Ich umklammerte diesen dünnen Unterarm mit einer Hand und riß ihn vom Hals los. Ohne den Arm loszulassen, drehte ich mich um. Neben mir hingestreckt, über dem Nickel und Messing, lag ein haariger Körper — ein schmales Gesicht mit Brille dicht an meinem — und der unverkennbare süßliche, verweste Morlock-Gestank!
»Nebogipfel.«
Seine Stimme klang leise und dünn, und seine Brust hob und senkte sich. Hatte er Angst? »Bist du also abgehauen. Und so leicht…«
Er sah wie eine Puppe aus Lumpen und Roßhaar aus, wie er sich so an meine Maschine klammerte. Er war eine Erinnerung an diese alptraumhafte Welt, der ich entkommen war — ohne Frage hätte ich ihn kurzerhand über Bord werfen können — und doch hielt ich mich zurück.
»Vielleicht habt ihr Morlocks meinen Handlungsspielraum unterschätzt«, keuchte ich. »Aber du — du hast es geahnt, richtig?«
»Ja. In allerletzter Sekunde… Ich muß wohl gelernt haben, deine unbewußte Körpersprache zu interpretieren. Ich wußte, daß du die Maschine in Betrieb nehmen wolltest — ich hätte dich gerade noch packen können, bevor…
Könnten wir uns nicht arrangieren?« flüsterte er. »Ich bin hier in einer ungemütlichen Lage und falle gleich von der Maschine.«
Er schaute mich an, während ich seinen Antrag überdachte. Ich wußte, daß ich auf die eine oder andere Art eine Entscheidung zu treffen hatte; sollte ich ihn als Mitreisenden akzeptieren oder nicht?
Aber ich würde ihn kaum von der Maschine werfen; so gut kannte ich mich dann doch!
»Na schön…«
Und so vollführten wir Argonauten der Zeit ein außergewöhnliches Ballett, hier in inmitten des Gewirrs meiner Maschine. Ich hielt Nebogipfels Arm fest — um ihn vor einem Sturz zu bewahren und zu verhindern, daß er an die Steuerung der Maschine gelangte — und unter diversen Verrenkungen kam ich wieder aufrecht im Sattel zu sitzen. Schon als junger Mann war ich nicht besonders gelenkig gewesen, und als ich endlich wieder an meinem Platz war, keuchte ich ungehalten. Nebogipfel hatte sich mittlerweile in einem freien Abschnitt der Maschine bequem eingerichtet.
»Warum bist du mir gefolgt, Nebogipfel?«
Nebogipfel starrte hinaus in die düstere, verschwommene Landschaft der Zeitreise und antwortete nicht.
Ich konnte mir die Frage aber auch selbst beantworten. Ich erinnerte mich an seine Neugier und Faszination bei meiner Schilderung der Ersten Zukunft, als wir zusammen in der interplanetarischen Kapsel unterwegs waren. Der Morlock war einem Impuls gefolgt und mir hinterhergeklettert — einem durch Neugier motivierten Impuls, der ebenso wie bei mir noch auf die Affen zurückging! Ich fühlte mich dadurch merkwürdig gerührt, und meine Sympathie für Nebogipfel stieg etwas. Die Menschheit hatte sich in den Jahren, die uns trennten, zwar sehr verändert, aber hier war der Beweis, daß die Neugier, dieser unstillbare Drang nach Wissen — und die Skrupellosigkeit, die daraus resultierte — noch nicht ganz gestorben war.
Und dann tauchten wir in ein Licht ein — über meinem Kopf sah ich die Demontage der Sphäre — ungefiltertes Sonnenlicht überflutete die Maschine, und Nebogipfel heulte auf!
Ich setzte die Brille ab. Die befreite Sonne hing zunächst stationär am Himmel, doch nicht lange, und sie begann sich von ihrer fixierten Position wegzubewegen. Mit zunehmendem Tempo zog sie bogenförmig über den Himmel, und der Wechsel von Tag und Nacht kehrte wieder auf die Erde zurück. Schließlich schoß die Sonne so schnell über den Himmel, daß man ihr nicht mehr folgen konnte, sie wurde wieder zu einem Lichtband, und der Tag-Nacht-Rhythmus wich diesem uniformen und kalten, perlmuttartigen Glühen.
Ich sah also, daß die Neigung der Erdachse und ihre Rotation wiederhergestellt wurden.
Der Morlock sackte in sich zusammen und ließ das Gesicht auf die Brust sinken. Er hatte zwar noch die Brille auf, aber ihre Schutzwirkung schien nicht mehr auszureichen; er schien sich in die Innereien der Maschine verkriechen zu wollen, und sein Rücken glühte weiß im verwaschenen Sonnenlicht.
Ich mußte einfach lachen. Ich erinnerte mich, daß er darauf verzichtet hatte, mich zu warnen, als unsere Kapsel von der Sphäre ausgestoßen wurde und in den Raum stürzte: Nun, hier bekam er die Quittung!
»Nebogipfel, das ist nur Sonnenlicht.«
Nebogipfel hob den Kopf. Im verstärkten Licht hatten sich seine Brillengläser zu einem undurchdringlichen Schwarz verfärbt; sein Gesichtshaar war verklebt und schien tränennaß zu sein. Das durch die Haare sichtbare Fleisch seines Körpers glühte in einem blassen Weiß. »Es sind nicht nur die Augen«, sagte er. »Sogar in diesem abgeschwächten Zustand schmerzt mich das Licht. Wenn wir erst in die volle Helligkeit der Sonne eintauchen…«
»Sonnenbrand!« rief ich. Nach so vielen Generationen in der Dunkelheit würde dieser Morlock schon unter der trüben englischen Sonne mehr zu leiden haben als selbst der blasseste Albino in den Tropen. Ich zog die Jacke aus. »Hier«, meinte ich, »das müßte dir als Schutz dienen können.«
Nebogipfel wickelte sich in meine Jacke und verbarg sich unter ihren Falten.
»Und außerdem«, ergänzte ich, »wenn ich die Maschine anhalte, werde ich darauf achten, daß wir nachts ankommen, damit wir einen Schutz für dich suchen können.« Als ich darüber nachdachte, fiel mir ein, daß es in jedem Fall ein guter Gedanke wäre, im Schutz der Dunkelheit zu landen: Ich hätte sonst einen schönen Anblick geboten, wenn ich mit diesem Monster aus der Zukunft inmitten einer Horde gaffender Spaziergänger auf dem Hügel aufgetaucht wäre!
Das Dauergrün der Hügelkette verschwand und wurde wieder vom Wechsel der Jahreszeiten abgelöst. Wir reisten jetzt zurück durch das Zeitalter der Großen Bauwerke, das ich schon früher beschrieben hatte. Mit der auf dem Kopf drapierten Jacke schaute Nebogipfel mit offenkundiger Faszination nach draußen, während Brücken und Pylonen wie Nebelschwaden über die flackernde Landschaft zogen. Was mich betraf, so verspürte ich eine enorme Erleichterung, daß wir uns wieder meinem eigenen Jahrhundert näherten.
Plötzlich zischte Nebogipfel — es war ein merkwürdiges, katzenhaftes Geräusch — und preßte sich enger in das Innere der Maschine. Mit großen, starren Augen blickte er nach vorne.
Ich wandte mich von ihm ab und registrierte, daß die außergewöhnlichen optischen Effekte, die ich auf meiner Reise in das Jahr 657208 beobachtet hatte, wieder auftraten. Ich hatte den Eindruck von dichten Sternenfeldern, die versuchten, durch die dünne Oberfläche der mich umgebenden Objekte zu brechen… Und hier, ein paar Yards vor der Maschine schwebend, war der Beobachter: Mein unglaublicher Begleiter. Seine Augen waren auf mich geheftet, und ich ergriff das Geländer. Ich starrte diese verzerrte Parodie eines menschlichen Gesichts und die baumelnden Tentakel an — und erneut war ich betroffen von der Ähnlichkeit mit der hoppelnden Kreatur, die ich dreißig Millionen Jahre später an diesem einsamen Strand gesehen hatte.
Es war komisch — aber meine Brille — die mir in der Dunkelheit der Morlocks so gute Dienste geleistet hatte — versagte hier, als ich diese Kreatur betrachtete. Ich sah sie nicht schärfer, als das auch mit bloßen Augen möglich gewesen wäre.
Jetzt vernahm ich ein leises Nuscheln, wie ein Wimmern. Es kam von Nebogipfel, der sich mit allen Anzeichen des Unwohlseins an seinem Platz in der Maschine zusammenkauerte.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, meinte ich etwas unbeholfen. »Ich habe dir doch schon von meiner Begegnung mit diesem Wesen auf dem Weg zu eurem Jahrhundert erzählt. Es sieht zwar fremdartig aus, scheint aber harmlos zu sein.«
Durch sein zitterndes Wimmern sagte Nebogipfel: »Du verstehst nicht. Was wir sehen, ist unmöglich. Dein Beobachter verfügt offenbar über die Fähigkeit, zwischen den Korridoren zu wechseln — zwischen potentiellen Versionen der Historie zu kreuzen… und selbst in das Undefinierte Kontinuum einer Zeitmaschine einzudringen. Es ist einfach unmöglich!«
Und dann — so schnell, wie es aufgetreten war — verschwand das Glühen der Sterne wieder, mein Beobachter versank in der Unsichtbarkeit und die Maschine raste weiter auf ihrem Weg in die Vergangenheit dahin.
Schließlich ließ ich den Morlock in ruppigem Ton wissen: »Soviel muß dir klar sein, Nebogipfel: Ich habe nicht die Absicht, nach diesem letzten Ausflug noch einmal in die Zukunft zu reisen.«
Er umklammerte mit seinen langen Fingern eine Verstrebung der Maschine. »Ich weiß, daß ich nicht zurückkehren kann«, meinte er. »Ich wußte das schon, als ich die Maschine bestiegen hatte. Selbst wenn du vorgehabt hättest, in die Zukunft zurückzukehren…«
»Ja?«
»Durch die jetzige Rückkehr durch die Zeit wird deine Maschine eine weitere Adaption der Zukunft bewirken, und zwar in unkalkulierbarer Weise.« Er wandte sich mir zu und schaute mich durch seine Brille mit großen Augen an. »Verstehst du? Meine Zeit — meine Heimat — ist verloren —, vielleicht sogar vernichtet. Ich bin bereits zu einem Flüchtling in der Zeit geworden. Genauso wie du einer bist.«
Seine Worte ließen mich schaudern. Konnte er recht haben? Konnte ich denn die Struktur der Geschichte durch diese neue Expedition noch mehr beschädigen, nur indem ich hier saß?
Mein Entschluß, das alles wiedergutzumachen — dem destruktiven Wirken der Zeitmaschine ein Ende zu setzen — verstärkte sich in mir!
»Aber wenn du das alles schon von vornherein gewußt hattest, war es doch eine Dummheit par excellence, mir zu folgen…«
»Vielleicht.« Seine Stimme klang gedämpft, denn er verbarg den Kopf unter den Armen. »Aber niemand aus meinem Volk hatte bisher die Gelegenheit, die Dinge zu sehen, die ich schon gesehen habe — durch die Zeit zu reisen — solche Informationen zu gewinnen …«
Er verfiel in Schweigen, und meine Sympathie für ihn wuchs. Ich fragte mich, wie ich wohl reagiert haben würde, wenn sich mir für eine einzige Sekunde eine solche Gelegenheit eröffnet hätte — wie eben dem Morlock!
Die Zeiger der Chronometer liefen stetig rückwärts, und ich sah, daß wir uns meinem Jahrhundert näherten. Die Welt nahm jetzt vertrautere Züge an, mit der in ihrem angestammten Bett fließenden Themse und mit Brücken, die mir bekannt vorkamen, während sie an mir vorüberflackerten.
Ich schob die Hebel in Richtung Ruhestellung. Die Sonne wurde wieder als solche erkennbar und flog wie eine glühende Kugel über uns hinweg; und der Tag-Nacht-Rhythmus verlangsamte sich zu einem erkennbaren Flackern. Zwei der Chronometer standen bereits wieder auf Null; nur noch einige tausend Tage — bloß wenige Jahre — galt es zu überbrücken.
Ich bemerkte, daß Richmond Hill um mich herum materialisiert war, in mehr oder weniger der gleichen Form, die ich von meiner Zeit her kannte. Weil die hinderlichen Bäume durch meine Reise zu transparenten Schemen reduziert wurden, konnte ich die Wiesen um Petersham und Twickenham gut überblicken, die mit Inseln alter Bäume bestanden waren. Es war alles beruhigend vertraut — trotz der Tatsache, daß meine Geschwindigkeit durch die Zeit noch so hoch war, daß ich weder Menschen, Wild, Vieh noch andere Bewohner des Hügels, der Wiesen oder des Flusses ausmachen konnte, und das Flackern des Tag-Nacht-Rhythmus tauchte die ganze Szenerie in ein unnatürliches Glühen — dennoch, ich war fast zu Hause!
Ich schaute auf die Uhren, als der Zeiger auf der Tausenderskala gegen Null ging — ich war wieder daheim, und es bedurfte meiner ganzen Willensstärke, die Maschine nicht sofort anzuhalten, denn die Sehnsucht, in meine Zeit zurückzukehren, war schier extrem — aber ich ließ die Hebel in ihrer jetzigen Stellung und sah zu, wie die Zeiger in den negativen Skalenbereich abglitten.
Um mich herum flackerte der Hügel in den Tag-Nacht-Übergängen, wobei hier und da eine Picknickgesellschaft so lange im Gras verweilte, daß ich sie als Farbklecks wahrnehmen konnte. Schließlich, bei einem Zählerstand von sechstausendfünfhundertundsechzig Tagen vor meiner Abreise, betätigte ich die Hebel erneut.
Ich brachte die Zeitmaschine im Schutz einer bewölkten, mondlosen Nacht zum Stillstand. Wenn meine Berechnungen richtig waren, war ich im Juli 1873 gelandet. Durch meine Morlock-Brille sah ich den Hang des Hügels, die Flanke des Flusses und Tau, der auf dem Gras glitzerte. Und ich stellte fest, daß es — obwohl die Morlocks meine Maschine eine halbe Meile von meinem Haus entfernt im offenen Gelände des Hügels abgestellt hatten — keine Zeugen für meine Ankunft gab. Die Geräusche und Gerüche meines Jahrhunderts brandeten über mich hinweg: Der stechende Geruch von Holz, das in irgendeinem Kamin verheizt wurde, das entfernte Murmeln der Themse, das Rauschen einer Brise durch die Bäume, die Naphtafeuer auf den Karren der Hausierer. Es war alles wohltuend und bekannt und willkommen!
Nebogipfel stand vorsichtig auf. Er war mit den Armen in meine Jacke geschlüpft, und jetzt schlackerte das Kleidungsstück um ihn herum wie bei einem Kind. »Ist das hier 1891?«
»Nein«, erwiderte ich.
»Was sagst du da?«
»Ich sage, daß ich uns weiter in die Zeit zurückgebracht habe.« Ich ließ den Blick am Hügel entlangschweifen, in Richtung meines Hauses. »Nebogipfel, in dem Laboratorium dort oben führt ein tatkräftiger junger Mann gerade eine Versuchsreihe durch, die schließlich in der Erschaffung einer Zeitmaschine resultieren wird…«
Er starrte durch seine Brille hinüber.
