FÜNF

4. Juli 1932




Fließendes Wasser reinigt sich selbst. Der Strom des Keimplasmas scheint das nicht zu tun.

H. F. Perkins:

Lehren aus der Eugenik-Erhebung von Vermont: Erster Jahresbericht 1927



Einen Tag nachdem ich versucht habe, mich umzubringen, sagt Spencer, dass wir zu einem Straßenfest in Burlington fahren. Er sagt es mir, während er mir das Handgelenk neu verbindet. »Da gibt es eine Wahrsagerin, Cissy«, sagt er. »Feuerschlucker und Gaukler. Und es gibt allen möglichen Schnickschnack zu kaufen.« Dann kommt er zum eigentlichen Grund, warum wir zu dem Fest fahren: »Dein Vater«, sagt Spencer, »will sich dort mit uns treffen.«

Obwohl es draußen so heiß ist, dass Löwenzahn und Sonnenhut die Köpfe hängen lassen, hilft er mir in meine langärmelige weiße Bluse, weil man dann den Verband nicht sieht. »Es braucht keiner zu wissen, was passiert ist«, sagt er ruhig, und ich starre auf den Scheitel in seinem Haar, bis ich den rosa Schimmer nicht mehr ertragen kann und wegschaue. »Du bist wieder schlafgewandelt, mehr nicht. Du hast gar nicht gemerkt, was du tust.«

Für Spencer ist die Fassade, die man der Welt zeigt, wichtiger als das, was darunterliegt. Der Zweck heiligt die Mittel. »Komm schon, Cissy«, sagt er liebevoll. »Enttäusch mich nicht.«

Nicht mal im Traum würde ich das tun. Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Na schön«, sage ich.

Am liebsten würde ich sagen: Nenn mich nicht Cissy. Das ist ein Name für Heulsusen, wie eine Prophezeiung, und sieh dir an, was aus mir geworden ist. Am liebsten würde ich sagen: Meine Mutter hat mir den Namen Cecelia gegeben, und der ist schön, ein Fluss von Silben. Einmal, als mir der Brombeerwein zu Kopf gestiegen war, den ich bei einem Fakultätsessen getrunken hatte, habe ich zu meinem Mann gesagt, dass ich Lia genannt werden möchte. »Leah?«, fragte er kopfschüttelnd. »Aber das ist doch die Frau, die Jakob nicht gewollt hat.«

Er hilft mir auf, weil meine Schwangerschaft ein Zustand ist, den Spencer akzeptieren kann. Über mein Leiden sprechen wir dagegen nicht. Da Spencers Arbeit mit Geisteskrankheiten zu tun hat, können wir uns nicht eingestehen, dass ich mit den Menschen, die in der Nervenanstalt in Waterbury eingesperrt sind, irgendetwas gemein haben könnte.

Jemandem wie Spencer kann ich nicht erklären, wie es ist, wenn man in einen Spiegel blickt und das Gesicht darin nicht wiedererkennt. Dass ich an manchen Tagen alle Kraft zusammennehmen muss, um eine Maske aufzusetzen und durch mein Leben zu spazieren, als wäre ich eine andere. Ich habe schon neben ihm gesessen und mir die Fingernägel in die Handflächen gebohrt. Denn wenn ich blute, muss ich real sein.

Nachdem ich so viele Jahre übergangen worden bin, fällt es mir leicht zu glauben, dass die Welt ohne mich besser dran wäre. Spencer sagt, das liegt an meinem Zustand, an chemischen Stoffen in meinem Körper, die verrückt spielen, aber ich weiß es besser. Ich habe nie in diese Stadt gepasst, diese Ehe, diese Haut. Ich bin das Kind, das beim Spielen immer nur geduldet wurde. Ich bin das junge Mädchen, das lachte, obwohl es den Scherz nicht verstanden hat. Ich bin der Teil von dir, den du verleugnest, aber ich bin nur das, immer.

Und doch. Das Baby in mir weiß von alledem nichts. Und wenn ich mir und gleichzeitig ihm das Leben nehme, dann werde ich zweimal jemanden getötet haben, den ich eigentlich hätte lieben müssen.

Diese Wahrheit nutzt Spencer aus. Er scherzt und flirtet mit mir, sodass ich mich, als wir losfahren, schon fast auf das Fest freue. Den ganzen Weg den Otter Creek Pass hinunter denke ich an die Wahrsagerin; ob sie das Gesicht meiner Mutter in ihrer Kristallkugel finden wird oder nur den Abgrund, den ich selbst darin sehe.


Frage:

Was ist das Kostbarste auf der Welt?


Antwort:

Das menschliche Keimplasma.


Frage:

Wie wird das Keimplasma unsterblich?


Antwort:

Durch Fortpflanzung.


Frage:

Wie lautet die eugenische Pflicht eines jeden?


Antwort:

Dafür zu sorgen, dass seine guten Eigenschaften an zukünftige Generationen weitergegeben werden, vorausgesetzt, sie sind zahlreicher als seine schlechten Eigenschaften. Sollte er ein Übermaß an dysgenischen Eigenschaften aufweisen, so sollten diese eliminiert werden, indem das Keimplasma mit dem individuellen Träger ausstirbt.


American Eugenics Society,

Ein eugenischer Katechismus, 1926


Die Hitze macht die Straßen weich wie reifes Obst, das Pflaster gibt unter meinen Schuhen nach. Männer in Sommeranzügen und Frauen in modischen Leinenkleidern gehen Hand in Hand. Straßenhändler verkaufen Zitroneneis und kleine, rot-weiß-blaue Windmühlen. Alle haben ein übertrieben breites Lächeln aufgesetzt.

Spencer sucht die Menge nach meinem Vater ab. »Harry kommt doch sonst nie zu spät«, murmelt er. »Siehst du ihn irgendwo?«

Aber Spencer ist größer als ich, und er trägt eine Brille. Anstatt Ausschau nach meinem Vater zu halten, fällt mir ein barfüßiger Junge auf, der neben einer Pfütze kniet und eine Handvoll Pennys herausfischt, die jemandem aus dem Portemonnaie gefallen sind. Er gehört zu einer Welt, die ich nicht kenne – Menschen, die in den Siedlungen am North End wohnen, zweihundert Meter entfernt, in einer anderen Welt.

»Hallo, Schatz«, sagt mein Vater hinter uns. Er küsst mich auf die Wange. »Entschuldige, Spencer«, sagt er und schüttelt ihm die Hand. »Ich hab mir einen Boxkampf angesehen. Ist schon erstaunlich, wenn man sich die Physiognomie von manchem Einwanderer ansieht …«

Wissenschaft ist für mich eine Fremdsprache, aber ich bin damit großgeworden. Mein Vater, Harry Beaumont, ist Biologieprofessor an der University of Vermont. Spencer, Professor für Anthropologie, teilt seine Auffassung hinsichtlich der Mendel’schen Vererbungslehre. Und sie sind Schüler eines weiteren Professors, Henry Perkins, der die Eugenik – die Lehre vom menschlichen Fortschritt durch genetische Verbesserung – in Vermont gesellschaftsfähig gemacht hat. Professor Perkins hat die Eugenik-Erhebung in Vermont geleitet – eine mit privaten Mitteln finanzierte Untersuchung von Familien hier in Vermont. Jetzt arbeitet er ehrenamtlich für die mächtige Vermont Commission on Country Life, genau wie mein Vater und Spencer. Ihr Komitee hat eine langjährige Studie über degenerierte Familien durchgeführt, um herauszufinden, ob es sich auf den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erfolg eines Ortes auswirkt, welche Menschen dort wohnen. Die erstellten Stammbaumanalysen sollen Sozialarbeitern und Bewährungshelfern bei ihrer Arbeit behilflich sein. Zusammen mit dem neuen Sterilisationsgesetz rückt Vermont dadurch auf eine Stufe mit den anderen Bundesstaaten, die bereits Vorbild für unser Land geworden sind.

