenn es in den frühen Morgenstunden in den Straßen Richmonds zu hören gewesen wäre. Aber hier waren meine Sinne durch die lange Isolation geschärft worden: hier hatte ich vierzehn Tage kein Geräusch gehört — abgesehen von dem leisen Zischen des Dampfbades —, das nicht von mir selbst gekommen wäre.

Hastig setzte ich mir die Brille auf die Nase. Eine Lichtflut blendete mich, und ich blinzelte Tränen weg, begierig zu sehen, was los war.

Eine Tür hatte sich geöffnet, in der Wand meiner Zelle. Sie war rund, mit einer vielleicht sechs Zoll hohen Schwelle, und sie ging durch eines dieser Pseudo-Fenster. Die Brille bildete ein sanftes Glühen ab, blaß wie Mondlicht, das durch diese Öffnung in meinen Raum drang.

Ich stand auf, zog mein Hemd an — ich hatte mich nämlich daran gewöhnt, auf dem als Kissen zusammengerollten Hemd zu schlafen — und ging auf den Türrahmen zu. Dieses leise Atmen verstärkte sich, und — als Oberton, wie das Plätschern eines Baches eine Brise überlagert — vernahm ich das fließende Gurgeln einer Stimme: ein fast menschlicher Klang, eine Stimme, die ich sofort erkannte!

Der Flur führte zu einer anderen Kammer, die ungefähr die Größe und Form meiner eigenen hatte. Aber hier gab es keine falschen Fensterrahmen, keine stümperhaften Dekorationsversuche, keinen Sand auf dem Fußboden; statt dessen waren die Wände kahl, von einem schlichten metallischen Grau, und es gab einige mit Rollos bedeckte Fenster und eine Tür mit einem einfachen Griff. Es gab keine Möbel, und der Raum wurde von einem einzigen, riesigen Artefakt dominiert: es war die Pyramiden-Maschine (oder eine mit ihr identische), die ich zuletzt gesehen hatte, als sie ihre langsame, schmerzhafte Wanderung über meinen Körper begonnen hatte. Wie ich schon geschildert habe, war sie etwa mannshoch und an der Basis genauso breit; ihre Oberfläche schien metallisch zu sein, hatte aber eine komplexe, changierende Struktur. Wenn man sich eine sechs Fuß hohe Pyramidenkonstruktion vorstellt, auf deren Oberfläche verschwommene metallische Soldaten-Ameisen umherwuseln, weiß man ungefähr, wovon ich rede.

Aber dieses Monstrum fesselte weniger meine Aufmerksamkeit; denn — die Gestalt, die direkt davorstand und offensichtlich mit einer Art Objektiv in das Innere der Pyramide schaute — war Nebogipfel.


Ich stolperte vorwärts und breitete voller Freude die Arme aus. Aber der Morlock stand nur reglos da und reagierte überhaupt nicht auf meine Anwesenheit.

»Nebogipfel«, sagte ich, »ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dich gefunden zu haben. Ich dachte schon, ich müßte verrückt werden — verrückt vor Einsamkeit!«

Jetzt sah ich, daß ein Auge — das zerstörte rechte — von diesem Okular bedeckt war; das Rohr war mit der Pyramide verbunden, verschmolz mit dem Objekt, und auf dieser ganzen Konfiguration krabbelten Miniatur-Ameisen umher, die auch die Pyramide bedeckten. Ich betrachtete diese Szene mit einigem Ekel, denn ich hätte keinen Wert darauf gelegt, ein solches Gerät in meine Augenhöhle implantiert zu bekommen!

Nebogipfels anderes, unversehrtes Auge schwenkte groß und graurot auf mich ein. »Eigentlich war ich es, der dich gefunden und darum gebeten hat, dich zu sehen. Und wie auch immer deine geistige Verfassung ist, scheinst du wenigstens gesund zu sein«, stellte er fest. »Was machen deine Erfrierungen?«

Das verwirrte mich. »Welche Erfrierungen?« Ich betastete meine Haut, wobei ich aber ganz genau wußte, daß dort nichts zu sehen war.

»Dann haben sie gute Arbeit geleistet«, konzedierte Nebogipfel.

»Wer?«

»Die Universalen Konstrukteure.« Damit mußte er wohl die Pyramiden-Maschine und ihre Vettern meinen.

Mir fiel auf, wie gerade seine Haltung und wie gepflegt und gekämmt sein Haarpelz war. Ich stellte fest, daß er im Gegensatz zu mir in diesem Glühen des Mondlichts keine Brille als Sichtverstärker benötigte; offenbar waren unsere Kammern eher für seine Bedürfnisse ausgelegt als für meine. »Du siehst gut aus, Morlock«, sagte ich herzlich. »Dein Bein ist wieder gerichtet — und der schlimme Arm auch.«

»Den Konstrukteuren ist es gelungen, die meisten meiner alten Verletzungen zu heilen — im Grunde bin ich jetzt wieder genauso gesund wie damals, als ich das erstemal an Bord deiner Zeitmaschine kam.«

»Bis auf das Auge«, bemerkte ich mit einigem Bedauern, denn ich bezog mich auf das Auge, das ich vor lauter Angst und Zorn zerstört hatte. »Ich nehme an, daß sie — diese Konstrukteure — es nicht retten konnten.«

»Mein Auge?« Er klang verwirrt. Er trat von der Optik zurück; das Rohr löste sich mit einem leisen Schmatzen von seinem Gesicht, baumelte an der Pyramide und wurde dann von der Metallhülle verschluckt. »Überhaupt nicht«, widersprach er. »Ich wollte, daß es so verändert wurde. Es bringt einige Erleichterungen mit sich, obwohl ich gestehen muß, daß ich den Konstrukteuren mein Anliegen nur schwer vermitteln konnte…«

Nun wandte er sich mir zu. Die eine Augenhöhle war ein tiefes Loch. Das zerstörte Auge war herausgeholt worden, und es hatte den Anschein, als ob der Knochen abgefräst und das Loch vertieft worden wäre — in der Höhle glitzerte feuchtes, sich bewegendes Metall.

Der Konstrukteur

Es stellte sich heraus, daß im Gegensatz zu meiner spartanischen Zelle Nebogipfel in einer veritablen Suite untergebracht worden war. Sie hatte vier Zimmer, von denen jedes so groß wie meins war, annähernd Kegelform hatte und zudem über Türen und Fenster verfügte, die unsere Gastgeber mir nicht zugestehen wollten: es war offenkundig, daß sie seinen Intellekt höher einschätzten als meinen!

Möbel gab es jedoch genauso wenig wie bei mir, obwohl die Morlocks ohnehin ziemlich anspruchslos sind und Nebogipfel deshalb auch nichts vermißte. In einem Raum indessen fand ich ein bizarres Objekt: ein vielleicht zwölf Fuß langes und sieben Fuß breites tischähnliches Möbelstück, das mit einem weichen orangefarbenen Belag überzogen war. Um den Rand dieses Tisches verliefen Taschen, die alle mit einer harten Substanz beschichtet waren und grün glühten. Der Tisch war annähernd rechteckig, obwohl seine Ecken unregelmäßig geformt waren; und eine vereinzelte Kugel — weiß und aus einem schweren Material — lag auf der Tischplatte. Als ich die Kugel anstieß, rollte sie leicht über den Tisch, obwohl sie unlackiert war; ihre Geschwindigkeit war ziemlich hoch, und sie prallte mit einem festen Stoß von den Bandenkissen ab.

Ich versuchte die tiefere Bedeutung dieser Konstruktion zu ergründen; aber, unglaublich — wie Sie aus meiner Beschreibung vielleicht schon geschlossen haben —, es war nichts anderes als ein Billardtisch! Ich fragte mich, ob das noch so eine verzerrte Replik aus einem Hotelzimmer des neunzehnten Jahrhunderts war — aber ein ziemlich skurriles Exponat, wenn es denn stimmte; und ohne Queues und nur mit einer einzigen Kugel konnte ich ohnehin nicht viel damit anfangen.

Konsterniert wandte ich mich von dem Tisch ab und überprüfte die Türen und Fenster. Die Türen verfügten über simple Knäufe, die gedreht wurden, aber sie führten nur in die anderen Räume der Suite oder in meine Kammer; es gab keinen Weg in die Außenwelt. Ich stellte allerdings fest, daß die Verkleidung vor den Fenstern abgenommen werden konnte, und war zum erstenmal imstande, dieses neue 1891, diese Weiße Erde, zu inspizieren.

Meine Position befand sich mindestens dreihundert Yards über der Erde! — wir schienen uns im obersten Sektor eines riesigen zylindrischen Turms zu befinden, dessen Flanken sich unter mir erweiterten. Alles, was ich jetzt sah, verstärkte den ersten Eindruck, den ich beim letzten Blick aus dem Zeitfahrzeug bekommen hatte, kurz bevor mich die Kälte erwischte: daß es sich hier um eine Welt handelte, die für immer im Eis versunken war. Der Himmel war waffengrau, und das vereiste Land glitzerte grauweiß wie blanke Knochen, ohne dieses attraktive Blau, das manche Schneefelder zierte. Beim Blick nach draußen konnte ich in vollem Umfang den tödlich stabilen Zustand dieser Welt erkennen, wie Nebogipfel ihn beschrieben hatte: das Tageslicht glitzerte grell auf der narbigen Eiskruste, welche die Erde überzog, und das Weiß dieses globalen Panzers strahlte die Wärme der Sonne sofort wieder in die Tiefen des Weltraums ab. Die arme Erde war tot, für alle Zeit tiefgefroren inmitten dieser eisigen klimatischen Stabilität — aber es war die letztgültige Stabilität des Todes.

Hier und da sah ich einen Konstrukteur — von genau der gleichen Form wie unser Kamerad hier in Nebogipfels Apartment — in der frostigen Landschaft stehen. Die Konstrukteure traten immer nur allein auf und standen wie verunglückte Monumente herum, ein stahlgrauer Tupfer auf dem knochenweißen Eis. Ich sah sie nie in Bewegung! Es war, als ob sie einfach an ihren jeweiligen Positionen erschienen, wobei sie vielleicht aus der Luft materialisierten. (Und wirklich erfuhr ich später, daß ich mit dieser ersten Vermutung gar nicht so falsch gelegen hatte.)

Das Land war tot: aber nicht ohne Anzeichen von Intelligenz. Es gab noch weitere große Gebäude wie das unsrige, die über die Landschaft verteilt waren. Sie wiesen schlichte geometrische Formen auf: Zylinder, Kegel und Kuben. Von meinem Aussichtspunkt konnte ich nach Süden und Westen blicken, und aus dem Augenwinkel erkannte ich, daß diese großen Bauten bis Battersea, Fulham, Mitcham und noch darüber hinaus verstreut waren. Soweit ich sehen konnte, waren sie im Durchschnitt eine Meile voneinander entfernt; und der ganze Anblick — die Eisfelder, die stummen Konstrukteure, die schlichten, anonymen Gebäude — ergab per Saldo ein düsteres, unmenschliches London.


Ich kehrte zu Nebogipfel zurück, der noch immer vor seinem Konstrukteur stand. Die Metallhaut des Dings kräuselte sich und glitzerte, als ob sie die Oberfläche eines gekippten Teichs wäre, in dem Metallfische umherschwammen, und dann stach eine Protuberanz — ein zolldickes Rohr — aus der Oberfläche, das die gleiche metallisch glitzernde Struktur wie die Pyramide aufwies, und schob sich auf Nebogipfels wartendes Gesicht zu.

Der Vorgang kam mir natürlich bekannt vor; es war dieses Okular, das ich schon einmal gesehen hatte.

Gleich würde es sich in Nebogipfels Schädel einklinken.

Ich pirschte um den Konstrukteur herum. Wie ich bereits gesagt hatte, sah der Konstrukteur aus wie ein Schlackehaufen; er war bis zu einem gewissen Grad ›lebendig‹ — und mobil, denn ich hatte ja dieses Objekt, oder ein ähnliches, über meinen Körper kriechen sehen —, aber in bezug auf seinen Daseinszweck konnte ich nicht einmal Spekulationen anstellen. Bei näherer Betrachtung erkannte ich, daß die Oberfläche von Metallhaaren bedeckt war: Fühler wie Eisendrähte, die aktiv und intelligent in der Luft herumwedelten. Erstaunt und mit angestrengtem Auge sah ich, daß es darunter noch weitere Detailebenen gab, die sich meiner altersbedingten Kurzsichtigkeit jedoch verschlossen. Die Struktur dieser bewegten Oberfläche war gleichermaßen faszinierend und abstoßend: mechanisch, aber mit der Qualität von Leben. Ich verspürte kein Verlangen, sie zu berühren — ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, daß diese wimmelnden Fühler gegen meine Haut schlugen — und ich hatte auch keine Instrumente, mit denen ich eine Untersuchung hätte durchführen können. Ohne entsprechende Mittel konnte ich die interne Struktur der Pyramide also nicht studieren.

Ich registrierte eine gewisse Aktivität an der Grundfläche der Pyramide. Als ich mich bückte, sah ich, daß sich ständig winzige Gruppen dieser Metallfühler — höchstens ameisengroß — vom Konstrukteur ablösten. Diese isolierten Stücke schienen sich aufzulösen, während sie zu Boden sanken, und zerfielen wohl zu Komponenten, die so klein waren, daß ich sie nicht sehen konnte. Doch manchmal bemerkte ich, daß diese Ableger des Konstrukteurs ameisengleich auf dem Boden umherwuselten und unbekannten Zielorten zustrebten. Nun beobachtete ich, daß auf vergleichbare Art weitere Klumpen dieser Fäden aus dem Boden wuchsen, an den Flanken des Konstrukteurs emporkletterten und sich in seine Substanz integrierten, als ob sie immer schon dazugehört hätten!

Ich berichtete Nebogipfel davon. »Es ist erstaunlich«, sagte ich, »aber man kann sich leicht vorstellen, was da abläuft. Die Komponenten des Konstrukteurs tauschen sich selbst aus. Sie kriechen auf dem Boden davon — oder fliegen sogar durch die Luft, nach allem, was ich bisher weiß oder beobachten konnte. Die abgelösten Stücke müssen entweder auf die eine oder andere Art absterben, wenn sie defekt sind — oder sich an den glitzernden Leib eines anderen unglücklichen Konstrukteurs anlagern.

Verdammt«, meinte ich, »der ganze Planet muß mit einer dünnen Schleimschicht dieser isolierten, wimmelnden Fäden überzogen sein! Und nach einer gewissen Zeit — einem Jahrhundert vielleicht — wird von dem ursprünglichen Körper dieses Geräts, das wir hier sehen, wohl nichts mehr übrig sein. All seine Komponenten, analog zu Haaren und Zähnen und Augen, werden sich dann zu einem Besuch bei seinem Nachbarn verabschiedet haben!«

»Das ist überhaupt kein einzigartiger Vorgang«, korrigierte Nebogipfel. »In deinem Körper — und meinem — sterben ständig Zellen ab und werden durch neue ersetzt.«

»Vielleicht; aber trotzdem — kann man denn diesen Konstrukteur hier wirklich als Individuum bezeichnen? Ich meine: wenn ich eine Bürste kaufe — und dann den Griff ersetze, und danach den Kopf — hätte ich dann immer noch dieselbe Bürste?«

Die rotgrauen Augen des Morlocks wandten sich wieder der Pyramide zu, und dieses ausgeformte Metallrohr senkte sich erneut mit einem glitschenden Geräusch in seinen Kopf.

»Dieser Konstrukteur ist keine autonome Maschine wie z. B. ein Auto«, belehrte er mich. »Er ist ein Verbund, der aus vielen Millionen Sub-Maschinen besteht — Gliedern, wenn du so willst. Diese sind in hierarchischer Struktur gegliedert und strahlen von einem zentralen Stamm über Äste und Zweige aus, wie ein Strauch. Die an der Peripherie sitzenden kleinsten Glieder sind so winzig, daß du sie nicht sehen kannst; sie funktionieren auf der molekularen oder atomaren Ebene.«

»Aber welchen Zweck«, fragte ich, »erfüllen diese Insektenfühler? Natürlich kann man Atome und Moleküle herumschieben — aber wozu? Was für eine stupide und unproduktive Angelegenheit.«

»Mitnichten«, meinte er müde. »Wenn man Fertigungsprozesse auf der elementarsten Ebene der Materie ablaufen lassen kann — und wenn man genug Zeit und Geduld aufbringt — kann man alles erreichen.« Er schaute zu mir hoch. »Ohne das molekulare Ingenieurswesen der Konstrukteure hätten du — und ich — unseren ersten Kontakt mit der Weißen Erde nämlich von vornherein nicht überlebt.«

»Was meinst du damit?«

»Die ›Behandlung‹, die an dir vorgenommen wurde«, erklärte Nebogipfel, »fand auf zellularer Ebene statt — dort, wo die Frostschäden aufgetreten waren…«

In schaurigen Details referierte Nebogipfel, wie in der extremen Kälte, der wir ausgesetzt gewesen waren, die Membranen meiner Zellen (und seiner) durch das Gefrieren und die Expansion ihres Inhalts aufplatzten — und kein mir bekannter chirurgischer Eingriff hätte unser Leben retten können.

Statt dessen hatten sich die mikroskopisch kleinen, äußeren Extremitäten des Konstrukteurs vom Trägerkörper gelöst und waren durch meinen beschädigten Körper gewandert und hatten die Frostschäden auf der molekularen Ebene repariert. Als sie — etwas unwissenschaftlich ausgedrückt — die andere Seite erreicht hatten, verließen sie meinen Körper und integrierten sich wieder in die Basis.

Ich war quasi von einer Armee wuselnder Metallameisen von innen nach außen rekonstruiert worden — genauso wie Nebogipfel.