»Willst du damit sagen…«
»Daß wir uns jetzt im Jahre 1873 befinden — und voraussichtlich in Kürze mir als jungem Mann begegnen werden!«
Sein kinnloses Gesicht schwenkte auf eine Art zu mir herüber, die ich als Erstaunen deutete.
Ich kann nicht beschreiben, wie merkwürdig es mir erschien, nachts die Petersham Road entlangzugehen und schließlich bei meinem eigenen Haus anzukommen — noch dazu mit einem Morlock an meiner Seite!
Das Haus hatte eine Terrasse, große Schiebefenster, einen ziemlich stillos geschnitzten Türrahmen sowie eine Veranda mit Repliken griechischer Säulen. An der Vorderfront befand sich eine Treppe, die zum Keller hinabführte und von einem verzierten, schwarzlackierten Metallgeländer begrenzt wurde. Das ganze Haus stellte im Grunde eine ärmliche Kopie der wirklichen herrschaftlichen Anwesen im Grünen bzw. der Terrasse auf der Hügelkuppe dar. Dennoch war es ein großes, geräumiges und gemütliches Haus, das ich als junger Mann zu einem Spottpreis erworben hatte und das ich nicht aufzugeben gedachte.
Ich ging an der Vordertür vorbei und zur Rückseite des Hauses. Hinten befanden sich Balkone mit filigranen, weiß gestrichenen Eisengeländern, die nach Westen hinausgingen. Ich konnte die jetzt dunklen Raucher- und Eßzimmerfenster erkennen (ich überlegte mir, daß ich nicht wußte, welche Uhrzeit wir jetzt hatten), aber ich hatte irgendwie den Eindruck, daß hinter dem Raucherzimmer etwas fehlte. Es dauerte einige Augenblicke, bis ich des Rätsels Lösung fand — das unerwartete Fehlen einer Sache ist weitaus schwieriger zu begründen als ihr plötzliches Vorhandensein — es war nämlich die Stelle, an der ich später ein Bad anbauen würde. Hier, im Jahre 1873, mußte ich mich noch in einem Zuber waschen, der immer von einem Diener in mein Schlafzimmer gebracht wurde!
Und in diesem ungünstig geschnittenen Wintergarten, der von der Rückseite des Hauses abstand, befand sich mein Laboratorium, in dem — wie ich in gespannter Erwartung sah — immer noch Licht brannte. Alle Gäste waren bereits gegangen, und die Dienerschaft hatte sich schon zu Bett begeben; aber er — ich — arbeitete noch immer.
Ich erlitt ein emotionales Chaos, von dem ich mir nicht vorstellen konnte, daß es irgendein anderer Mensch bisher auch erlebt hatte; hier war mein Zuhause, und doch konnte ich keinen Anspruch darauf erheben!
Ich kehrte zur Vordertür zurück. Nebogipfel stand etwas abseits auf der menschenleeren Straße; er schien darauf bedacht, sich von den Treppenstufen fernzuhalten, denn die Grube, in die sie hinunterführten, war stockdunkel, selbst mit der Brille.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, beruhigte ich ihn. »Es ist ganz normal, daß sich in solchen Häusern die Küche und andere Räume unter der Erde befinden… Die Stufen und das Geländer sind wirklich solide.«
Der mit seiner Brille anonym wirkende Nebogipfel betrachtete mißtrauisch die Stufen. Ich führte seine Bedenken darauf zurück, daß er nicht wußte, wie robust die Technologie des neunzehnten Jahrhunderts war — ich hatte ganz vergessen, wie fremdartig ihm meine primitive Ära vorkommen mußte — aber trotzdem störte mich etwas an seiner Haltung.
Ich erinnerte mich mit Unbehagen an ein Streiflicht aus meiner Kindheit. Mein Elternhaus war groß, aber verschachtelt — und deshalb mit geringem Wohnwert —, und es verfügte über unterirdische Gänge, die vom Haus zu den Stallungen, Wirtschaftsgebäuden etc. führten: solche Passagen waren üblich bei den Häusern jener Zeit. In regelmäßigen Abständen waren schwarzlackierte, runde Gitter in den Boden eingelassen, welche die zu den Gängen führenden Belüftungsschächte abdeckten. Ich erinnerte mich jetzt an die Angst, die ich als Kind vor diesen in den Boden getriebenen Gruben gehabt hatte. Vielleicht waren es wirklich nur schlichte Belüftungsschächte gewesen; aber was, wenn sich die Einflüsterungen meiner kindlichen Phantasie bewahrheitet und sich eine knöcherne Hand zwischen diesen Stäben hindurchgeschoben und mich am Knöchel gepackt hätte?
Jetzt fiel mir auf — ich vermute, daß etwas an Nebogipfels vorsichtiger Pose das alles ausgelöst hatte —, daß tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen diesen Luftschächten meiner Kindheit und den unheimlichen Quellen der Morlocks bestand… War das am Ende der Grund, weshalb ich im Jahre 657208 dieses Morlockkind derart mißhandelt hatte?
Ich bin kein Mensch, der sich gerne mit den Untiefen seines Charakters konfrontiert sieht! Ziemlich unfair pöbelte ich Nebogipfel an: »Ich dachte eigentlich, daß ihr Morlocks die Dunkelheit liebt!« Dann wandte ich mich von ihm ab und ging zur Vordertür hoch.
Es war alles so vertraut — und doch so unheimlich fremd. Bereits auf den ersten Blick konnte ich tausend kleine Abweichungen gegenüber meiner Zeit, achtzehn Jahre später, feststellen. Da war z. B. der hängende Sturz, den ich später erneuern ließ, und dort die leere Stelle, an der ich eines Tages den gebogenen Lampenhalter anbringen würde, auf Initiative von Mrs. Watchets.
Erneut realisierte ich, welch eine bemerkenswerte Angelegenheit so eine Zeitreise war! Man hätte nach einem Flug über Tausende von Jahrhunderten die dramatischsten Umwälzungen erwarten können — und die waren auch wirklich eingetreten — aber selbst dieser kleine Hüpfer über zwei Jahrzehnte hatte mich zu einem Anachronismus werden lassen.
»Was soll ich tun? Soll ich auf dich warten?« Mir fiel wieder die stumme Gegenwart des neben mir stehenden Nebogipfel ein. Mit seiner Brille und meiner umgehängten Jacke wirkte er gleichermaßen komisch und auffallend! »Ich glaube, daß es zu gefährlich ist, wenn du draußen bleibst. Was, wenn dich ein Polizist sieht? — er könnte dich für einen Einbrecher halten. Wenn du dann noch verhaftet würdest…« Ich war mir nicht schlüssig, ob die Aussichten eines Morlocks in einem Polizeirevier des Jahres 1873 eher schlecht oder amüsant zu beurteilen waren! »Und was ist mit Hunden? Oder Katzen?« Ohne den Schutz seiner Morlock-Technik war Nebogipfel nämlich ziemlich hilflos; er hatte seine Reise durch die Zeit genauso unvorbereitet angetreten wie ich meine erste Tour. »Ich frage mich, wie der Normalbürger der siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts wohl auf einen Morlock reagieren würde. Er würde ihn vermutlich zu einem schmackhaften Braten verarbeiten… Nein, Nebogipfel. Alles in allem glaube ich, daß du bei mir am sichersten bist.«
»Und der junge Mann, den du besuchen willst? Wie wird er reagieren?«
Ich seufzte. »Nun, ich bin schon immer mit einem scharfen und flexiblen Verstand gesegnet gewesen. Glaube ich jedenfalls! — Vielleicht werde ich es bald herausfinden. Außerdem könnte deine Gegenwart mich — ihn — von der Richtigkeit meiner Ausführungen überzeugen.«
Und ohne mir eine weitere Verzögerung zu gestatten, zog ich an der Klingelschnur.
Im Haus hörte ich Türenschlagen und einen gereizten Ruf: »Ist ja gut, ich komme schon!« — und dann Schritte, die auf dem kurzen Flur klapperten, der das übrige Haus mit meinem Laboratorium verband.
»Das bin ich«, zischte ich Nebogipfel zu. »Er. Es muß schon spät sein — die Diener liegen bereits im Bett.«
Ein Schlüssel rasselte im Türschloß.
»Deine Brille«, zischte Nebogipfel.
Ich riß mir das auffällige Teil vom Gesicht und stopfte es in die Jackentasche — gerade in dem Moment, als die Tür aufging.
Da stand ein junger Mann, dessen Gesicht wie ein Mond im Licht der Kerze glühte, die er in der Hand hielt. Er musterte mich flüchtig, der ich unvollständig bekleidet dastand; und seine Inspektion von Nebogipfel fiel noch oberflächlicher aus. (Soviel zu meiner Beobachtungsgabe, derer ich mich immer gerühmt habe!) »Was, zum Teufel, wollen Sie? Ist Ihnen klar, daß es ein Uhr nachts ist?«
Ich öffnete den Mund und wollte etwas sagen — aber die kurze Ansage, die ich mir zurechtgelegt hatte, war mir schon wieder entfallen.
Da stand ich also meinem sechsundzwanzigjähri-gen Alter ego gegenüber!
Seit dieser Erfahrung bin ich davon überzeugt, daß wir uns alle, ohne Ausnahme, von unserem Spiegelbild täuschen lassen. Dieser Reflex ist dermaßen tief in uns verankert: Wenn auch unbewußt, orientieren wir uns an unseren besten Seiten und pressen unser Verhalten in ein Muster, das nicht einmal unser bester Freund erkennen würde. Und natürlich unterliegen wir nicht dem Zwang, uns von einer weniger vorteilhaften Seite zu zeigen: z. B. von hinten oder im Seitenprofil.
Nun, hier war eine Spiegelung, die ich nicht unter Kontrolle hatte — und die außerdem eine beunruhigende Erfahrung darstellte.
Er hatte natürlich meine Größe: wenn überhaupt eine negative Veränderung eingetreten war, dann die, daß ich in den darauffolgenden achtzehn Jahren etwas geschrumpft war. Er hatte einen merkwürdigen Kopf: ungewöhnlich breit, genauso wie viele Leute es schon bei mir festgestellt hatten, und mit dünnem braunen Haar bewachsen, das bisher weder auszufallen noch zu ergrauen begonnen hatte. Die Augen waren stahlgrau, die Nase gerade, das Kinn ausgeprägt; aber ich war eigentlich noch nie ein besonders gutaussehender Bursche gewesen: Er war von Natur aus blaß, und diese Blässe wurde noch durch die langen Stunden verstärkt, die er seit seiner Jugend in Bibliotheken, Seminarräumen, Hörsälen und Laboratorien verbracht hatte.
Ich verspürte eine vage Abscheu; ich hatte in der Tat etwas von einem Morlock an mir! Und hatte ich denn immer schon solche Segelohren gehabt?
Aber es war die Kleidung, die wirklich meine Aufmerksamkeit erregte. Die Kleidung!
Er trug das, was ich als die Kluft eines Braumeisters identifizierte: einen kurzen, hellroten Mantel über einer schwarzgelben Weste mit großen Messingknöpfen, große gelbe Stiefel und ein Blumensträußchen, das den Mantelaufschlag schmückte.
Hatte ich jemals solche Klamotten getragen? Mußte ich wohl! — obwohl ich mir das angesichts meines jetzigen nüchternen Stils nur schwer vorstellen konnte.
»Verdammt«, entfuhr es mir, »Sie sehen aus wie ein Zirkusclown!«
Er wirkte irritiert — offensichtlich schien ihm mein Gesicht ansatzweise bekannt vorzukommen —, aber er blieb mir nichts schuldig: »Vielleicht sollte ich ihnen diese Tür ins Gesicht schlagen, Sir. Sind Sie extra den Hügel heraufgekommen, nur um meine Kleidung zu beanstanden?«
Ich bemerkte, daß sein Blumenstrauß schon reichlich verwelkt war, und glaubte außerdem, eine leichte Schnapsfahne zu riechen. »Sagen Sie mir, ist heute Donnerstag?«
»Was ist denn das für eine schwachsinnige Frage? Ich sollte wohl…« »Ja?«
Er hielt die Kerze hoch und starrte mir ins Gesicht. Er war derart fasziniert von mir — von seinem eigenen, dicht unterhalb der Schwelle der Erkenntnis verborgenen Ich —, daß er den Morlock völlig ignorierte: ein Humanoider aus der entfernten Zukunft, der keine sechs Fuß von ihm entfernt stand! Ich fragte mich, ob dieser kleinen Szene vielleicht etwas Metaphorisches innewohnte: hatte ich die Zeitreise nur deshalb unternommen, um mich schließlich selbst zu finden?
Aber ich habe für Ironie nichts übrig, und außerdem war ich ziemlich verärgert, weil ich mich überhaupt solchen schöngeistigen Erwägungen hingegeben hatte!
»Es ist zufällig Donnerstag. Nein, es war Donnerstag — wir haben bereits Freitag. Aber was soll das überhaupt? Wissen Sie das denn nicht selbst? Wer sind Sie, Sir?«
»Ich werde Ihnen sagen, wer ich bin«, versprach ich. »Und…« — ich zeigte auf den Morlock, woraufhin unser unfreiwilliger Gastgeber große Augen machte — »…wer das ist. Und weshalb ich nicht genau weiß, wie spät es ist und welchen Wochentag wir haben. Aber zunächst — dürfen wir eintreten? Ich würde nämlich gerne einen Schluck von Ihrem Brandy probieren.«
Er stand vielleicht eine halbe Minute da. Am Kerzenhalter erstarrten Wachsperlen, und in der Nähe rauschte die Themse, während sie träge unter den Brücken von Richmond hindurchfloß. Dann meinte er schließlich: »Ich sollte euch auf die Straße setzen! —, aber…«
»Ich weiß«, sagte ich verständnisvoll. Ich betrachtete meine jüngere Ausgabe mit Wohlgefallen; ich hatte schon immer einen Hang zu gewagten Spekulationen und konnte mir durchaus vorstellen, welche wilden Hypothesen bereits in diesem agilen, undisziplinierten Geist wucherten!
Er hatte eine Entscheidung getroffen. Er trat von der Tür zurück.
Ich bedeutete Nebogipfel, mir zu folgen. Die bis auf eine Haarschicht nackten Füße des Morlocks patschten über den Parkettfußboden des Foyers. Mein jüngeres Ich machte erneut große Augen — Nebogipfel erwiderte den Blick interessiert — und sagte: »Es ist… äh… es ist spät. Ich will die Diener nicht aufwecken. Kommt mit ins Eßzimmer; dort ist es wahrscheinlich am wärmsten.« Der Flur war dunkel, mit einem angestrichenen Sockel und einer Reihe Kleiderhaken; die Konturen des breiten Schädels unseres Gastgebers wider Willen hoben sich gegen das Licht der einen Kerze ab, als er uns an der Tür zum Raucherzimmer vorbeiführte. Im Eßzimmer glühten die Kohlen noch im Kamin. Unser Gastgeber zündete mit der Kerze, die er trug, weitere Lichter an, und dann erstrahlte der Raum in hellem Schein, denn es gab hier ein gutes Dutzend Kerzen: zwei in Messinghaltern auf dem Kaminsims, die eine klotzige und protzige Tabakdose flankierten, und die restlichen in Wandhaltern.
