ZWEI


Für eine Achtjährige wusste Lucy Oliver ziemlich viel. Sie konnte die Hauptstädte aller US-Staaten aufzählen. Sie konnte erklären, wodurch eine Gewitterwolke entstand. Sie konnte RHYTHMUS vorwärts und rückwärts buchstabieren. Sie wusste auch noch andere Sachen, wichtigere, die man nicht in der Schule lernte. Zum Beispiel wusste sie, dass ihre Urgroßmutter, als sie vor einem Monat vom Arzt kam, kleine weiße Pillen dabeihatte, die sie jetzt in ihrem Schrank in einem orthopädischen Schuh versteckte. Sie wusste, dass etwas, das man nicht verstand, selbst dem klügsten Menschen auf der Welt Angst einjagen konnte.

Lucy wusste auch, ja, sie war felsenfest davon überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis einer von denen sie erwischte.

Von Nacht zu Nacht veränderten sie die Gestalt. Manchmal waren sie die beweglichen Formen des Musters auf ihren Vorhängen. Manchmal waren sie die kalte Stelle auf dem Boden, wenn Lucy über die breiten Holzdielen zu ihrem Bett rannte. Manchmal waren sie ein Geruch, der Lucy von Laub und Dunkelheit und Kadavern träumen ließ.

Heute Nacht tat sie, als wäre sie eine Schildkröte. Nichts vermochte diesen harten Panzer zu durchdringen. Nicht einmal das Wesen, das genau in dieser Sekunde in ihrem Schrank atmete. Doch selbst mit weit geöffneten Augen konnte Lucy sehen, wie die Nacht sich veränderte. An manchen Stellen wurde sie deutlicher, an anderen wich sie zurück … bis Lucy schließlich in das durchsichtige Gesicht einer Frau starrte, das so traurig aussah, dass Lucy Magenschmerzen bekam.

Ich werde dich finden, sagte die Frau mitten in Lucys Kopf.

Sie unterdrückte einen Schrei, weil der ihre Urgroßmutter geweckt hätte, und riss sich die Decke über den Kopf. Ihre schmale Brust pumpte wie ein Kolben. Ihr Atem rasselte. Wenn diese Frau sie überall finden konnte, wo sollte Lucy sich dann verstecken? Würde ihre Mutter wissen, dass sie geraubt worden war, wenn sie die Delle sah, die Lucys Körper in der Matratze hinterlassen hatte?

Sie schob eine Hand unter der Decke hervor, griff nach dem Telefon, das sie auf ihren Nachttisch gelegt hatte, und drückte die Taste, die automatisch das Labor ihrer Mutter anwählte.

»Ach, Lucy«, seufzte ihre Mutter in das Schweigen hinein. »Was ist denn jetzt wieder?«

»Die Luft«, flüsterte Lucy und hasste ihre Stimme. »Die ist so schwer.«

»Hast du deinen Inhalator benutzt?«

Natürlich. Lucy war alt genug, um zu wissen, was sie tun musste, wenn sie einen Asthmaanfall bekam. Aber das meinte sie nicht mit schwer. »Sie erdrückt mich.« Da, es war noch schlimmer geworden. Lucy lag unter dem Gewicht der Nacht, versuchte in ganz kurzen Zügen zu atmen, damit der Sauerstoff im Zimmer länger hielt.

»Schätzchen.« Der Ton ihrer Mutter erinnerte Lucy an kalte Reagenzgläser und meilenlange, weiße Arbeitsplatten. »Du weißt doch, dass Luft ihr Gewicht nicht verändern kann. Das bildest du dir nur ein.«

»Aber …« Lucy rückte weiter von dem Schrank weg, weil sie spürte, dass die Frau sie beobachtete. »Mom, ich erfinde das nicht.«

Es entstand eine kurze Pause, dann verlor ihre Mutter die Geduld. »Lucy. Es gibt keine Gespenster oder Kobolde oder Dämonen oder … oder unsichtbare Monster, die die Luft zusammenpressen. Schlaf weiter