Bei diesem Gedanken erschauerte ich, und mir war so kalt wie noch nie seit meiner Rettung. Fast unbewußt kratzte ich mich an den Armen, als ob ich diese technologische Infektion dadurch beseitigen könnte. »Aber ein solcher Eingriff ist doch monströs«, beklagte ich mich bei Nebogipfel. »Die Vorstellung, daß sich diese kleinen emsigen Arbeiter durch meine Körpersubstanz bewegt haben…«

»Ich nehme an, daß du die stumpfen, invasiven Skalpelle der Chirurgen deiner Zeit bevorzugst.«

»Nicht unbedingt, aber…«

»Ich darf dich nur daran erinnern, daß du mir nicht einmal einen gebrochenen Knochen anständig richten konntest.«

»Aber das war doch etwas ganz anderes. Ich bin schließlich kein Arzt!«

»Glaubst du denn, daß dieses Wesen einer ist? Auf jeden Fall, wenn du lieber gestorben wärst, hätte sich das ohne Frage einrichten lassen.«

»Natürlich nicht.« Aber ich kratzte weiter auf der Haut herum und wußte, daß es noch lange dauern würde, bis ich mich in meinem renovierten Körper wieder wohlfühlen würde! Einen schwachen Trost gab es allerdings doch. »Wenigstens«, sagte ich, »sind diese Fäden des Konstrukteurs nur mechanisch.«

»Wie meinen?«

»Sie sind nicht lebendig. Wenn sie das wären…«

Er wandte das Gesicht vom Konstrukteur ab und sah mich an, wobei die Metallfäden in seinem Loch glitzerten. »Nein. Da irrst du dich. Diese Strukturen sind lebendig.«

»Was?«

»In jedem Wortsinne. Sie können sich reproduzieren. Sie können die Außenwelt manipulieren und lokale Bedingungen erhöhter Ordnung herbeiführen. Sie verfügen über interne Zustände, die sie unabhängig von äußerem Input variieren können; sie verfügen über ein Gedächtnis, auf das sie nach Belieben zugreifen können… All das sind Merkmale des Lebens und der Intelligenz. Die Konstrukteure sind lebendig und verfügen über Bewußtsein — so wie du und ich. Eigentlich noch weit mehr.«

Jetzt war ich wirklich perplex. »Aber das ist doch unmöglich.« Ich deutete auf die Pyramide. »Das ist eine Maschine. Sie ist produziert worden.«

»Ich habe schon früher die Grenzen deiner Vorstellungskraft bemerkt«, stellte er tadelnd fest. »Warum sollte ein mechanischer Arbeiter analog zu den Beschränkungen der menschlichen Konstruktion gefertigt werden? Mit dem Leben einer Maschine…«

»Leben?«

»…Es steht jedem frei, andere Morphologien zu erforschen — andere Formen.«

Ich sah den Konstrukteur an und runzelte die Stirn. »Zum Beispiel die Morphologie der Ligusterhecke!«

»Und außerdem«, fügte er hinzu, »könnte es auch dich herstellen. Wärst du denn dadurch weniger lebendig?«

Die Debatte wurde mir jetzt viel zu metaphysisch! Ich umrundete den Konstrukteur. »Aber wenn es wirklich lebt und über Bewußtsein verfügt — ist es dann eine Person? Oder ein Verbund aus mehreren Individuen? Hat es einen Namen? Eine Seele?«

Nebogipfel drehte sich wieder dem Konstrukteur zu und ließ sich die Optik ins Gesicht einführen. »Eine Seele?« fragte er. »Das ist dein Nachfahre. Genau wie ich, nur auf einer anderen Zeitschiene. Habe ich eine Seele? Hast du eine?«

Er wandte sich von mir ab und schaute in das Herz des Konstrukteurs.

Das Billardzimmer

Später kam Nebogipfel zu mir in den Raum, den ich nun als Billardzimmer bezeichnete. Er bediente sich von einem Teller mit käseähnlicher Nahrung.

Ich hockte ziemlich verdrossen auf der Kante des Billardtisches und schnickte die einzige Kugel über den Filz. Die Kugel zeigte einige überraschende physikalische Eigenschaften. Wenn ich eine Tasche an der anderen Seite des Tisches anpeilte, traf ich auch meistens und trottete dann um den Tisch, um die Kugel aus dem kleinen Schacht darunter zu bergen. Aber manchmal beschrieb die Kugel eine merkwürdige Bahn. Es rasselte im Zentrum der leeren Tischplatte — die Kugel kreiselte wild umher, so schnell, daß ich ihr nicht folgen konnte — und dann kullerte sie normalerweise wieder auf dem von mir bestimmten Kurs weiter. Zuweilen jedoch wich die Kugel deutlich von ihrem eigentlichen Pfad ab — und einmal kehrte sie sogar aus diesem halb verschwommenen Zustand wie ein Bumerang in meine Hand zurück!

»Hast du das gesehen, Nebogipfel? Wirklich höchst merkwürdig«, meinte ich. »In der Mitte des Tisches scheint sich doch gar kein Hindernis zu befinden. Und trotzdem wird die Kugel jedes zweite Mal abgelenkt.« Ich wollte ihm das noch mal demonstrieren, und er schaute leicht gelangweilt hin.

»Nun, jedenfalls bin ich froh, daß ich hier nicht richtig spiele«, sagte ich. »Ich kenne nämlich ein paar Leute, die bei solchen Unregelmäßigkeiten ausrasten würden.« Nachdem ich genug herumgespielt hatte, plazierte ich die Kugel in der Mitte des Tisches und ließ sie da liegen. »Ich frage mich, was die Konstrukteure dazu bewogen haben mag, diesen Tisch hier aufzustellen. Ich meine, er ist unser einziges richtiges Möbelstück — wenn man den Konstrukteur da draußen nicht mit berücksichtigt… Ich frage mich, ob das nun ein Snooker oder ein richtiger Billardtisch sein soll.«

Nebogipfel schien diese Frage zu amüsieren. »Gibt es da denn überhaupt einen Unterschied?«

»Das möchte ich meinen! Trotz seiner Popularität ist Snooker nur ein Spiel zum Versenken der Kugel — ein netter Zeitvertreib für die gelangweilten Kolonialoffiziere in Indien — hat meines Wissens aber nichts mit der Wissenschaft des Billard zu tun…«

Und dann hüpfte — vor meinen Augen — ganz spontan eine zweite Billardkugel aus einer der Taschen am Tisch und nahm zielstrebig Kurs auf meine im Zentrum des Tisches liegende Kugel.

Ich beugte mich über den Tisch, um das besser sehen zu können. »Was, zum Teufel, geschieht hier?« Die Kugel rollte ziemlich langsam, so daß ich Details ihrer Oberfläche erkennen konnte. Meine Kugel war nicht mehr glatt und weiß; nach diversen Versuchen war die Oberfläche mit einer Reihe von Kratzern überzogen, von denen einer besonders markant war. Und diese neue Kugel war genauso zerkratzt.

Die neue kollidierte satt klackend mit meiner stationären Kugel; die neue Kugel wurde durch den Aufprall abgebremst, und dafür schoß jetzt die erste über den Tisch.

»Weißt du«, wandte ich mich an Nebogipfel, »wenn ich es nicht besser wüßte, könnte ich schwören, daß diese aus dem Nichts aufgetauchte Kugel mit der ersten identisch ist.« Er kam etwas näher, und ich zeigte auf diesen unübersehbaren, langen Kratzer. »Siehst du das? Ich würde diesen Kratzer noch im Dunklen erkennen… Die Kugeln sehen aus wie eineiige Zwillinge.«

»Dann«, meinte der Morlock ruhig, »ist es vielleicht doch ein und dieselbe Kugel.«

Nun war meine abgelenkte Kugel am anderen Ende des Tisches gegen die Bande geprallt und rollte wieder zurück; die irreguläre Geometrie des Tisches bewirkte, daß sie jetzt genau auf die Tasche zuhielt, aus der die zweite Kugel zum Vorschein gekommen war.

»Aber wie ist das möglich? Ich meine, eine Zeitmaschine kann wohl zwei Kopien desselben Objekts am selben Ort deponieren — siehe Moses und mich! —, aber hier ist nichts, was nach einer Zeitmaschine aussieht. Und welchen Sinn sollte das auch haben?«

Die Originalkugel hatte nach diesen diversen Kollisionen so viel kinetische Energie verloren, daß sie nur noch schlich, als sie die Tasche erreichte; aber sie fiel hinein und verschwand.

Jetzt hatten wir nur noch die Kopie, die auf so mysteriöse Art aus der Tasche aufgetaucht war. Ich nahm sie in die Hand und inspizierte sie. Soweit ich es sagen konnte, stellte sie eine exakte Kopie der ersten Kugel dar. Ich untersuchte den Schacht unter der Tasche — und er war leer! Unsere Originalkugel war verschwunden, als ob sie niemals existiert hätte.

»Na gut!« sagte ich zu Nebogipfel. »Dieser Tisch ist raffinierter, als ich angenommen hatte. Was, glaubst du, ist hier geschehen? Meinst du, daß das mit den gestörten Pfaden zu tun hat — diesem Rasseln — von dem ich dir vorhin erzählt habe?«

Nebogipfel antwortete nicht sofort, aber dann widmete er, zusammen mit mir, einen großen Teil seiner Zeit den Rätseln dieses seltsamen Billardtisches. Was mich betraf, so versuchte ich mich an einer Inspektion des Tisches selbst, wobei ich hoffte, irgendeinen verborgenen Mechanismus zu finden, aber ohne Erfolg — keine Tricks, keine versteckten Falltürchen, die Kugeln verschwinden lassen und ausstoßen konnten. Außerdem, selbst wenn es eine derart primitive Zauber-Maschinerie gegeben hätte, wäre immer noch eine Erklärung für die offenkundige Existenz ›alter‹ und ›neuer‹ Kugeln fällig gewesen!

Was mich wirklich beschäftigte — obwohl ich es mir bisher nicht erklären konnte — war dieses seltsame grünliche Glühen der Bande. Beim Jupiter, dieses Glühen erinnerte mich an Plattnerit.


Nebogipfel berichtete mir, was er über die Konstrukteure in Erfahrung gebracht hatte.

Es hatte den Anschein, daß unser stummer Freund in Nebogipfels Wohnzimmer einer universalen Spezies angehörte: die Konstrukteure bewohnten die Erde, die transformierten Planeten — und sogar die Sterne.

»Wenn du verstehen willst«, sagte er, »mußt du deine Vorurteile ablegen und diese Wesen unvoreingenommen betrachten. Sie sind nämlich nicht wie Menschen.«

»Das kann ich akzeptieren.«

»Nein«, insistierte er, »ich glaube nicht, daß du das kannst. Zunächst darfst du dir diese Konstrukteure nicht als individuelle Persönlichkeiten vorstellen — so wie du oder ich. Es sind keine Menschen in Mänteln aus Metall! Sie sind etwas qualitativ anderes.«

»Warum? Weil sie aus austauschbaren Teilen bestehen?«

»Zum Teil. Zwei Konstrukteure können — wie zwei Tropfen einer Flüssigkeit — miteinander verschmelzen, sich genauso leicht wieder voneinander lösen und sich dann erneut verbinden. Es wäre völlig unmöglich — und sinnlos — den Ursprung dieser oder jener Komponente ermitteln zu wollen.«

Nach diesen Worten wurde mir klar, warum ich nie gesehen hatte, daß sich die Konstrukteure draußen in der eisbedeckten Landschaft bewegten. Es bestand keine Notwendigkeit, daß sie die Masse ihrer großen, klotzigen Körper in der Gegend herumwuchteten (es sei denn, zu besonderen Anlässen wie z. B. zu Nebogipfels und meiner Reparatur). Es genügte, wenn der Konstrukteur sich selbst in diese von Nebogipfel beschriebenen molekularen Komponenten zerlegte. Diese Komponenten konnten dann wie Würmer über das Eis kriechen!

»Aber damit ist das Bewußtsein der Konstrukteure noch nicht erschöpft«, fuhr Nebogipfel fort. »Die Konstrukteure leben in einer Welt, die wir uns kaum vorstellen können — sie leben sozusagen in einem Meer, einem Meer aus Informationen.«

Nebogipfel beschrieb, wie die Universalen Konstrukteure über Phonographen und andere Mittel miteinander vernetzt waren, und daß sie diese Verbindungen zu ständiger Kommunikation nutzten. Informationen — und Bewußtsein sowie ein vertieftes Verständnis — strömten aus dem mechanischen Gehirn jedes Konstrukteurs, und jeder erhielt Nachrichten und Interpretationen von jedem seiner Brüder: sogar von denen auf den entferntesten Sternen.

Der Kommunikationsmodus der Konstrukteure war so schnell und allumfassend, sagte Nebogipfel, daß es im Grunde keine Analogien zur menschlichen Sprache gab.

»Aber du hast doch mit ihnen gesprochen. Du konntest doch Informationen von ihnen erhalten. Wie war das möglich?«

»Indem ich ihre Art der Interaktion imitiert habe«, erklärte Nebogipfel. Vorsichtig befingerte er seine Augenhöhle. »Dieses Opfer mußte ich bringen.« Sein natürliches Auge leuchtete.

Nebogipfel hatte also einen Weg gesucht, sein Gehirn in dieses Meer aus Informationen einzutauchen, von dem er gesprochen hatte. Er war in der Lage, durch die Augenhöhle direkt Informationen aus diesem Meer einzuholen — ohne daß sie mit dem konventionellen Medium Sprache transportiert werden mußten.

Ich erschauerte bei der Vorstellung einer solchen Invasion in die behagliche Dunkelheit meines Schädels! »Und glaubst du denn, daß es das wert ist?« fragte ich ihn. »Dieses Opfer eines Auges?«

»O ja. Und mehr noch…

Schau — begreifst du, was es mit den Konstrukteuren auf sich hat?« wollte er wissen. »Sie sind eine andere Lebensform — vereint, nicht nur durch diese Gemeinsamkeit auf der rein körperlichen Ebene, sondern durch die Vernetzung ihrer Erfahrungen.

Kannst du dir vorstellen, wie es ist, in einem solchen Informationsmedium wie ihrem Meer zu leben?«

Ich dachte nach. Ich erinnerte mich an Seminare an der Royal Society — diese ergiebigen Diskussionen, wo jeweils einige neue Ideen zur Sprache gebracht wurden und sich anschließend drei Dutzend engagierter Diskussionen entspannen, in deren Verlauf sie modifiziert und verfeinert wurden — oder sogar an meine alten Donnerstagabend-Parties, wo mit der Unterstützung eines ordentlichen Schlucks Wein die Ideen so zahlreich und schnell sprudelten, daß man kaum sagen konnte, wann der eine seine Rede beendet und der andere angefangen hatte.

»Ja«, unterbrach mich Nebogipfel, als ich das erzählte. »Ja, genau das ist es. Siehst du? Aber bei diesen Universalen Konstrukteuren finden solche Gespräche ständig statt — und mit Lichtgeschwindigkeit, wobei die Gedanken direkt von einem Gehirn in das andere übertragen werden.«

»Und wie kann man in einem solchen Kommunikationschaos noch unterscheiden, wo das Bewußtsein des einen endet und das eines anderen beginnt? Sind das meine Gedanken, meine Erinnerungen — oder deine? Verstehst du? Begreifst du die Implikationen?«

Auf der Erde — vielleicht auf jeder besiedelten Welt — mußte es gigantische zentrale, aus Millionen Konstrukteuren bestehende Intelligenzen geben, die zu gottähnlichen Entitäten verschmolzen waren und das Bewußtsein der Rasse aufrechterhielten. Wie Nebogipfel gesagt hatte, war die Spezies selbst ein Bewußtsein.

Erneut hatte ich das Gefühl, zu weit in die Metaphysik abzuschweifen. »Das ist zwar alles höchst faszinierend«, sagte ich, »und auch schön und gut; aber vielleicht sollten wir wieder einen Praxisbezug zu unserer Situation herstellen. Was hat das alles mit dir und mir zu tun?« Ich drehte mich zu unserem geduldigen Konstrukteur um, der schimmernd in der Mitte des Bodens saß. »Was ist mit diesem Burschen?« fragte ich. »All dieses Zeug über Bewußtsein und so weiter ist ja auch sehr nett — aber was will er? Warum ist er hier? Warum hat er uns das Leben gerettet? Und — was hat er jetzt mit uns vor? Oder verhält es sich so, daß diese mechanischen Menschen alle zusammenarbeiten — wie Bienen in ihrem Stock, vereint durch diese kollektiven Intelligenzen, von denen du gesprochen hast — so daß wir es mit einer Spezies mit gemeinsamen Zielen zu tun haben?«

Nebogipfel rieb sich das Gesicht. Er ging zu dem Konstrukteur, blickte in sein Okular und wurde nach einigen Minuten mit der Extrusion einer Käseplatte aus dem glitzernden Leib des Konstrukteurs belohnt, die ich schon so oft in Nebogipfels eigener Zeit gesehen hatte. Mit Abscheu beobachtete ich, wie Nebogipfel die Platte ergriff und in dieses wie schon mal gegessen aussehende Zeug hineinbiß. Es war eigentlich auch nicht schlimmer als die Extrusion von Materialien aus dem Boden der Morlock-Sphäre, aber der zwischen Leben und Maschine changierende Konstrukteur hatte etwas an sich, das mich abstieß. Ich mußte mich zwingen, mich weiterer Spekulationen bezüglich der Herkunft meines eigenen Essens und Wassers zu enthalten!

»Wir können diese Konstrukteure nicht als vereinigt bezeichnen«, stellte Nebogipfel richtig. »Sie sind vernetzt. Aber sie verfolgen kein gemeinsames Ziel — wie es zum Beispiel die verschiedenen Komponenten deiner Person tun.«

»Aber warum nicht? Das wäre doch höchst vernünftig. Mit perfekter, kontinuierlicher Kommunikation gäbe es keine Mißverständnisse mehr — keine Konflikte…«

»Aber dem ist nicht so. Die Gesamtheit des mentalen Universums der Konstrukteure ist zu groß.« Er verwies wieder auf das Informations-Meer und beschrieb, wie die Strukturen des Denkens und Spekulierens — komplex, evolutionär, vergänglich — kamen und gingen, erzeugt aus den Rohstoffen dieses mentalen Ozeans. »Diese Strukturen verhalten sich analog zu den wissenschaftlichen Theorien deiner Zeit — ständig bedroht von neuen Entdeckungen und den Erkenntnissen neuer Denker. Die Welt der Erkenntnis steht nämlich niemals still…

Und erinnere dich nur an deinen Freund Kurt Gödel, der uns lehrte, daß kein Wissensgebiet jemals kodifiziert und abgeschlossen werden kann.