Es ist eine fortschrittliche Reformbewegung, so sagt Spencer, die Vermont aber nicht nach vorn bringen soll, sondern zurück – zu der idyllischen Landschaft, die sich jeder vorstellt, wenn er Vermont hört, den weißen Kirchen, den Hügeln in herbstlichen Farben. Spencer hat als einer der Ersten erkannt, dass dieses Bild verloren geht, wenn gute Yankee-Erbmasse mit schwächeren Erbanlagen durchsetzt wird. Natürlich hat die Untersuchung ergeben, dass in Ortschaften, denen es wirtschaftlich schlecht geht, vermehrt Familien wohnen, deren Mitglieder gehäuft in Nerven- und Besserungsanstalten und Gefängnissen landen. Rezessive Gene wie Schwachsinnigkeit und kriminelle Neigungen werden selbstverständlich an die Nachkommen weitergegeben – das geht alles aus den Stammbaumkarten hervor, die mein Vater immer auf unserem Esstisch entrollt hat. Indem in diesen Bevölkerungsgruppen die Fortpflanzung gezielt verhindert wird, könnte Vermont wieder so malerisch werden, wie es einmal war.

»Meine Feldforscher suchen die ideale Vermonter Familie«, sagt Spencer. »Leute wie uns.«

Manchmal frage ich mich, was wohl passiert wäre, wenn ich nicht Spencer geheiratet, sondern studiert und als Feldforscherin an der Erhebung mitgearbeitet hätte, wie Frances Conklin und Harriet Abbott. Wäre ich dann glücklicher geworden? Diese Frauen waren Teil der Bewegung, die Vermont in die Zukunft führen möchte. Sie bewirkten etwas.

Spencer sagt, dass manche Frauen dafür geschaffen sind, die Welt zu verändern, während andere dazu da sind, sie zusammenzuhalten. Und dann gibt es noch uns Übrige, die einfach nicht auf der Welt sein wollen, weil wir wissen, dass wir einfach nicht dazugehören, sosehr wir uns auch bemühen.

Mein Vater legt den Arm um meine Schultern. »Wie geht’s meinem Enkelsohn?«, fragt er, als wäre uns das Geschlecht des Babys bereits bekannt.

»Stark wie ein Stier«, sagt Spencer. »Tritt Cissy den lieben langen Tag gegen den Bauch.«

Alle strahlen. Keiner erwähnt meine Mutter, obwohl ihr Name unausgesprochen zwischen uns schwebt. War ich vor meiner Geburt auch so stark? War das das Problem?

Schweiß rinnt mir am Körper herab. Meine Kopfhaut juckt unter dem Hut.

»Was wollen wir uns ansehen?«, fragt Spencer. »Es gibt ein Baseballspiel und ein Motorbootrennen. Oder sollen wir zu den Dressurnummern?«

Durch das Menschengedränge hindurch sehe ich einen Mann, der mich anstarrt. Er ist dunkelhäutig wie ein Indianer, und seine Augen sind tiefschwarz. Er lächelt nicht und tut auch nicht aus Höflichkeit so, als würde er mich nicht fixieren. Ich kann den Blick nicht von ihm losreißen, auch nicht, als Spencer mich am Arm berührt. Ich weiß nicht, was mich mehr fasziniert: das Gefühl, dass dieser Mann mir wehtun könnte oder dass er es nicht tut.

»Cissy?«

»Die Dressurnummern«, sage ich und hoffe, dass das die passende Antwort ist.

Als ich mich erneut umwende, ist der Mann verschwunden.


Freiheit und Einheit.

Motto des Staates Vermont


Wir sitzen auf der Tribüne und sehen uns Bertie Briggs’ tanzende Katzen an. Ich fächele mir mit dem Programmheft Kühlung zu und hebe mein Haar von meinem feuchten Rücken, um es unter den Hut zu stecken. Die Schweißflecken unter meinen Armen sind mir peinlich.

Spencer sieht in seinem Sommeranzug so kühl und ruhig aus wie immer. Er und mein Vater beobachten ein paar Zigeuner, die ihre Waren feilbieten – Körbe und winzige Schühchen, Kräutertinkturen. Sie haben den Sommer über ihr Lager am Fluss und am See aufgeschlagen, und viele von ihnen verbringen den Winter in Kanada. Sie sind natürlich keine richtigen Roma, nur Indianer – aber man nennt sie Zigeuner, weil sie herumziehen, dunkelhäutig sind und in großen Familienverbänden leben. Viele von ihnen bevölkern regelmäßig die Gefängnisse und Behelfsunterkünfte.

Das sind die Menschen, die Professor Perkins in seiner Erhebung untersucht hat – neben einem Clan, der in armseligen Hütten am Wasser lebte. Viele von ihnen waren geisteskrank. Der Unterschied zwischen diesen Familien und beispielsweise uns ist rein genetisch. Der von einem Herumtreiber gezeugte Sohn wird später selbst ein Herumtreiber. Eine leichtlebige Mutter vererbt diesen Zug an ihre Tochter.

»In Brandon sind drei weitere Operationen durchgeführt worden«, sagt mein Vater. »Zwei davon im Gefängnis.«

Spencer lächelt. »Wunderbar.«

»Genau das hatten wir uns erhofft. Ich könnte mir vorstellen, dass alle Patienten sich dazu bereiterklären, wenn ihnen klar wird, dass sie nach einem kleinen Eingriff so leben können, wie es ihnen beliebt.«

Eine von Bertie Briggs’ getigerten Katzen balanciert über ein Drahtseil. Ihre Pfoten zittern, zumindest glaube ich, dass sie zittern, denn ich kann nicht mehr richtig sehen. Ich blicke in meinen Schoß, atme tief, versuche, nicht ohnmächtig zu werden.

Die magere Hand, die vom Tribünenrand auf mich zuschnellt, ist entweder schmutzig oder einfach nur dunkel. Sie legt mir einen zerknitterten Zettel mit einem Mond und Sternen darauf auf den Schoß. MME. SOLIAT LIEST IHNEN KOSTENLOS AUS DER HAND. Als ich aufblicke, ist der kleine Junge schon wieder in der Menge verschwunden.

»Ich gehe rasch zur Toilette«, sage ich und stehe auf.

»Ich komme mit«, erklärt Spencer.

»Ich bin durchaus in der Lage, allein zu gehen.« Schließlich lässt er mich gehen, aber erst nachdem er mir die Tribünentreppe hinuntergeholfen und die richtige Richtung gezeigt hat.

Als ich sicher bin, dass er nicht mehr hinter mir hersieht, gehe ich in die entgegengesetzte Richtung. Verstohlen hole ich eine Zigarette aus meiner Handtasche – Spencer meint, Frauen sollten nicht rauchen – und husche in das Zelt von Madame Soliat. Es ist klein und schwarz mit aufgenähten gelben Stoffsternen. Die Wahrsagerin trägt einen silbernen Turban und drei Silberringe in jedem Ohr. Ein Wolfshund hechelt neben ihrem Tisch, seine Zunge rosa wie eine Narbe. »Setzen Sie sich«, sagt sie, als hätte sie auf mich gewartet.