Ich sah mich in diesem warmen und behaglichen Raum um — so vertraut, und doch so anders wegen der subtilen Neuanordnung der Einrichtung und Dekoration! Da stand der kleine Tisch bei der Tür, mit seinem Stapel Zeitungen — sicher angefüllt mit düsteren Analysen von Mr. Disraelis jüngsten Verlautbarungen oder einigen todlangweiligen Berichten über die politische Situation in Osteuropa — und dort, dicht am Kamin, war mein niedriger und bequemer Stuhl. Aber von dem Arrangement kleiner achteckiger Tische und den Glühlampen fehlte jede Spur.
Unser Gastgeber trat auf den Morlock zu. Er beugte sich vor und stützte die Hände auf die Knie. »Was ist das? Es sieht aus wie ein Affe — oder ein mißgebildetes Kind. Ist das Ihre Jacke, die es trägt?«
Ich regte mich über seinen Ton auf — und war selbst darüber erstaunt. »›Es‹«, korrigierte ich, »ist eigentlich ein ›Er‹. Und er kann selbst sprechen.«
»Kann es?« Sein Gesicht ruckte zu Nebogipfel herum. »Ich meine, können Sie? Gütiger Gott!«
Er starrte weiter auf das behaarte Gesicht des armen Nebogipfel, und ich stand da auf dem Eßzimmerteppich und versuchte, meine Ungeduld — um nicht zu sagen Empörung — wegen dieser Unhöflichkeit zu unterdrücken.
Dann besann er sich wieder seiner Pflichten als Gastgeber. »Oh«, sagte er, »es tut mir leid. Bitte — nehmen Sie Platz.«
Der in meiner Jacke versunkene Nebogipfel stand in der Mitte der edlen Auslegware. Er blickte zuerst auf den Boden und sah sich dann im Raum um. Er schien auf irgend etwas zu warten — und noch im selben Moment begriff ich. Der Morlock war derart an die Technologie seiner Zeit gewöhnt, daß er darauf wartete, dem Teppich Möbel entsteigen zu sehen! Im weiteren Verlauf unserer Bekanntschaft sollte sich der Morlock jedoch als ziemlich lernfähig und flexibel erweisen, wenn er wieder einmal so verblüfft war wie ich, falls ich in einer Steinzeithöhle nach einem mit Gas betriebenen Kamin gesucht hätte.
»Nebogipfel«, instruierte ich ihn, »das ist eine einfachere Zeit. Die Formen sind fest.« Ich deutete auf den Eßtisch und die Stühle. »Du mußt dir einen davon aussuchen.«
Mein jüngeres Ich lauschte dieser Konversation mit augenfälliger Neugierde.
Nach einigen weiteren Sekunden des Zögerns suchte sich der Morlock einen der solideren Stühle aus.
Ich kam vor ihm dort an. »Den bitte nicht«, meinte ich höflich. »Ich glaube nicht, daß du ihn bequem finden würdest — er könnte versuchen, dich zu massieren, aber er ist nicht für dein Gewicht ausgelegt…«
Mein Gastgeber sah mich konsterniert an.
Unter meiner Anleitung — ich fühlte mich wie ein hilfloser Vater, als ich mich so um ihn kümmerte — zog Nebogipfel einen schlichten Lehnstuhl heran und kletterte hinauf; dort saß er mit baumelnden Beinen wie ein haariges Kind.
»Woher wissen Sie von meinen Aktivstühlen?« verhörte mich mein Gastgeber. »Ich habe sie nur ein paar Freunden vorgeführt — die Konstruktion ist noch nicht einmal patentiert…«
Ich antwortete nicht: Ich erwiderte nur seinen Blick, für lange Sekunden. Ich konnte beobachten, wie sich die Antwort auf diese Frage bereits in seinem Gehirn formte.
Er wandte den Blick von mir ab. »Setzen Sie sich«, meinte er. »Bitte. Ich hole den Brandy.«
Ich setzte mich zu Nebogipfel — an meinen eigenen Eßtisch, in der Gesellschaft eines Morlocks! — und schaute mich um. In einer Ecke des Eßzimmers stand das alte gregorianische Teleskop auf seinem Stativ, das ich aus meinem Elternhaus mitgenommen hatte — ein primitives Gerät, das die Objekte nur verschwommen zeigte und mir dennoch in der Kindheit Einblicke in die Wunder des Himmels und die Faszination der Optik eröffnet hatte. Und hinter diesem Raum verlief der dunkle Gang zum Laboratorium, dessen Türen sorglos offenstanden; durch den Korridor konnte ich einen flüchtigen Blick in das Innere meines Arbeitszimmers werfen: die Geräteansammlungen auf den Werkbänken, auf dem Boden verstreute Konstruktionszeichnungen und diverse Werkzeuge und Instrumente.
Unser Gastgeber kehrte zurück; vorsichtig balancierte er drei Whiskygläser und eine Karaffe. Er schenkte uns dreien ordentlich ein, und die Flüssigkeit funkelte im Kerzenlicht. »Bitte«, sagte er. »Ist Ihnen vielleicht kalt? Soll ich Feuer im Kamin machen?«
»Nein«, erwiderte ich, »danke.« Ich hob das Whiskyglas, roch daran und ließ den Brandy über die Zunge rinnen.
Nebogipfel rührte sein Glas nicht an. Er tauchte einen bleichen Finger in das Zeug, zog ihn heraus und leckte einen Tropfen von der Fingerspitze ab.
Mein Gastgeber sah interessiert zu und wandte sich dann mir zu, wobei er sich sichtlich von diesem Anblick losreißen mußte: »Ich bin Ihnen gegenüber im Nachteil. Ich kenne Sie nicht. Aber Sie scheinen mich zu kennen.«
»Ja.« Ich lächelte. »Aber ich weiß nicht so recht, wie ich es Ihnen beibringen soll.«
Mit einem unbehaglichen Blick runzelte er die Stirn. »Ich wüßte nicht, warum das irgendein Problem darstellen sollte. Mein Name ist…«
Ich hob die Hand; mir war gerade ein genialer Einfall gekommen. »Nein. Ich werde Sie — mit Ihrer Erlaubnis — Moses nennen.«
Er nahm einen ordentlichen Schluck Brandy und musterte mich mit echtem Ärger in seinen grauen Augen. »Woher wissen Sie das nun schon wieder?«
Moses — mein verhaßter Vorname, der mir in der Schule endlose Qualen beschert hatte — und den ich seit dem Verlassen meines Elternhauses unter Verschluß gehalten hatte!
»Nur kommod«, meinte ich. »Ihr Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben.«
»Wissen Sie, ich habe langsam genug von diesen Spielchen. Sie platzen hier mit Ihrem — Begleiter — herein und äußern sich in mannigfaltiger Weise abfällig über meine Kleidung. Und nach wie vor weiß ich nicht einmal Ihren Namen!«
»Aber«, wandte ich ein, »vielleicht wissen Sie ihn doch.«
Er umschloß das Glas mit seinen langen Fingern. Er begriff, daß etwas Seltsames und Faszinierendes ablief — aber was? Ich konnte in seinem Gesicht mit Leichtigkeit diese Mischung aus Erregung, Ungeduld und ein wenig Angst erkennen, die ich bei der Konfrontation mit dem Unbekannten selbst so oft verspürt hatte.
»Schauen Sie«, meinte ich, »ich bin bereit, Ihnen alles zu sagen, was Sie wissen möchten, wie ich es versprochen habe. Aber zuerst…«
»Ja?«
»Es wäre mir eine Ehre, Ihr Laboratorium besichtigen zu dürfen. Und ich bin sicher, daß Nebogipfel sich auch dafür interessieren würde. Erzählen Sie uns etwas von sich«, ersuchte ich ihn. »Und auf diesem Wege werden Sie auch etwas von mir erfahren.«
Er saß für eine Weile da und hielt sein Glas umklammert. Dann füllte er mit einer schnellen Bewegung unsere Gläser nach, erhob sich und holte die Kerze vom Kaminsims.
»Folgen Sie mir.«
Mit in die Höhe gehaltener Kerze führte er uns den kalten Korridor zum Laboratorium hinunter. Diese paar Sekunden werde ich nie vergessen: Das Licht der Kerze projizierte große Schatten von Moses' breitem Schädel, und sein Jackett und die Stiefel glitzerten im düsteren Licht; hinter mir das leise Patschen der Füße des Morlocks und der im engen Raum voll zur Entfaltung kommende süßlich-faulige Gestank.
Im Laboratorium ging Moses an den Wänden und Werkbänken entlang und entzündete Kerzen und Laternen. Bald war der Raum hell erleuchtet. Die Wände waren weiß getüncht und völlig schmucklos — abgesehen von Moses' Aufzeichnungen, die er überall an die Wand geheftet hatte — und der einzige Bücherschrank war mit Journalen, Lehrbüchern, mathematischen Tabellen und physikalischen Meßergebnissen vollgepackt. Der Raum war kalt; ich fror in meinem Hemd und schlug die Arme um den Körper.
Nebogipfel watschelte über den Boden des Laboratoriums zum Bücherschrank. Er ging in die Hocke und studierte die ramponierten Buchrücken. Ich fragte mich, ob er Englisch lesen konnte; ich hatte nämlich nie irgendwelche Bücher oder Papiere in der Sphäre gesehen, und mit der Schrift auf diesen allgegenwärtigen Scheiben aus blauem Glas hatte ich nichts anfangen können.
»Ich habe nur wenig Interesse, Ihnen eine Zusammenfassung meiner Biographie zu geben«, verkündete Moses. »Genausowenig…« — diesmal schärfer — »…verstehe ich, weshalb Sie so an mir interessiert sind. Doch ich werde Ihr Spiel mitspielen. Schauen Sie: angenommen, ich würde Ihnen meine aktuellsten Forschungsergebnisse vorstellen. Was halten Sie davon?«
Ich lächelte. Wie konsistent mit meinem — seinem — Charakter, obwohl er außer dem gegenwärtigen Rätsel nichts Konkretes in der Hand hatte!
Er ging zu einer Drehbank, auf der sich ein planloses Sortiment von Reagenzgläsern, Lampen, Gittern und Linsen befand. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie hier nichts anfassen würden. Es sieht wohl ein wenig konfus aus, aber ich versichere Ihnen, daß das Chaos System hat! Ich komme fast zu nichts anderem, als Mrs. Penforth mit ihren Staubtüchern und Besen von hier fernzuhalten, kann ich Ihnen sagen.«
Mrs. Penforth? Ich war zuerst versucht, mich nach Mrs. Watchets zu erkundigen — aber dann erinnerte ich mich, daß Mrs. Penforth die Vorgängerin von Mrs. Watchets gewesen war. Ich hatte sie etwa fünfzehn Jahre vor meiner Zeitreise entlassen, weil ich sie dabei erwischt hatte, wie sie sich aus meinem kleinen Bestand an Industriediamanten bediente. Ich wollte Moses zunächst auf diesen kleinen Zwischenfall hinweisen, aber es war ja kaum etwas passiert; und außerdem — überlegte ich in einer seltsamen väterlichen Attitüde gegenüber meinem jüngeren Ich — würde es Moses vielleicht guttun, sich wenigstens einmal um seinen Haushalt zu kümmern und nicht alles schleifen zu lassen!
»Mein eigentliches Fachgebiet ist die Optik«, fuhr Moses fort, »…das heißt die physikalischen Eigenschaften des Lichts, welche…«
»Wissen wir«, meinte ich huldvoll.
Er runzelte die Stirn. »Na gut. Nun, kürzlich habe ich mich mit einem merkwürdigen Problem befaßt — mit der Untersuchung eines neuen Minerals, von dem ich vor zwei Jahren zufällig eine Probe erhalten habe.« Er zeigte mir eine ganz normale Acht-Unzen-Medizinflasche mit einem Gummistopfen; die Flasche war zur Hälfte mit einem feinen, grünlichen Pulver gefüllt, das merkwürdig strahlte. »Schauen Sie: können Sie das schwache Leuchten hier erkennen, das von innen heraus zu kommen scheint?« Und tatsächlich schimmerte das Material, als ob es sich um kleine Glasperlen handelte. »Aber wo«, fragte sich Moses, »befindet sich die Energiequelle für dieses Leuchten?
Ich begann also mit den Untersuchungen — anfangs nur sporadisch, denn ich habe ja noch meine andere Arbeit! — ich bin nämlich auf Fördermittel angewiesen, die nur dann fließen, wenn ich eine respektable Quantität an Forschungsergebnissen vorweisen kann. Ich habe also keine Zeit, Phantomen nachzujagen… aber später«, gestand er ein, »nahm das Plattnerit dann doch einen großen Teil meiner Zeit in Anspruch — denn ich hatte beschlossen, das Zeug nach dem mysteriösen Burschen — er hatte sich mir als Gottfried Plattner vorgestellt — zu benennen, der es mir gegeben hatte.
Ich bin kein Chemiker — ich komme nicht einmal mit den drei Aggregatzuständen so richtig klar — aber trotzdem habe ich die Sache in Angriff genommen. Ich besorgte Reagenzgläser, einen Gasvorrat mit Brenner, Lackmuspapier und den ganzen Rest dieser übelriechenden Utensilien. Ich schüttete diesen grünen Staub in Reagenzgläser und ließ ihn mit Wasser und Säure reagieren — Schwefel-, Salpeter- und Salzsäure — ohne jedes Ergebnis. Dann schüttete ich einen Haufen davon auf eine Platte und hielt ihn über den Gasbrenner.« Er rieb sich die Nase. »Der resultierende Knall zerstörte ein Oberlicht und beschädigte eine Wand«, rekapitulierte er.
Es war die nach Südwesten gehende Wand gewesen, die in Mitleidenschaft gezogen worden war, und nun — ich konnte nicht anders — schaute ich dorthin, aber es war nichts mehr zu sehen, denn die Renovierungsarbeiten waren gründlich gewesen. Verwundert registrierte Moses meinen Blick.
»Nach diesem Mißerfolg«, setzte er seinen Vortrag fort, »war ich dem Geheimnis des Plattnerits keinen Deut nähergekommen. Dann jedoch…«, sein Tonfall wurde leidenschaftlicher, »begann ich die Sache mit etwas mehr Systematik anzugehen. Die Fluoreszenz ist schließlich ein optisches Phänomen. Mithin — so folgerte ich — lag der Schlüssel zu den Geheimnissen des Plattnerits vielleicht gar nicht in den chemischen, sondern in den optischen Eigenschaften.«
Ich verspürte eine merkwürdige Befriedigung — eine Art detachierter Selbstzufriedenheit —, als ich diese Zusammenfassung meiner eigenen stringenten Denkvorgänge vernahm! Und ich hätte schwören können, daß auch Moses die Wirkung seines Berichtes genoß: Ich habe schon immer Gefallen daran gefunden, eine gute Geschichte zum besten zu geben, egal vor welchem Auditorium — in dieser Hinsicht muß ich wohl etwas von einem Entertainer haben.