Das Informations-Meer ist unruhig. Die aus ihm entspringenden Hypothesen und Intentionen sind komplex und vielschichtig; es besteht fast in keinerlei Hinsicht völliger Konsens unter den Konstrukteuren. Es ist wie eine langwierige Debatte mit immer neuen Aspekten; und innerhalb dieser Debatte können sich Fraktionen bilden: Gruppen von Quasi-Individuen, die sich um ein Paradigma scharen. Man könnte sagen, daß die Konstrukteure sich einig sind in dem Bestreben, die Erkenntnis ihrer Spezies voranzutreiben, nicht jedoch hinsichtlich der Art und Weise, wie das bewerkstelligt werden soll. Man könnte es im Grunde auch so ausdrücken: je fortgeschrittener das Denken, desto mehr unterschiedliche Strömungen scheinen sich zu entwickeln, denn je komplexer die Welt wird…

Und solcherart entwickelt sich die Rasse weiter.« Ich erinnerte mich daran, was Barnes Wallis mir von der neuen Redeordnung im Parlament erzählt hatte, im Jahre 1938, als Opposition bereits einen Straftatbestand erfüllte — die Abzweigung der Energien von der einen, selbstverständlich korrekten Interpretation der Dinge! — Wenn aber das, was Nebogipfel sagte, stimmte, dann konnte es auf keine Frage eine allgemeingültige Antwort geben: wie diese Konstrukteure mittlerweile gelernt hatten, waren vielschichtige Perspektiven unabdingbar in dem Universum, in dem wir lebten!

Nebogipfel mümmelte hingebungsvoll an seinem Käsemampf; als er fertig war, schob er den Teller wieder in die Substanz des Konstrukteurs, wo sie absorbiert wurde — es mußte etwas Tröstliches für ihn haben, dachte ich, denn dieser Vorgang hatte größte Ähnlichkeit mit dem Extruder-Boden seiner heimatlichen Sphäre.

Weiße Erde

Ich verbrachte viele Stunden allein oder mit Nebogipfel an den Fenstern unseres Apartments.

Ich sah keine Anzeichen tierischen oder pflanzlichen Lebens auf der Oberfläche der Weißen Erde. Soweit ich es beurteilen konnte, waren wir in unserer kleinen Blase aus Licht und Wärme oben in diesem riesigen Turm isoliert; und in der ganzen Zeit, die wir uns hier befanden, verließen wir diese Blase nie.

Nachts war der Himmel vor unseren Fenstern immer klar, wobei nur eine kleine, frostige (Zirruswolke hoch oben in der sauerstofflosen, tödlichen Atmosphäre stand. Aber trotz dieser Klarheit — ich konnte es immer noch nicht begreifen — gab es keine Sterne — bzw. nur sehr wenige, eine Handvoll, verglichen mit der Vielfalt, die einst die Erde angestrahlt hatte. Ich hatte diese Beobachtung schon bei unserer Ankunft gemacht, mußte sie aber der Kälte oder meiner Desorientierung zugeschrieben haben. Nun, wo ich mich im Warmen und bei klarem Verstand befand, die Bestätigung zu erhalten, war beunruhigend — vielleicht das seltsamste Einzelphänomen in dieser neuen Welt.

Der Mond — dieser geduldige Satellit — drehte sich noch immer um die Erde und durchlief seine Phasen mit unbeirrbarer Regelmäßigkeit; aber seine uralte Oberfläche war auch jetzt noch grün gefleckt. Das Mondlicht schien nicht mehr in kühlem Silber, sondern tauchte die Landschaft der Erde in ein sanftes grünes Glühen — der Planet gab der Erde einen Hauch des Grüns zurück, dessen sie sich einst erfreut hatte, und die nun unter dem ewigen Eis begraben war.

Erneut sah ich dieses Glühen, das von einem eingefangenen Stern zu stammen schien und stetig von der östlichen Flanke des Mondes auf uns herableuchtete. Zuerst hatte ich gemutmaßt, daß sich die Sonne in einem Mondsee spiegeln würde, aber das Licht war so konstant, daß ich schließlich einen künstlichen Ursprung voraussetzte. Ich stellte mir einen Spiegel vor — ein künstliches Konstrukt — das vielleicht auf einem lunaren Berggipfel stand und so ausgerichtet war, daß seine Reflexion immer die Erde illuminierte. Was den Zweck einer solchen Anlage betraf, spekulierte ich, daß sie möglicherweise aus einer Zeit datierte, in welcher der Abbau der Atmosphäre eine Evakuierung des Mutterplaneten noch nicht erforderlich gemacht hatte, aber vielleicht doch schon so weit fortgeschritten war, daß er den Zusammenbruch aller überlebenden Kulturen herbeigeführt hatte.

Ich stellte mir die Mond-Menschen vor: Seleniten, wie wir sie nennen könnten, Menschenabkömmlinge. Die Seleniten mußten das tödliche Wüten der großen Feuer beobachtet haben, die überall auf der Kruste der erstickenden Erde ausbrachen. Die Seleniten hatten sicher gewußt, daß noch Menschen auf der Erde lebten — aber es waren Menschen, die ihre zivilisatorischen Standards verloren hatten, Menschen, die wie Wilde, ja sogar wie Tiere lebten und in einen prärationalen Zustand zurückfielen. Vielleicht wurden auch sie vom Kollaps der Erde betroffen — denn es war vorstellbar, daß die Seleniten-Gesellschaft nicht ohne die Unterstützung von Mutter Erde überleben konnte.

Die Seleniten mochten zwar das Schicksal ihrer Verwandten auf der Erde beklagen, aber sie konnten sie nicht erreichen… und so versuchten sie, ein Signal zu senden. Sie errichteten ihren großen Spiegel — er mußte einen Durchmesser von einer halben Meile oder mehr haben, um über interplanetarische Distanzen gesehen zu werden.

Den Seleniten mochte vielleicht sogar noch etwas Ehrgeizigeres vorgeschwebt haben als eine schlichte Inspiration am Himmel. So hätten sie z. B. — indem sie durch die Verwendung eines Morse-Äquivalentes den Spiegel zum Flackern brachten — Anleitungen zum Getreideanbau oder Maschinenbau übermitteln können — die verlorenen Geheimnisse der Dampfmaschine vielleicht — auf jeden Fall etwas Sinnvolleres als nur gute Wünsche.

Aber letztlich war es aussichtslos. Schließlich krachte die Faust der Vergletscherung auf die Erde nieder. Und als die Menschen von der Erde verschwanden, stellte auch der große lunare Spiegel seine Sendetätigkeit ein.

Vor dem Hintergrund dieser Spekulationen schaute ich nun aus den Fenstern meines Turmes; ich konnte sie natürlich nicht auf ihre Richtigkeit überprüfen — denn Nebogipfel war nicht in der Lage, diese neue Menschheitsgeschichte bis ins Detail nachzuvollziehen — aber auf jeden Fall wurde das Schimmern dieses isolierten Spiegels auf dem Mond für mich zum bezeichnendsten Symbol des Untergangs der Menschheit.

Das hervorstechendste Merkmal unseres Nachthimmels war jedoch weder der Mond noch das Fehlen der Sterne: es war die große, gazeartige Scheibe mit dem Durchmesser von einem Dutzend Monden, die ich bereits bei unserer Ankunft registriert hatte. Diese Struktur war außerordentlich komplex und belebt. Man stelle sich ein Spinnennetz vor, vielleicht hintergrundbeleuchtet, auf dessen Oberfläche glitzernde Tautropfen umherkullerten; dazu hundert winzige Spinnen, die langsam, aber wahrnehmbar über diese Oberfläche krabbelten, und die offensichtlich damit beschäftigt waren, die Struktur zu verstärken und zu erweitern — und dann lasse man den Blick über viele Meilen interplanetarischen Raumes schweifen! — und man kann ermessen, was ich zu sehen bekam.

In den frühen Morgenstunden konnte ich die Spinnennetz-Scheibe am klarsten erkennen — vielleicht gegen drei Uhr morgens — und dann konnte ich geisterhafte Lichtfäden ausmachen — fragil und dünn —, die sich von der anderen Erdhälfte durch die Atmosphäre zu der Scheibe hochzogen.

Ich erörterte diese Beobachtungen mit Nebogipfel. »Das ist wirklich außergewöhnlich… es ist, als ob diese Strahlen ein Netzwerk aus Licht bildeten, das die Scheibe an der Erde verankert, so daß die ganze Sache wie ein Segel wirkt, das die Erde in einem gespenstischen Wind durch den Weltraum zieht!«

»Deine Rede ist zwar sehr bildlich«, kommentierte er, »aber dennoch veranschaulicht sie dieses Unternehmen ziemlich gut.«

»Was meinst du damit?«

»Daß es ein Segel ist«, bekräftigte er. »Aber es zieht die Erde nicht: vielmehr dient die Erde als Grundlage für den Wind, der das Segel bläht.«

Nebogipfel beschrieb diesen neuen Typ eines Raumschiffs. Es wurde im Weltraum gebaut, denn es war viel zu zerbrechlich, um von der Erde ins All gebracht werden zu können. Ihr Segel bestand im Prinzip aus einem Spiegel; und der ›Wind‹, der das Segel füllte, war Licht: Lichtpartikel, die auf eine reflektierende Fläche treffen, üben eine Schubkraft aus, genauso, wie sich aus Luftmolekülen eine Brise bildet.

»Der ›Wind‹ kommt von Strahlen kohärenten Lichts, das von erdgestützten Projektoren mit der Größe ganzer Städte erzeugt wird«, erläuterte er. »Es sind diese Strahlen, die du als ›Fäden‹ zwischen Planet und Segel beobachtet hast. Der Druck des Lichts ist zwar relativ gering, aber konstant, und hat einen sehr hohen Wirkungsgrad — insbesondere dann, wenn man sich der Lichtgeschwindigkeit nähert.«

Er meinte, daß die Konstrukteure nicht als Einzelindividuen in solchen Schiffen reisen würden, wie es Passagiere der großen Schiffe zu meiner Zeit getan hatten. Vielmehr würden sich die Konstrukteure selbst zerlegen, ihre Komponenten ausschwärmen und sich an das Schiff anlagern lassen. Am Zielort würden sie sich dann wieder zusammensetzen, und zwar in einer Form, die den Bedingungen auf der vorgefundenen Welt am ehesten entsprach.

»Aber, was meinst du, wohin mag das Schiff wohl unterwegs sein? Zum Mond, oder einem der Planeten — oder…«

In seiner nüchternen, undramatischen Morlock-Art entgegnete Nebogipfel: »Nein. Zu den Sternen.«

Der Multiplizitäten-Generator

Im Laufe der Zeit interessierte sich Nebogipfel zusehends für den Billardtisch. Er verbrachte viel Zeit damit, die Kugel über den Tisch rollen zu lassen. Dabei trat in der Mitte des Tisches wiederholt dieses seltsame Rasseln auf, das mir zuvor schon aufgefallen war, und mehrmals glaubte ich zu sehen, daß Billardkugeln — weitere Kopien unseres Originals — aus dem Nichts erschienen und mit der Bahn unserer Kugel interferierten. Manchmal erschien die Kugel nach diesen Kollisionen wieder und lief auf der Bahn weiter, die sie auch ohne den Zusammenprall verfolgt hätte; manchmal jedoch wurde sie auch auf einen anderen Pfad abgelenkt, und ein paarmal — beobachteten wir die Art von Zwischenfall, den ich schon früher beschrieben hatte, als eine stationäre Kugel von ihrer Position verdrängt wurde, ganz ohne mein oder Nebogipfels Zutun.

Das alles machte das Spiel sehr unterhaltsam — und bei der Sache ging es eindeutig nicht mit rechten Dingen zu, aber beim besten Willen konnte ich nichts Verdächtiges erkennen, trotz des trübe glimmenden Plattnerits in den Taschen. Meine einzige Erkenntnis bestand darin, daß die Wahrscheinlichkeit einer Ablenkung der Kugel von ihrem Ausgangskurs um so größer wurde, je langsamer sie rollte.

Der Morlock indessen engagierte sich immer mehr in dieser Angelegenheit. Er blickte wieder in das Innere des geduldigen Konstrukteurs, tauchte erneut in das Informations-Meer ein und erschien mit einem neuen Wissensfragment, das er ergattert hatte — er nuschelte in seinem unverständlichen, fließenden Dialekt etwas vor sich hin — und dann eilte er schnurstracks zum Billardtisch, um seine neuen Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen.

Schließlich schien er bereit, mir seine Hypothesen mitzuteilen; zu diesem Zweck zitierte er mich von meinem Dampfbad weg. Ich trocknete mich mit dem Hemd ab und rannte ihm in das Billardzimmer nach; seine kleinen, schmalen Füße patschten auf den harten Boden, als er im Laufschritt zum Tisch eilte. So aufgeregt hatte ich ihn noch selten gesehen.

»Ich glaube, ich weiß jetzt, was es mit diesem Tisch auf sich hat«, meldete er atemlos.

»Ja?«

»Er ist… — wie soll ich es ausdrücken? — er ist nur ein Vorführgerät, wenig mehr als ein Spielzeug — aber er ist ein Multiplizitäten-Generator. Begreifst du?«

Ich hielt die Hände hoch. »Ich befürchte, daß ich überhaupt nichts begreife.«

»Das Konzept der Multiplen Historien ist dir doch mittlerweile ein Begriff…«

»Das sollte es; es ist ja die Grundlage deiner Erklärung der divergenten Historien, die wir bereits besucht haben.«

In jedem Moment, bei jedem Ereignis (faßte ich zusammen), verzweigt sich die Geschichte. Der Schatten eines Schmetterlings kann hierhin oder dorthin fallen; die Kugel eines Attentäters kann einen Arm streifen und weiterfliegen, ohne Schaden anzurichten, oder mit tödlicher Wirkung das Herz eines Königs durchschlagen… Jedem potentiellen Ausgang eines Ereignisses entspricht eine neue Version der Geschichte. »Und alle diese Historien sind real«, sagte ich, »und — wenn ich es richtig verstehe — sie liegen nebeneinander, in einer gewissen vierten Dimension, wie die Seiten eines Buches.«

»Sehr richtig. Und jetzt begreifst du auch, daß der Einsatz einer Zeitmaschine — einschließlich deines ersten Prototyps — weitere Verzweigungen verursacht und damit neue Historien generiert… von denen manche ohne die Intervention der Maschine nicht möglich gewesen wären — wie diese hier.« Er gestikulierte mit den Händen. »Ohne deine Maschine, die diese ganze Kausalkette ausgelöst hat, hätten die Menschen nie zurück ins Paläozän gelangen können, und wir würden jetzt nicht mit den Folgen einer fünfzig Millionen Jahre dauernden ›intelligenten‹ Modifikation des Kosmos konfrontiert werden.«

»Das ist mir schon klar«, erwiderte ich mit zunehmender Ungeduld. »Aber was hat das nun mit diesem Tisch zu tun?«

»Schau.« Er ließ eine einzelne Kugel über den Tisch rollen. »Das ist unsere Kugel. Wir müssen uns viele Historien vorstellen — einen ganzen Stapel —, durch die sich die Kugel permanent bewegt. Die wahrscheinlichste Historie ist natürlich die mit der klassischen Ballistik — also eine in gerader Richtung über den Tisch rollende Kugel. Daneben existieren jedoch auch noch andere Historien — benachbart, aber grundverschieden. Es ist sogar möglich, wenn auch sehr unwahrscheinlich, daß sich in einer dieser Historien die Wärmeenergie der Moleküle der Kugel aufschaukelt, so daß sie in die Luft springt und dir ins Auge fliegt.«

»Na wunderbar.«

»Jetzt…« Er ließ einen Finger über den Rand der nächsten Tasche gleiten. »Diese grüne Einlage ist ein Indiz.«

»Es ist Plattnerit.«

»Ja. Die Taschen wirken wie miniaturisierte Zeitmaschinen — begrenzt in bezug auf Kapazität und Größe, aber dennoch recht effektiv. Und, wie wir aus eigener Erfahrung wissen, wenn eine Zeitmaschine aktiviert ist — wenn Objekte in die Zukunft oder Vergangenheit reisen und sich selbst begegnen — kann die Kausalität von Ursache und Wirkung zerreißen, und Historien beginnen wie Unkraut zu wuchern…«

Er erinnerte mich an den merkwürdigen Zwischenfall, den wir mit der stationären Kugel erlebt hatten. »An diesem Beispiel kann ich es vielleicht am prägnantesten festmachen. Die Kugel lag ruhig auf dem Tisch — nennen wir sie einmal unsere Kugel. Dann erschien aus einer Tasche eine Kopie unserer Kugel und stieß unsere weg. Unsere Kugel rollte zur Bande, prallte ab und fiel in die Tasche, wobei jetzt die Kopie in genau der gleichen Position wie das Original auf dem Tisch verharrte.

Dann«, ergänzte Nebogipfel langsam, »reiste unsere Kugel in der Zeit zurück — verstehst du? — und tauchte in der Vergangenheit aus der Tasche auf…«

»Und räumte sich dann selbst aus dem Weg und nahm wieder ihre eigene Position ein.« Ich starrte auf den unschuldig wirkenden Tisch. »Verdammt, Nebogipfel — jetzt verstehe ich! Es war wirklich dieselbe Kugel. Sie lag da auf dem Tisch — aber wegen der bizarren Möglichkeiten der Zeitreise konnte sie durch die Zeit springen und sich selbst wegschubsen!«

»Richtig«, bestätigte der Morlock.

»Aber weshalb hat sich die Kugel dann überhaupt erst bewegt? Es hat sie doch keiner von uns in Richtung Tasche angestoßen.«

»Ein ›Stoß‹ war auch gar nicht notwendig«, meinte Nebogipfel. »Im Hinblick auf Zeitmaschinen — und das ist der eigentliche Punkt der Demonstration — mußt du deine bisherigen Vorstellungen von der Kausalität vergessen. Die Dinge liegen nicht so einfach! Die Kollision mit der Kopie war nur eine Möglichkeit für die Kugel, die der Tisch uns gezeigt hat. Verstehst du? Durch eine Zeitmaschine wird die Kausalität so verzerrt, daß sogar eine stationäre Kugel von einer infiniten Anzahl solcher bizarren Möglichkeiten umgeben ist. Deshalb sind deine Fragen nach dem ›wie es begann‹ auch irrelevant: es ist eine geschlossene kausale Schleife — es gab keine Initialisierung.«

Ich war nicht ganz sicher, ob ich das alles verstanden hatte, aber ich beließ es mal dabei!