Sie hat keine Teeblätter, keine Kristallkugel. Sie greift nicht nach meiner Hand. »Haben Sie keine Angst«, sagt sie schließlich mit ihrer tiefen Männerstimme, als ich gerade aufstehen und gehen will.

»Hab ich nicht.« Ich drücke die Zigarette aus und hebe das Kinn ein wenig höher, um ihr zu zeigen, wie mutig ich sein kann.

Sie schüttelt den Kopf und blickt nach unten auf meinen gewölbten Bauch. »Davor.«

Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben. Ich rechne damit, dass mich das gleiche Schicksal ereilen wird. Ich werde mein Baby also nicht kennenlernen … aber hoffentlich meine Mutter.

»Das werden Sie«, erwidert die Wahrsagerin, als hätte ich laut gesprochen. »Was Sie nicht wissen, werden Sie bald erfahren. Doch dann werden die Dinge schwierig.«

Sie spricht in Rätseln, würde Spencer sagen. Natürlich würde Spencer niemals zu einer Wahrsagerin gehen, das wäre ihm viel zu unwissenschaftlich. Sie erzählt mir noch andere Dinge, die auf jeden Menschen zutreffen könnten: dass ich bald eine große Summe Geld bekomme, dass ich einem Fremden begegnen werde. Schließlich greife ich in meine Handtasche, um einen Dollar herauszuholen, doch da spüre ich plötzlich ihre Finger um mein Handgelenk. Ich will mich losreißen, doch sie hält meine Hand so fest, dass ich meinen eigenen Puls spüre. »Der Tod klebt an deinen Händen«, sagt sie, und dann lässt sie los.

Verstört stolpere ich nach draußen in die gleißende Sonne. Oh, sie hat recht, er klebt dort seit ich zur Welt kam und dabei meine Mutter tötete.

Ich gehe, ohne zu wissen, wohin, schiebe mich zwischen gesichtslosen Menschen hindurch. Eine Gruppe von Studenten reißt mich mit auf den Eingang eines Kristallpalastes zu, und gleich darauf befinde ich mich in einem Spiegelkabinett.

Spencer hat mir von diesem Irrgarten erzählt, der zwanzigtausend Dollar gekostet hat. Hinter den hohen Zwischenwänden erschallen die Rufe der Studenten, die sich schon verirrt haben. Die Luft ist dick. Ich kann mir selbst nicht entfliehen, wohin ich auch schaue, überall bin ich.

Die Hitze drückt mir in den Nacken. Ich beuge mich zu einem Spiegel vor, fahre mit dem Finger über meinen gewölbten Bauch, in dem das Baby ist. Ich berühre meine Wange, mein Kinn. Sehe ich wirklich so verängstigt aus?

Ich lasse meine Hand über die Scheiben gleiten, folge meinem Spiegelbild von einer Scheibe zur nächsten … und plötzlich verwandelt sich mein Gesicht in etwas ganz anderes. Schwarze Augen, noch schwärzeres Haar, ein Mund, der vergessen hat, wie man lächelt. Wir stehen nur Zentimeter voneinander entfernt, berühren uns fast. Ich – und der Mann, der mich vorhin angestarrt hat. Keiner von uns scheint zu atmen.

Ach diese elende Hitze. Das ist mein letzter Gedanke, bevor alles um mich herum schwarz wird.


Es ist die Pflicht eines jeden patriotischen Ehepaars, genügend Kinder zu bekommen, um die gute Vermonter Erbmasse zu sichern.

Aus: Ländliches Vermont: Ein Programm für die Zukunft, 1931


»Ganz ruhig, Cissy.«

Spencers Stimme treibt durch einen langen Tunnel zu mir herab. Als mein Blick klar wird, sehe ich die alte Waschschüssel mit Krug auf meiner Kommode, das messingfarbene Fußende unseres Bettes. Ein nasses Tuch liegt auf meiner Stirn, Wasser tropft mir ins Haar, auf das Kissen.

Er hält meine Hand. Es erinnert mich an meine Kindheit, wie ich an der Hand meines Vaters die Church Street überquerte. Mit siebzehn habe ich Spencer geheiratet, und er wurde der nächste Erwachsene, der auf mich aufpasste. Plötzlich wird mir klar, dass ich nie Gelegenheit hatte, erwachsen zu werden.

»Geht’s dir besser?«, fragt Spencer und lächelt mich so zärtlich an, dass sich etwas in mir löst.

Ich liebe ihn. Den Geruch seines Haars und die gebogene Nase mit der Brille, die langen, sehnigen Muskeln, die man unter seinen gestärkten Hemden und Jacken nicht vermuten würde. Aber ich wünschte, wir wären uns irgendwo anders begegnet, in New York oder Iowa oder auf einer Kreuzfahrt – irgendwo anders, sodass seine Beziehung zu mir unabhängig von seiner Beziehung zu meinem Vater wäre.

Er legt seine Hand auf meinen Bauch, und ich schließe die Augen. Er hat mich gewählt, weil ich Harry Beaumonts Tochter bin, nicht, weil ich ich bin.

»Wie bin ich hergekommen?«, frage ich.

»Du bist ohnmächtig geworden.«

»Die Hitze …«

»Ruh dich aus, Cissy.«

Ich möchte laut schreien, dass es mir gut geht, auch wenn es nicht stimmt. Als Kind bin ich manchmal auf das Dach des Hauses geklettert, hab die Arme ausgebreitet und aus Leibeskräften gebrüllt, bis ganz Comtosook mich hörte. Nicht, weil ich irgendetwas Wichtiges zu verkünden hatte, sondern weil mein Vater immer wollte, dass ich leise bin.

Dieser Charakterzug ist wie ein schwarzer Wirbel in meinem Blut. Manchmal frage ich mich, ob ich ihn von meiner Mutter geerbt habe. »Ich lasse Ruby bei dir«, Spencer küsst mich auf den Kopf. »Bald geht’s dir wieder gut.«

Unser Hausmädchen ist vierzehn, fast alt genug, um meine Freundin zu sein, und doch trennen uns Welten. Nicht bloß, weil sie Frankokanadierin ist, nein, ich fühle mich viel älter als sie. Wenn sie sich unbeobachtet fühlt, tanzt Ruby nach dem Wäscheaufhängen zwischen den weißen Bettlaken an der Leine. Ich dagegen vergesse niemals, dass mich jemand sehen könnte.

Sie kommt mit einem braunen Paket herein. »Miz Pike«, sagt sie, »schauen Sie, das ist heute mit der Post gekommen.«

Sie stellt das Paket neben mir ab, wobei sie vergeblich versucht, den Verband an meinem Handgelenk zu übersehen. Ruby weiß natürlich, was passiert ist. Sie hat eine Schüssel mit warmem Wasser für Spencer gehalten, während er mich verarztete. Sie gehört mit zum Komplott des Schweigens.