»Also ließ ich meine stümperhaften Chemiekenntnisse aus der Schule mal beiseite«, fuhr Moses fort, »und eröffnete eine Versuchsreihe. Und dabei stieß ich sehr schnell auf höchst interessante Anomalien: bizarre Resultate im Hinblick auf den Brechungsindex des Plattnerits — der, wie Sie vielleicht wissen, von der Geschwindigkeit des Lichts in der jeweiligen Materie abhängt. Und es stellte sich heraus, daß die durch das Plattnerit gehenden Lichtstrahlen sich sehr merkwürdig verhielten.« Er wandte sich der Versuchsanordnung auf der Werkbank zu. »Jetzt schauen Sie mal: Dies ist die eindeutigste Demonstration der optischen Anomalien des Plattnerits, die ich bisher vorführen konnte.«
Moses ließ sein Experiment in einer Sequenz von drei Phasen ablaufen. Er zündete eine kleine elektrische Lampe an, hinter der sich ein gekrümmter Spiegel befand, und, vielleicht eineinhalb Fuß entfernt, eine weiße Leinwand, die an einem Retortenständer hing. Zwischen diesen beiden Konfigurationen hing eine große perforierte Pappe, die in die Halterung eines weiteren Retortenständers eingeklemmt war. Neben der Lampe verliefen Drähte zu einer galvanischen Zelle unter der Bank.
Die Versuchsanordnung war genial einfach: Ich versuche immer, ein neues Phänomen so prägnant wie möglich zu demonstrieren, um die Aufmerksamkeit auf das Phänomen selbst zu richten und nicht auf Schwachstellen in der Versuchsanordnung oder — es ist ja schließlich nichts unmöglich — irgendwelche Taschenspielertricks von seiten des Versuchsleiters.
Jetzt legte Moses einen Schalter um, und die Lampe erhellte sich; sie stand als kleiner gelber Stern in dem von Kerzen und Laternen erleuchteten Raum. Der Pappkarton schirmte die Leinwand vom Licht ab und ließ nur im Mittelpunkt ein trübes Glühen durch, das von den durch die Bohrungen des Kartons dringenden Lichtstrahlen erzeugt wurde. »Natriumlicht«, erläuterte Moses. »Es hat eine fast reine Farbe — im Gegensatz zu, sagen wir, weißem Sonnenlicht, das ein Gemisch aus allen Farben darstellt. Dieser Spiegel hinter der Wand ist parabolisch und wirft deshalb das ganze Licht der Lampe auf die dazwischenstehende Pappe.«
Er folgte mit den Fingern dem Verlauf der Lichtstrahlen zum Karton. »Hier habe ich zwei Schlitze eingeschnitten. Sie sind nur wenige Millimeter voneinander entfernt — aber die Struktur des Lichts ist so fein, daß die Schlitze sich trotzdem noch in einem Abstand von etwa dreihundert Wellenlängen befinden. Die Strahlen passieren die beiden Schlitze…« — sein Finger bewegte sich weiter — »und treffen hier auf den Schirm. Jetzt interferieren die von den beiden Schlitzen kommenden Strahlen — ihre Wellenberge und — täler verstärken sich und heben sich periodisch auf.« Er schaute mich unsicher an. »Haben Sie diese Gedanken nachvollziehen können? Sie würden im Prinzip den gleichen Effekt erreichen, wenn Sie zwei Steine in einen stillen Teich werfen und beobachten, wie die sich ausbreitenden Wellen ineinanderfließen…«
»Ich verstehe.«
»Nun, auf genau die gleiche Art interferieren diese Lichtwellen — Wellen im Äther — und bilden ein Muster, das man hier auf diesem Schirm beobachten kann.« Er deutete auf einen gelben Lichtfleck, der die Leinwand hinter den Schlitzen erreicht hatte. »Können Sie es sehen? — man bräuchte eigentlich eine Brille — direkt im Mittelpunkt, dort, sehen Sie, wie sich in Abständen von einigen Millimetern Bänder aus Licht und Dunkelheit abwechseln. Das sind die Stellen, an denen die Strahlen aus den beiden Schlitzen aufeinandertreffen.«
Nebogipfel lehnte sich dicht herüber, wobei sich das Natriumlicht in seiner Brille spiegelte.
Moses straffte sich. »Diese Interferenz ist ein bekannter Effekt. Mit einem solchen Versuch wird normalerweise die Wellenlänge von Natriumlicht bestimmt — sie beträgt den fünfzigtausendsten Teil eines Zolls, wenn es Sie interessiert.«
»Und das Plattnerit?« fragte Nebogipfel.
Als Moses den fließenden Tonfall des Morlocks vernahm, zuckte er zusammen, machte dann aber weiter, als ob nichts geschehen wäre. Von einem anderen Abschnitt der Bank brachte er eine Glasscheibe mit einer Kantenlänge von vielleicht sechs Zoll zum Vorschein, die senkrecht in einer Halterung steckte. Das Glas wies grüne Flecken auf. »Hier habe ich etwas Plattnerit — diese Scheibe ist eigentlich eine Doppelscheibe, zwischen der das Plattnerit eingestreut ist —, sehen Sie? Nun passen Sie auf, was geschieht, wenn ich das Plattnerit zwischen Pappe und Leinwand bringe…«
Er mußte noch einiges nachjustieren, aber dann hatte er es so hinbekommen, daß einer der Schlitze im Karton frei blieb und der andere von dem Dia mit dem Plattnerit bedeckt wurde. Daher mußte also einer der beiden interferierenden Strahlengänge durch das Plattnerit hindurchgehen, bevor er auf dem Schirm auftraf.
Die Abbildung der Interferenzbänder auf dem Schirm schwächte sich ab — sie hatte jetzt einen Grünstich — und das Muster verschob und verzerrte sich.
»Die Strahlen werden jetzt natürlich nicht mehr so klar abgebildet«, erklärte Moses, »ein Teil des Natriumlichts wird vom Plattnerit gestreut, und deshalb verschieben sich die Wellenlängen etwas zum grüneren Teil des Spektrums — aber trotzdem dringt noch immer so viel ungefiltertes Natriumlicht durch das Plattnerit, um das Interferenzphänomen aufrechtzuerhalten. Aber können Sie auch die Veränderungen erkennen, die dadurch hervorgerufen werden?«
Nebogipfel kam noch näher heran; seine Brille reflektierte das Natriumlicht noch intensiver.
»Die Verschiebung einiger Lichtflecke auf einem Karton mag dem Laien vielleicht nicht so wichtig erscheinen«, sprach Moses weiter, »aber der Effekt ist von großer Bedeutung, wenn er erst gründlich analysiert wird. Denn — und ich kann Ihnen auch den mathematischen Beweis dafür erbringen«, versprach er und wedelte wenig überzeugend in Richtung eines Stapels Aufzeichnungen auf dem Boden, »daß die durch das Plattnerit hindurchgehenden Lichtstrahlen eine temporale Verzerrung erfahren. Es ist zwar nur ein winziger Effekt, aber dennoch meßbar — er manifestiert sich in einer Verzerrung des Interferenzmusters, wissen Sie.«
»Eine ›temporale Verzerrung‹?« warf Nebogipfel ein und schaute hoch. »Du meinst…«
»Ja.« Moses' Haut wurde vom kalten Natriumlicht erhellt. »Ich glaube, daß die Lichtstrahlen — bei ihrem Durchgang durch das Plattnerit — durch die Zeit transferiert werden.«
Mit einer gewissen Verzückung blickte ich auf diese rustikale Versuchsanordnung aus Lampe und Pappe und Ständern. Denn dies war der Anfang — es war dieser naive Anfang, von dem aus der lange, schwierige experimentelle und theoretische Weg schließlich zur Konstruktion der Zeitmaschine selbst führen würde!
Ich konnte natürlich nicht preisgeben, wieviel ich wirklich wußte, und bemühte mich nach Kräften, auf seine Verkündung hin Überraschung und Schock zu simulieren. »Nun«, sagte ich vage, »nun — gütiger Gott…«
Er schaute mich unzufrieden an. Er gelangte offensichtlich zu der Ansicht, daß ich ein dummer Tölpel war. Er wandte sich ab und fummelte an seinen Apparaten herum.
Ich nutzte die Gelegenheit, um Nebogipfel zur Seite zu nehmen. »Nun, Nebogipfel. Was hältst du denn davon? Eine beeindruckende Vorstellung.«
»Ja«, pflichtete er mir bei, »aber ich wundere mich nur, daß ihm die Radioaktivität deiner mysteriösen Substanz, dieses Plattnerits, noch nicht aufgefallen ist. Die Brille zeigt ganz klar…«
»Radioaktivität?«
Er sah mich an. »Ist das dir etwa ein unbekannter Begriff?« Er gab mir einen kurzen Abriß dieses Phänomens, bei dem Elemente zu zerbrechen und in Stücke zu fallen schienen. Das gilt — laut Nebogipfel — mehr oder weniger für alle Elemente; manche, wie Radium, tun es auf eine derart spektakuläre Art, daß man den Vorgang messen kann — wenn man weiß, wonach man suchen muß!
All das weckte Erinnerungen. »Ich erinnere mich an ein Spielzeug namens Spinthariskop«, erzählte ich Nebogipfel, »in dem sich Radium dicht vor einem mit Zinksulfid beschichteten Schirm befand…«
»Und der Schirm fluoreszierte. Ja. Es war der Zerfall der Kerne der Radiumatome, der das verursachte«, meinte er.
»Aber ein Atom ist doch unteilbar — oder so heißt es zumindest…«
»Nur wenige Jahre nach deiner Abreise in die Zeit — soweit ich mich erinnere — wird Thomson in Cambridge das Phänomen der subatomaren Struktur demonstrieren…«
»Subatomare Struktur — Thomson! Ich habe Joseph Thomson selbst schon mehrmals getroffen — ich hatte ihn immer für einen ziemlich affektierten Schnösel gehalten — und gerade ein paar Jahre jünger als ich…«
Nicht zum erstenmal verspürte ich ein tiefes Bedauern wegen meines überhasteten Abtauchens in die Zeit! Wenn ich doch nur geblieben wäre, um an solchen intellektuellen Sternstunden teilzuhaben — ich hätte mittendrin sein können, auch ohne meine Experimente mit der Zeitreise — das wäre sicher Abenteuer genug gewesen für ein Leben.
Jetzt schien Moses seinen Vortrag beendet zu haben, und er streckte die Hand aus, um die Natriumlampe zu löschen — aber dann riß er die Hand mit einem Aufschrei zurück.
Nebogipfel hatte Moses' Finger mit seiner unbehaarten Handfläche berührt. »Es tut mir leid.«
Moses rieb sich die Hand, als ob er sie abwischen wollte. »Ihre Berührung«, sagte er. »Sie ist so — kalt.« Er starrte Nebogipfel an, als ob er ihn jetzt zum erstenmal in seiner ganzen Fremdheit sehen würde.
Nebogipfel entschuldigte sich erneut. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Aber…«
»Ja?« sagte ich.
Der Morlock streckte einen wurmartigen Finger aus und deutete auf das Plattnerit. »Schau.«
Ich bückte mich gleichzeitig mit Moses und schielte auf die erhellte Materie.
Zuerst konnte ich nichts erkennen außer der fleckigen Reflexion der Natriumlampe, ein feiner Staubschleier auf der Oberfläche der Glasscheiben… und dann registrierte ich ein stärker werdendes Licht, ein Glühen aus den Tiefen des Plattnerits selbst: ein derart intensives grünes Leuchten, als ob das Glas ein winziges Fenster zu einer anderen Welt wäre.
Das Glühen wurde noch intensiver und ließ glitzernde Reflexe über die Reagenzgläser, Glasscheiben und anderen Utensilien des Laboratoriums wandern.
Wir suchten wieder das Eßzimmer auf. Das Kaminfeuer war nun schon seit Stunden erloschen, und es wurde kühl im Raum, aber Moses schien mein Unbehagen nicht zur Kenntnis zu nehmen. Er goß mir noch einen Brandy ein und bot mir eine Zigarre an, die ich auch annahm; Nebogipfel bat um etwas Wasser. Mit einem Seufzer zündete ich die Zigarre an, während Nebogipfel mich mit einem Ausdruck blanken Erstaunens musterte; er schien alle angelernten menschlichen Umgangsformen vergessen zu haben!
»Nun, Sir«, sagte ich, »wann gedenken Sie diese bemerkenswerten Ergebnisse zu veröffentlichen?«
Moses kratzte sich am Kopf und lockerte seine schrille Krawatte. »Ich bin mir nicht sicher«, antwortete er frei heraus. »Ich habe doch kaum mehr als einen Beobachtungskatalog von Anomalien einer Substanz vorzuweisen, deren Herkunft noch ungewiß ist. Aber vielleicht gibt es irgendwo noch klügere Kollegen als mich, die damit etwas anfangen können — die z. B. imstande sind, herauszufinden, wie man noch mehr Plattnerit herstellt…«
»Nein«, wandte Nebogipfel geheimnisvoll ein. »Die dazu benötigten Mittel werden erst in einigen Jahrzehnten zur Verfügung stehen.« Moses schaute den Morlock neugierig an, ging aber nicht weiter auf diesen Punkt ein.
»Sie haben also nicht die Absicht einer Veröffentlichung«, warf ich einen Köder aus.
Er winkte mir konspirativ zu — eine weitere irritierende Angewohnheit! — und sagte: »Alles zu seiner Zeit. Wissen Sie, in mancherlei Hinsicht bin ich gar kein echter Wissenschaftler — Sie wissen, was ich meine, der vorsichtige Korinthenkacker, der dann von der Presse als hervorragender Wissenschaftler oder bekannter Wissenschaftlern gefeiert wird. Man hört sich an, wie ein solcher Bursche sich vielleicht über irgendeinen obskuren Aspekt toxischer Alkaloide verbreitet, und dann kann man vernehmen, wie aus der Dunkelheit die merkwürdigen Fragmente herandriften, die der Kollege deutlich vorzutragen glaubt; und — falls Sie noch nicht von den Dutzenden sphymographischer Versatzstücke den Rest bekommen haben, von denen ein solches Geschwafel immer begleitet wird — können Sie vielleicht einen Blick auf eine Brille mit Goldrand und Stiefel werfen, die wegen der Hühneraugen offenstehen…«
»Aber Sie…«, wollte ich loslegen.
»Oh, ich habe nicht vor, die geduldigen Arbeitstiere dieser Welt zu verunglimpfen! — Ich wage zu behaupten, daß ich mich in den kommenden Jahren auch auf die Ochsentour begeben muß — aber ich verspüre auch eine gewisse Ungeduld. Ich will nämlich immer herausfinden, wie sich die Dinge entwickeln, wissen Sie.« Er nahm einen Schluck von seinem Drink. »Ich habe bereits einige Veröffentlichungen vorzuweisen — einschließlich einer in den Philosophical Transactions — und eine Anzahl weiterer Studien, die auch von ziemlicher Bedeutung sind. Aber die Arbeit an dem Plattnerit…«
»Ja?«
»Ich habe ein merkwürdiges Gefühl deswegen. Ich möchte sehen, wie weit ich allein damit komme…«
Ich beugte mich vor. Ich sah, wie das Kerzenlicht von den Blasen in seinem Glas reflektiert wurde, und seine Mimik war lebhaft und engagiert. Es war die ruhigste Zeit der Nacht, und ich schien mit übernatürlicher Klarheit jedes Detail wahrzunehmen, das Ticken jeder Uhr im Haus zu hören. »Sagen Sie mir, was Sie meinen.«
Er strich seine lächerliche Clownskutte glatt. »Ich habe Ihnen von meinen Spekulationen berichtet, wonach ein durch Plattnerit geschickter Lichtstrahl in der Zeit versetzt wird. Damit meine ich, daß sich der Strahl ohne Zeitverlust zwischen zwei Punkten im Raum bewegt. Aber ich habe den Eindruck«, meinte er langsam, »daß, falls das Licht sich auf diese Art durch die Zeit bewegen kann, dies auch für materielle Objekte möglich wäre. Ich bin der Ansicht, wenn man das Plattnerit mit einer geeigneten kristallinen Substanz vermischen würde — vielleicht mit Quarz oder einem anderen Felskristall — dann…« »Ja?«
Er schien wieder Bodenhaftung zu bekommen. Er stellte das Brandyglas auf einen Beistelltisch an seinem Stuhl und beugte sich vor; seine hellgrauen und ernsten Augen schienen im Kerzenlicht zu schimmern. »Ich weiß nicht, ob ich noch mehr sagen soll! Schauen Sie: Ich bin sehr offen zu Ihnen gewesen. Und nun ist es an der Zeit, daß Sie genauso offen zu mir sind. Wollen Sie das tun?«
Ich schaute ihm ins Gesicht, um eine Antwort zu finden — in Augen, die, obwohl von glatterer Haut umgeben, unbestreitbar meine eigenen waren, die Augen, die mich jeden Tag im Rasierspiegel anstarrten!