Lucy hielt den Hörer noch eine ganze Weile in der Hand, nachdem ihre Mutter aufgelegt hatte. Ihre Mutter hatte recht. Der vernünftige Teil in ihrem Kopf wusste, dass nichts in ihrem Zimmer darauf aus war, sie zu holen. Aber dennoch, als Meredith Oliver Stunden später nach Hause kam, fand sie ihre Tochter schlafend in der mit Kissen und Decken ausgepolsterten Badewanne vor. Das Licht im Bad brannte taghell.


Ross sah zu, wie sein Neffe erneut der Schwerkraft ein Schnippchen schlug, denn das Skateboard hing unter seinen Füßen in der Luft. »Das ist ein Fifty/Fifty«, erklärte Ethan ihm mit vor Anstrengung geröteten Wangen.

»Hast du das Brett auch wirklich nicht mit Angelschnur an die Schuhe gebunden?«

Ethan grinste und sauste wieder auf seine Holzrampe zu, dann drehte er ab und kam zu Ross zurück. »Onkel Ross«, sagte er. »Ich find’s superstark, dass du hier bist.«

Auf der Decke neben Ross rupfte Shelby Grashalme aus. »Das ist so ziemlich die höchste Anerkennung, die du kriegen konntest.«

»Dachte ich mir.« Ross streckte sich aus, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Eine Sternschnuppe jagte quer durch sein Gesichtsfeld, zog eine Silberspur hinter sich her. »Er ist ein prima Junge, Shel.«

Ihre Augen folgten Ethan. »Oh ja.«

Ethan donnerte die Rampe hinunter. »Prima genug, um mit dir auf Geisterjagd zu gehen?«, rief er über die Schulter.

»Wer hat dir denn gesagt, dass ich Geister jage?«

»Ich hab so meine Quellen.« Ethan kippte das Skateboard und sprang gleichzeitig hoch, sodass es aussah, als würde es in seine Hand hochgezogen. »Ich bin schnell, siehst du? Und ich werde nachts nicht müde … und ich kann ganz leise sein …«

»Das kann ich mir gut vorstellen«, lachte Ross.

»Nein, im Ernst, Onkel Ross, warum willst du mich nicht mitnehmen?«

»Mal überlegen. Weil deine Mutter mich teeren und federn würde. Und weil ich mich zur Ruhe gesetzt habe.«

»Zur Ruhe gesetzt? Heißt das, du hast keine Lust mehr dazu?«

»Kann man so sagen.«

»Mensch, das ist aber voll blöd.«

»Ethan.« Shelby schüttelte warnend den Kopf.

»Jetzt bist du bloß ein ganz normaler Verwandter«, murmelte der Junge.

Ross sah ihm nach. »War das eine Beleidigung?«

Shelby antwortete nicht, musterte Ross stattdessen aufmerksam. »Sag mal, geht’s dir gut?«

»Ja.« Er lächelte sie an. »Voll gut.«

»Ich hab mir nämlich Sorgen gemacht, weißt du, weil du dich nicht gemeldet hast. Sechs Monate lang.«

Ross zuckte die Achseln. »Ich war ziemlich viel unterwegs, mit den Warburtons.«

»Ich wusste gar nicht, dass du bei diesen paranormalen Untersuchungen nicht mehr mitmachst.«

»Ich habe es satt, nicht das zu sehen, was ich sehen will.«

»Es ist ein Unterschied, ob man Paläontologe ist und nicht findet, was man sucht, oder ob man Geisterjäger ist und nicht findet, was man sucht«, sagte Shelby. »Ich meine, es gibt schließlich irgendwo Dinosaurierknochen, auch wenn man nicht das Glück hat, an der richtigen Stelle zu graben. Aber Geister …?«