»Kann schon sein«, wandte ich ein, »aber sieh doch mal: Ich komme damit noch immer nicht so ganz klar. Betrachten wir noch einmal die zwei Kugeln auf dem Tisch — bzw. die eine reale Kugel und ihre Kopie. Plötzlich ist doppelt soviel Materie vorhanden wie vorher! Wie kann das gehen?«

Er musterte mich. »Du bist irritiert wegen der Verletzung der Erhaltungsgesetze — dem Zuwachs bzw. der Verringerung von Masse.«

»Exakt.«

»Solche Bedenken habe ich aber nicht registriert, als du auf der Suche nach deinem jüngeren Ich in die Zeit gereist bist. Das war nämlich eine weit größere Verletzung jeglicher Erhaltungsprinzipien.«

»Nichtsdestoweniger«, opponierte ich, »ist der Einwand doch zulässig — oder?«

»In gewisser Weise, ja«, konzedierte er. »Aber nur in einem begrenzten singulärhistorischen Kontext.«

»Die Universalen Konstrukteure haben diese Paradoxien der Zeitreise bereits seit Jahrhunderten untersucht«, sagte er. »Oder vielmehr offensichtliche Paradoxien. Und sie haben eine Art Erhaltungsgesetz formuliert, das für die höhere Dimension der Multiplizität der Historien gilt.

Fangen wir mit einem Objekt an — zum Beispiel mit dir. Wenn du in einem gegebenen Moment eine Kopie von dir hinzufügst, die abwesend ist, weil du in die Vergangenheit oder Zukunft gereist bist — und dann alle doppelt vorhandenen Kopien abziehst, weil eine von dir in die Vergangenheit gereist ist — dann wirst du feststellen, daß die Gesamtsumme konstant bleibt — daß es dich ›wirklich‹ nur einmal gibt — gleichgültig, wie oft du in der Zeit hin- und herreist. Also haben die Erhaltungssätze eine gewisse Gültigkeit — obwohl es in jedem Moment in jeder gegebenen Historie den Anschein haben mag, daß die Erhaltungssätze gebrochen sind, weil du plötzlich zweimal oder überhaupt nicht mehr existierst.«

Das sah ich nach einiger Überlegung ein. »Es besteht also nur dann eine Paradoxie, wenn man sein Denken auf eine einzige Historie beschränkt«, erkannte ich. »Die Paradoxie löst sich auf, wenn man in den Kategorien der Multiplizität denkt.«

»Exakt. Genauso wie die Probleme der Kausalität vor dem größeren Hintergrund der Multiplizität aufgehoben werden.

Wie du siehst, ist es das Potential dieses Tisches«, dozierte er, »aufgrund dessen wir eine Demonstration dieser außergewöhnlichen Möglichkeiten erleben können… Er ist in der Lage, uns mit Zeitmaschinen-Technologie die Möglichkeit — nein, die Existenz — multipler, divergenter Historien auf der makroskopischen Ebene aufzuzeigen. Tatsächlich kann er nach Belieben einzelne Historien anwählen: Er ist sehr raffiniert konstruiert…«

Er erzählte mir mehr von den Gesetzen der Multiplizität der Konstrukteure.

»Man kann sich Situationen vorstellen«, sagte er, »in denen Historien keine, eine oder mehrere Multiplizitäten aufweisen. Sie ist Null, wenn diese Historie unmöglich ist — wenn sie nicht konsistent ist. Eine Multiplizität von Eins ist die Situation, wie sie sich eure früheren Philosophen vorgestellt haben — zum Beispiel Newtons Generation —, derzufolge sich aus jedem Punkt in der Zeit nur eine einzige konsistente und unveränderliche Kausalkette entwickelt.«

Ich sah, daß er mein — naives! — Geschichtsbild als eine Art riesigen, mehr oder wenig fixierten Raum beschrieb, durch den mich meine Zeitmaschine nach Belieben wandern ließ.

»Ein ›gefährlicher‹ Pfad für ein Objekt — wie dich oder die Billardkugel — ist einer, der an einer Zeitmaschine endet«, belehrte er mich.

»Nun, das ist deutlich genug«, sagte ich. »Es ist offensichtlich, daß ich seit der ersten Inbetriebnahme der Zeitmaschine auf allen Seiten neue Historien abgespalten habe. In der Tat gefährlich!«

»Ja«, bestätigte Nebogipfel. »Und während die Maschine und ihre Nachfolgemodelle immer weiter in die Vergangenheit zurückgingen, tendierten die generierten Multiplizitäten gegen unendlich, und die Divergenz zwischen den neuen Zweigen der Geschichte wurde immer größer.«

»Aber«, sagte ich etwas frustriert, »um wieder zum Thema zu kommen — was ist nun der Zweck dieses Tisches? Ist es nur ein Trick? — Warum haben die Konstrukteure ihn uns bereitgestellt? Was wollen sie uns damit sagen?«

»Das weiß ich nicht«, erklärte er. »Noch nicht. Es ist schwierig… Das Informations-Meer ist groß, und es gibt viele Fraktionen unter den Konstrukteuren. Die Informationen werden mir nicht einfach so serviert — verstehst du? — ich muß nehmen, was ich kriegen kann, sie optimal auswerten und auf dieser Basis eine Interpretation erstellen… ich glaube, daß es eine Gruppe unter ihnen gibt, die einen Plan hat — ein gigantisches Projekt — dessen Umrisse ich kaum erkennen kann.«

»Worum geht es bei diesem Projekt?«

»Schau: Wir wissen, daß aus jedem Ereignis viele — vielleicht unendlich viele — Historien resultieren«, antwortete Nebogipfel. »Stell dir vor, du befindest dich in zwei solchen benachbarten Historien, die sich — sagen wir — in den Details unterscheiden, wie die Billardkugel abprallt. Nun: könnten diese beiden Kopien von dir miteinander kommunizieren?«

Ich dachte darüber nach. »Das haben wir früher schon diskutiert. Ich wüßte nicht, wie. Eine Zeitmaschine würde mich in beide Richtungen eines einzelnen Pfades der Geschichte führen. Wenn ich zurückginge, um das Abprallen der Kugel zu verändern, würde ich nach der Rückkehr in die Zukunft erwarten, einen Unterschied zu sehen; wenn die Maschine nämlich eine Verzweigung erzeugt, dann folgt sie in der Regel der neu generierten Historie. — Nein«, meinte ich dann nachdrücklich. »Meine beiden Versionen könnten nicht miteinander kommunizieren.«

»Nicht einmal unter der Voraussetzung einer entsprechenden Maschine oder eines Meßgerätes?«

»Nein. Es gäbe dann zwei Kopien dieser Geräte — jedes so losgelöst von seinem Zwilling wie ich von meinem.«

»Sehr richtig. Das ist eine vernünftige und vertretbare Position. Sie basiert auf der impliziten Annahme, daß sich Zwillings-Historien nach ihrer Spaltung nicht mehr gegenseitig beeinflussen. Technisch gesehen unterstellst du, daß Quantenmechanische Operatoren linear sind — aber….« — und jetzt schwang wieder diese Erregung in seiner Stimme mit — »es gibt anscheinend doch eine Möglichkeit, mit der anderen Historie zu kommunizieren — falls, auf einer fundamentalen Ebene, das Universum und sein Zwilling verbunden bleiben. Wenn auch nur der winzigste Betrag von Nonlinearität in den Quanten-Operatoren aufträte — knapp an der Nachweisbarkeitsgrenze…«

»Dann wäre eine solche Kommunikation möglich?«

»Ich habe es erlebt… im Meer, meine ich… die Konstrukteure haben es möglich gemacht, aber nur in einem sehr engen experimentellen Rahmen.«

Nebogipfel beschrieb mir das, was er als ›Everett-Phonographen‹ bezeichnete — »nach dem Wissenschaftler des zwanzigsten Jahrhunderts deiner Geschichte, der sich als erster mit dieser Idee befaßte. Natürlich haben die Konstrukteure dafür eine andere Bezeichnung — aber die läßt sich nicht so einfach wiedergeben.«

Die Nonlinearitäten, von denen Nebogipfel sprach, wirkten sich noch im Mikrokosmos aus.

»Stell dir vor, du führst eine Messung durch — vielleicht um den Spin eines Atoms zu erfassen.« Er beschrieb eine ›Nonlineare‹ Interaktion zwischen dem Spin eines Atoms und seinem Magnetfeld. »Das Universum teilt sich natürlich, je nach Ausgang des Experiments. Dann, nach dem Experiment, schleust du das Atom durch das Nonlineare Feld. Danach wirst du feststellen, du kannst es so hinbiegen, daß deine Handlungen in einer Historie von einer Entscheidung abhängen, die in der zweiten Historie getroffen wurde…«

Er ging bis in die kleinsten Einzelheiten darauf ein und brachte dann noch die Technologie des sogenannten ›Stern-Gerlach-Gerätes‹ ins Spiel, aber ich konnte seinen Ausführungen nicht mehr folgen; mir ging es nur um das Verständnis des wesentlichen Punktes.

»Also«, unterbrach ich ihn, »ist es doch möglich? Willst du mir damit sagen, daß die Konstrukteure solche Kommunikationsgeräte entwickelt haben, die eine Verständigung zwischen den Historien ermöglichen? Ist unser Tisch ein solches Gerät?« Der Gedanke versetzte mich in Aufregung. Dieses ganze Gerede über Billardkugeln und Atomspins war ja ganz nett; wenn ich jedoch über einen Everett-Phonographen mit meinen Ichs in anderen Historien sprechen könnte — vielleicht mit meinem Zuhause im Richmond des Jahres 1891…

Aber Nebogipfel desillusionierte mich auf der Stelle. »Nein«, sagte er. »Noch nicht. Der Tisch macht den Nonlinearen Effekt zwar nutzbar, aber nur, um… äh… einzelne Historien zu beleuchten. Es wird zumindest eine Auswahl, eine Steuerung des Prozesses vorgeführt, aber… die Effekte sind so geringfügig, mußt du wissen«, fuhr er fort. »Und die Nonlinearitäten werden von der Zeitevolution unterdrückt…«

»Ja«, sagte ich ungeduldig, »aber was meinst du dazu? Will unser Konstrukteur uns, indem er diesen Tisch hierhergestellt hat, sagen, daß dies alles — Nonlinearität und Kommunikation zwischen den Historien —, daß das alles für uns wichtig ist?«

»Vielleicht«, entgegnete Nebogipfel. »Aber auf jeden Fall ist es wichtig für ihn.«

Die mechanischen Erben der Menschheit

Nebogipfel versuchte, die Menschheitsgeschichte über einen Zeitraum von fünfzig Millionen Jahren zu rekonstruieren. Er wies mich darauf hin, daß seine Schilderung nur unter Vorbehalt erfolge — ein Gebäude aus Spekulationen, das auf die paar eindeutigen Fakten gegründet war, die er aus dem Informations-Meer gefischt hatte.

Die Menschen und ihre Nachkommen hatten wahrscheinlich in mehreren Schüben die Sterne kolonisiert, sagte Nebogipfel. Während unserer Reise in dem Zeitfahrzeug hatten wir den Start einer solchen Schiffsgeneration von der Orbitalstadt miterlebt.

»Es ist nicht schwer, ein interstellares Raumschiff zu bauen, wenn man Geduld mitbringt. Ich kann mir vorstellen, daß unsere Freunde im Paläozän schon hundert oder zweihundert Jahre nach unserer Abreise ein derartiges Schiff hätten konstruieren können. Man bräuchte natürlich eine Antriebseinheit — eine chemische, Ionen- oder Laserrakete; oder vielleicht auch ein Sonnensegel in der Art, wie wir es gesehen haben. Und es gibt Strategien, die Ressourcen des Sonnensystems zu nutzen, um es zu verlassen. Man könnte zum Beispiel am Jupiter vorbeifliegen und sich durch die Masse dieses Planeten in Richtung Sonne schleudern lassen. Mit zusätzlichem Schub im Perihel könnte man sehr leicht die solare Fluchtgeschwindigkeit erreichen.«

»Und dann wäre man aus dem Sonnensystem entkommen?«

»Im Zielgebiet müßte dieser Vorgang durch die Ausnutzung der Gravitationsquellen von Sternen und Planeten dann umgekehrt werden, um sich in dem neuen System niederzulassen. Es könnte zehn-, sogar hunderttausend Jahre dauern, eine solche Reise zu beenden, so groß sind die Abgründe zwischen den Sternen…«

»Eintausend Jahrhunderte? Aber wer könnte überhaupt so lange überleben? Welches Schiff — allein schon die Frage des Nachschubs…«

»Du begreifst nicht«, sagte er. »Sie würden keine Menschen losschicken. Das Schiff wäre ein Automat. Eine Maschine, mit manipulativen Fähigkeiten, deren Intelligenz mindestens auf menschlichem Niveau liegt. Die Maschine hätte den Auftrag, die Ressourcen des stellaren Zielgebiets zu erforschen und — unter Nutzbarmachung von Planeten, Kometen, Asteroiden, Staub sowie allem, was sie sonst noch finden würde — eine Kolonie zu errichten.«

»Deine ›Automaten‹«, bemerkte ich, »hören sich ganz nach unseren Freunden an, den Universalen Konstrukteuren.«

Darauf antwortete er nicht.

»Ich sehe durchaus ein, daß es sinnvoll ist, eine Maschine zum Sammeln von Informationen auszusenden. Aber zu etwas anderem — was soll das? Welche Bedeutung hätte eine Kolonie ohne Menschen?«

»Aber eine solche Maschine würde alles konstruieren, wenn sie die erforderlichen Ressourcen und genügend Zeit hätte«, sagte der Morlock. »Mit Zellsynthese und künstlicher Gebärmuttertechnologie könnte sie sogar Menschen konstruieren, welche die neue Kolonie dann besiedeln. Verstehst du?«

Ich sträubte mich bei dieser Vorstellung — denn diese Aussicht wirkte unnatürlich und abstoßend auf mich —, bis ich mich dann zögernd daran erinnerte, daß ich ja einmal die ›Konstruktion‹ eines Morlocks auf eben diese Art miterlebt hatte!

»Aber die wichtigste Aufgabe des Schiffes würde darin bestehen, weitere Kopien von sich selbst anzufertigen«, fuhr Nebogipfel fort. »Diese würden dann aufgetankt — z. B. mit Gasen, die von den Sternen abgezapft werden — und zu weiteren Sternensystemen losgeschickt.

Und so würde die Kolonisierung der Galaxis langsam, aber stetig voranschreiten.«

»Aber«, protestierte ich, »selbst auf diese Art würde es doch so lange dauern. Zehntausend Jahre, um den nächsten Stern zu erreichen, der nur einige Lichtjahre entfernt ist…«

»Vier.«

»Und die Galaxis selbst…«

»Hat einen Durchmesser von hunderttausend Lichtjahren. Es würde nur langsam gehen. Die Wanderung durch die Galaxis wäre mit der Expansion von Gasmolekülen in einem Vakuum zu vergleichen«, sagte er. »Zumindest am Anfang. Aber dann würden die Kolonien beginnen, miteinander in Wechselwirkung zu treten. Verstehst du? Es könnten sich sternenumspannende Reiche bilden. Die Ausbreitung würde sich wohl weiter verlangsamen — aber dennoch unausweichlich weitergehen. Mit den Technologien, die ich beschrieben habe, würde es zwar Millionen Jahre dauern, die Kolonisierung der Galaxis abzuschließen — aber es wäre durchführbar. Und, weil es unmöglich ist, die mechanischen Schiffe zurückzurufen oder auf einen neuen Kurs zu bringen, wenn sie erst einmal gestartet sind, würde es auch durchgeführt werden. Es muß geschehen sein — jetzt, fünfzig Millionen Jahre nach der Gründung von Alt-London.«

»Ich vermute, daß bei der Erschaffung der ersten paar Generationen der Konstrukteure anthropozentrische Komponenten integriert wurden. Sie wurden erbaut, um den Menschen zu dienen. Aber diese Konstrukteure waren nicht bloß einfache mechanische Geräte — sie waren Entitäten mit einem Bewußtsein. Und als sie in die Galaxis ausschwärmten, Welten erforschten, von denen die Menschen sich nicht hätten träumen lassen und sich selbst umkonstruierten, überflügelten sie bald weit den Wissensstand der Menschheit und durchbrachen die Grenzen ihrer Erbauer… die Maschinen emanzipierten sich.«

»Gütiger Gott«, sagte ich. »Ich kann mir kaum vorstellen, daß die Militärs dieses weit zurückliegenden Zeitalters dieser Idee sehr aufgeschlossen gegenüberstanden.«

»Ja. Es gab Kriege… die Informationen sind freilich nur bruchstückhaft.«

»Auf jeden Fall konnte es nur einen Sieger in einem solchen Konflikt geben.«

»Und was war mit den Menschen? Wie haben sie denn dazu gestanden?«

»Einige positiv, andere negativ.« Nebogipfel verzog leicht das Gesicht und rollte die Augen. »Was glaubst du denn? Die Menschen sind eine heterogene Spezies, mit vielen gegensätzlichen Zielen — auch in deiner Zeit; stell dir nur vor, wie komplizierter die Dinge noch wurden, als die Menschen sich über Hunderte und Tausende von Planetensystemen verteilten. Auch unter den Konstrukteuren kam es bald zur Fraktionsbildung. Aufgrund ihrer physikalischen Natur sind sie eine homogenere Spezies, als die Menschheit je eine war, aber — wegen des viel größeren Informationspools, zu dem sie Zugang haben — sind ihre Ziele viel komplexer und zahlreicher.«

Wie Nebogipfel jedoch berichtete, war trotz dieser Konflikte die Eroberung der Sterne weitergegangen.