»Wer sind Sie?« zischte er, offenbar nicht imstande, den Blick zu wenden.
»Sie wissen, wer ich bin. Stimmt's?«
Der Moment zog sich in die Länge, still und schweigsam. Der Morlock war nur schemenhaft präsent, kaum von uns zur Kenntnis genommen.
Schließlich sagte Moses: »Ja. Ja, ich glaube, ich weiß es.«
Ich wollte ihm Zeit geben, sich auf diese Situation einzustellen. Die Realität der Zeitreise — für jedes Objekt, das substantieller war als ein Lichtstrahl — befand sich für Moses noch immer halb im Reich der Phantasie! So abrupt mit ihrem physikalischen Beweis konfrontiert zu werden — und was noch schlimmer war, mit seinem eigenen Ich aus der Zukunft —, mußte ein immenser Schock gewesen sein.
»Vielleicht solltest du meine Gegenwart hier als unvermeidliche Konsequenz deiner Forschungen betrachten«, schlug ich vor. »Muß eine Zusammenkunft wie diese denn nicht zwangsläufig eintreten, wenn du deine Versuchsreihe wie geplant ablaufen läßt?«
»Vielleicht…«
Aber jetzt bemerkte ich, daß seine Reaktion — er war weit davon entfernt, vor Ehrfurcht zu erstarren, wie ich vielleicht erwartet hätte — weitaus weniger respektvoll ausfiel. Er schien mich erneut zu inspizieren, und sein Blick glitt taxierend über Gesicht, Haare und Kleidung.
Ich versuchte, mich selbst mit den Augen dieses energischen Sechsundzwanzigjährigen zu sehen. Absurderweise fühlte ich mich unsicher; ich schob mein Haar zurück, das ich seit dem Jahr 657208 n. Chr. nicht mehr gekämmt hatte — und zog den Bauch ein, der bei weitem nicht mehr so straff war wie seinerzeit.
Aber diese Mißbilligung hielt sich dennoch in seinem Gesicht.
»Schau nur gut hin«, empfahl ich ihm herzlich. »So wirst du nämlich auch mal aussehen!«
Er rieb sich das Kinn. »Machst nicht gerade viel Sport, was?« Er riß an seinem Daumen. »Und er — Nebogipfel — ist er…«
»Ja«, bestätigte ich. »Er ist ein Mensch aus der Zukunft — aus dem Jahr 657208 n. Chr. und auf einer wesentlich höheren Entwicklungsstufe als wir — den ich auf meiner Zeitmaschine mitgebracht habe: auf der Maschine, deren erste, ansatzweise Pläne du bereits skizzierst.«
»Ich bin versucht, dich danach zu fragen, wie sich das alles für mich entwickeln wird — werde ich Erfolg haben? Werde ich heiraten? — und so weiter. Aber ich glaube, daß ich ohne dieses Wissen besser dran bin.« Er beäugte Nebogipfel. »Die Zukunft der Menschheit ist dann jedoch eine andere Sache.«
»Du glaubst mir doch — oder?«
Er nahm sein Whiskyglas, sah, daß es leer war, und stellte es wieder ab. »Ich weiß nicht. Ich meine, es gehört wohl nicht viel dazu, in ein Haus zu spazieren und zu behaupten, daß man das eigene Ich aus der Zukunft sei…«
»Aber du hast dich doch schon selbst mit der Möglichkeit der Zeitreise beschäftigt. Und außerdem — schau mir ins Gesicht!«
»Ich konzediere, daß hier eine gewisse oberflächliche Ähnlichkeit vorliegt; aber es ist genauso gut möglich, daß das alles nur ein Witz ist — möglicherweise in bösartiger Absicht —, der abgezogen wurde, um mich als Lachnummer zu karikieren.« Er sah mich direkt an. »Wenn Sie wirklich der sind, für den Sie sich ausgeben — wenn Sie also Ich sind —, dann sind Sie doch sicher nicht ohne Grund hierhergereist.«
»Ja.« Ich versuchte, meinen Ärger zu unterdrücken und daran zu denken, daß die Kommunikation mit diesem schwierigen und ziemlich arroganten jungen Mann von größter Wichtigkeit war. »Ja. Ich habe eine Mission.«
Er zupfte am Kinn. »Dramatische Worte. Aber wie könnte ich von so großer Bedeutung sein? Ich bin Wissenschaftler — und vielleicht nicht einmal das; ich bin bloß ein Amateur, ein Dilettant. Ich bin weder ein Politiker noch ein Prophet.«
»Nein. Aber du bist — oder wirst — der Erfinder der gewaltigsten überhaupt vorstellbaren Waffe sein: damit meine ich die Zeitmaschine.«
»Was ist also der Punkt Ihres Erscheinens?«
»Du mußt das Plattnerit vernichten und andere Forschungsschwerpunkte setzen. Du darfst die Zeitmaschine nicht entwickeln — das ist der Punkt!«
Er legte die Hände aneinander und musterte mich. »Gut. Offensichtlich haben Sie eine Geschichte auf Lager. Wird sie lange dauern? Möchten Sie noch etwas Brandy — oder vielleicht eine Tasse Tee?«
»Nein. Nein danke. Ich werde es so kurz wie möglich machen.«
Und so begann ich meinen Bericht mit einer kurzen Zusammenfassung der Entdeckungen, die der Konstruktion der Zeitmaschine vorausgegangen waren — und wie ich die erste Reise angetreten hatte und in die Historie der Eloi und Morlocks geraten war — und was ich bei meiner Rückkehr entdeckte und wie ich zum zweitenmal versucht hatte, in die Zeit zu reisen.
Ich muß wohl ziemlich langsam gesprochen haben — ich konnte mich nicht erinnern, vor wievielen Stunden ich zum letztenmal geschlafen hatte — doch im Verlauf meines Vortrags wurde ich frischer und fixierte Moses' ernstes, rundes Gesicht im hellen Kreis des Kerzenlichts. Irgendwann registrierte ich wieder die Anwesenheit von Nebogipfel, denn er verfolgte meinen Bericht schweigend, und zuweilen — z. B bei meiner Beschreibung der ersten Morlocks — wandte sich Moses an Nebogipfel, als ob er sich von ihm ein Detail bestätigen lassen wollte.
Doch nach einer Weile unterließ er selbst das und hing mir nur noch an den Lippen.
Die Morgendämmerung hatte schon lange eingesetzt, als ich meine Schilderungen beendete.
Moses saß im Sessel, wobei er die Augen noch immer auf mich geheftet und das Kinn in eine Hand gestützt hatte. »Gut«, sagte er schließlich, als ob er einen Bann brechen wollte. Er stand auf, streckte sich und ging durch das Zimmer zu den Fenstern; er schob sie zurück und gab den Blick auf einen wolkigen, aber sich aufhellenden Himmel frei.
»Das ist ein bemerkenswerter Bericht.«
»Es ist mehr als das«, sagte ich mit rauher Stimme. »Siehst du das denn nicht? Bei meiner zweiten Reise in die Zukunft bin ich in eine andere Historie geraten. Die Zeitmaschine ist der Totengräber der Geschichte — ein Zerstörer von Welten und Spezies. Erkennst du nicht, weshalb sie nicht gebaut werden darf?«
Moses wandte sich Nebogipfel zu. »Wenn Sie ein Mensch aus der Zukunft sind — was haben Sie dann zu der ganzen Sache zu sagen?«
Nebogipfels Stuhl stand noch im Schatten, aber er verbarg sich vor dem aufkommenden Tageslicht. »Ich bin kein Mensch«, korrigierte er mit seiner kalten, ruhigen Stimme. »Aber ich stamme aus einer Zukunft — einer von vielleicht unendlich vielen möglichen Varianten. Und es scheint richtig zu sein — es ist logisch sicher möglich —, daß eine Zeitmaschine den Lauf der Geschichte beeinflussen kann und somit neue Ereignisvarianten generiert. In der Tat scheint das grundlegende Funktionsprinzip der Maschine darauf zu basieren, daß sie aufgrund der Eigenschaften des Plattnerits in eine andere, parallele Historie versetzt wird.«
Moses ging zum Fenster, und die aufgehende Sonne konturierte sein Profil. »Aber meine Forschungen aufgeben, nur wegen Ihres unbewiesenen Bla-blas…«
»Blabla? Ich glaube, daß ich wohl etwas mehr Respekt verdient habe«, reklamierte ich mit wachsendem Ärger. »Schließlich bin ich du! Oh, bist du vielleicht borniert. Ich habe einen Menschen aus der Zukunft mitgebracht — womit muß ich dich sonst noch überzeugen?«
Er schüttelte den Kopf. »Schauen Sie«, meinte er, »ich bin müde — ich bin die ganze Nacht aufgewesen, und der Brandy hat auch nicht viel geholfen. Und ihr beide seht auch so aus, als ob euch ein bißchen Ruhe ganz gut tun würde. Ich habe noch Zimmer frei; ich werde euch hinbringen…«
»Ich kenne den Weg«, meinte ich frostig.
Er nahm es mit Humor. »Ich sorge dafür, daß Mrs. Penforth euch Frühstück bringt… oder«, versetzte er nach einem erneuten Blick auf Nebogipfel, »vielleicht lasse ich es besser hier servieren.«
»Kommt«, sagte er. »Das Schicksal der Menschheit kann noch ein paar Stunden warten.«
Ich schlief tief — erstaunlicherweise — und wurde von Moses geweckt, der mir eine Waschschüssel mit heißem Wasser brachte.
Ich hatte meine Kleidung auf einem Stuhl zusammengelegt; nach meinen Zeitabenteuern waren sie ziemlich verschlissen. »Du hast wohl nicht etwas zum Anziehen für mich, oder?«
»Du kannst einen Bademantel haben, wenn du willst. Es tut mir leid, alter Junge — aber ich glaube nicht, daß dir irgend etwas von meinen Sachen passen würde!«
Seine beiläufige Arroganz ärgerte mich. »Eines Tages wirst du auch etwas älter geworden sein. Und ich hoffe, daß du dich dann erinnerst — ach — vergiß es!« meinte ich.
»Schau — ich sage meinem Burschen, daß er diese Sachen für dich ausbürsten und die schlimmsten Stellen flicken soll. Komm runter, wenn du fertig bist.«
Im Eßzimmer war das Frühstück als Buffet angerichtet worden. Moses und Nebogipfel waren schon vor Ort. Moses trug dasselbe Kostüm wie tags zuvor — oder zumindest eine identische Kopie davon. Die helle Morgensonne ließ die Clownsfarben seines Mantels noch schräger wirken als in der Nacht. Und was Nebogipfel betraf, so hatte der Morlock — lächerlich! — eine kurze Hose und einen abgetragenen Blazer an. Er hatte sich eine Kappe ins haarige Gesicht gezogen, stand am Buffet und starrte durch seine dunkle Brille unschlüssig darauf.
»Ich habe Mrs. Penforth angewiesen, uns nicht zu stören«, sagte Moses. »Was Nebogipfel angeht, schien ihm deine alte Jacke — sie hängt übrigens dort an der Stuhllehne — zu groß zu sein. Also habe ich eine alte Schuluniform ausgegraben — das einzige in seiner Größe, was ich auftreiben konnte: er riecht zwar nach Mottenkugeln, wirkt aber wenigstens etwas glücklicher.
Auf jetzt.« Er ging zu Nebogipfel hinüber. »Lassen Sie mich Ihnen helfen, Sir. Was hätten Sie denn gerne? Wie Sie sehen, haben wir Schinken, Eier, Toast, Würstchen…«
In seinem ruhigen, fließenden Tonfall bat Nebogipfel Moses, ihm die Herkunft dieser diversen Speisen zu erläutern. Moses machte das bildlich — er spießte mit der Gabel eine Scheibe Schinken auf und beschrieb die Natur des Schweins.
Als Moses geendet hatte, nahm sich Nebogipfel eine einzige Frucht — einen Apfel — und verzog sich damit und einem Glas Wasser in die dunkelste Ecke des Raums.
Was mich betraf — nachdem mich die Morlocks so lange mit ihrem faden Zeug auf Diät gesetzt hatten —, ich hätte mein Frühstück nicht mehr genießen können, auch wenn ich gewußt hätte — aber ich wußte es nicht —, daß dies meine letzte Mahlzeit im neunzehnten Jahrhundert war, an der ich mich jemals delektieren sollte!
Nachdem das Frühstück beendet war, eskortierte uns Moses in sein Raucherzimmer. Nebogipfel pflanzte sich wieder in die düsterste Ecke, während Moses und ich uns in gegenüberstehenden Armstühlen niederließen. Moses holte seine Pfeife hervor, stopfte sie aus einem kleinen Tabaksbeutel in seiner Tasche und zündete sie an.
Ich beobachtete ihn mit siedender Ungeduld. Er war so nervtötend ruhig! »Hast du denn nichts zu sagen? Ich habe dir eine schlimme Warnung aus der Zukunft zukommen lassen — aus einigen Zukünften — die…«
»Ja«, meinte er, »es hörte sich fürwahr dramatisch an. Aber«, fuhr er fort und stopfte seine Pfeife nach, »ich bin noch immer nicht sicher, ob…«
»Nicht sicher?« rief ich und sprang auf. »Welchen weiteren Beweis — welche Überzeugung — willst du denn noch?«
»Ich habe den Eindruck, daß deine Logik einige Schwachstellen aufweist. O nein, setz dich wieder hin.«
Ich folgte seiner Anweisung und fühlte mich schwach dabei. »Schwachstellen?«
»Betrachte es mal von dieser Seite. Du behauptest, daß ich du sei — und du seist ich. Richtig?«
»Exakt. Wir sind zwei Versionen einer einzigen vierdimensionalen Entität, mit unterschiedlichen Bezugspunkten und durch die Zeitmaschine einander gegenübergestellt.«
»Sehr schön. Aber bedenken wir dieses: wenn du einmal ich gewesen bist, müßtest du auch über mein Erinnerungsvermögen verfügen.«
»Ich…« Es gebrach mir an Worten.