»Ich bin schon in einem Raum gewesen, in dem die Temperatur innerhalb weniger Sekunden um zehn Grad gesunken ist. Ich habe Kirchenchöre auf Band aufgenommen, die aus menschenleeren, verschlossenen Räumen erklangen. Ich habe gesehen, wie Wasserhähne sich von allein aufdrehten. Aber ich habe nie einen Geist vor meinen Augen erscheinen sehen. Menschenskind, vielleicht gibt es ja für all die Dinge eine einleuchtende Erklärung. Vielleicht steckt Gott dahinter, vielleicht irgendwelche Elfen, vielleicht irgendein Technikfreak.«

Shelby schmunzelte. »Sag mal, spricht da derselbe Junge, der noch mit fünfzehn an den Weihnachtsmann geglaubt hat?«

»Ich war zehn«, verbesserte Ross sie. »Und du hast schließlich nicht die Falle auf dem Dach aufgestellt und den Beweis gefunden.«

»Du hast eine Dachpfanne gefunden.«

»Mit einem Rentierhufabdruck.« Ross griff in die Tasche nach seinen Zigaretten, sah dann zu Ethan hinüber und überlegte es sich anders. »Ich hätte schon längst aufhören sollen.«

»Mit dem Rauchen?«

»Mit der Geisterjagd.«

»Wieso hast du’s nicht getan?«

Ross dachte an Curtis Warburton: Unsere Arbeit besteht zu fünfzig Prozent darin, den Leuten genau das zu sagen, was sie hören wollen. Er dachte an Aimees verlorenen Verlobungsring, der über Nacht verschwunden war, obwohl er das Zimmer auf den Kopf gestellt hatte. »Weil Dinge passiert sind, die ich nicht verstehen konnte … und ich dachte, wenn ich nur energisch genug suche, würde ich sie begreifen.«

»Vielleicht hättest du Physiker werden sollen.«

Ross zuckte die Achseln. »Wissenschaft kann nicht alles erklären. Wieso geht man an dreißigtausend Menschen vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und dann kommt jemand, und man weiß, dass man nie wieder die Augen von ihr lassen will?«

»Liebe ist zwar nichts Rationales, Ross, aber sie ist auch nicht paranormal.«

Wer sagt das?, dachte Ross. »Aber es geht doch darum, dass man etwas fühlen kann, auch wenn man es nicht sieht. Und wenn du in einem Fall bereit bist, dich auf dein Gefühl zu verlassen, warum dann nicht auch in einem anderen?« Er stand auf und klopfte seine Jeans ab. »Weißt du, ich war da bei Leuten zu Hause … und ich musste nur bereit sein, ihnen zuzuhören. Das waren nicht bloß Spinner, Shel … da waren Uniprofessoren und Topmanager dabei. Es ist, als gehörte man zu einer besonderen Gruppe Mensch, wenn man einmal einen Geist gesehen hat, und die meisten brennen darauf, Gleichgesinnte zu finden, Leute, die sie nicht für verrückt erklären.«

»Selbst Uniprofessoren und Topmanager können Lügner sein. Oder Spinner«, sagte Shelby.

»Und was ist mit Vierjährigen?« Ross sah seine Schwester an. »Was ist mit dem Kind, das mitten in der Nacht zu seiner Mom gelaufen kommt und sagt, in seinem Zimmer ist ein alter Mann, der will, dass sie aus seiner Werkstatt verschwinden, damit er einen Tisch bauen kann? Und dann findest du heraus, dass vor zweihundert Jahren eine Tischlerwerkstatt auf dem Grundstück stand?«

»Das … ist wirklich passiert?«

Der vierjährige Junge hatte schließlich angefangen, sich auf den Kopf zu schlagen, damit er die Stimme des Geistes nicht mehr hörte. »Tja. Wahrscheinlich können auch Kinder verrückt werden. Eines ist jedenfalls klar: Ich hab damit nichts mehr zu tun.« Aber Ross fragte sich, ob er seine Schwester überzeugen wollte oder sich selbst.