Ruby löst die Kordel und öffnet das Paket. Es enthält ein Paar Halbstiefel, genau wie die, die Spencer mir vorhin ausgezogen hat. Die neuen sind eine Nummer größer, weil mir alle Schuhe im Verlauf der Schwangerschaft zu eng geworden sind. Ich spähe über den Bettrand auf Rubys Schuhe. »Du hast doch Größe siebenunddreißig, nicht?«

»Ja, Ma’am.«

»Dann nimm doch meine alten. Ich glaube nicht, dass meine Füße wieder kleiner werden.« Ruby hebt die Schuhe auf, als wären sie eine Kostbarkeit. »Meine Schwester hat mir immer die Sachen gegeben, aus denen sie rausgewachsen war.«

»Du hast eine Schwester?« Wie kann ich seit einem Jahr mit diesem Mädchen unter einem Dach wohnen und das nicht wissen?

»Nicht mehr. Diphtherie.« Ruby breitet den restlichen Inhalt des Kartons auf dem Bett aus: winzig kleine Pullover und Socken und Hemdchen in allen Farben. Dann hält sie eine Babymütze mit Spitzenbesatz zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. »Haben Sie schon mal so was Feines gesehen?«

Ruby freut sich mehr auf das Baby als ich. Ich freu mich zwar, dass es bald auf die Welt kommt – aber niemand scheint zu begreifen, dass ich die Geburt nicht überleben werde. Ich hab einiges von Spencer gelernt; ich weiß, dass der Defekt in meinem Keimplasma ist. Wenn es mir nicht gelingt, mich vorher umzubringen, dann ist der Tag, an dem das Baby zur Welt kommt, der Tag, an dem ich sterben werde.

Spencer hat mir einige gynäkologische Tests gezeigt, um mich vom Gegenteil zu überzeugen. Er ist mit mir zu den besten Ärzten gegangen. Ich nicke, ich lächle, manchmal höre ich sogar zu. Währenddessen plane ich meinen Selbstmord. Doch dann spüre ich, wie die kleinen Füße des Babys meinen Rippenbogen streifen, als wüsste der Kleine instinktiv, wo mein Herz zu finden ist, und ich begreife, dass ich verloren bin.

»Aber nicht doch, Miz Pike«, sagt Ruby, und ich merke erst jetzt, dass ich weine. »Soll ich den Professor holen?«

»Nein.« Ich wische mir mit dem Betttuch über die Augen. »Nein, alles in Ordnung. Ich bin bloß müde.«

Letzte Nacht dachte ich, wenn ich tief genug schneiden würde, könnte ich vielleicht den Ort finden, an dem es die ganze Zeit schmerzt. Als Spencer mir den Verband anlegte, sagte er, ich müsste an mein Baby denken. Ich habe immerhin noch zwei Monate bis zur Geburt. Er versteht nicht, dass ich sehr wohl an meinen Sohn gedacht habe. Ich wollte ihm die Last ersparen, die ich mein ganzes Leben mit mir herumtrage: das Wissen, dass er der Grund für meinen Tod war.

Ich weiß, dass ich nicht logisch handle, dass auch mein Baby in Gefahr ist, wenn ich mir Schaden zufüge. Aber wenn ich allein mit der Dunkelheit und der Nacht und einer Messerklinge bin, zählt die Vernunft nicht mehr. Ich habe oft versucht, es Spencer zu erklären. »Aber ich liebe dich doch«, sagt er, als wäre das schon genug, um mich hier zu halten.

»Weißt du, wie das ist, durch ein Zimmer voller Menschen zu gehen und dich so einsam zu fühlen, dass du kaum noch den nächsten Schritt tun kannst?«

»Miz Pike«, flüstert Ruby statt einer Antwort.

»Vielleicht könnten wir so tun, als wären wir Schwestern.«

Ruby, eine Dienstbotin, und ich, die Gattin eines der angesehensten Bürger von Burlington. »Vielleicht«, antworte ich.


Spencers Hauptseminar findet in einem kleinen Raum statt, der nach Leinsamenöl und Philosophie riecht. Spencer steht vorne in Hemdsärmeln. Auf einer Leinwand hinter ihm sind Lichtbilder von Schädeln zu sehen. »Man beachte den Unterschied zwischen dem dolichozephalen und dem brachyzephalen negroiden Schädel«, sagt Spencer. »Der prognathische Kiefer, die abgeflachte Nase, die Nähe zum Affen … all das sind Anzeichen für eine minderwertige Daseinsform.«

Eine Hand schnellt hoch. »Wie primitiv sind sie?«, fragt ein Student.

»Rudimentär«, erläutert Spencer. »Wie Kinder. Sie erfreuen sich an leuchtenden Farben wie Kinder. Sie sind fähig, einfache Freundschaften zu schließen, wie Kinder.« Er wirft einen Blick auf die Wanduhr, und als seine Augen dann über mich hinweggleiten, leuchten sie kurz auf. »In der kommenden Woche beschäftigen wir uns mit der Einteilung der Menschheit in fünf klar unterscheidbare Rassen«, kündigt er noch an, dann sammeln die Studenten ihre Bücher ein und gehen. Lächelnd kommt Spencer auf mich zu. »Was verschafft mir die Ehre?«

»Es ist Mittwoch«, rufe ich ihm in Erinnerung. »Mittwochs essen wir doch immer zusammen zu Mittag.« Wie zum Beweis hole ich den Korb mit unserem Lunch hinter meinem Rücken hervor.

Ein kleines V bildet sich auf Spencers Stirn. »Ach, Cissy, so ein Pech, Harry Perkins hat mich für heute Nachmittag zu einer Unterredung gebeten. Ich habe gar keine Zeit.«

»Ist nicht schlimm«, sage ich.

»Brav.«

»Spencer?«, rufe ich ihm nach. »Soll ich warten?« Aber er hört mich nicht oder will mich nicht hören. Mit einem Seufzer stelle ich den Picknickkorb ab.

»Mrs. Pike?«

Ertappt fahre ich herum und sehe Abigail Alcott. Sie ist Ende zwanzig und Sozialarbeiterin beim Wohlfahrtsamt. Sie trägt einen modischen marineblauen Rock und eine plissierte weiße Bluse. In letzter Zeit hat sie sich öfter mit Spencer getroffen, um mit ihm die Unterlagen von der Erhebung durchzugehen, die sie bei ihrer Arbeit verwendet. Sie soll abschätzen, welche von den minderwertigen Familien noch zu bessern sind und welche von dem neuen Sterilisationsgesetz profitieren werden.

»Hallo, Abigail«, sage ich, so selbstsicher ich kann, denn sie ist älter als ich und hat eine richtige Ausbildung, nicht bloß zwei Jahre in einem Mädchenpensionat.

»Ist der Professor da?« Sie blickt auf ihre Armbanduhr. »Wir wollten heute Nachmittag zusammen nach Waterbury fahren.«

Ich bin also nicht die Einzige, die Spencer versetzt. Ich würde gern wissen, was sie in der Nervenanstalt machen wollen. Bei diesem Thema haben sie mich nie ernst genommen – ich verstehe längst nicht so viel von Eugenik wie mein Vater oder mein Mann.

Die süße Welle der Auflehnung erfasst mich.

»Hat er Sie denn nicht über sein Treffen mit Professor Perkins informiert?« So weit ist es noch keine Lüge. »Spencer wollte Ihnen eine Nachricht schicken … aber er hat ja immer so viel zu tun … Jedenfalls soll ich an seiner Stelle mit Ihnen nach Waterbury fahren.«

Abigail starrt mich an, aber sie ist zu höflich, um zu sagen, was sie denkt: Dass ich keine ausgebildete Sozialarbeiterin bin, dass ich noch lange keine Eugenikexpertin bin, bloß weil mein Vater und mein Mann es sind. Ihre Augen wandern zu meinem schwangeren Bauch. »Spencer ist ganz sicher, dass kein Risiko besteht«, füge ich hinzu.