»Denn«, setzte Moses mit einem triumphierenden Unterton nach, »welche Erinnerungen hast du an einen ziemlich kräftigen Fremden und einen merkwürdigen Kompagnon wie diesen da, die eines Nachts auf deiner Türschwelle stehen? Hm?«
Die Antwort lautete natürlich — schrecklich! Unmöglich! —, daß ich keine derartigen Erinnerungen hatte. Betroffen drehte ich mich zu Nebogipfel um. »Wie ist es nur möglich, daß ich mich an dieses Vorkommnis nicht erinnern kann? Natürlich ist meine Mission unmöglich. War sie schon die ganze Zeit. Ich würde den jungen Moses niemals überzeugen können, weil ich mich nicht daran erinnern kann, wie ich, als ich selbst Moses war, meinerseits überzeugt worden war!«
»Ursache und Wirkung verlieren eben ihre absolute Kausalität, wenn Zeitmaschinen im Spiel sind.«
Mit einer weiteren dieser unerträglichen Spitzen meinte Moses: »Hier ist noch ein weiteres Rätsel für dich. Angenommen, ich würde dir glauben. Angenommen, ich würde deine Geschichte über die Ausflüge in die Zeit und deine Visionen verschiedener Historien akzeptieren. Angenommen, ich wäre mit der Vernichtung der Zeitmaschine einverstanden.«
Ich konnte mir schon denken, womit er gleich kommen würde. »Denn wenn die Zeitmaschine niemals gebaut worden wäre…«
»Wärst du nicht in der Lage, in der Zeit zurückzureisen und ihre Konstruktion zu verhindern…«
»…und so würde die Maschine schließlich doch gebaut werden…«
»… und du würdest aus der Zeit zurückkehren, um ihre Konstruktion zu unterbinden — und so würde das weitergehen, wie ein endloser Ringelpiez!« krähte er aus vollem Hals.
»Ja. Es wäre eine pathologische Kausalschleife«, kommentierte Nebogipfel. »Die Zeitmaschine muß gebaut werden, um ihre eigene Erschaffung zu verhindern…«
Ich vergrub das Gesicht in den Händen. Abgesehen von der Verzweiflung wegen der Demontage meiner Sache hatte ich zudem noch das unbehagliche Gefühl, daß der junge Moses intelligenter war als ich. Ich hätte diese logischen Schwachpunkte selbst bemerken müssen! — vielleicht stimmte es zu meinem Erschrecken doch, daß die Intelligenz, genauso wie die rein physikalischen Fertigkeiten, mit zunehmendem Alter abnimmt.
»Dennoch — trotz all dieser logischen Haarspaltereien — ist es nichtsdestoweniger die Wahrheit«, flüsterte ich. »Und die Maschine darf niemals gebaut werden.«
»Dann erkläre es mir«, verlangte Moses ohne große Sympathie. »›Sein oder Nichtsein‹ — das scheint hier nicht die Frage zu sein«, konstatierte er. »Wenn du tatsächlich ich bist, dann wirst du dich auch daran erinnern, wie du in jener stümperhaften Schulaufführung den Part von Hamlets Vater übernehmen mußtest.«
»Ich erinnere mich gut.«
»Die Frage müßte meiner Ansicht nach eher so lauten: Wie können Dinge Sein und — simultan — Nicht Sein?«
»Aber es ist wahr«, ließ sich Nebogipfel vernehmen. Der Morlock trat ein paar Schritte ins Licht und schaute uns abwechselnd an. »Ich bin jedoch der Meinung, daß wir eine höhere Logik konzipieren müssen — eine Logik, welche die Interaktion einer Zeitmaschine mit der Geschichte erklärt — eine Logik, welche die Existenz multipler Historien begründen kann…«
Und dann — just in diesem Moment, als meine eigene Unsicherheit am größten war — vernahm ich vor dem Haus ein Brüllen wie von einem riesigen Motor, dessen Echo sich am Hügel brach. Der Boden schien zu erbeben — als ob irgendein Monster angestapft käme — und ich hörte Rufe, und — obwohl es eigentlich völlig unmöglich war, daß sich so etwas am frühen Morgen im verschlafenen Richmond zutrug — das Knattern von Gewehrschüssen.
Moses und ich blickten uns alarmiert an. »Gütiger Gott«, sagte Moses. »Was ist denn das?«
Ich glaubte, das Gewehrfeuer wieder zu hören, und jetzt verwandelte sich das Rufen in einen Schrei, der plötzlich abbrach.
Zusammen rannten wir aus dem Raucherzimmer in den Flur. Moses riß die Tür auf — daß sie fast aus den Angeln flog —, und wir stürzten auf die Straße. Da war Mrs. Penforth, schmal und streng, und Poole, Moses' Bursche. Mrs. Penforth hatte ein quittengelbes Staubtuch in der Hand und umklammerte Pooles Arm. Sie schauten flüchtig zu uns her und wandten die Blicke dann wieder ab — sie ignorierten den Morlock, als ob er genauso alltäglich wäre wie ein Franzose oder Schotte!
Eine ganze Anzahl Leute bevölkerte die Petersham Road und gaffte. Moses berührte meinen Arm und deutete die Straße hinunter in Richtung der Stadt. »Dort«, sagte er. »Dort ist deine Anomalie.«
Es war, als ob ein Linienschiff aus dem Meer gehoben und von einer großen Welle dort auf Richmond Hill angelandet worden wäre. Es befand sich vielleicht zweihundert Yards vom Haus entfernt: ein großer Metallkasten mit einer Länge von wenigstens achtzig Fuß, der wie ein großes eisernes Insekt mitten auf der Petersham Road lag.
Aber es handelte sich nicht um ein gestrandetes Monster: wie ich jetzt sah, kroch es auf uns zu, langsam zwar, aber zielstrebig, und wo es vorbeigekommen war, bemerkte ich, daß es auf dem Straßenbelag eine Reihe miteinander verbundener Eindrücke hinterlassen hatte, wie die Spuren eines Vogels. Die Oberseite des Linienschiffes war mit einem komplexen Muster von Öffnungen übersät — ich hielt sie für Stückpforten oder Periskopöffnungen.
Der Morgenverkehr war gezwungen, dem Ding auszuweichen; zwei Einspänner lagen umgekippt vor ihm auf der Straße, sowie ein Brauereiwagen, dessen unglückliches Zugpferd noch immer im Geschirr hing, und Bier strömte aus zerbrochenen Fässern.
Ein Jugendlicher mit einer Kappe schleuderte leichtsinnigerweise einen Stein gegen die Metallhülle des Dings. Der Stein prallte von der Wandung ab, ohne einen Kratzer zu hinterlassen, aber dennoch blieb die Aktion nicht ohne Folgen: Ich sah, wie sich ein Gewehrlauf durch eine dieser oberen Öffnungen schob und krachend auf den Jungen abgefeuert wurde.
Er fiel, wo er gestanden hatte, und rührte sich nicht mehr.
Nach diesem Vorfall löste sich die Menge schnell auf, und es ertönten auch keine Schreie mehr. Mrs. Penforth schluchzte in ihr Staubtuch, und Poole brachte sie ins Haus zurück.
Mit einem Knall öffnete sich eine Luke in diesem geländegängigen Linienschiff und ich sah kurz im beleuchteten Inneren ein Gesicht (das ich für maskiert hielt) zu uns herausschauen.
»Es kommt aus der Zeit«, stellte Nebogipfel fest. »Und es ist wegen uns gekommen.«
»Wahrhaftig.« Ich wandte mich Moses zu. »Nun«, sagte ich zu ihm. »Glaubst du mir jetzt?«
Moses' Grinsen war angespannt und nervös, sein Gesicht bleicher als sonst, und die buschigen Augenbrauen schweißnaß. »Offensichtlich bist du nicht der einzige Zeitreisende!«
Das mobile Fort — wenn es denn eines war — überwand träge die Steigung zu meinem Haus. Es war eine lange, flache Kiste, die irgendwie an eine Käseglocke erinnerte. Sie war mit einem Anstrich aus grünen und schlammbraunen Flecken überzogen — als ob ihr natürlicher Lebensraum das offene Gelände wäre. Eine Metallschürze zog sich um ihren unteren Teil, vielleicht um die empfindlicheren Partien der Konstruktion vor feindlichem Gewehr- und Schrapnellfeuer zu schützen. Ich schätzte das Tempo des Forts auf sechs Meilen pro Stunde, und — dank einer neuartigen Antriebstechnik, deren Einzelheiten ich wegen dieser Schürze nicht erkennen konnte — gelang es ihm, sich trotz der Steigung des Hügels in der Waagrechten zu halten.
Abgesehen von uns dreien — und diesem bedauernswerten Brauereigaul — befand sich jetzt keine lebende Seele mehr auf der Straße, und es herrschte eine Stille, die nur vom tiefen Brummen der Maschinen des Forts und dem gequälten Wiehern des Pferdes durchdrungen wurde.
»Daran erinnere ich mich nicht«, sagte ich zu Nebogipfel. »Etwas Derartiges hat sich in meinem 1873 nicht ereignet.«
Der Morlock studierte das näherrückende Fort durch seine Brille. »Wir müssen die Möglichkeit der Multiplen Historien in Betracht ziehen«, meinte er gleichmütig. »Du hast mehr als eine Version des Jahres 657208 gesehen: nun hat es den Anschein, als ob du mit neuen Varianten deines eigenen Jahrhunderts konfrontiert würdest.«
Das Fort kam zum Stillstand, wobei seine Maschinen wie ein riesiger Magen rumorten; ich konnte maskierte Gesichter erkennen, die uns durch die verschiedenen Öffnungen anstarrten, und ein Stander hing schlaff über seiner Hülle.
»Glaubst du, daß wir ihm entkommen könnten?« zischte Moses.
»Das bezweifele ich. Siehst du die Gewehrläufe, die aus diesen Stückpforten lugen? Ich weiß nicht, was das hier für ein Spiel werden soll, aber diese Leute haben erkennbar die Mittel und den Willen, uns gefangenzunehmen.
Laß uns ein wenig Würde zeigen. Wir gehen auf sie zu«, schlug ich vor. »Zeigen wir ihnen, daß wir keine Angst haben.«
Und so schritten wir über das Kopfsteinpflaster der Petersham Road aus, dem Fort entgegen.
Die verschiedenen Gewehre und schwereren Geschütze hatten uns auf unserem Marsch im Visier, und maskierte Gesichter — die so etwas wie Feldstecher benutzten — beobachteten unser Vorrücken.
Als wir uns dem Fort näherten, bekam ich einen besseren Überblick über seine allgemeine Konstruktion. Wie ich schon gesagt hatte, war es etwa achtzig Fuß lang und vielleicht zehn Fuß hoch; die Flanken sahen aus wie Schichten dicken Panzerstahls, obwohl das Arrangement von Stückpforten und Luken am oberen Rand ihm dort einen weniger soliden Anschein verlieh. An der Rückseite der Maschine wurden Dampfwolken ausgestoßen. Ich habe auch schon die etwa einen Fuß hohe Schürze erwähnt, welche die unteren Partien umgab; jetzt konnte ich erkennen, daß diese Schürze weggeklappt worden war und die Maschine — nicht auf Rädern, wie ich erwartet hatte —, sondern auf Füßen stand! Bei diesen handelte es sich um flache, breite Stampfer, die in etwa wie Elefantenfüße aussahen, aber viel größer waren. Anhand der Abdrücke, die sie in der hinter dem Fort liegenden Straße hinterlassen hatten, konnte ich schließen, daß die Sohlen dieser Füße zur besseren Haftung eingekerbt waren. Aufgrund dieser Anordnung der Füße konnte sich das Fort, wie ich jetzt realisierte, auf der ansteigenden Straße mehr oder weniger waagerecht halten.
An der Vorderseite des Forts war eine Vorrichtung angebracht, die wie ein Dreschflegel aussah: sie bestand aus einer schweren Kette, die an einer Trommel hing, welche ihrerseits am Bug des Forts an zwei Metallrahmen geführt wurde. Die Trommel war hochgestellt, so daß die Ketten wie Kutscherpeitschen in der Luft herumbaumelten, und sie machten ein merkwürdig rasselndes Geräusch, als das Fort sich weiterbewegte. Aber die Trommel konnte eindeutig auch abgesenkt werden, so daß die Ketten dann beim fahrenden Fort auf dem Boden schleiften. Ich hatte indessen keine Vorstellung vom Zweck dieser Anordnung.
Wir hielten vielleicht dreißig Fuß vor dem stumpfen Bug der Maschine an. Wir standen so da, daß wir mit leer herabhängenden Händen eine Frontalansicht boten, und die Gewehrschützen hielten ihre Mündungen auf uns gerichtet. Eine Brise trieb Dampfschwaden auf uns zu.
Ich verspürte einen tiefen Schrecken angesichts dieser jüngsten Wendung der Ereignisse. Jetzt, so schien es, war nicht einmal mehr meine Vergangenheit ein Hort der Verläßlichkeit und Stabilität: sogar sie war der Veränderung unterworfen, ganz nach Belieben der Zeitreisenden! Ich konnte dem Einfluß der Zeitmaschine nicht entrinnen: nun, da sie einmal erfunden war, schien es, als ob ihre Auswirkungen sich in der Vergangenheit und Zukunft verzweigten, wie Wellen, die ein Stein erzeugt, der in den gemächlich dahinfließenden Strom der Zeit geworfen wurde.
»Ich glaube, daß es ein britisches Fabrikat ist«, unterbrach Moses meine Gedanken.
»Was? Wie kommst du denn darauf?«
»Meinst du, daß das eine Regimentsflagge ist, dort über der Schürze?«
Ich schaute genauer hin — offensichtlich hatte Moses bessere Augen als ich. Ich habe mich noch nie besonders für militärische Requisiten interessiert, aber Moses schien recht zu haben.
Er las die Aufschriften vor, die in Schwarz die Hülle zierten waren. »›Gefechtsmunition‹«, las er. »Kraftstoffbehältern Es ist entweder englisch oder amerikanisch — und aus einer Zukunft, die noch so nahe ist, daß sich die Sprache nicht wesentlich verändert hat.«
Da ertönte ein metallisches Schaben. Ich sah, daß sich ein Rad in der Flanke des Forts drehte. Als das Rad eine Umdrehung vollführt hatte, wurde eine Luke aufgestoßen — ihre polierte Metallkante hob sich schimmernd von der stumpfen Hülle ab —, und ich erhielt Einblick in das dunkle Innere, wie eine Höhle aus Stahl.
Eine Strickleiter wickelte sich aus der Öffnung ab. Ein Soldat — offensichtlich ein junger Mann — kletterte heraus und kam die Straße hoch auf uns zu. Er trug einen schweren Baumwollanzug, der in einem Stück geschneidert war und am Hals offenstand, so daß ich den Ansatz von khakifarbenem Tuch sehen konnte. Seine Schultern waren mit spektakulär großen Metallepauletten bestückt. Der Soldat hatte ein schwarzes Barett auf, an dessen Vorderseite ein Regimentsabzeichen befestigt war. In einem an der Seite baumelnden Stoffholster steckte eine Pistole; darüber erkannte ich ein kleines Täschchen, in dem sich offenbar Munition befand. Ich stellte fest, daß der Holsterverschluß offen war, und seine behandschuhte Hand schwebte immer dicht über der Waffe.
Und — was am merkwürdigsten von allem war — das Gesicht des Soldaten wurde von einer höchst außergewöhnlichen Maske verdeckt: mit einer großen, schwarz getönten Brille und einem Stutzen wie dem Rüssel einer Fliege auf dem Mund. Diese Maske schloß bündig mit dem Barett ab.