Der Start der ersten Sternen-Schiffe, so Nebogipfel, hatte die größte bisher dagewesene Abweichung von meiner beschaulichen Originalhistorie bewirkt. »Die Menschen — deine Freunde, die Neuen Menschen — haben die Welt total verändert, sogar im geologischen — kosmischen Maßstab. Ich frage mich, ob du wirklich begreifst…«

»Was?«

»Ich frage mich, ob du auch wirklich die Bedeutung von einer Million Jahre erkennst — oder von zehn Millionen — oder von fünfzig.«

»Nun, das müßte ich eigentlich. Ich habe ja solche Distanzen mit dir zurückgelegt, auf dem Weg ins Paläozän und zurück.«

»Aber damals waren wir durch eine Historie gereist, in der es keine Intelligenzen gab. Schau — ich habe dir von der interstellaren Wanderung erzählt. Wenn intelligentes Leben die Gelegenheit hat, in solchen Maßstäben zu wirken…«

»Ich habe ja gesehen, was aus der Erde geworden ist.«

»Mehr als das — mehr als ein einzelner Planet! Das geduldige, termitengleiche Bohren der Intelligenz kann sogar die Struktur des Universums aushöhlen«, flüsterte er, »wenn sie nur genügend Zeit hat. Sogar wir hatten nur eine halbe Million Jahre seit den afrikanischen Savannen, und wir haben eine Sonne eingefangen…

Schau zum Himmel«, forderte er mich auf. »Wo sind die Sterne? Es steht kaum ein Stern am Himmel. Erinnere dich, daß wir uns im Jahre 1891 oder in seiner Nähe befinden: hier kann es im Gegensatz zum Himmel über deinem Richmond keine kosmologische Erklärung für das Erlöschen der Sterne geben.

Mit meinen an die Dunkelheit adaptierten Augen kann ich etwas besser sehen als du. Und ich sage dir, daß es dort oben eine Konfiguration dunkelroter Stecknadeln gibt: es ist Infrarot-Strahlung — Wärme —, die aus dem dunklen Innern von Schalen kommt.

Am ganzen Himmel — in der ganzen Galaxis — haben die Menschen und die Nachkommen von Menschen die Sterne eingeschlossen…«

Dann überkam es mich fast mit körperlicher Wucht. »Sie ist wahr«, bestätigte ich. »Sie ist wahr… deine Hypothese von der Galaktischen Eroberung. Wir haben den sichtbaren Beweis, hier am Himmel! Die Sterne müssen — fast alle — mit künstlichen Hüllen ummantelt worden sein, wie eure Morlock-Sphäre.« Ich starrte zum leeren Himmel empor. »Lieber Gott, Nebogipfel! Die Menschen — und ihre Maschinen — haben den Himmel selbst verändert!«

»Diese Entwicklung war einfach unvermeidlich, nachdem der erste Konstrukteur gestartet war — verstehst du? Eine optimistische, fortgeschrittene Gesellschaft wird bis an die malthusianischen Grenzen gehen.«

Von Ehrfurcht gepackt starrte ich in diesen verdunkelten Himmel. Es war nicht so sehr der veränderte Himmel an sich, der mich so erstaunte, als vielmehr die Vorstellung, daß all das — alles, bis in den hintersten Winkel der Galaxis — deswegen zustandegekommen war, weil ich mit der Zeitmaschine die Geschichte zertrümmert hatte!

»Ich sehe, daß die Menschen die Erde verlassen haben«, sagte ich. »Die klimatische Instabilität hat uns hier erledigt. Aber irgendwo…« — ich machte eine ausladende Geste — »irgendwo dort draußen müssen Männer und Frauen in diesen verstreuten Gebäuden sein!«

»Nein«, dementierte er. »Bedenke, daß die Konstrukteure alles sehen; sie wissen alles. Und auch ich habe keine Hinweise auf Menschen wie dich erkannt. Oh, hier und da kann man vielleicht biologische, vom Menschen abstammende Kreaturen finden — die sich aber auf ihre Art so sehr von deiner menschlichen Gestalt unterscheiden wie ich. Oder würdest du mich als Menschen bezeichnen? Und außerdem sind die biologischen Formen überwiegend degeneriert…«

»Es gibt keine echten Menschen mehr?«

»Die Nachkommen der Menschheit leben überall. Aber du wirst nirgendwo ein Wesen finden, das enger mit dir verwandt ist als — sagen wir — ein Wal oder ein Elefant…«

Ich zitierte aus dem, was ich noch von Charles Darwin wußte: »›Wenn man sich an der Vergangenheit orientiert, können wir mit Sicherheit annehmen, daß es keine lebende Spezies gibt, die sich in der entfernten Zukunft nicht verändert haben wird…‹«

»Darwin hatte recht«, stellte Nebogipfel ruhig fest.

Diese Mitteilung — daß man der einzige seiner Art in der Galaxis ist! — ist schwer zu verdauen, und ich verfiel in Schweigen und schaute zu den ausgeblendeten Sternen hoch. War jeder dieser großen Globen so dicht besiedelt wie Nebogipfels Sphäre? Meine lebhafte Phantasie begann diese gigantischen Gebäudewelten mit den Abkömmlingen richtiger Menschen zu bevölkern — mit Fischmenschen, Vogelmenschen, Menschen aus Feuer und Eis — und ich fragte mich, welches Märchen überliefert werden würde, wenn ein unsterblicher Gulliver von Welt zu Welt springen und all die unterschiedlichen Ableger der Menschheit besuchen würde.

»Die Menschheit mag vielleicht ausgelöscht worden sein«, sagte Nebogipfel. »Jede biologische Spezies wird in einem entsprechenden Zeitrahmen aussterben. Aber die Konstrukteure können nicht aussterben. Verstehst du? Bei den Konstrukteuren manifestiert sich die Rasse nicht in ihrer biologischen oder sonstigen Gestalt — es sind die Informationen, die diese Rasse gesammelt und gespeichert hat. Und die sind unsterblich. Wenn eine Rasse einmal solche Kinder hervorgebracht hat, Informationsmaschinen aus Metall, kann sie nicht mehr aussterben. Begreifst du das?«

Ich wandte den Blick der unter unserem Fenster liegenden Weißen Erde zu. Richtig, ich verstand — ich verstand nur zu gut!

Die Menschen hatten diese mechanischen Arbeiter zu den Sternen geschickt, um neue Welten zu finden und Kolonien zu gründen. Es war eine gewaltige Leistung gewesen, und ganz in diese Gedanken versunken sah ich zu dem schwarzen Himmel auf. Ich stellte mir dieses große Schiff aus Licht vor, das von einer Erde abhob, die zu klein geworden war, glitzernd in den Himmel stieg und immer kleiner wurde, bis es im Raum verschwunden war… Ich überlegte, daß es wohl Millionen verlorener Biographien gab, von Menschen, die sich an andere Gravitationen, Atmosphären und all die Belastungen des Weltraums angepaßt hatten.

Es war eine epochale Wanderung — sie veränderte das Wesen des Kosmos — aber vielleicht war sie eine letzte Anstrengung, ein Zucken vor dem Zusammenbruch der Zivilisation auf der Heimatwelt.

Angesichts der schwindenden Atmosphäre wurden die Menschen schwach und hinfällig — als entsprechendes Beispiel hatten wir den traurigen Spiegel auf dem Mond — und starben schließlich.

Aber dann, viel später, kehrten die von den Menschen ausgesandten Kolonisierungsmaschinen wieder auf die verlassene Erde zurück — bzw. ihre Nachkommen, die enorm weiterentwickelten Universalen Konstrukteure. Die Konstrukteure stammten zwar in gewisser Weise von den Menschen ab — und doch hatten sie die Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit weit überschritten; denn sie hatten den alten Adam abgelegt — und all die brutalen und reptilienhaften Relikte, die noch in seinem Körper und Geist versteckt waren.

Ich sah es alles! Die Erde war wieder bevölkert worden; aber nicht von Menschen, sondern von den Mechanischen Erben der Menschheit, die geläutert von den Sternen zurückgekehrt waren.

Und das alles — wirklich alles — hatte sich aus der kleinen Kolonie entwickelt, die im Paläozän gegründet worden war. Hilary hatte es irgendwie vorhergesehen, dachte ich: die Neustrukturierung des Kosmos, die aus dieser kleinen, zerbrechlichen Gemeinschaft aus zwölf Leuten resultierte, dieser kleinen, vor fünfzig Millionen Jahren ausgebrachten Saat.

Eine Proposition

Die Zeit verging schleppend an diesem bizarren, kokonartigen Ort.

Was Nebogipfel betraf, so schien er mit dem Stand der Dinge ganz zufrieden zu sein. Er verbrachte die Tage überwiegend damit, das Gesicht an die glitzernde Hülle des Universalen Konstrukteurs zu pressen und in das Informations-Meer einzutauchen. Für mich konnte er nur wenig Zeit oder Geduld erübrigen; es bedeutete ganz klar eine Anstrengung — einen Verlust — für ihn, sich von dieser ergiebigen Quelle antiker Weisheit loszureißen und sich meiner Ignoranz zu stellen — und, was noch schlimmer war, meinem primitiven Bedürfnis nach Gesellschaft.

Ich schlich ziellos im Apartment herum. Ich mampfte das bereitgestellte Essen; ich ging in die ›Sauna‹; ich spielte an dem Multiplizitäten-Tisch herum; ich schaute aus dem Fenster auf eine Erde, die genauso unwirtlich für mich geworden war wie die Oberfläche des Jupiter.

Ich hatte nichts zu tun! — und in dieser Sinnkrise, denn ich war nun so weit von Zuhause und meiner Spezies entfernt, daß ich nicht mehr wußte, wie ich weiterleben sollte, begann ich wieder in tiefe Depressionen zu stürzen.

Dann besuchte mich eines Tages Nebogipfel mit etwas, das er als Proposition bezeichnete.


Wir befanden uns in dem Raum, in dem unser freundlicher Konstrukteur so dick und selbstzufrieden wie immer hockte. Nebogipfel war wie üblich über sein Rohr aus glitzernden Fäden mit dem Konstrukteur verbunden.

»Du mußt den Hintergrund dieser ganzen Sache verstehen«, begann er, und sein natürliches Auge drehte sich, damit er mich sehen konnte. »Zunächst mußt du begreifen, daß die Ziele des Konstrukteurs sich sehr von denen deiner Spezies unterscheiden — oder von meiner.«

»Das ist verständlich«, meinte ich. »Allein schon die physikalischen Unterschiede…«

»Es geht noch darüber hinaus.«

Immer wenn wir eine derartige Debatte eröffneten — wobei ich in die Rolle des Ignoramus schlüpfte — hatte Nebogipfel bisher Anzeichen von Ungeduld oder des lachsgleichen Verlangens gezeigt, in die glitzernden Tiefen des Informations-Meeres zurückzukehren. Diesmal indessen war seine Rede geduldig und konzentriert, und ich realisierte, daß er seine Worte ungewöhnlich sorgfältig wählte.

Ich begann mich unbehaglich zu fühlen. Der Morlock glaubte eindeutig, mich von irgend etwas überzeugen zu müssen!

Er setzte seine Rezension der Ziele der Konstrukteure fort. »Wie du siehst, kann eine Spezies nicht lange überleben, wenn sie die Last antiker Motivationen mit sich herumschleppt, die du trägst. Ich will dich damit aber nicht beleidigen.«

»Schon recht«, erwiderte ich trocken.

»Natürlich meine ich Territorialdenken, Aggression, gewaltsame Konfliktlösung… Imperialistische Anwandlungen und dergleichen werden unvorstellbar, wenn die Technologie ein gewisses Niveau erreicht. Mit Waffen von der Vernichtungskraft der Carolinumbombe der Zeitmaschine — oder noch schlimmeren — müssen die Dinge sich einfach ändern. Ein Mensch deiner eigenen Zeit hat einmal gesagt, daß die Erfindung der Atomwaffen alles verändert hätte — außer der Mentalität der Menschen.«

»Ich kann deine These nicht akzeptieren«, sagte ich, »denn sie impliziert, daß — wie du sagst — die Beschränkungen der Menschheit, die Relikte des alten Adam, unseren Untergang herbeiführen mußten… Aber was ist mit den Zielen deiner metallenen Supermänner, der Konstrukteure?«

Er zögerte. »Im Grunde hat eine Spezies in ihrer Gesamtheit überhaupt keine Ziele. Hatten die Menschen deiner Zeit denn mehr gemeinsam als Atmen, Nahrungsaufnahme und Reproduktion?«

Ich grunzte. »Ziele, die wir noch mit dem letzten Bazillus teilen.«

»Aber trotz dieser Komplexität kann man — glaube ich jedenfalls — je nach ihrem Entwicklungsstand die Ziele einer Spezies sowie die Ressourcen, die sie infolgedessen benötigt, klassifizieren…«

Laut Nebogipfel benötigte eine vorindustrielle Zivilisation — z. B. das mittelalterliche England — Rohstoffe: für Nahrungsmittel, Bekleidung, Heizung usw.

Aber sobald sich Industrien entwickelt hatten, konnten Rohstoffe substituiert werden und so die Knappheit einer bestimmten Ressource ausgleichen. Mithin wurden Kapital und Arbeit zu Schlüsselfaktoren. Dieser Zustand kennzeichnete mein eigenes Jahrhundert, und ich erkannte, daß man im generischen Sinne tatsächlich sagen konnte, daß die Aktivitäten der Menschheit in diesem finsteren Jahrhundert maßgeblich von dem Streben nach diesen beiden Schlüsselressourcen bestimmt wurden: Arbeit und Kapital.

»Aber es gibt noch eine Stufe oberhalb der Industrialisierung«, wußte Nebogipfel. »Nämlich die Postindustrielle. Meine Spezies war bereits in dieses Stadium eingetreten — wir hatten uns bei deiner Ankunft schon fast eine halbe Million Jahre auf dieser Ebene befunden — aber es ist ein Stadium ohne Ende.«

»Sag mir, was du damit meinst. Wenn Kapital und Arbeit nicht länger die Determinanten der sozialen Evolution sind…«

»Das sind sie nicht mehr, weil ihr Wegfall durch Information ersetzt werden kann. Verstehst du? Auf diese Art konnte der Transmutations-Boden der Sphäre — aufgrund der in seine Struktur investierten Forschung — jede Ressourcenverknappung bis hin zur reinen Energie kompensieren…«

»Willst du also damit sagen, daß diese Konstrukteure — hinsichtlich ihrer Fragmentation in Myriaden komplexer Fraktionen — im Grunde nur nach mehr Wissen streben?«

»Informationen — ihre Gewinnung, Interpretation und Speicherung — sind das letztendliche Ziel allen intelligenten Lebens.« Er betrachtete mich gleichmütig. »Wir Morlocks haben das begriffen und hatten damit begonnen, die Ressourcen des Sonnensystems diesem Ziel zu widmen; ihr Menschen des neunzehnten Jahrhunderts hattet gerade mal ansatzweise den Weg zu dieser Erkenntnis beschritten.«

»Na gut«, kommentierte ich. »Also müssen wir uns fragen, an welche Grenzen die Informationsgewinnung stößt.« Ich schaute zu den verdunkelten Sternen hoch. »Ich habe den Eindruck, daß diese Universalen Konstrukteure bereits einen großen Teil dieser Galaxis eingezäunt haben.«

»Und dahinter liegen noch weitere Galaxien«, sagte Nebogipfel. »Millionen Sternensysteme, von denen jedes so groß ist wie dieses.«

»Vielleicht schwärmen genau in diesem Moment die großen Segel-Schiffe der Konstrukteure wie Löwenzahnsamen in den Raum jenseits der Galaxis aus… Vielleicht können die Konstrukteure schließlich das ganze Universum erobern und es in der von dir beschriebenen Art als Information abspeichern und klassifizieren. Somit würde das Universum zu einer einzigen Bibliothek — der größten überhaupt vorstellbaren, mit einer unendlichen Breite und Tiefe der Wissensgebiete…«

»Es ist in der Tat ein großes Projekt — und, ja, die Konstrukteure widmen den größten Teil ihrer Energie diesem Ziel: der Untersuchung, wie Intelligenz in der weit entfernten Zukunft überleben kann — wenn das Universum durchgeistigt worden ist, wenn alle Sterne erloschen sind und wenn die Planeten sich von ihren Sonnen gelöst haben… und die Materie selbst zu zerfallen beginnt.

Aber du irrst dich: das Universum ist nicht unendlich. Und als solches ist es nicht ausreichend. Nicht für einige Gruppierungen unter den Konstrukteuren. Verstehst du? Dieses Universum unterliegt der Begrenzung durch Raum und Zeit; es entstand zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit, und es muß mit dem finalen Zerfall aller Materie am Ende der Zeit vergehen…

Einige Konstrukteure — eine Fraktion — sind nicht gewillt, sich mit dieser Finalität abzufinden«, erklärte Nebogipfel. »Sie wollen keine irgendwie gearteten Grenzen des Wissens akzeptieren. Ein finites Universum ist ihnen nicht genug! — und sie treffen Vorbereitungen, dem abzuhelfen.«

Das ließ mich — vor reiner, echter Ehrfurcht — bis ins Mark hinein frösteln. Ich schaute zu den verborgenen Sternen. Dies war eine schon unsterbliche Spezies, die eine Galaxis erobert hatte und die sich ein Universum Untertan machen würde — auf welche Bereiche konnten sich ihre Ambitionen noch erstrecken?

Und, so fragte ich mich düster, welchen Part konnten wir dabei spielen?

Der noch immer über seine Optik verkabelte Nebogipfel rieb sich wie eine Katze mit dem Handrücken das Gesicht und entfernte Essensreste von den Haaren auf dem Kinn. »Ich habe noch keinen vollständigen Überblick über diesen Plan«, meinte er. »Es hat mit Zeitreisen zu tun, mit Plattnerit, und — wie ich vermute — mit dem Konzept der Multiplizität der Historien. Die Daten sind komplex — so hell…« In meinen Augen hatte er hier ein außergewöhnliches Wort verwendet; zum erstenmal erahnte ich, welchen Mut und welche intellektuelle Stärke der Morlock aufbringen mußte, um in das Informationsmeer der Konstrukteure einzutauchen — sich diesem Himmel aus Ideen auseinanderzusetzen, von denen jede wie eine Sonne loderte.