Das ist entscheidend. Abigail würde sich lieber den rechten Arm abhacken, als Spencers Urteilsvermögen infrage zu stellen. Sie sieht mich prüfend an, nickt schließlich. »Also dann«, sagt sie, »fahren wir.«


Vermont braucht eine systematische psychiatrische Erhebung, die jeden vorkommenden psychischen Defekt innerhalb unserer Grenzen erfasst, sowie Einrichtungen, die sämtliche abhängigen und kriminellen Individuen einer gründlichen psychiatrischen Untersuchung unterziehen.

Kinderhilfswerk, Vermont: Zweiter Jahresbericht, 1921


Die Nervenheilanstalt in Waterbury wurde 1890 erbaut. Dr. Stanley, der Leiter, war einmal bei uns zum Dinner, nachdem er sich 1927 für das Sterilisationsgesetz eingesetzt hatte, das dann doch nicht verabschiedet wurde. Ich war damals dreizehn, und ich erinnere mich noch an den Schweißrand an seinem Kragen, daran, dass er keinen Rosenkohl mochte und dass er mir zu nahe kam, während er Konversation betrieb.

»Man sollte meinen, dass die meisten Patienten in Waterbury an Chorea Huntington leiden, da es eine vererbbare Nervenkrankheit ist«, sagt Abigail, als wir den Weg vom Parkplatz hinaufgehen. Jetzt, da sie sich in den Kopf gesetzt hat, mir alles beizubringen, was ich bislang verpasst habe, ist sie gesprächig, fast freundlich. »Aber wie sich herausgestellt hat, sind hier auch jede Menge Zigeuner.«

Wir haben die Tür zum Gebäude A erreicht, die neue Station, auf der viele Patientinnen untergebracht sind. Abigail blickt mich mit leuchtenden Augen an. »Wie ist das, neben einem Mann aufzuwachen, der so ein … Visionär ist?«, fragt sie, und dann wird ihr Gesicht so rot wie die Backsteine des Gebäudes.

Plötzlich öffnet sich die Tür der Anstalt, und wir werden hineingesogen, denn die Hölle ist ein Vakuum. Pflegeschwestern mit weißen Hauben bewegen sich lautlos in den Gängen. Eine Patientin steht am Empfangsschalter und schluchzt haltlos. Eine andere läuft mit nassem Haar nackt über den Flur. Ein Mädchen, kaum älter als Ruby, sitzt auf einer Bank. Sie trägt eine Jacke, mit der ihre Arme an die Holzlatten hinter ihr gefesselt sind. Unter der Bank ist eine Lache.

»Miss Alcott!« Dr. Stanley kommt in einem blütenweißen Kittel auf uns zu.

»Cissy? Cissy! Sie sind ja richtig erwachsen geworden.« Er registriert meinen gewölbten Leib. »Und rundlicher, wie ich sehe. Offenbar darf ich Ihnen gratulieren.«

»Danke.«

»Mrs. Pike vertritt heute den Professor«, erklärt Abigail.

Dr. Stanley verbirgt seine Überraschung gut. »Ausgezeichnet. Wenn Sie mir bitte folgen würden.« Er geht den Flur hinunter. Ich kann mich jedoch nicht von dem leeren Blick des Mädchens auf der Bank losreißen.

»Mrs. Pike!«, ruft Abigail eindringlich, und ich zwinge mich hinterherzugehen.

Dr. Stanley, der eine Gelegenheit sieht, Spencer mit meiner Hilfe zu beeindrucken, macht einen ausführlichen Rundgang mit uns. An manchen Stellen drängen sich so viele Insassen auf den Fluren, dass wir im Gänsemarsch gehen müssen. »Unser Antrag auf einen Erweiterungsbau ist endlich bewilligt worden. Sie sehen ja, wir platzen aus allen Nähten.«

»Wie viele Patienten haben Sie?«, fragt Abigail.

»Neunhundertsiebenundneunzig«, sagt Stanley.

Der Doktor deutet auf eine offene Tür, die in einen großen sonnigen Raum führt, in dem es von Patienten wimmelt. »Ich halte viel von handwerklicher Arbeit. Müßiggang ist aller Laster Anfang.« Frauen sitzen an Tischen und flechten Körbe oder setzen Wäscheklammern zusammen. Sie blicken zu mir hoch und sehen eine reiche Lady in modischer Umstandskleidung. Sie merken nicht, dass ich eine von ihnen bin.

»Wir verkaufen die Erzeugnisse«, sagt Stanley stolz. »Der Erlös wird für die Freizeitgestaltung der Patienten verwendet.«

Dr. Stanley führt uns weiter den Gang hinunter bis zu einer geschlossenen Tür. »Leider sind nicht alle unsere Patienten kooperativ«, sagt Dr. Stanley. Er sieht mich an. »Ich weiß nicht, ob eine Frau in Ihrem Zustand sich das wirklich …«

»Mir geht es gut.« Zum Beweis öffne ich selbst die Tür.

Und bereue es sofort.

Zwei kräftige Männer stehen rechts und links von einer Wanne voll Wasser und haben die Hände auf die Schultern einer nackten Frau gelegt. Bevor sie untertaucht, sehe ich noch, dass ihre Lippen blau und ihre Brüste eingefallen sind. Über ihrem Kopf strömt Wasser aus einem Kran. Daneben liegt eine andere Frau mit dem Gesicht nach unten auf einem Tisch. Ein Laken bedeckt ihren Oberkörper. Eine Krankenschwester pumpt durch einen Schlauch Wasser in den After der Patientin. »Hydrotherapie und Darmspülung wirken bei aufsässigen Patientinnen Wunder«, sagt Stanley. »Aber ich möchte Ihnen heute etwas anderes zeigen. Meine Damen, ich bin stolz, Ihnen die erste Patientin präsentieren zu können, die in unserer Anstalt freiwillig eine Sterilisation hat vornehmen lassen. Sie ist gleich hier.« Er führt uns in den hinteren Bereich des Raumes. »Die Salpingektomie wurde durchgeführt, als sie wegen einer Magen-Darm-Erkrankung auf die Krankenstation kam. Sie stammt aus einer der ersten zehn Familien, die in der Erhebung untersucht wurden, einer Familie, in der es seit Generationen Fälle von Depressionen und destruktiven Verhaltensauffälligkeiten gibt. Dr. Kastler und ich haben die beiden erforderlichen Unterschriften geleistet.«

Wir bleiben vor einem Tisch stehen, neben dem ein Assistent sitzt, der einen genauso weißen Kittel trägt wie Dr. Stanley. Auf dem Tisch liegt eine zitternde Frau. »Ihr Zustand ist gut«, sagt der Psychiater begeistert. »Die ganze Aufregung …«, er winkt ab, »hat nichts mit dem Eingriff zu tun.« Der Assistent wickelt kalte, nasse Tücher um die Patientin, während sie mit den Zähnen klappert. »Feuchte Umschläge sind bei schwierigen Fällen oft ausgesprochen wirkungsvoll«, sagt Dr. Stanley.

»Was hat sie getan?«, höre ich mich fragen.

»Versuchter Selbstmord. Zum dritten Mal.«

Jetzt erst fallen mir ihre Hände auf, die verbundenen Gelenke. Nur durch die Gnade Gottes bin ich verschont. Wenn mein Vater nicht Harry Beaumont wäre, wenn mein Ehemann nicht Pike wäre, läge ich dann jetzt dort auf dem Tisch?