»Gütiger Gott«, flüsterte Moses mir zu. »Was für ein Anblick!«
»Wahrhaftig«, bestätigte ich düster, denn ich hatte die Bedeutung dieses Aufzuges sofort erkannt. »Er trägt einen Gasschutzanzug — siehst du das? Der Bursche hat keinen einzigen Quadratzentimeter Haut freiliegen. Und diese Epauletten müssen ihn wohl vor Pfeilen schützen, die vielleicht auch vergiftet sind — ich frage mich nur, welche anderen Schutzvorrichtungen er noch unter diesem unförmigen Anzug hat.
Welches Zeitalter mag es für erforderlich halten, einen solchen Wüstling durch die Zeit zurück ins unschuldige Jahr 1873 zu schicken? Moses, dieses Fort ist aus einer sehr düsteren Zukunft zu uns gekommen — aus der Zukunft des Krieges!«
Der Soldat kam auf uns zu. Mit abgehackter Stimme — die zwar durch die Maske gedämpft wurde, aber ansonsten völlig typisch für das Offizierskorps war — rief er uns einen Befehl zu, in einer Sprache, die ich — zunächst — nicht identifizieren konnte.
Moses beugte sich zu mir herüber. »Das war Deutsch! Und ein verdammt lausiger Akzent dazu. Was zum Geier soll das alles bedeuten — eh?«
Mit erhobenen Händen ging ich auf den Mann zu. »Wir sind Engländer. Verstehen Sie?«
Ich konnte das Gesicht des Soldaten zwar nicht erkennen, aber dennoch glaubte ich, anhand seiner Schulterstellung die Anzeichen einer gewissen Erleichterung registriert zu haben. »Sehr gut«, sagte er energisch. »Bitte folgen Sie mir.«
Wir hatten kaum eine andere Wahl.
Der junge Soldat stand bei seinem Fort und hatte eine Hand auf dem Griff seiner Pistole liegen, als wir die paar Stufen zum Inneren hinaufkletterten.
»Sagen Sie mir eines«, wandte sich Moses an den Soldaten. »Welchen Zweck erfüllt diese Vorrichtung mit den Ketten und der Trommel an der Vorderseite des Fahrzeugs?«
»Das ist ein Minenräumgerät«, erklärte der Maskierte.
»Minenräumgerät?«
»Die Kette peitscht über den Boden, während der Raglan voranschreitet.« Er verdeutlichte das mit den behandschuhten Händen, ohne jedoch Moses aus den Augen zu lassen. Er war ganz offensichtlich ein Engländer; hatte er uns vielleicht für Deutsche gehalten? »Sehen Sie? Es geht darum, die vergrabenen Minen explodieren zu lassen, bevor wir auf sie auffahren.«
Moses dachte darüber nach und stieg dann hinter mir in das Fort. »Ein schönes Stück britischer Ingenieurskunst«, sagte er dann zu mir. »Und — schau dir nur mal die Stärke dieser Hülle an! Kugeln würden wie Regentropfen von ihr abprallen — eine solche Schöpfung könnte sicher nur von einem Feldgeschütz aufgehalten werden.«
Das schwere Lukenschott schwang hinter uns zu; mit einem heftigen Stoß schob es sich in seine Führungen, und Gummidichtungen preßten sich gegen die Hülle.
Damit war das Tageslicht ausgesperrt.
Wir wurden zum Zentrum einer schmalen Galerie geführt, die auf ganzer Länge innen um das Fort verlief. In diesem engen Raum waren die Maschinengeräusche laut und sorgten für Vibrationen. Es roch nach Maschinenöl und Petroleum, und außerdem stank es leicht nach Cordit; es war ausgesprochen heiß, und ich spürte, wie mir sofort der Schweiß über den Kragen lief. Die einzige Beleuchtung stammte von zwei elektrischen Lampen — völlig unzureichend, um diesen langen, kompakten Raum auszuleuchten.
In fließenden Impressionen von Zwielicht und Schatten prägte ich mir das Innere des Forts ein. Ich konnte die Umrisse von acht großen Rädern erkennen — jedes mit einem Durchmesser von neun Fuß — die entlang den Flanken des Forts angeordnet waren und durch die Hülle abgeschirmt wurden. An der Vorderseite des Forts, im Bugsektor, saß ein einzelner Soldat auf einem mit Baumwolle bespannten Stuhl; er war von Hebeln, Skalen und etwas, das wie Periskoplinsen aussah, umgeben. Das mußte der Fahrer sein. Der Heckabschnitt des Forts beherbergte die Motoren und das Getriebe. Dort konnte ich die wuchtigen Formen von Maschinen sehen; in dieser Dunkelheit ähnelten die Motoren mehr den geduckten Konturen großer Tiere als von Menschenhand geschaffenen Werken. Soldaten bewegten sich um die Maschinen, maskiert und mit schweren Handschuhen bewehrt, und wirkten dabei wie Priester, die irgendwelche Metallgötzen anbeteten.
An der Decke hingen kleine, vollgestopfte und unbequem wirkende Kabinen; und in jeder konnte ich die undeutliche Silhouette eines einzelnen Soldaten sehen. Jeder Soldat kontrollierte eine Vielzahl Geschütze und optischer Instrumente, deren Funktionsweise ich zum größten Teil nicht kannte und die durch die Wandung des Schiffes stießen. Es mußte zwei Dutzend dieser Geschützbedienungen und Ingenieure gegeben haben — sie waren alle maskiert und trugen die charakteristischen Baumwollanzüge und Barette — und mit einer Ausnahme starrten sie alle zu uns herab. Sie können sich wohl vorstellen, welche Aufmerksamkeit der Morlock erregte!
Dies war ein düsterer, deprimierender Ort: ein mobiler Tempel, der brutalen Gewalt geweiht. Ich konnte nicht umhin, dies mit dem hochentwickelten Ingenieurswesen von Nebogipfels Morlocks zu vergleichen.
Unser junger Soldat kam zu uns hoch; jetzt, wo das Fort wieder hermetisch abgedichtet war, hatte er die Maske abgelegt — sie baumelte an seinem Hals, wie ein gehäutetes Gesicht — und ich sah, daß er noch ziemlich jung war. Schweißränder bedeckten die Wangen. »Bitte kommen Sie mit«, sagte er. »Der Captain möchte Sie an Bord willkommen heißen.«
Unter seiner Führung bildeten wir eine Linie und begannen uns — unter den neugierigen Blicken der Soldaten — vorsichtig zum Bug des Forts durchzuschlagen. Der Boden war offen, und so mußten wir über schmale metallene Laufstege klettern; Nebogipfels nackte Füße patschten fast lautlos über die Metallgitter.
In der Nähe des Bugs dieses Land-Bootes und ein Stück hinter dem Fahrer befand sich eine Kuppel aus Messing und Eisen, die das Dach durchbrach. Unter der Kuppel stand ein Individuum — maskiert und mit auf dem Rücken verschränkten Händen — mit der Attitüde des Kommandanten dieses Forts. Der Captain trug ein Barett und einen Overall mit dem gleichen Schnitt wie der Soldat, der uns begrüßt hatte, mit diesen Metallepauletten und einer Faustfeuerwaffe an der Hüfte; aber dieser kommandierende Offizier trug zudem noch einen ledernen Kreuzgurt, eine Schärpe, eine Schwertschlaufe und andere Rangabzeichen, einschließlich eines Wappens seiner Einheit und Schulterstücke. Seine Uniformbrust wurde auf einer Fläche von etlichen Quadratzoll von Orden verziert.
Moses blickte sich mit lebhafter Neugier um. Er zeigte auf eine über dem Captain angebrachte Anordnung aus Leitern. »Sieh mal da«, sagte er. »Ich möchte wetten, daß er die Leiter nach unten bugsieren — mit diesen Hebeln an der Leiste neben sich, siehst du? — und dann zu dieser Kuppel dort oben aufsteigen kann. So wäre er imstande, seine ganze Festung zu überblicken und die Maschinisten und Kanoniere besser anzuleiten.« Er schien beeindruckt von dem Einfallsreichtum, der sich in diesem Monster des Krieges niedergeschlagen hatte.
Der Captain bewegte sich vorwärts, wobei er stark humpelte. Er nahm die Maske ab und gab den Blick auf sein Gesicht frei. Ich sah, daß diese Person ebenfalls noch recht jung war, von guter Gesundheit — obwohl außerordentlich blaß — und von einer Art, die man mit der Marine assoziiert: fix, ruhig, intelligent — absolut kompetent. Er streifte einen Handschuh ab und streckte mir die Hand entgegen. Ich ergriff sie — sie war klein, und ich umfaßte sie wie eine Kinderhand — und ich starrte mit einem Erstaunen, das ich nicht verhehlen konnte, in dieses klare Gesicht.
Der Captain sagte: »Ich hatte nicht derart viele Passagiere erwartet — ich glaube, daß wir nicht einmal wußten, was uns überhaupt erwartete —, aber Sie sind hier alle willkommen, und ich garantiere Ihnen, daß Sie gut behandelt werden.« Seine Stimme war hell, aber er mußte schreien, um die rumpelnden Maschinen zu übertönen. Mit einem Anflug von Belustigung schweiften blasse Augen über Moses und Nebogipfel.
»Willkommen auf der Lord Raglan. Mein Name ist Hilary Bond; ich bin Captain im Neunten Bataillon des Königlichen Großkampfschiff-Regiments.«
Es stimmte also tatsächlich! Dieser Captain — ein erfahrener und verwundeter Soldat, und Kommandant einer tödlicheren Kampfmaschine, als ich sie mir jemals hätte vorstellen können — war eine Frau.
Sie lächelte, wobei eine Narbe auf ihrem Kinn sichtbar wurde, und ich sah, daß sie nicht älter als fünfundzwanzig Jahre sein konnte.
»Schauen Sie, Captain«, meinte ich, »ich verlange zu erfahren, mit welchem Recht Sie uns hier festhalten.«
Sie schaute ungerührt drein. »Meine Mission hat Vorrang für die Nationale Verteidigung. Es tut mir leid, wenn…«
Aber jetzt trat Moses vor; in seinem schrillen Clownskostüm wirkte er völlig deplaziert in diesem düsteren, militärischen Ambiente. »Madame Captain, es besteht kein Bedarf an Nationaler Verteidigung im Jahre 1873!«
»Aber wir haben das Jahr 1938.« Ich realisierte, daß dieser Captain absolut zielstrebig war; sie strahlte eine Aura unerschütterlicher Autorität aus. »Meine Mission besteht darin, die wissenschaftliche Forschung zu sichern, die in diesem Haus in der Petersham Road durchgeführt wird — insbesondere, um eine anachronistische Interferenz mit ihrem ordnungsgemäßen Ablauf auszuschließen.«
Moses schnitt eine Grimasse. ›»Anachronistische Interferenz‹ — ich vermute, daß Sie von Zeitreisenden sprechen.«
Ich lächelte. »Ein liebliches Wort, dieses auszuschließen! Glauben Sie denn, daß Sie auch genügend Kanonen mitgebracht haben, um wirkungsvoll auszuschließen?«
Nun trat Nebogipfel vor. »Captain Bond«, sagte der Morlock bedächtig, »Sie sehen doch sicherlich ein, daß Ihre Mission eine logische Absurdität darstellt. Wissen Sie überhaupt, wer diese Männer sind? Wie können Sie die Forschungen sichern, wenn ihr originärer Protagonist…« — er deutete mit einer haarigen Hand auf Moses — »…aus seiner eigenen Zeit entführt wird?«
Daraufhin starrte Bond den Morlock für lange Sekunden an, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit Moses zu — und mir — und ich dachte, daß ihr jetzt zum erstenmal unsere Ähnlichkeit auffiel! In knappem Ton stellte sie uns allen Fragen, die darauf abzielten, die Authentizität der Bemerkung des Morlocks und von Moses' Identität zu bestätigen. Ich sagte die Wahrheit — so oder so versprach ich mir davon nicht viel für uns — aber vielleicht, so überlegte ich, sollten sie uns etwas rücksichtsvoller behandeln, wenn sie uns schon eine solche historische Bedeutung zuerkannten. Aber ich ging indessen so wenig wie möglich auf meine gemeinsame Identität mit Moses ein.
Schließlich flüsterte Hilary dem Soldaten einige kurze Befehle zu, und er suchte einen anderen Sektor des Fahrzeugs auf.
»Ich werde das Luftfahrtministerium davon informieren, wenn wir zurück sind. Ich bin sicher, daß es mehr als nur interessiert an euch sein wird — und ihr werdet reichlich Zeit haben, das Thema nach eurer Rückkehr mit den Behörden zu diskutieren.«
»Rückkehr?« erwiderte ich heftig. »Rückkehr? Meinen Sie in Ihr 1938?«
Sie blickte gequält drein. »Ich befürchte, daß ich mit den Paradoxien der Zeitreise nicht so vertraut bin; aber die gebildeten Herren im Ministerium werden damit ohne Frage umzugehen wissen.«
Ich vernahm Moses' Gelächter neben mir — laut und mit einem Anflug von Hysterie. »Oh, das ist wirklich gut!« meinte er. »Oh, das ist wirklich gut — jetzt muß ich mir überhaupt keine Gedanken über den Bau der verdammten Zeitmaschine mehr machen!«
Nebogipfel betrachtete mich nüchtern. »Ich fürchte, daß diese multiplen Verzerrungen der Kausalität uns immer weiter von der ursprünglichen Version der Geschichte entfernen — von derjenigen, die vor der Inbetriebnahme der Zeitmaschine bestanden hatte…«
Da unterbrach uns Captain Bond. »Ich kann Ihre Aufregung verstehen. Aber ich kann Ihnen auch versichern, daß Sie in keinerlei Hinsicht den geringsten Schaden erleiden werden — im Gegenteil, meine Mission dient Ihrem Schutz. Außerdem«, ergänzte sie nonchalant, »habe ich es auf mich genommen, jemanden mitzubringen, der Ihnen helfen wird, mit uns zu kooperieren. Einen Eingeborenen aus der Epoche, wie Sie sagen würden.«
Eine weitere Gestalt arbeitete sich aus dem dunklen Heck langsam zu uns vor. Sie verfügte auch über die obligatorischen Epauletten, eine Faustfeuerwaffe und die an der Hüfte baumelnde Maske; aber die Uniform — schmutzig und schwarz — wies keinerlei militärische Rangabzeichen auf. Diese Person bewegte sich langsam und ziemlich unbeholfen über die schmalen Stege und ließ alle Anzeichen des Alters erkennen; ich bemerkte, daß sich die Uniform über einen Schwabbelbauch spannte.
Die Stimme war schwächlich — sie übertönte kaum den Motorenlärm. »Guter Gott, du bist das«, rief er mir zu. »Ich bin wegen der Deutschen bis an die Zähne bewaffnet — aber weißt du, ich hatte nicht mehr mit deinem Erscheinen gerechnet, nach der Dinnerparty letzten Donnerstag —, und schon gar nicht unter solchen Umständen!«
Als er in das Licht trat, war ich reif für den zweiten Schock. Obwohl die Augen trübe waren, die Haltung gebückt und kaum noch eine Spur von Rot in diesem grauen Haarwuschel zu sehen war — und obwohl die Stirn des Mannes von einer häßlichen Narbe entstellt wurde — handelte es sich hier fraglos um Filby.
Ich sagte ihm, daß ich ein Verdammter der Zeit wäre.