»Eine Flotte von Raumschiffen wird gebaut — große Zeitmaschinen, weit jenseits der Möglichkeiten deines oder meines Jahrhunderts«, berichtete er. »Mit ihnen wollen die Konstrukteure — wie ich glaube — in die Vergangenheit eindringen. In die tiefe Vergangenheit.«

»Wie weit zurück? Weiter als das Paläozän?«

Er sah mich an. »Oh, noch viel, viel weiter.«

»Gut. Und was ist mit uns, Nebogipfel? Was ist das für eine ›Proposition‹, die du da hast?«

»Unser Mentor — dieser Konstrukteur hier — gehört besagter Fraktion an. Er war in der Lage, unsere Annäherung durch die Zeit zu verfolgen — ich kann dir keine weiteren Einzelheiten mitteilen; sie sind sehr weit entwickelt — sie konnten wahrnehmen, wie wir uns mit unserem primitiven Zeitfahrzeug vom Paläozän in die Zukunft bewegt hatten. Und deshalb erschien er hier als Begrüßungskomitee.«

Unser Konstrukteur war also imstande gewesen, unsere Reise zur Oberfläche der Zeit zu verfolgen, als ob wir irgendwelche scheuen Tiefseefische gewesen wären. »Nun, ich bin froh, daß er hier war. Wenn er nämlich nicht zu unserem Empfang bereitgestanden und uns mit seiner molekularen Chirurgie behandelt hätte, wären wir jetzt mausetot.«

»Wahrscheinlich.«

»Und jetzt?«

Er zog das Gesicht von der Optik des Konstrukteurs zurück; sie löste sich mit einem obszönen Plopp. »Ich glaube«, sagte er bedächtig, »daß sie deine Bedeutung verstehen — die Tatsache, daß deine ursprüngliche Erfindung all die Veränderungen und die Explosion in Multiplizitäten initiiert hat, die dann zu all dem hier führte.«

»Was meinst du damit?«

»Ich glaube, daß sie wissen, wer du bist. Und sie wollen, daß wir sie begleiten. In ihren großen Zeit-Schiffen — zur Grenze am Beginn der Zeit.«

Optionen und Introspektionen

Eine Reise zum Beginn der Zeit… Der Mut verließ mich bei dieser Aussicht!

Man mag mich wegen dieser Reaktion für einen Feigling halten. Nun, vielleicht war ich auch einer. Aber man muß auch bedenken, daß ich schon einmal in einer der Historien, die ich bereist hatte, mit dem Ende einer Zeit — ihrem bitteren Ende — konfrontiert worden war: der allerersten, wo ich das Sterben der Sonne über diesem desolaten Strand beobachtet hatte. Außerdem erinnerte ich mich an die Übelkeit, den Ekel und die Verwirrung; und ich konnte mich gerade noch auf die Zeitmaschine schwingen und wieder in die Zukunft zurückreisen — und wirklich war es nur die Aussicht gewesen, hilflos in dieser unheimlichen Dunkelheit zu liegen, die mich zur Anspannung meiner letzten Kräfte bewogen hatte.

Ich wußte, daß sich mir am Beginn aller Dinge ein ganz anderes Bild bieten würde — unvorstellbar anders! —, aber es war die Erinnerung an diese Furcht und Schwäche, die mich zögern ließ.

Ich bin ein Mensch — und stolz darauf! — aber meine außergewöhnlichen Erfahrungen, von denen ich zu behaupten wage, daß sie für meine Generation höchst ungewöhnlich waren, hatten mir die Erkenntnis über die Grenzen der menschlichen Seele verschafft — oder zumindest meiner Seele. Ich konnte mit den Abkömmlingen der Menschheit umgehen, wie den Morlocks, und ich konnte auch gegen prähistorische Monstrositäten wie Pristichampus bestehen. Und wenn es nur um eine intellektuelle Übung gegangen wäre — in der warmen Lounge des Linnaean — konnte ich mir vorstellen, noch viel weiter zu gehen: Ich hätte lange Stunden über die Endlichkeit der Zeit oder über von Helmholtz' Theorien zum unvermeidlichen Wärmetod des Universums debattieren können.

… Aber Tatsache ist, daß die Realität noch viel schrecklicher war.

Die verfügbare Alternative war indessen auch nicht übermäßig attraktiv!

Ich bin immer ein Mann der Tat gewesen — ich wollte mit den Dingen klarkommen! —, aber hier befand ich mich in den sanften Händen von Metallwesen, die so hochentwickelt waren, daß sie sich nicht einmal vorstellen konnten, mit mir zu sprechen — genauso wenig, wie ich jemals daran gedacht hätte, mit einer Bakterienkultur spirituelle Gespräche zu führen. Es gab nichts, was ich hier auf der Weißen Erde hätte tun können — denn die Universalen Konstrukteure hatten es bereits getan.

Oft wünschte ich, ich hätte Nebogipfels Einladung abgelehnt und wäre im Paläozän geblieben! Dort wäre ich ein Teil einer wachsenden, sich entwickelnden Gesellschaft gewesen, und meine Fertigkeiten und mein Intellekt — ebenso wie meine körperliche Stärke — hätten eine maßgebliche Rolle beim Überleben und der Entwicklung der Menschheit in diesem schönen Zeitalter gespielt. Meine nach innen gerichteten Gedanken wandten sich nun auch Weena zu — jener Welt des Jahres 802701, die ich auf meiner ersten Zeitreise besucht hatte und zu der ich zurückkehren wollte —, nur um durch die erste Verzweigung der Geschichte vom Kurs abzukommen. Wenn die Dinge anders gewesen wären, überlegte ich — wenn ich mich damals anders verhalten hätte, wäre es mir vielleicht gelungen, Weena vor den Flammen zu retten, selbst unter Einsatz meiner Gesundheit oder meines Lebens. Oder, wenn ich das überlebt hätte, wäre es mir vielleicht geglückt, diese unglückliche Historie in ganz andere Bahnen zu lenken und die Eloi und Morlocks zu einer Abwehr ihres gemeinsamen Niedergangs zu bewegen.

Natürlich hatte ich nichts dergleichen getan; ich war nach Hause abgehauen, sobald ich meine Zeitmaschine wiederhatte. Und nun mußte ich akzeptieren, daß ich wegen der endlosen Abspaltung neuer Historien niemals wieder in das Jahr 802701 zurückkehren konnte — und genauso wenig in meine eigene Zeit.

Es schien, als ob mein Nomadendasein hier geendet hätte, in diesen paar nichtssagenden Räumen!

Diese Konstrukteure würden mich wohl am Leben erhalten, solange mein Körper noch funktionierte. Weil ich immer schon ziemlich robust gewesen bin, freute ich mich noch auf eine Lebenserwartung von einigen Jahrzehnten — und vielleicht noch mehr; wenn nämlich Nebogipfels Annahmen hinsichtlich der submolekularen Fähigkeiten der Konstrukteure stimmten, wären sie vielleicht (so spekulierte Nebogipfel zu meinem Erstaunen) imstande, den Alterungsprozeß meines Körpers aufzuhalten oder gar umzukehren!

Aber es schien, als ob ich dann für immer allein sein würde — denn abgesehen von meiner ungleichen Beziehung zu einem Morlock, der mir ohnehin schon intellektuell überlegen war und ständig in das Informationsmeer eintauchte, würde er sich sicher bald mit Themen befassen, die weit jenseits meiner geistigen Kapazität lagen.

Ich konnte mich auf ein langes und gemütliches Leben einrichten — aber es war das Leben eines Tieres, das ohne irgendeine Perspektive in diesen paar Räumen eingesperrt war. Es war eine Zukunft, die sich in einen Tunnel verwandelt hatte, geschlossen und endlos…

Andererseits wußte ich jedoch, daß ein Eingehen auf den Plan des Konstrukteurs die Zerstörung meines Intellekts zur Folge haben könnte.

Ich vertraute Nebogipfel diese Zweifel an.

»Ich verstehe deine Befürchtungen und würdige die Offenheit, mit der du deine Schwächen erkennst. Deine Selbsterkenntnis ist seit unserem ersten Zusammentreffen gestiegen…«

»Verschone mich mit diesen Schmeicheleien, Nebogipfel!«

»Es muß jetzt keine Entscheidung getroffen werden.«

»Was meinst du damit?«

Nebogipfel fuhr mit der Beschreibung des gigantischen technischen Umfangs des Projekts der Konstrukteure fort. Um die Raumschiffe zu betanken, mußten riesige Mengen Plattnerit bereitgestellt werden. »Die Konstrukteure arbeiten in einem großen Zeitrahmen«, sagte der Morlock. »Doch selbst dann ist das Projekt noch ehrgeizig genug. Die Schätzungen der Konstrukteure bezüglich der Vollendung (und diese sind vage, denn die Konstrukteure planen nicht in dem Sinne, wie menschliche Konstrukteure es tun; vielmehr bauen sie nach Termitenart einfach drauflos, kooperativ und schrittweise und absolut engagiert) gehen dahin, daß bis zur Einsatzbereitschaft der Schiffe noch einmal eine Million Jahre verstreichen.«

»Eine Million Jahre?… Die Konstrukteure müssen in der Tat viel Geduld haben, daß sie Projekte mit solchen Laufzeiten in Angriff nehmen!«

Meine Gedanken kreisten jetzt nur noch um dieses Projekt, so beeindruckt war ich von dieser Zahl! Ein Projekt zu starten, das ganze Erdzeitalter umspannte und das den Zweck hatte, Schiffe zum Anfang der Zeit zu schicken: ich sagte Nebogipfel, daß mich ein gewisses Gefühl der Ehrfurcht überkam: vielleicht eine Ahnung des Göttlichen.

Nebogipfel bedachte mich mit einem skeptischen Blick.

»Sehr schön«, meinte er. »Aber wir müssen uns bemühen, pragmatisch zu sein…« Er sagte, er hätte auf dem Verhandlungswege erreicht, daß man uns die Trümmer unseres improvisierten Zeitfahrzeugs überstellen würde; außerdem Werkzeuge, Rohstoffe und eine Ladung frisches Plattnerit…

Ich begriff sofort, worauf er hinauswollte. »Du meinst, daß wir einfach so in das Zeitfahrzeug hüpfen und eine Million Jahre in die Zukunft reisen, während unsere geduldigen Konstrukteure die Schiffe fertigstellen?«

»Warum nicht? Wir haben sonst keine Möglichkeit, den Start der Schiffe mitzuerleben. Die Konstrukteure mögen wohl unsterblich sein, aber wir sind es nicht.«

»Nun — ich weiß nicht! — es scheint nur… Ich meine, können die Konstrukteure überhaupt so sicher sein, ihr Flottenbauprogramm fristgerecht und gemäß ihren Vorstellungen über einen solch gewaltigen Zeitraum abzuschließen? Zu meiner Zeit war nämlich die ganze menschliche Rasse nur ein Zehntel so alt.«

»Du mußt dabei bedenken«, sagte Nebogipfel, »daß die Konstrukteure eben keine Menschen sind. Sie sind wirklich eine unsterbliche Spezies. In dem kollektiven Meer können sich wohl individuelle Bewußtseinssplitter herausbilden und wieder vergehen, aber die Kontinuität der Informationsgewinnung sowie die Konstanz ihrer Zweckbindung ist immer gewährleistet…

Auf jeden Fall«, meinte er und sah mich dabei an, »was hättest du schon zu verlieren? Wenn wir nun in die Zukunft reisen und herausfinden, daß die Konstrukteure ihr Projekt schließlich doch abgebrochen haben — na und?«

»Nun, wir könnten zum Beispiel dabei sterben. Was, wenn in einer Million Jahren kein Konstrukteur bereitsteht, der uns begrüßt und sich um unsere Bedürfnisse kümmert?«

»Na und?« wiederholte der Morlock. »Kannst du jetzt in dein Herz sehen und behaupten, daß du damit zufrieden wärst…« — er fuchtelte mit einer Hand in unserem kleinen Apartment herum —, »auf diese Art den Rest deines Lebens zu verbringen?«

Ich blieb ihm die Antwort schuldig; aber ich glaube, daß er sie mir vom Gesicht ablas.

»Also«, folgerte er, »werden wir alles auf eine Karte setzen. Wir werden uns an die Rekonstruktion des Zeitfahrzeugs begeben. Und…«

»Ja?«

»Und wenn die Zeitmaschine dann fertig ist, wäre es auch denkbar, daß wir uns für eine Reise in Gegenrichtung entscheiden.«

»Was willst du damit sagen?«

»Sie werden uns jede Menge Plattnerit geben — wir könnten sogar wieder ins Paläozän zurück, wenn du das möchtest.«

Ich schaute mich verstohlen um und fühlte mich dabei wie ein richtiger Krimineller! »Nebogipfel, was, wenn die Konstrukteure deine Sprüche mithören?«

»Warum sollten sie? Wir sind hier keine Gefangenen. Die Konstrukteure finden uns einfach nur interessant — und sie sind der Ansicht, daß du wegen deiner historischen und kausalen Relevanz die Schiffe auf ihrer finalen Suche begleiten solltest. Aber sie würden uns nicht zwingen oder uns hier festhalten, wenn die Belastungen für uns so hoch wären, daß wir sie nicht überstehen könnten.«

»Und du?« fragte ich vorsichtig. »Was möchtest du tun?«

»Ich habe noch keine Entscheidung getroffen«, entgegnete er. »Mein aktuelles Hauptanliegen besteht darin, so viele Optionen wie möglich zu erhalten.«

Das war ein eminent sinnvoller Rat, und so — Schluß mit der Nabelschau! — kam ich mit Nebogipfel überein, daß wir mit der Rekonstruktion des Zeitfahrzeugs beginnen sollten. Wir vertieften uns in eine eingehende Erörterung hinsichtlich der benötigten Materialien und Werkzeuge.

Vorbereitungen

Der Konstrukteur barg das Zeitfahrzeug vom Eis. Zu diesem Zweck teilte er sich in vier kleinere Sub-Einheiten und positionierte diese unter jeder Ecke der ramponierten Maschine. Diese kleinen Maschinen bewegten sich fließend wie auf einer Gleitschicht, und ich sah, daß sie bei dieser seltsamen Prozession durch wandernde Metallfäden miteinander verbunden wurden.

Als die Überreste unserer Maschine in der Mitte des Raumes abgestellt worden waren, vereinigten sich die vier Sub-Maschinen wieder zu dem ursprünglichen Konstrukteur; sie flossen nach oben und ineinander, als ob sie verschmelzen würden. Für mich war es ein faszinierender, wenn auch etwas abstoßender Anblick; aber bald hatte sich Nebogipfel wieder mit der größten Selbstverständlichkeit an seine Optik angeschlossen.

Die Bodengruppe des Zeitfahrzeuges basierte im wesentlichen auf dem Rahmen unseres Zeitverschiebungs-Vehikels aus dem Jahre 1938, aber sein Aufbau — von dem nur noch ein paar Wand- und Bodenbleche übrig waren — war von Nebogipfel aus den Trümmern der zerbombten Juggernauts des Expeditionskorps und der Messerschmitt-Zeitmaschiene improvisiert worden. Die einfachen Instrumente waren eine ähnlich primitive Angelegenheit gewesen. Das meiste davon fehlte jetzt oder war Schrott. Also war es, abgesehen von der Erneuerung des Plattnerits, ziemlich klar, daß wir eine recht umfangreiche Restauration des Fahrzeugs durchführen mußten.

Ich übernahm dabei unter der Anleitung von Nebogipfel den Hauptanteil der qualifizierten handwerklichen Tätigkeit. Anfangs war ich mit diesem Arrangement nicht einverstanden, aber schließlich war es Nebogipfel, der Zugang zum Informations-Meer und somit zu der gesammelten Weisheit der Konstrukteure hatte; und er war es, der in der Lage war, gegenüber dem Konstrukteur die erforderlichen Materialien zu spezifizieren: Rohre mit dem und dem Durchmesser, mit diesem und jenem Gewinde, usw.

Der Konstrukteur produzierte die von uns benötigten Halbfabrikate auf seine übliche unorthodoxe Art: er ließ sie einfach aus der Hülle gleiten. Außer einen Masseverlust schien ihn das nichts zu kosten; aber selbst der wurde bald durch einen verstärkten Fluß dieser Fäden in das Apartment ausgeglichen, die seine Grundsubstanz bildeten.

Ich hatte Probleme damit, den Resultaten dieses Vorgangs zu vertrauen. Ich hatte Stahlwerke und vergleichbare Anlagen besucht und beobachtet, wie Komponenten meiner Zeitmaschine und früherer Geräte hergestellt wurden: ich hatte zugeschaut, wie geschmolzenes Eisen aus den Hochöfen in Bessemer-Konverter floß, wo es oxidiert und mit Spiegeleisen und Kohlenstoff angereichert wurde… usw. Im Vergleich dazu tat ich mich schwer damit, mein Vertrauen in eine Masse zu setzen, die von einem formlosen, glitzernden Haufen ausgespien worden war!

Natürlich widerlegte der Morlock meinen Denkfehler, der diesem Vorurteil zugrunde lag. »Die subatomare Transmutation, zu welcher der Konstrukteur befähigt ist, stellt einen weitaus effizienteren Prozeß dar als dieses primitive Schmelzen, Mischen und Hämmern, das du beschrieben hast — ein Vorgang, bei dem man fast annehmen möchte, daß ihr gerade erst aus euren Höhlen hervorgekrochen seid.«

»Vielleicht«, meinte ich, »aber trotzdem… Es ist die Unsichtbarkeit dieser ganzen Sache!« Ich hob einen Schraubenschlüssel auf; wie alle anderen von uns spezifizierten Werkzeuge hatte ihn der Konstrukteur kurz nach Nebogipfels entsprechender Anforderung abgesondert, und es war ein glattes, nahtloses Teil, ohne Verbindungen, Schrauben oder Gußgrate — ironischerweise sah es aus wie gegossen. »Wenn ich dieses Ding in die Hand nehme, glaube ich irgendwie, daß es sich warm anfühlt oder Magensäure daran abtropft oder daß es mit diesen ekligen Eisenfäden bedeckt ist…«

Nebogipfel schüttelte den Kopf, wobei diese Geste bewußten Spott ausdrücken sollte. »Du hast eine so intolerante Einstellung gegenüber Dingen, die nicht so getan werden, wie du es gewohnt bist!«

Ungeachtet meiner Vorbehalte mußte ich hinnehmen, daß der Konstrukteur uns mit weiteren Ausrüstungsgegenständen und Vorräten versorgte. Ich ging davon aus, daß die Reise dreißig Stunden dauern würde, wenn wir uns wieder bis ins Paläozän zurückzogen — aber nicht länger als eine halbe Stunde, wenn wir den Katzensprung in die Zukunft mit den Schiffen durchführten. Entschlossen, diesmal nicht unvorbereitet zu landen, lagerte ich unter Berücksichtigung unserer unterschiedlichen Bedürfnisse genügend Nahrungsmittel und Wasser im Fahrzeug ein, womit wir einige Tage auskommen konnten; außerdem beantragte ich feste und warme Kleidung für uns beide. Dennoch zog ich den schweren Mantel, den mir der Konstrukteur geschneidert hatte, nur mit Widerwillen über die verschlissenen Überreste meines Tropenhemdes; der Mantel war ein Teil aus silbrigem, unidentifizierbarem Tuch, das ziemlich dicht gewebt war.