»Ich … entschuldigen Sie …« Ich drehe mich von Dr. Stanley weg, gehe durch den Raum und hinaus auf den Gang. Ich haste an dem überfüllten Aufenthaltsraum vorbei, an dem Mädchen, das an die Bank gefesselt ist. Als ich um eine Ecke stürme, pralle ich gegen eine Patientin. Sie ist groß und dunkel, hat das Haar zu fettigen Zöpfen geflochten. Ihre Arme sind von der Schulter bis zum Handgelenk zerkratzt. »Dir nehmen Sie auch noch dein Baby weg«, sagt sie.

Ich lege schützend die Arme vor den Bauch. Als sie die Hand hebt und mich berühren will, wende ich mich um und fliehe ins Freie. Ich hole tief Luft und setze mich auf die Steinstufen. Nach wenigen Augenblicken ziehe ich den Ärmel meiner Bluse hoch und löse den Verband. Der Schnitt sieht aus wie ein halb geöffneter Mund in der Haut.

So findet Abigail mich, als sie fünfzehn Minuten später herauskommt. Ich kann ihr nicht in die Augen sehen, weil ich mich schäme. Sie setzt sich neben mich. Ich sehe, dass sie die Wunde registriert, aber sie sagt nichts dazu. »Als ich das erste Mal hier war«, gesteht Abigail, »bin ich zurück ins Büro gefahren, habe meine Kündigung geschrieben und meinem Chef gesagt, dass ich nicht robust genug bin, um als Sozialarbeiterin zu arbeiten. Wissen Sie, was er mir gesagt hat? Genau deshalb müssen Sie es machen. Damit es eines Tages immer weniger Menschen gibt, die leiden müssen.«

Wenn man es so betrachtet, ergibt es sogar Sinn. Man muss heute tun, was man kann, um die Welt von morgen zu ändern. Und ich frage mich, ob jemand die Patientin gefragt hat, warum sie nicht mehr leben wollte, ob es irgendetwas damit zu tun hat, dass sie keine Babys mehr bekommen kann.

»Sie haben nicht aufgegeben«, sage ich.

Abigail schüttelt den Kopf. »Und Sie werden auch nicht aufgeben«, sagt sie nicht unfreundlich, als sie mir den Ärmel herunterzieht. »Morgen früh, acht Uhr. Kommen Sie in mein Büro an der Church Street.«


Frage:

Warum Sterilisation?


Antwort:

Um die Rasse von denjenigen zu reinigen, bei denen die Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie die dysgenischen Neigungen weitergeben werden, unter denen sie selbst leiden. Um die Notwendigkeit aller möglichen Wohlfahrtsmaßnahmen zu verringern. Um Steuern zu senken. Um Leid und Elend zu mildern. Um das zu tun, was die Natur unter natürlichen Bedingungen auch tun würde, aber humaner. Sterilisation ist keine Strafmaßnahme. Sie hat lediglich eine Schutzfunktion.


American Eugenics Society,

Ein eugenischer Katechismus, 1926


Als ich nach Hause fahre, steht die Sonne schon tief am Horizont. Ich freue mich jetzt schon so sehr auf morgen.

Ich parke den Wagen und steige die Verandastufen empor. Kurz vor der Tür stoße ich mit dem Fuß gegen etwas Kleines, Leichtes. Ich blicke nach unten und sehe ein winziges Körbchen, nicht größer als meine Faust, ein richtiges kleines Kunstwerk.

Ich schiebe es in die Tasche meines Kleides und gehe ins Haus. »Cissy?« Spencers Stimme zieht mich an wie ein Magnet. Er steht in der offenen Tür seines Arbeitszimmers, seinen abendlichen Scotch in der Hand. »Da komme ich von der Universität nach Hause geeilt, um meine hübsche Frau um Verzeihung zu bitten, weil ich sie mittags versetzt habe, und sie hat mich schon verlassen.«

»Nur vorübergehend«, sage ich und küsse ihn auf die Wange.

»Und was hat dich in eine so gute Stimmung versetzt?«

Ich sehe Ruby, die reglos im Hintergrund steht. »Die Kinderhilfe«, lüge ich. »Wir hatten ein Treffen.«

Rubys Augen wenden sich ab. Ich hätte es ihr gesagt, wenn ich zu einem Treffen gefahren wäre.

»Alles«, sage ich, »sieht gut aus.«

Ruby folgt mir ins Schlafzimmer und fängt an, mein Kleid aufzuknöpfen. »Ich weiß, was du denkst«, sage ich. Doch sie erwidert nichts, zieht mir das Kleid aus und reicht mir ein bequemeres aus Baumwolle, das ich zum Abendessen tragen werde. Sie macht es zu und hängt dann das andere Kleid auf einen Bügel. Das Körbchen fällt heraus.

Ich hebe es auf und lege es in die Nachttischschublade. Ihre Neugier ist geweckt, das sehe ich ihr an, doch ich tue so, als würde ich es nicht bemerken. Ich schulde ihr keine Erklärung. Und im Augenblick bin ich zu aufgeregt wegen morgen, um mir Gedanken zu machen, was passieren könnte, wenn Spencer herausfindet, wo ich heute war.


Die von uns durchgeführten Stammbaumanalysen von Familien, die Staat und Kommunen zur Last fallen, haben ergeben, dass eine recht hohe Anzahl der untersuchten Fälle französische und indianische Vorfahren, bisweilen mit einer negriden Vermischung, aufzuweisen haben.

H. F. Perkins, »Projekt Nr. 1« Archiv zur EEV, 1926


Oxbury ist eine kleine Ortschaft am Ufer des Lake Champlain, die Abigail Alcott in ihrem Bericht in Fleetville umbenannt hat, um Unbeteiligte zu schützen. »Den Stammbaum für diese einzelne Familie zu erstellen«, so erklärt Abigail mir, als wir auf das Zigeunerlager zugehen, »war ungemein aufwendig, genauso gut hätte man die Herkunft der Frösche im Fluss ermitteln können.«

Nachdem die Feldforscher entschieden hatten, welche Familien untersucht werden sollten, stellten sie fest, ob irgendwelche Angehörigen in den Akten von Waterbury sowie des Staatsgefängnisses, der Besserungsanstalt von Vermont und der Schule für Geistesschwache in Brandon vermerkt waren. Gespräche mit Lehrern, Geistlichen, Nachbarn und sogar entfernten Verwandten, denen es gelungen war, sich aus dem kriminellen Teufelskreis ihrer Sippe zu befreien, ergänzten die Ergebnisse, die dann in einem Abschlussbericht zusammengefasst wurden.

Abigail hat mir erlaubt, die Notizen zu lesen, die sie sich bei etlichen Besuchen gemacht hat: Die Delacours, eine Mischung aus frankokanadischem und indianischem Blut, sind aus der Verbindung von Kusine und Vetter ersten Grades hervorgegangen. Die beiden heirateten katholisch und hatten siebzehn Kinder, von denen zehn schwachsinnig waren und drei keinerlei Gefühl für »geschlechtlichen Anstand« besaßen, wie Abigail es ausdrückt. In den nachfolgenden Generationen traten vermehrt Alkoholiker, Kriminelle und Arme auf. Mitglieder mehrerer Familien lebten zusammen in einer kleinen Hütte. In den letzten sechs Jahren waren Angehörige von Hinesburg über Cornwall, Burlington und Waybridge nach Plattsburgh gezogen, kehrten aber im Sommer stets nach Fleetville zurück, wo sie die Handwerkserzeugnisse verkauften, die sie den Winter über hergestellt hatten, und fischten. Der Hauptdefekt der Gruppe war Schwachsinnigkeit, doch die Neigung zu Kriminalität, Abhängigkeit und nomadischer Lebensform war unübersehbar.