Filby kicherte maliziös, als er sich mir näherte. Ich ergriff seine Hand — sie war zerbrechlich und mit Leberflecken übersät — und ich schätzte ihn auf mindestens fünfundsiebzig. »Magst du verdammt sein. Vielleicht sind wir alle verdammt! — aber trotzdem ist es gut, dich zu sehen.« Er widmete Moses einige schiefe Blicke: wenig verwunderlich, dachte ich mir!
»Filby — mein Gott! — Mensch, ich platze bald vor lauter Fragen.«
»Darauf wette ich. Deswegen haben sie mich ja auch aus dem Altersheim im Bournemouth Dome geholt. Ich bin mit der Akklimatisierung beauftragt, wie sie es nennen — um euch Eingeborenen aus der Vergangenheit bei der Anpassung zu helfen — verstehst du?«
»Aber Filby — es kommt mir erst wie gestern vor — wie kommt es, daß du…«
»Das?« Er zeichnete seine gebrechliche Statur mit einer abschätzigen, zynischen Geste nach. »Wie es kommt, daß ich so aussehe? Die Zeit, mein Freund. Dieser wundervolle Fluß, auf dessen Wellen du, wie du uns glauben machen wolltest, wie ein Ruderer hin- und herfahren konntest. Nun, die Zeit ist nicht des einfachen Menschen Freund; ich bin auf die rauhe Art durch die Zeit gereist, und das ist das Ergebnis dieser Reise. Seit unserer letzten Sitzung in Richmond und deinem andeutungsweisen magischen Geschwätz von dem Zeitmaschinenmodell — erinnerst du dich? — und deinem Verschwinden in die Zukunft sind für mich siebenundvierzig Jahre vergangen.«
»Noch ganz der alte Filby«, sagte ich mit Sympathie und ergriff seinen Arm. »Selbst du wirst zugeben müssen — spätestens jetzt — daß ich mit der Zeitreise recht hatte!«
»Ist uns allen auch gut bekommen«, grummelte er.
»Und nun«, unterbrach uns der Captain, »wenn Sie mich bitte entschuldigen, meine Herren, ich habe einen 'Naut zu kommandieren. Wir werden in wenigen Minuten zur Abreise bereit sein.« Sie nickte Filby zu und widmete sich wieder ihrer Besatzung.
Filby seufzte. »Kommt mit«, meinte er. »Es gibt einen Platz im Heck, wo wir uns hinsetzen können; dort ist es nicht ganz so laut und schmutzig wie hier.«
Wir schlugen uns zum rückwärtigen Sektor des Forts durch.
Als wir durch den Mittelgang gingen, konnte ich einen näheren Blick auf die Antriebsart des Forts werfen. Unterhalb der zentralen Laufstege sah ich über einem Metallboden eine Anordnung langer Wellen, die frei um eine gemeinsame Achse rotierten; und die Wellen waren mit diesen immensen Rädern gekoppelt. Diese Elefantenfüße, die wir zuvor gesehen hatten, hingen an Beinstümpfen an den Rädern. Von den Rädern tropften Schlamm und Bruchstücke des aufgerissenen Straßenbelags in den Maschinenraum. Ich sah, daß mittels der Wellen die Räder relativ zum Hauptkörper des Forts angehoben oder abgesenkt werden konnten, und es schien, daß die Füße ebenfalls angehoben werden konnten, und zwar über pneumatische Kolben. Es war dieses Arrangement, das die variable Gangart des Forts ermöglichte und es in die Lage versetzte, sich selbst im unzugänglichsten Gelände fortzubewegen oder bei starken Steigungen eine waagrechte Position beizubehalten.
Moses deutete auf den stabilen, stählernen Gitterrohrrahmen, der die Konstruktion des Forts trug. »Schau«, meinte er leise zu mir, »fällt dir an diesem Abschnitt etwas auf? — und auch dort drüben? — die Stangen, die wie Quarz aussehen. Man kann nur schwer sagen, welchen konstruktiven Zweck sie erfüllen.«
Ich sah gründlicher hin; es war schwer, im Licht der entfernten elektrischen Lampen Gewißheit zu erlangen, aber ich glaubte, ein merkwürdiges grünes Leuchten der Quarz- und Nickelstangen wahrzunehmen — ein Fluoreszieren, das mir nur zu bekannt vorkam!
»Es ist Plattnerit«, zischte ich Moses zu. »Die Stäbe sind dotiert worden…«
»Nun, das überrascht mich nicht«, entgegnete Moses. »Wir wissen doch, daß dieses Fort auch eine Zeitmaschine ist.«
»Vielleicht«, sagte ich mit wachsender Erregung, »aber, Moses, ich bin überzeugt — ich kann mich einfach nicht irren, trotz des schlechten Lichts —, daß es sich hier um Komponenten aus meinem Laboratorium handelt: Ersatzteile, Prototypen und Ausschuß, den ich während der Konstruktion meiner Zeitmaschine produziert hatte.«
Moses rückte. »Jetzt wissen wir zumindest, daß diese Leute selbst noch nicht die Technik der Plattneriterzeugung kennen.«
Der Morlock kam zu mir und zeigte auf etwas, das in einem dunklen Winkel des Maschinenraums deponiert war. Ich mußte ein paarmal die Augen zusammenkneifen, aber dann konnte ich erkennen, daß es sich bei den plumpen Konturen um meine Zeitmaschine handelte! — ganz und an einem Stück, offensichtlich aus Richmond Hill mitgenommen und in dieses Fort verbracht, noch mit Gras an den Kufen. Die Maschine war mit Tauen gesichert, als ob sie in einem Spinnennetz hängen würde.
Ich verspürte das dringende Bedürfnis, beim Anblick dieses machtvollen Symbols der Sicherheit vor diesen Soldaten zu fliehen — wenn es denn möglich war — und zu meiner Maschine zu gelangen. Vielleicht konnte ich mein Zuhause erreichen, auch jetzt noch…
Aber ich wußte, daß es ein nutzloses Unterfangen sein würde, und rief mich selbst zur Ordnung. Selbst wenn ich die Maschine erreichen konnte — und schon das war ausgeschlossen, weil die Soldaten mich sofort niedermähen würden —, würde ich meine Heimat nicht wiederfinden können. Nach diesem jüngsten Zwischenfall würde keine Version des Jahres 1891 mehr dem sicheren und wohlhabenden Jahr gleichen, das ich dummerweise verlassen hatte. Ich war in der Zeit gestrandet!
Filby kam zu mir. »Was hältst du von der Maschinerie — hm?« Er hieb mir auf die Schulter, und die Berührung war deprimierend sanft, mit der schwindenden Kraft eines alten Mannes. »Das ganze Ding ist von Sir Albert Stern konstruiert worden«, erläuterte er, »der seit Beginn des Krieges führend in diesen Dingen ist. Ich habe mich ziemlich für diese Biester interessiert, wie sie sich im Lauf der Jahre entwickelt haben… Du mußt nämlich wissen, daß mechanische Dinge mich schon immer fasziniert haben.
Sieh dir mal das an.« Er zeigte in Richtung der Nischen im Maschinenraum. »›Meteor‹-Motoren von Rolls-Royce — eine ganze Reihe davon! Und ein Merrit-Brown-Getriebe — siehst du es, dort drüben? Wir haben hier eine Horstmann-Aufhängung, mit diesen drei Fahrgestellen auf jeder Seite…«
»Ja«, fiel ich ihm ins Wort, »aber — lieber alter Filby — wozu soll das alles gut sein?«
»Wozu? Natürlich für die Kriegsführung.« Filby fuchtelte mit der Hand herum. »Dies ist ein Juggernaut: Kitchener-Klasse; eines der neuesten Modelle. Der Hauptzweck der 'Nauts besteht darin, die Festung Europa zu knacken, mußt du wissen; sie können schnell die allermeisten Verteidigungsanlagen überwinden — andererseits sind sie teuer, nicht sehr zuverlässig und nicht einmal beschußfest. Raglan ist ein ziemlich passender Name, meinst du nicht auch? — Denn Lord Fitzroy Raglan war der Teufelskerl, der während des Krimkrieges die Festung Sewastopol fast im Handstreich genommen hat. Vielleicht hätte der arme alte Raglan…«
»Die Festung Europa?«
Er schaute mich traurig an. »Tut mir leid«, meinte er. »Vielleicht hätten sie mich überhaupt nicht hierherschicken sollen — ich vergesse immer wieder, daß du ja gar nicht weißt, was los ist! Ich bin wirklich zu einem alten Penner geworden, fürchte ich. Schau — ich muß dir sagen, daß wir uns seit 1914 im Krieg befinden.«
»Krieg? Mit wem?«
»Nun, mit den Deutschen natürlich. Mit wem denn sonst? Und es ist wirklich eine schreckliche Sache…«
Diese Worte, dieses Streiflicht eines durch vierundzwanzig Jahre Krieg verdüsterten zukünftigen Europas, ließen mir das Mark in den Knochen gefrieren!
Wir kamen in eine Kammer mit einer Seitenlänge von vielleicht zehn Fuß; sie war nur wenig mehr als eine mit der Innenwandung des 'Nauts verschraubte Metallkiste. Eine einzelne elektrische Lampe glühte an der Decke, und die Wände waren mit Leder verkleidet, was die metallische Düsternis des Forts milderte und den Lärm der Maschinen dämpfte — obwohl ein noch tieferes Pochen aus der Struktur des Fahrzeugs wahrgenommen werden konnte. Es gab sechs Stühle — schlichte Lehnstühle —, die mit dem Boden verschraubt und mit Ledergurten versehen waren; außerdem einen kleinen Schrank.
Filby winkte uns zu den Stühlen. »Ihr solltet euch festbinden«, sagte er. »Dieser Unfug mit dem Hürdenlauf durch die Zeit ist ziemlich schwindelerregend.«
Moses und ich setzten uns gegenüber. Ich legte die Gurte locker an; Nebogipfel hatte einige Probleme mit den Schnallen, und die Gurte schlackerten um ihn herum, bis Moses ihm half, sie straffzuziehen.
Filby kam auf mich zugetrottet, wobei er etwas in der Hand hielt; es war eine Tasse Tee auf einer gesprungenen Untertasse, mit einem kleinen Keks am Rand. Ich mußte einfach lachen. »Filby, die Wendungen des Schicksals überraschen mich immer wieder. Da sind wir nun hier, kurz vor einer Reise durch die Zeit mit diesem bedrohlichen mobilen Fort — und du servierst uns Tee und Kekse!«
»Nun, dieses Geschäft ist selbst mit den Annehmlichkeiten des Lebens schwierig genug. Du müßtest das doch eigentlich wissen!«
Ich nahm einen Schluck Tee; er war lauwarm und ziemlich fade. Solcherart gestärkt fühlte ich mich, völlig unmotiviert, zu Unfug aufgelegt — im nachhinein glaube ich, daß mein geistiger Zustand etwas angeschlagen gewesen sein mußte, und ich wollte mich weder meiner eigenen Zukunft noch den düsteren Aussichten dieses Krieges im Jahre 1938 stellen. »Filby«, provozierte ich ihn, »kommt dir denn bei meinen Begleitern nichts… äh… seltsam vor?«
»Seltsam?«
Ich stellte ihm Moses vor — und dem armen Filby fielen fast die Augen aus dem Kopf, wobei er sich Tee über das Kinn sabberte.
»Und genau das ist der eigentliche Schock der Zeitreise«, sagte ich zu Filby. »Vergiß das ganze Geschwätz vom Ursprung der Arten oder der Bestimmung der Menschheit — wenn du dir erst einmal selbst als jungem Mann gegenüberstehst, erkennst du die ganze schockierende Tragweite der Sache!«
Filby befragte uns etwas länger zu diesem Aspekt unserer Identität — der gute alte Filby — skeptisch bis zuletzt! »Ich dachte eigentlich, daß ich in meinem Leben schon genug Veränderungen und Wunder gesehen hätte, sogar ohne diesen Zeitreisekram. Aber jetzt — na gut!« Er seufzte, und ich vermutete, daß er in seinem langen Leben wohl schon etwas zuviel gesehen hatte, der arme Kerl; er hatte schon immer zu einer gewissen mentalen Müdigkeit geneigt, bereits als junger Mann.
Ich beugte mich vor, soweit es meine Einschnürung erlaubte. »Filby, ich kann kaum glauben, daß die Menschen so tief gesunken sind — so blind geworden sind. Nun, aus meiner Perspektive klingt euer verdammter Krieg der Zukunft ganz nach dem Ende der Zivilisation.«
»Für einen Menschen unserer Zeit«, erwiderte er feierlich, »mag das wohl so sein. Aber diese jüngere Generation, die mit nichts anderem als Krieg aufgewachsen ist, die niemals die Sonne auf dem Gesicht spüren konnte, ohne Angst vor Luft-Torpedos haben zu müssen — das ist etwas anderes! Ich glaube, daß sie sich mehr oder weniger daran gewöhnt haben; es ist, als ob wir uns in eine unterirdische Spezies verwandelten.«
Ich konnte mir einen Seitenblick auf den Morlock nicht verkneifen.
»Filby, wozu diese Mission durch die Zeit?«
»Es geht weniger um dich als vielmehr um die Maschine. Sie mußten sich die Konstruktion der Zeitmaschine sichern, verstehst du?« begann Filby. »Die Zeit-Technologie ist für die Kriegsanstrengungen von entscheidender Bedeutung. Oder zumindest glauben das einige.
Anhand der Unterlagen, die du zurückgelassen hattest, wußten sie ziemlich gut Bescheid über deine Forschungsarbeiten — obwohl du nie etwas zu diesem Thema veröffentlicht hast; es gab nur diesen seltsamen Bericht über deinen Ausflug in die entfernte Zukunft, den du uns bei deinem kurzen Zwischenaufenthalt erstattet hast. Und deshalb schickten sie den Raglan los, um dein Haus zu bewachen; und jedesmal, wenn ein Zeitreisender auftaucht — wie du…«
Nebogipfel erhob den Kopf. »Wird die Kausalität weiter deformiert«, ergänzte er. »Offensichtlich haben die Wissenschaftler von 1938 das Konzept der Multiplizität noch nicht erkannt — daß man die Vergangenheit nicht völlig unter Kontrolle halten kann, sondern nur neue Versionen…«
Filby starrte ihn an — dieses in eine Schuluniform gekleidete, sprechende Wesen, bei dem aus jedem Körperteil Haare sprossen!
»Nicht jetzt«, wies ich Nebogipfel an. »Filby, du sagst immer ›sie‹. Wer sind ›sie‹?«
Die Frage schien ihn zu überraschen. »Die Regierung natürlich.«
»Welche Partei?« fragte Moses.
»Partei?« Er lächelte schwach. »Oh, das alles gehört jetzt längst der Vergangenheit an.«
Er vermittelte uns diese erschreckenden Neuigkeiten — vom Tod der Demokratie in England — mit diesen beiläufigen Worten!
»Ich glaube, daß wir alle erwartet hatten, hier die Zeitmaschine zu finden«, fuhr er fort, »im Richmond Park herumzufahren und darauf zu hoffen, daß uns etwas vor die Flinte käme…« Er schaute betrübt drein. »Es sind die Deutschen, weißt du. Die verdammten Deutschen! Sie richten überall das schlimmste Unheil an… wie sie es schon immer getan haben!«
Und mit diesen Worten verdüsterte sich die einzelne Glühlampe, und ich hörte die Motoren aufröhren; dann verspürte ich das bekannte, hilflose Fallen, das mir sagte, daß mich dieser Raglan erneut durch die Zeit transportierte.