»Es ist einfach nicht natürlich«, beschwerte ich mich bei Nebogipfel, »etwas zu tragen, das auf diese Art ausgesondert worden ist!«

»Dein Lamento geht mir langsam auf die Nerven«, rüffelte mich der Morlock. »Es ist völlig klar, daß du eine morbide Angst vor der Körperlichkeit und ihren Funktionen hast. Das wird nicht nur durch deine irrationale Reaktion auf die Fertigungskapazitäten des Konstrukteurs belegt, sondern auch durch deine frühere Reaktion auf die Morlocks…«

»Ich weiß gar nicht, was du willst«, gab ich patzig zurück.

»Du hast mir wiederholt von deinen Begegnungen mit meinen — Cousins — berichtet und dabei mit dem Körper assoziierte Begriffe verwendet: Fäkalanalogien, Finger wie Würmer usw.«

»Du willst also sagen — einen Moment bitte! —, daß ich wegen meiner Furcht vor den Morlocks und den Produkten des Konstrukteurs auch Furcht vor meiner eigenen Biologie habe?«

Er stieß mir plötzlich die Finger ins Gesicht; die Blässe des nackten Fleisches seines Handgelenks, die wurmartige Beschaffenheit seiner Finger — all das schockte mich natürlich genauso wie früher! —, und ich zuckte zurück.

Der Morlock war offensichtlich der Ansicht, seinen Standpunkt verdeutlicht zu haben; und ich erinnerte mich an den früheren Zusammenhang zwischen meiner Furcht vor den dunklen unterirdischen Stützpunkten der Morlocks und der Angst, die ich als Kind vor den in das Fundament meines Elternhauses eingelassenen Belüftungsschächten verspürt hatte.

Es erübrigt sich zu sagen, daß diese brüske Diagnose von Nebogipfel mir spürbares Unbehagen verursachte: beim Gedanken daran, daß meine Reaktionen auf die Dinge nicht, wie eigentlich erwartet, von meinem Intellekt, sondern von solch komischen, versteckten Facetten meiner Natur bestimmt wurden! »Ich glaube«, schloß ich mit all der Würde, die ich aufbringen konnte, »daß manche Dinge am besten unausgesprochen bleiben!« — und beendete die Konversation.


Das fertiggestellte Zeitfahrzeug war eine ziemlich rustikale Konstruktion: eine oben offene Metallkiste, unlackiert und grob zusammengestückelt. Aber die Instrumente waren hochwertiger als die spärlichen Anzeigen, die Nebogipfel mit den im Paläozän verfügbaren Materialien herstellen hatte können — sie enthielten sogar einfache, wenn auch handbeschriftete chronometrische Skalen —, und der Aktionsradius, den wir in der Zeit hatten, entsprach in etwa dem meiner ersten Maschine.

Während wir bei der Arbeit waren und der Tag unserer Abreise näherrückte, nahmen meine Angst und Unsicherheit drastisch zu. Ich wußte, daß ich nie mehr nach Hause zurückkehren konnte — aber wenn ich von hier aus mit Nebogipfel in die Zukunft oder Vergangenheit vorstieß, mußte ich damit rechnen, in eine derartige Fremdartigkeit zu geraten, daß ich weder körperlich noch geistig überleben konnte. Ich wußte, daß ich mich dem Ende meines Lebens nähern könnte; und eine leise, kreatürliche Angst ergriff von mir Besitz.

Aber ich verdrängte sie und fügte mich meiner Entscheidung; und dann verlor ich mich wieder in der simplen mechanischen Routine der Arbeit.

Schließlich war es geschafft. Nebogipfel setzte sich in den Sattel. Er hatte einen schweren, gewebten Overall aus dem silbrigen Tuch des Konstrukteurs an; und eine neue Brille bedeckte sein kleines Gesicht. Er wirkte ein bißchen wie ein zum Schutz vor dem Winter eingemummeltes Kind — zumindest solange, bis man das von seinem Kopf herabwallende Haar sowie das Auge hinter der blauen Brille ausmachte. Ich setzte mich neben ihn und führte eine letzte Inventur der Fracht unseres Fahrzeugs durch.

Dann — in einer Schrecksekunde — verschmolzen die Wände unseres Apartments lautlos zu Glas! Um uns herum, jetzt durch die transparenten Wände unseres Zimmers zu erkennen, erstreckten sich die trostlosen Flächen der Weißen Erde in die Ferne und wurden von einem fortgeschrittenen Sonnenuntergang rot überzogen. Die Fäden des Konstrukteurs — ebenfalls gemäß Nebogipfels Spezifikationen — hatten das Material der Wände des Zimmers, in dem das Zeitfahrzeug stand, umstrukturiert. Wir hätten uns eigentlich vor dem mörderischen Klima der Weißen Erde schützen müssen, aber wir wollten die Erde sehen, während wir die Vorbereitungen trafen.

Obwohl die Lufttemperatur unverändert war, kam es mir auf einmal viel kälter vor; ich zitterte und wickelte den Mantel enger um mich.

»Ich denke, daß wir soweit sind«, meldete Nebogipfel.

»Soweit«, meinte ich, »bis auf eins — unsere Entscheidung! Reisen wir nun in die Zukunft zu den fertiggestellten Schiffen, oder…?«

»Ich glaube, daß die Entscheidung bei dir liegt«, sagte er. Aber ich bemerkte — jedenfalls wollte ich das glauben — eine gewisse Sympathie in seinem fremdartigen Gesichtsausdruck.

Noch immer quälte mich diese leise Angst, denn mit Ausnahme dieser ersten verzweifelten Stunden nach dem Verlust von Moses hatte ich noch nie Todessehnsucht verspürt — und doch wußte ich, daß meine Wahl mein Leben beenden konnte. Aber trotzdem…

»Ich glaube kaum, daß ich viele Alternativen habe«, sagte ich zu Nebogipfel.

»Nein«, bestätigte er. »Wir sind Exilanten, du und ich«, konstatierte er. »Ich glaube, daß wir nicht mehr tun können, als weiterzumachen — bis zum Ende.«

»Ja«, sagte ich. »Bis zum Ende der Zeit, wie es scheint… Gut! So sei es, Nebogipfel. So sei es.«

Nebogipfel schob die Hebel des Zeitfahrzeuges nach vorne — ich spürte, wie sich meine Atmung beschleunigte — und wir fielen in das graue Wallen der Zeitreise.

In die Zukunft

Wieder schoß die Sonne über den Himmel, und der Mond, noch immer grün, rollte durch seine Phasen, wobei die Monate schneller als Herzschläge vergingen. Bald hatte die Umlaufgeschwindigkeit von Sonne und Mond den Punkt erreicht, an dem sie zu diesen nahtlosen, oszillierenden Lichtbändern verschmolzen, die ich schon früher beschrieben habe, und der Himmel hatte dieses Stahlgrau angenommen, das eine Mischfarbe aus Tag und Nacht war. Um uns herum, von unserer erhöhten Perspektive deutlich erkennbar, zogen sich die Eisfelder der Weißen Erde vorbei bis zum Horizont; sie veränderten sich nicht, während die Jahre bedeutungslos verstrichen, und nur auf ihrer Oberfläche lag ein Schimmern, das durch die Geschwindigkeit unserer Passage verursacht wurde.

Ich hätte gerne gesehen, wie diese großartigen interstellaren Segel-Schiffe in den Weltraum starteten; aber aufgrund der Erdrotation konnte ich diese fragilen Fahrzeuge nicht ausmachen, und als wir die Zeitreise begannen, wurden die Segel-Schiffe für uns völlig unsichtbar.

Innerhalb weniger Sekunden nach unserer Abreise — wie wir es aus der Zeitrafferperspektive wahrnahmen — wurde unser Apartment zerstört. Es verschwand wie Tau um uns herum und ließ unsere transparente Blase isoliert auf dem Dach des Turmes zurück. Ich dachte an unsere bizarre und doch gemütliche Suite zurück — mit meinem Dampfbad, dieser lächerlichen Tapete, dem merkwürdigen Billardtisch und allem anderen — das alles war nun wieder in einen amorphen Zustand eingeschmolzen, und unser nicht länger benötigtes Apartment war zu einem Traum reduziert worden: eine platonische Erinnerung, in der metallenen Vorstellung der Universalen Konstrukteure!

Aber unser privater, geduldiger Konstrukteur hatte uns nicht verlassen. Aus meiner Zeitrafferperspektive sah ich, wie er hier zu verharren schien, ein paar Yards von uns entfernt — eine gedrungene Pyramide, wobei das Gewimmel seiner Fäden durch unsere Reise geglättet wurde — nur manchmal sprang er abrupt dahin oder dorthin, verharrte ein paar Sekunden lang — und so weiter. Weil eine Sekunde für uns in der Außenwelt mehreren hundert Jahren entsprach, konnte ich mir ausrechnen, daß der Konstrukteur immer dicht an unserer Seite blieb, stationär und in Intervallen von tausend Jahren.

Ich wies Nebogipfel darauf hin. »Stell dir das mal vor! Die Unsterblichkeit ist eine Sache, aber derart in einer einzigen Aufgabe aufzugehen… Er ist wie ein einsamer Ritter, der seinen Gral bewacht, während ganze Äonen dahingehen.«

»Es ist schon eindrucksvoll«, konzedierte Nebogipfel. »Und es ist beruhigend zu wissen, daß sich meine Einschätzung der übermenschlichen Ausdauer und Beharrlichkeit der Konstrukteure als zutreffend erwiesen hat.«

Wie ich bereits gesagt habe, waren unsere Nachbargebäude ebenfalls Türme, die in Abständen von zwei oder drei Meilen im Tal der Themse standen. In den paar Wochen, die wir in unserem Apartment verbracht hatten, hatte ich keine Anzeichen von Veränderung an diesen Türmen wahrgenommen — nicht einmal das Öffnen einer Tür. Jetzt allerdings, dank meiner beschleunigten Wahrnehmung, sah ich, wie sich eine langsame Evolution der Gebäude vollzog. Die spiegelglatte Fassade eines zylindrischen Bauwerks in Hammersmith blähte sich auf, als ob sie von irgendeiner Metallkrankheit befallen wäre, und gestaltete sich um zu einem neuen Muster aus Vorsprüngen und Schächten. Ein anderer Turm in der Nähe von Fulham verschwand indessen ganz! — Einen Moment war er noch da, den nächsten schon nicht mehr, wobei nicht einmal mehr anhand von Fundamenten in der Erde seine Position bestimmt werden konnte, denn das Eis schloß sich schneller über den Resten, als ich hinsehen konnte.

Auf diese Weise vollzog sich ständig eine fließende Evolution. Ich erkannte, daß die Geschwindigkeit der Veränderungen dieses neuen Londons in Jahrhunderten gemessen werden mußte — und nicht in Jahren, in denen manche Bezirke meines Londons umgestaltet worden waren — aber dennoch gab es Veränderungen.

Ich machte Nebogipfel darauf aufmerksam. »Wir können bezüglich dieser architektonischen Veränderungen nur Spekulationen anstellen«, meinte er darauf. »Vielleicht ist die Veränderung des Äußeren ein Indiz für die gewandelte Nutzung des Inneren. Aber der Zahn der Zeit nagt sogar hier. Und vielleicht treten gelegentlich sogar noch spektakulärere Ereignisse ein, wie zum Beispiel der Einschlag eines Meteoriten.«

»Sicherlich sind derart überlegene Intelligenzen wie diese Konstrukteure imstande, Vorkehrungen gegen einen Meteoriteneinschlag zu treffen! — indem sie die Flugbahn der abstürzenden Felsen mit ihren Teleskopen verfolgen und vielleicht von ihren Segelschiffen Raketen abfeuern, um die Brocken zu vernichten.«

»Bis zu einem gewissen Grad. Aber das Sonnensystem ist ein Ort des Zufalls und des Chaos«, erwiderte Nebogipfel. »Unabhängig von den verfügbaren Ressourcen sowie dem Umfang der Sicherheitsmaßnahmen und Beobachtungen kann man nie sicher sein, alle Schadensfälle auszuschließen… Und so müssen selbst die Konstrukteure manches wieder aufbauen — sogar den Turm, den wir bewohnen.«

»Was meinst du damit?«

»Überleg mal«, riet mir Nebogipfel. »Ist dir warm? Fühlst du dich wohl?«

Wie schon gesagt, hatte mein virtueller Kontakt mit der Einöde der Weißen Erde, der nur durch diese unsichtbare Kuppel der Konstrukteure verhindert wurde, mich frösteln lassen; aber ich wußte, daß das nur eine psychische Reaktion sein konnte. »Mir geht es ganz gut.«

»Natürlich. Mir auch. Und — weil wir nun bereits eine gute Viertelstunde unterwegs sind — wissen wir, daß in diesem Gebäude schon seit mehr als einer halben Million Jahren Bedingungen herrschen, die ein Überleben ermöglichen.«

»Aber«, gab ich zu bedenken, »dieser Turm unterliegt doch ebenso wie alle anderen den Gesetzmäßigkeiten der Zeit… deshalb muß unser Konstrukteur dieses Gebäude ständig reparieren und instandhalten, wenn es uns weiterhin zur Verfügung stehen soll.«

»Ja. Ansonsten wäre diese Kuppel, die uns schützt, schon vor langer Zeit brüchig geworden und erloschen.«

Nebogipfel hatte natürlich recht — dies war eine weitere Facette der außergewöhnlichen Beharrlichkeit der Konstrukteure — aber sie verursachte mir irgendwie Unbehagen! Ich schaute mich um und inspizierte den Boden unter uns; ich hatte den Eindruck, daß der Turm mittlerweile so porös wie ein Termitenbau geworden war, der ohne Unterlaß von den Universalen Konstrukteuren durchbohrt und wieder restauriert wurde. Mir wurde schwindlig!

Kurz darauf registrierte ich eine Veränderung in der Qualität des Lichts. Die vergletscherte Landschaft erstreckte sich scheinbar unverändert um uns herum; aber ich hatte den Eindruck, daß sich die Albedo des Eises verringert hatte.

Die Bänder der Sonne und des Mondes, die aufgrund ihrer Präzession diffus und verschwommen wirkten, bedeckten nach wie vor den Himmel; aber — obwohl der Mond noch immer in dem satten Grün der transplantierten Vegetation zu leuchten schien — durchlief die Sonne offensichtlich einen Zyklus der Veränderungen.

»Es hat den Anschein«, stellte ich fest, »daß die Sonne flackert — daß ihre Helligkeit in Intervallen von hundert Jahren oder länger schwankt.«

»Ich glaube, daß du recht hast…«

Ich war mir jetzt sicher, daß es dieses unstete Licht war, das diese merkwürdige, desorientierende Illusion eines Schattens über die vereiste Landschaft legte. Wenn man am Fenster steht, die gespreizte Hand vor das Gesicht hält und diese Hand scheibenwischerartig hin- und herbewegt — dann kann man vielleicht nachvollziehen, was ich ausdrücken will.

»Dieses verdammte Flackern«, fluchte ich, »es irritiert das Auge — und beeinträchtigt vielleicht noch den Geisteszustand…«

»Aber paß mal auf das Licht auf«, sagte Nebogipfel. »Achte auf seine Qualität. Sie verändert sich wieder…«

Ich tat wie geheißen, und umgehend wurde ich mit der Entdeckung eines neuen Aspektes des merkwürdigen Verhaltens der Sonne belohnt. Sie hatte einen Grünstich — nur manchmal, wenn mir der Himmelspfad der Sonne in einem blassen Grün erschien — aber nichtsdestoweniger real.

Jetzt, da ich wußte, daß dieses Grün wirklich existierte, konnte ich ein grünes Leuchten über den gefrorenen Hügeln und skurrilen Gebäuden von London entdecken. Es war ein atemberaubender Anblick, wie ein Hauch des Lebens, das längst von diesen Hügeln verschwunden war.

»Ich vermute, daß zwischen dem Flackern und dem grünen Leuchten ein Zusammenhang besteht«, sagte Nebogipfel. Er führte aus, daß die Sonne der größte Energie- und Materielieferant des Sonnensystems sei. Seine Morlocks hatten sich das selbst schon zunutze gemacht, um ihre Sphäre um die Sonne zu errichten. »Nun glaube ich«, mutmaßte er, »daß auch die Universalen Konstrukteure diesen großen Stern anzapfen: sie schürfen in der Sonne nach den Rohstoffen, die sie benötigen…«

»Plattnerit«, sagte ich mit wachsender Erregung. »Das ist die Ursache dieser grünen Blitze, stimmt's? Die Konstrukteure gewinnen Plattnerit aus der Sonne.«

»Oder sie nutzen ihre chemischen Fähigkeiten, um Sonnenmaterie und — energie in Plattnerit umzuwandeln, was aber letztlich auf dasselbe hinausläuft.«

Damit wir das Glühen des Plattnerits überhaupt sehen konnten, mußten die Konstrukteure nach Nebogipfels Ansicht große Schalen dieser Substanz um die Sonne herum anordnen. Nach ihrer Fertigstellung würden diese Schalen dann in riesigen Schleppzügen zu Baustellen irgendwo im Sonnensystem abtransportiert; und die Erschaffung einer neuen Schale begann. Das von uns beobachtete Flackern mußte auf die beschleunigte Montage und den Abtransport dieser großen Plattneritmengen zurückzuführen sein.