In ihren Unterlagen bezeichnet Abigail die Delacours als Moutons – der Name ihres Pudels, wie sie mir verrät. Die Familien müssen unbedingt anonym bleiben. »Sie glauben ja nicht, wie leicht man an Informationen kommt«, sagt Abigail. »In jedem Ort gibt es mindestens eine Familie, bei der es heißt: ›Ach, die.‹«

Aber was nützen die Pseudonyme, wenn doch sowieso jeder die Leute kennt.

Als wir ins Lager kommen, merke ich sofort, dass Abigail schon öfter hier war. Barfüßige Kinder laufen auf sie zu, und sie holt Bonbons für sie aus ihren Rocktaschen. »Wissen sie, warum wir hier sind?«, frage ich leise.

Sie lächelt. »Sie wissen, dass ich mich für ihr Leben interessiere. Das sind sie von Leuten, die so aussehen wie ich, nicht gewohnt. Und genau deshalb reden sie.«

Wir bleiben vor einer Hütte stehen, und da keine Tür vorhanden ist, klopft Abigail an den Pfosten. »Jeanne weiß, dass wir kommen«, sagt sie, und da wird auch schon das Tuch vor dem Eingang gelüftet. Eine kleine Frau, kaum älter als Abigail, winkt uns unsicher herein, fordert uns auf, an einem Tisch Platz zu nehmen.

Die Hütte besteht aus einem einzigen Raum. Ein Eimer neben der Tür ist mit frischem Wasser gefüllt, und auf einer Arbeitsplatte türmen sich schmutzige Teller und Tassen.

»Jeanne«, sagt Abigail und bringt ein Lächeln zustande, das ihre Augen nicht erreicht, »ich freue mich, Sie kennenzulernen. Das hier ist Mrs. Pike.«

Jeannes Augen wandern nicht höher als bis zu meinem Bauch. »Ihr erstes?«

»Ja.«

»Ich habe auch ein Kind«, sagt Jeanne mit Inbrunst. »Einen Jungen.«

»Ja«, antwortet Abigail. »Ihre Tante Louise hat mir viel von Norman erzählt.«

»Oho«, entgegnet Jeanne und wackelt mit dem Kopf. »Er war ihr Liebling. Sie hat ihn immer mitgenommen, wenn sie im Wald Pflanzen sammeln gegangen ist – Wacholder und Schwarzkiefer und Blutwurz.« Über Abigails Schulter hinweg sehe ich, was sie notiert. Bubikopf – Rock mit Sicherheitsnadeln befestigt. Strümpfe bis unter Knie gerollt. Wirkt bekümmert.

»Jeannes Sohn ist in der Schule für Geistesschwache in Brandon«, erklärt Abigail mir. »Man sagt mir, Sie haben einen Brief von ihm bekommen, Jeanne.«

Das zumindest scheint sie aufzumuntern. Als sie aufspringt, um ihn zu holen, beugt Abigail sich zu mir. »Der Staat hat ihr den Jungen weggenommen. Als die Sozialarbeiter kamen, hockte er hier und aß rohes Fleisch. Rohes Fleisch!«

Einen Moment später ist Jeanne wieder da und hält stolz den Brief hoch. »Wie alt ist Norman jetzt?«, erkundigt sich Abigail.

»Im Oktober wird er zehn.«

»Lesen Sie mir vor, was er geschrieben hat?«

Jeanne zaudert, aber nur kurz. Stockend arbeitet sie sich durch die unleserliche Schrift des Jungen, berichtigt sich ständig. Große Schwierigkeiten mit Lesen und Schreiben, notiert Abigail. Mutter und Sohn. Zu Jeanne sagt sie: »Das klingt ja nach einem gelehrigen Schüler!«

Jeannes Augen werden weicher, weil sie meint, in Abigail eine Freundin gefunden zu haben. »Missus Alcott, Sie arbeiten doch für die Behörden … können Sie da nicht mal fragen, wann Norman wieder nach Hause darf?«

»Ich darf mich entschuldigen«, sage ich. »Ich möchte etwas an die frische Luft.«

Draußen fällt mir ein Mann auf, der mit dem Rücken zu mir am Seeufer steht und angelt. Rhythmisch und anmutig wirft er die Leine aus und holt sie wieder ein, als vollführe er einen kunstvollen Tanz. Er trägt eine Hose mit Hosenträgern, und sein schwarzes Haar fällt ihm weit über den Rücken.

Zeigen Sie Interesse an dem, was sie tun, das war Abigails erste Faustregel. »Hallo.« Ich gehe nahe ans Wasser heran, doch er wendet sich mir noch immer nicht zu. »Ich sehe, Sie angeln.«

Toll, Lia, denke ich.

Er dreht sich um und löst einen gut dreißig Zentimeter langen Fisch vom Haken. Ich erkenne, dass es der Mann ist, der mich am Unabhängigkeitstag beobachtet hat. Seine Augen weiten sich und gleiten über mein Gesicht, als hätte er noch nie jemanden wie mich gesehen. Hat er vielleicht auch nicht.

»Hallo«, sage ich erneut, fest entschlossen, möglichst freundlich zu sein. »Ich bin Cissy Pike.« Ich strecke meine Hand aus.

Er starrt sie lange an. Dann packt er sie unversehens. »N’wibgwigid Môlsem«, murmelt er und übersetzt dann: »Ich heiße Gray Wolf.«

»Sie sprechen unsere Sprache!«

»Besser als Sie Alnôbak«, entgegnet er.

Er hat meine Hand nicht losgelassen. Sachte ziehe ich sie weg, räuspere mich und erkundige mich höflich: »Wohnen Sie hier?«

»Ich wohne überall.«

»Sie haben doch bestimmt ein Haus?«

»Ich habe ein Zelt.« Er fesselt meinen Blick, genau wie in dem Spiegelkabinett. »Ich brauche nicht viel.«

»Ich habe Sie gesehen«, höre ich mich plötzlich sagen. »Am vierten Juli. Sie sind mir gefolgt.«

»Und heute folgen Sie mir?«, fragt er.

»Oh, nein. Ich wusste nicht mal, dass Sie hier … nein, ich begleite Abigail Alcott.«

Seine Miene verfinstert sich. Er dreht mir den Rücken zu und fängt an, sein Angelzeug einzupacken. »Dann sind Sie gekommen, um noch mehr von unseren Jungs in die Besserungsanstalt zu bringen? Oder um uns zu erklären, dass wir in der Hölle landen werden, weil wir in einer anderen Kirche beten?«

Ich bin sprachlos. »Sie kennen mich doch gar nicht.«

Ein Schatten huscht über sein Gesicht. »Sie haben recht«, gesteht er. »Ich kenne Sie nicht.«

»Vielleicht bin ich nicht wie Abigail.«

Wir stehen dicht voreinander. »Und vielleicht bin ich nicht irgendein Zigeuner«, erwidert er.

Worte haben eine Wand zwischen uns errichtet, und ich will sie wieder entfernen, Stein für Stein. Also zeige ich aufs Wasser. »Wie nennen Sie das?«

»Einen See.«

»Nein, ich meine, wie nennen Sie das?«

Er mustert mich aufmerksam. »Pitawbagw

»Pitawbagw.« Ich zeige auf die Sonne. »Und das?«

»Kisos.« Ich bücke mich und hebe eine Handvoll Erde auf. »Ki.« Gray Wolf streckt die Hand aus und hilft mir wieder hoch. Behutsam berührt er meinen Bauch. »Chijis. Baby.«

»Mrs. Pike!«

Aus der Ferne höre ich Abigail nach mir rufen. »Hört sich ganz so an, als müssten Sie wieder fahren«, sagt Gray Wolf.

»Ja …« Ich schirme meine Augen gegen die Sonne ab, halte nach Abigail Ausschau, kann sie aber nirgends sehen.

»Gehen Sie lieber. Sie wollen doch nicht hier übernachten.«

»Nein«, gebe ich zu. »Was heißt, ich komme wieder?«

»N’pedgiji

»Also dann. N’pegdiji

Er prustet los. »Sie haben gerade gesagt, dass Sie eine Gurke sind.«

Ich erröte. »Danke für den Sprachunterricht, Mr. Wolf.«

»Wli nanawalmezi, Lia. Pass gut auf dich auf.«

Ich haste den Hang hinauf. Auf der Rückfahrt erzählt mir Abigail irgendwelche Geschichten von immer wieder auftauchenden Geschlechtskrankheiten bei den Delacours. »Haben Sie irgendwas Interessantes herausgefunden?«, fragt sie schließlich.

Wie man ihre Sprache spricht. Und vielleicht, wie man zuhört. »Nichts, was Sie wichtig finden würden.«


John Delacour, auch Gray Wolf genannt, besitzt eine besonders traurige Berühmtheit. Er neigt zu Trunksucht, sexuellen Übergriffen, Landstreicherei und Kriminalität und hat seinen Namen mehrfach geändert. 1913 wurde er verhaftet, weil er einem Mann mit einem Ziegelstein den Schädel eingeschlagen hat. 1914 wurde er wegen Mordes zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Etliche Verwandte von ihm erwähnen seine unehelichen Kinder. John ist ein notorischer Lügner und sehr gerissen. Aus diesem Grund ist es absolut unmöglich, ihm die Wahrheit zu entlocken.

Aus den Akten von Abigail Alcott,

Sozialarbeiterin beim Wohlfahrtsamt


Als ich nach Hause komme, erwartet Ruby mich schon an der Tür, und Spencer steht einen Schritt hinter ihr. »Was zum Teufel denkst du dir eigentlich?«, brüllt er und knallt die Tür hinter mir zu. Er packt mich am Arm.

»Ich kann das erklären …«

»Tu das, Cissy. Erklär mir, wieso meine Sekretärin mich anruft und mir sagt, dass du dich im Büro mit Abigail Alcott getroffen hast. Erklär mir, wieso meine Frau, die im siebten Monat schwanger ist, eine Nervenanstalt besucht, wo sie ernsthaft verletzt werden könnte. Und wieso du dich, Himmelherrgott, in irgendeinem Zigeunerlager rumtreibst …«

»Es ist nicht irgendein Zigeunerlager, Spencer, und mir geht’s gut.« Ich versuche, mich von ihm zu lösen, aber er lässt nicht los. »Ich wollte einfach sehen, was dich und meinen Vater so fasziniert. Ist das falsch?«

»In deinem Zustand solltest du nicht …«

»Spencer, ich bin schwanger, nicht schwachsinnig.«

»Ach ja?« Spencer tobt. »Verdammt noch mal, Cissy, wie soll ich mich denn auf dein Urteilsvermögen verlassen, wenn du in der einen Nacht versuchst, dich umzubringen, und am nächsten Tag heimlich eine Irrenanstalt aufsuchst? Abigail ist für ihre Arbeit ausgebildet, du nicht. Und von jetzt an bleibst du in diesem Haus!«

»Das kannst du nicht machen.«

»Nein?« Spencer zerrt mich die Treppe hoch in unser Schlafzimmer. »Es ist nur zu deinem Besten.«

In mir rührt sich das Baby. »Es tut mir leid«, flüstere ich, doch die einzige Antwort ist das Geräusch des Schlüssels, der sich im Schloss dreht.


Mitten in der Nacht öffnet sich die Tür. Selbst auf die Entfernung kann ich Spencers Alkoholfahne riechen. Er schlüpft ins Bett und schmiegt sich an meinen Rücken. »Gott, ich liebe dich«, sagt er, und seine Worte legen sich wie Dampf auf meine Haut.

In den Flitterwochen sind Spencer und ich zu den Niagarafällen gefahren. Einmal übernachteten wir im Zelt und liebten uns unter dem dunklen Himmel. Das Wasser rauschte wie mein Blut, und als er sich in mir bewegte, hätte ich schwören können, dass die Sterne sich zu unseren Initialen verbanden.

Jetzt schiebt Spencer mein Nachthemd hoch, dringt zwischen meine Schenkel. Wir weinen beide, wollen uns aber nichts anmerken lassen. Als Spencer in mir kommt, drückt er sein nasses Gesicht gegen meine Wirbelsäule, und ich stelle mir vor, dass seine Züge dort eingebrannt sind, wie eine Totenmaske, die mich immer überallhin begleiten wird. Er schläft ein, die Arme um meine ausladende Mitte gelegt, und seine Hände berühren sich nicht ganz, als könnte er mich nicht mehr fassen.


Blut regnet aus Gewitterwolken. Rosen erblühen um Mitternacht. Wasser kocht nicht, der Himmel hat die falsche Farbe. Und während ich durch diese fremde Welt gehe, ist der Boden unter meinen Füßen gefroren.

»Cissy. Cissy!«

Hände auf meinen Schultern. Atem an meinem Hals. »Spencer?«, sage ich mit rauer, schläfriger Stimme.

Allmählich nehme ich die Eulen als stumme Zeugen in den Bäumen wahr, den Schlamm an meinen Fersen und am Saum des Nachthemds, die schwüle Sommernacht. Ich bin im Wald hinter unserem Haus, und ich habe keine Ahnung, wie ich hierhergekommen bin.

»Du bist schlafgewandelt«, erklärt Spencer.

Schlafwandeln, ja, das muss es gewesen sein. Und doch, dieser andere Ort, den ich besucht habe … Spencer umarmt mich, seufzt. »Cissy, ich will doch nur, dass du glücklich bist.«

Leises Schluchzen steigt mir in die Kehle. »Ich weiß.«

Und ich bin eine Versagerin, schließlich habe ich so viel – ein schönes Zuhause, eine gesunde Schwangerschaft, einen Mann wie Spencer –, und trotzdem habe ich das Gefühl, dass mir etwas fehlt. »Ich liebe dich«, sagt mein Mann. »Ich habe noch keinen Menschen so geliebt wie dich.«

»Ich liebe dich auch«, sage ich zu ihm. Ich wünschte nur, es wäre so einfach.

»Lass uns wieder schlafen gehen«, schlägt Spencer vor, »und das alles vergessen.«

Erst als ich im Badezimmer bin und mir den Schmutz vom Gesicht waschen will, merke ich, dass ich etwas in der linken Hand halte. Ich öffne meine Faust wie eine Blume: Weich und geschmeidig und honigfarben liegt da ein winziges Paar Mokassins.

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