»Das ist phantastisch«, keuchte ich. »Die Konstrukteure müssen das Zeug in Mengen aus der Sonne holen, die der Masse der großen Planeten entsprechen! Das stellt sogar die Errichtung eurer großen Sphäre in den Schatten, Nebogipfel.«

»Wir wissen ja, daß die Konstrukteure gewisse Ambitionen hegen.«

Jetzt hatte ich den Eindruck, daß sich das Flackern der geduldigen Sonne deutlich glättete, als ob die Konstrukteure sich dem Abschluß ihrer Bergbautätigkeit näherten. Ich konnte noch weitere Flecken dieses charakteristischen Plattnerit-Grüns am Himmel erkennen, aber diese standen nun isoliert vom Sonnenband: vielmehr wirbelten sie wie künstliche Monde über den Himmel. Mir wurde klar, daß es sich hierbei um Plattnerit-Strukturen handelte — gigantische Brocken dieser Materie, die sich in langsamen Orbits um die Erde gruppierten.

Unregelmäßiges Plattnerit-Licht wurde von der Hülle unseres geduldigen Konstrukteurs reflektiert, der bei uns war, als der Himmel diese außergewöhnlichen Veränderungen durchlief!

Nebogipfel konsultierte seine chronometrischen Anzeigen. »Wir haben jetzt fast achthunderttausend Jahre zurückgelegt… das dürfte wohl genügen.« Er zog an den Hebeln — und das Zeitfahrzeug verzögerte mit der Trägheit, die so charakteristisch für die Zeitreise ist — und jetzt gesellte sich noch Übelkeit zu meiner Ehrfurcht und Angst.

Sofort verschwand unser Konstrukteur aus meinem Blickfeld. Ich schrie unwillkürlich auf und klammerte mich an der Bank des Zeitfahrzeugs fest. Ich glaube, daß ich mich noch nie so verloren und einsam gefühlt hatte wie in dem Moment, als unser treuer Begleiter uns nach achthunderttausend Jahren plötzlich — so schien es wenigstens — in einer völlig fremden Welt im Stich ließ.

Das durch die Präzession verursachte Flattern des Sonnenbandes wurde langsamer, glättete sich und verschwand; binnen weniger Sekunden registrierte ich wieder dieses nervig flackernde Licht, das den Tag-Nacht-Rhythmus markierte, und der Himmel verlor seine verwaschene, grau lumineszierende Struktur.

Und jetzt erfüllte das grüne Licht des Plattnerits den Himmel über mir; es hüllte unsere Kuppel ein und legte einen milchig-grün flirrenden Schleier über die leblosen Flächen der Weißen Erde.

Der hastige Tag-Nacht-Rhythmus wurde langsamer als mein Pulsschlag. Im allerletzten Moment erhaschte ich einen Blick — nicht mehr als ein Streiflicht — auf ein Sternenfeld, das blendend und nahe hervorbrach; und ich erkannte schattenhafte Schemen einiger großer Köpfe und großer, menschlicher Augen. Dann schob Nebogipfel die Hebel in ihre Ruhestellung — das Fahrzeug hielt an, und wir waren in der Zukunft gelandet. Das Rudel der Beobachter verschwand; und wir tauchten in eine Flut grünen Lichts ein.

Wir befanden uns in einem Schiff aus Plattnerit!

Das Schiff

Ich, der Morlock und das Interieur unseres kleinen Zeitfahrzeugs — alles war in das allgegenwärtige smaragdgrüne Glühen des Plattnerits getaucht. Ich hatte keine Vorstellung von der wirklichen Größe des Schiffes; vielmehr hatte ich noch Schwierigkeiten, mich in ihm zu orientieren. Es hatte keine Ähnlichkeit mit einem Schiff meines Jahrhunderts, denn es wies keine klar definierte Sub-Struktur mit Wänden und Schotts, Maschinenräumen etc. auf. Statt dessen muß man es sich wie ein Netz vorstellen: ein in diesem grünen Plattnerit-Spektrum glühendes Gebilde aus Fäden und Knoten, das wie von einem unsichtbaren Fischer über uns geworfen worden war, so daß Nebogipfel und ich in einem riesigen Gewirr aus Stäben und Kurven aus Licht eingeschlossen waren.

Dieses Netz erstreckte sich nicht ganz bis zu unserem Zeitfahrzeug: es schien an der Grenze zu enden, die unsere Kuppel definiert hatte. Das Atmen fiel mir nach wie vor leicht, und es war auch nicht kälter als vorher. Auf irgendeine Art mußte die Kuppel noch immer ihre Schutzwirkung vor der Umwelt aufrechterhalten; und aufgrund einer kaum wahrnehmbaren Reflexion auf einer über mir liegenden Fläche vermutete ich, daß die Kuppel nach wie vor existierte — aber das Plattnerit-Licht war so diffus und unstet, daß ich mir nicht sicher war.

Genauso wenig konnte ich den Boden unter dem Zeitfahrzeug erkennen. Das Netzwerk schien sich unter uns hinzuziehen und tief in die Struktur des mir bekannten Gebäudes zu reichen. Mir war indessen nicht klar, wie dieses instabile Gewebe eine so große Masse wie unser Zeitfahrzeug tragen konnte, und ich verspürte einen plötzlichen und unangenehmen Schwindelanfall. Entschlossen verdrängte ich diese primitive Reaktion. Ich befand mich zwar in einer Ausnahmesituation, wollte aber trotzdem die Etikette wahren — vor allem dann, wenn es sich um die letzten Momente meines Lebens handeln sollte! —, und ich hatte nicht vor, Energie für die Beruhigung des ängstlichen Affen in mir zu verschwenden, der glaubte, von seinem grünlich glühenden Baum zu fallen.

Die Hauptstränge des Netzes waren wohl so dick wie mein Zeigefinger, obwohl sie so hell glühten, daß ich nicht wußte, ob meine Augen mir bei dieser Wahrnehmung nur einen Streich spielten. Diese Fäden teilten unregelmäßig ausgeformte Zellen mit einer Seitenlänge von vielleicht einem Fuß Länge ab: soweit ich sehen konnte, gab es keine zwei Zellen mit ähnlicher Form. Dünnere Fäden verliefen diagonal und waagrecht durch diese Hauptzellen und bildeten ein komplexes Muster aus Sub-Zellen; diese wurden ihrerseits wieder durch feinere Fäden unterteilt, und so weiter, bis zu den Grenzen meines optischen Auflösungsvermögens. Das erinnerte mich an die sich verzweigenden Fäden, mit denen die Hüllen der Konstrukteure bedeckt waren.

An den Knoten, in denen diese Hauptstränge zusammenliefen, glühten Lichtpunkte in dem gleichen kräftigen Grün wie die übrige Umgebung; diese Punkte waren nicht stationär, sondern wanderten in den Fäden entlang oder explodierten in winzigen, lautlosen Blitzen. Man muß sich vorstellen, daß sich diese kleinen Bewegungen über das ganze Netz erstreckten, so daß das ganze Ding von einem sanften, wandernden Glühen und einer permanenten Evolution von Struktur und Licht erleuchtet wurde.

Die ganze Angelegenheit wirkte sehr zerbrechlich auf mich — es war, als ob ich in einem Kokon aus mehreren Lagen von Spinnweben gefangen wäre — aber das ganze Ding hatte eine organische Qualität, und ich hatte den Eindruck, daß sich diese komplexe Struktur bald selbst reparieren würde, wenn ich aus Versehen ausholen und große Löcher in die Wände reißen würde.

Und man muß sich vorstellen, daß das ganze Schiff von dieser merkwürdigen, konsistenten Qualität des Plattnerits durchdrungen war: ein Gefühl, daß das Schiff nicht solide in der materiellen Welt eingebettet, sondern nur virtuell und temporär war.

Das Gewebe war so grobmaschig, daß ich durch die hauchdünne Hülle ›unseres‹ Fahrzeuges die dahinterliegende Welt sehen konnte. Die Hügel und anonymen Gebäude des von den Konstrukteuren errichteten London existierten noch immer, und das ewige Eis war nach wie vor unberührt. Es war Nacht, und der Himmel war klar; der Mond segelte als silberne Sichel hoch im Sternenleeren All…

Und ich sah noch weitere Plattnerit-Schiffe am desolaten Himmel dieser verlassenen Erde ihre Bahn ziehen. Sie hatten die Form riesiger Disken und die gleiche Netzstruktur wie das Schiff, in dem ich und Nebogipfel mich befanden; kleinere Lichter leuchteten und bewegten sich wie eingefangene Sterne in ihrem komplexen Innern. Das Eis der Weißen Erde war überall in das Glühen des Plattnerits getaucht; die Schiffe waren wie riesige, stumme Wolken, die unnatürlich niedrig über das Land zogen.

Nebogipfel musterte mich, wobei das Plattnerit seiner Körperbehaarung einen intensiven grünen Schimmer verlieh. »Ist mit dir alles in Ordnung? Du wirkst etwas verstört.«

Da mußte ich lachen. »Verstört? Das kann man wohl sagen…« Ich drehte mich auf meinem Platz um, griff hinter mich und fand eine mit den unidentifizierbaren Nüssen und Früchten gefüllte Schale, die der Konstrukteur für mich bereitgestellt hatte. Ich grub die Finger in das Essen und stopfte es mir in den Mund; der primitive, animalische Vorgang des Essens war eine willkommene Ablenkung von dem erstaunlichen, fremden Ambiente um mich herum. Ich fragte mich, ob das wohl meine letzte Mahlzeit war — das letzte Abendessen auf Erden! »Ich hatte vermutlich erwartet, daß unser Konstrukteur uns hier begrüßen würde.«

»Aber ich glaube, daß er hier ist«, meinte Nebogipfel. Er hob die Hand, und seine bleichen Finger glühten in smaragdgrünem Licht. »Dieses Schiff besteht eindeutig aus denselben konstruktiven Elementen wie die Konstrukteure selbst. Ich glaube, man könnte sagen, daß sich ›unser‹ Konstrukteur noch hier befindet: aber jetzt wird sein Bewußtsein von einem der wandernden Lichtpunkte in diesem Netz aus Plattnerit repräsentiert. Und das Schiff steht sicherlich mit dem Informationsmeer in Verbindung — vielleicht könnte man sogar sagen, daß dieses Schiff selbst ein neuer Konstrukteur ist. Das Schiff ist lebendig… so lebendig wie die Konstrukteure.

Und doch, weil es aus Plattnerit besteht, muß dieses Schiff so viel mehr darstellen.« Er sah mich an, wobei sein eines Auge tief und dunkel hinter der Brille lag. »Wenn das hier Leben ist, dann ist es eine neue Art von Leben — Plattnerit-Leben — die erste Art, die im Gegensatz zu uns nicht den Gesetzen des Lebenszyklus unterliegt. Und es ist hier konstruiert worden, wobei wir als Bezugspunkt dienten… Das Schiff ist für uns gedacht — um uns zurückzubringen… Genau wie der Konstrukteur es versprochen hatte. Wie du siehst, ist er also hier…«

Nebogipfel hatte natürlich recht; und ich fragte mich mit einer gewissen nervösen Verlegenheit, wie viele dieser Schiffe, die wie große Tiere durch das sternenlose All pflügten, im Grunde nur wegen uns da waren.

Aber jetzt, wo ich zum plattneritverhangenen Himmel hinaufblickte, stach mir noch etwas anderes ins Auge. »Nebogipfel — schau dir mal den Mond an!«

Der Morlock drehte sich um; ich sah, daß das grüne Licht, das über die Haare seines Gesichts spielte, nun von einem zarten Silber überlagert wurde.

Meine Beobachtung war fundamental: der Mond hatte seinen Grünstich verloren. Die Lebensfarbe, die von der Erde stammte und mit der er Millionen Jahre überzogen gewesen war, war verschwunden und hatte wieder das stechende Knochenweiß der darunter verborgenen staubigen Berge und Meere freigelegt. Jetzt unterschied sich der Satellit in seiner Leichenblässe kaum noch von dem Mond, den ich gekannt hatte, vielleicht von einem stärkeren Glühen auf seiner Nachtseite abgesehen: hier wurde ein lebendiger ›Alter Mond‹ in den Armen des ›Neuen Mondes‹ gewiegt — und ich wußte, daß diese größere Helligkeit nur auf die erhöhte Albedo der eisbedeckten Erde zurückzuführen war, die in diesem atmosphärelosen Mondhimmel wie eine zweite Sonne strahlen mußte.

»Vielleicht war es die manipulierte Leuchtkraft der Sonne«, spekulierte Nebogipfel. »Das Plattnerit-Projekt der Konstrukteure…«

»Weißt du«, sagte ich ziemlich bitter, »ich glaube, daß ich — selbst nach allem, was wir bisher gesehen und gehört haben — irgendwie Trost in der Existenz dieses erdgrünen Flecks am Himmel gefunden hatte. Die Vorstellung, daß irgendwo — nicht so unvorstellbar weit weg — noch ein Stück der Erde, so wie ich sie kannte, überlebt hatte: daß es einen ungewöhnlichen Niedergravitations-Dschungel geben könnte, der von den Nachkommen der Menschen durchstreift wurde… Aber jetzt können nur noch Ruinen und schwache Fußabdrücke auf dieser öden Oberfläche existieren — noch mehr, die sich denen anschließen können, die über die tote Erde verstreut sind…«

Und exakt in diesem Moment, wo ich Trübsal blies, ertönte ein Knall wie ein Gewehrschuß — und unser Schutzschirm platzte wie eine Eierschale auf!


Ich sah, daß sich eine Serie von Rissen — ein komplexes Delta — in dem Schirm gebildet hatte. Vor meinen Augen löste sich ein kleiner Abschnitt der Kuppel, nicht größer als meine Hand, und schwebte wie eine Schneeflocke durch die Luft.

Und hinter der sich auflösenden Kuppel vergrößerte sich das Plattneritgewebe des Schiffs — die Fäden wuchsen, zu mir und Nebogipfel herunter.

»Nebogipfel — was ist hier los? Werden wir ohne die Kuppel sterben?« Ich befand mich in einem völlig elektrisierten Zustand, in dem jeder Nerv vor Mißtrauen und Angst zitterte.

»Du mußt versuchen, die Angst zu unterdrücken«, empfahl mir Nebogipfel, und dann ergriff er mit einer schlichten, erstaunlichen Geste mit seinen dünnen Morlockfingern meine Hand und hielt sie, wie ein Erwachsener die Hand eines Kindes halten mochte. Es war das erstemal seit diesen fürchterlichen Momenten, als der Konstrukteur mich restauriert hatte, daß ich die Berührung dieser kalten Finger spürte. Ich befürchte, daß ich vor lauter Angst aufgeschrien und mich tiefer in den Sitz gedrückt hatte, nur von dem Gedanken an Flucht erfüllt; und Nebogipfels schwache Hand packte die meine noch fester.

Die Kuppel zerfiel weiter, und ich hörte, wie sie in feinen Partikeln auf das Zeitfahrzeug herabregnete. Die Plattnerit-Fäden wucherten tiefer in unsere zersplitternde Kuppel, wobei sie von Lichtknoten durchzogen wurden.

Nebogipfel sagte: »Sie wollen uns mitnehmen — die Konstrukteure — diese Plattnerit-Wesen — zum Anfang der Zeit und vielleicht noch darüber hinaus… Aber nicht so.« Er deutete auf seinen zerbrechlichen Körper. »Wir könnten das niemals überleben — nicht eine Minute… Ist dir das klar?«

Die Plattnerit-Tentakel wischten mir über Kopf, Stirn und Schultern; ich duckte mich, um ihrem kalten Griff zu entgehen. »Du meinst«, sagte ich, »daß wir wie sie werden müssen. Wie die Konstrukteure…. wir müssen die Berührungen dieser Fäden über uns ergehen lassen!«

»Es ist die einzige Möglichkeit. Deine Angst ist verständlich; aber du mußt sie unterdrücken, nur noch einen Augenblick lang, und dann — dann wirst du frei sein…«

Ich spürte, wie sich das kühle Gewicht von Plattnerit-Spulen über meine Beine und Schultern legte. Ich bemühte mich, stillzuhalten — und dann war es mir, als ob sich einer dieser zuckenden Fasern über meine Stirn bewegte, und ich konnte eindeutig spüren, wie Fäden über mein Haut krochen, und ich schrie auf und wehrte mich gegen diese leichte Last, aber noch immer konnte ich mich nicht von meinem Sitz erheben.

Ich war inzwischen ganz in Grün getaucht, und meine Wahrnehmung der Außenwelt — des Mondes, der Eisfelder der Erde, sogar der Gesamtstruktur des Schiffes — verschwamm. Diese wandernden, quasi-lebendigen Lichtknoten glitten über meinen Körper und blendeten mich. Die Früchteschale entglitt meinen erstarrenden Fingern und fiel klappernd auf den Fahrzeugboden; aber selbst dieses Klappern verklang schnell, als mir die Sinne schwanden.

Schließlich kollabierte die Kuppel vollständig, und ein Hagel von Trümmerstücken ging auf mich nieder. Die Stirn meldete ein Kältegefühl, den entfernten Hauch des Winters, und dann spürte ich nur noch Nebogipfels kalte Finger um meine Hand — das war alles, was ich noch wahrnahm, außer diesem allgegenwärtigen, fließenden Gefummel des Plattnerits. Ich stellte mir vor, wie sich Fäden ablösten und — wie sie es schon einmal getan hatten — in die Öffnungen meines Körpers eindrangen. Diese Invasion des Lichts war so schnell erfolgt, daß ich weder einen Finger rühren noch aufschreien konnte — ich war arretiert wie in einer Zwangsjacke — und jetzt zwängten sich die Tentakel wie Würmer zwischen den Lippen hindurch in den Mund, um dort auf der Zunge zu zergehen; und ich verspürte einen kalten Druck auf den Augen…

Ich war verloren, entstofflicht, eingetaucht in smaragdgrünes Licht.

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