Shelby tätschelte ihm die Schulter. »Wenn irgendwer fähig wäre, konkrete Beweise für die Existenz von Geistern zu finden, dann jedenfalls du.«

Er blickte sie unsicher an, nahm dann sein Portemonnaie aus der Tasche und zog ein Foto heraus.

»Jetzt erzählst du mir gleich, dass das wie ein Mund aussieht und Augen.« Sie blinzelte. »Und eine Hand.«

»Ich hab dir gar nichts erzählt. Du hast das gesagt.«

»Und was ist es nun?«

»Curtis Warburton würde es Ektoplasma nennen. Als ich das Foto gemacht habe, war auf diesem See absolut nichts … kein Nebel, kein Dunst, nichts. Aber das hier tauchte auf dem Negativ auf. Film ist so empfindlich, dass er Licht, Wärme und magnetische Energie aufzeichnet … genau die Quellen, mit deren Hilfe sich Geister materialisieren.« Ross schob das Foto zurück ins Portemonnaie. »Aber vielleicht sind das auch nur irgendwelche Flecken, weil die im Labor was verschüttet haben.«

Er sagte nicht, dass die Luft in dem Moment, als er auf den Auslöser drückte, plötzlich eiskalt geworden war. Er sagte nicht, dass seine Hände den Rest des Tages unentwegt gezittert hatten.

»Als du das Foto gemacht hast, war kein Nebel zu sehen?«, fragte Shelby nach.

»Nein.«

Sie legte die Stirn in Falten. »Wenn ich das Foto in der Zeitung sehen würde, würde ich es für manipuliert halten. Aber …«

»Aber ich bin dein Bruder, also musst du mir trauen?«

Ethan kam donnernd vor ihnen zum Stehen. »Wir haben doch hier den Steinbruch, da soll vor ganz langer Zeit mal einer ermordet worden sein. Und alle sagen, dass es da spukt. Wir könnten doch mal hinfahren und …«

»Nein!«, sagten Ross und Shelby gleichzeitig.

»Manno«, murmelte Ethan und rollte wieder davon.

Ross blickte zum Horizont, wo die blaue Nacht sich allmählich verfärbte. »Müssen wir nicht langsam rein?«

Shelby nickte und fing an, die Überreste des Picknicks einzusammeln. »Und was willst du jetzt machen?«

»UFOs jagen.« Er sah sie an. »War ein Witz.«

»Du könntest doch eine Zeit lang auf Ethan aufpassen, während ich arbeite. Obwohl das vielleicht gruseliger ist als dein letzter Job.«

»Geister sind nicht gruselig«, sagte Ross unwillkürlich. »Es sind einfach Menschen. Na ja, es waren mal welche.«

Shelby, die gerade die Decke zusammenfaltete, hielt inne. »Aber gesehen hast du nie einen?«

»Nein.«

»Obwohl du es wolltest.«

Ross lächelte gequält. »Ich hab auch noch nie einen Zehntausend-Dollarschein gesehen, obwohl ich immer einen sehen wollte.«

Ja, es war richtig, dass er den Job aufgegeben hatte, schließlich hatte er in den neun Monaten nicht das gefunden, wonach er gesucht hatte.

Aber andererseits besaß er ein unerklärliches Foto; womöglich ein Geist, der von der Wärme oder dem Licht oder sogar von den Batterien in seiner Kamera die nötige Kraft bezogen hatte, um sichtbar zu werden. Das fand Ross vollkommen logisch. Schließlich war Aimee seine Energiequelle gewesen. Ohne sie war er selbst kaum mehr als ein Geist, der ungesehen durch sein eigenes Leben glitt.


»Ich fahr den nicht über den Haufen!«, brüllte der Vorarbeiter mit dem dunkelroten Gesicht. Er starrte aus dem Führerhaus des Bulldozers zornig auf Eli hinunter, die Arme über dem ausladenden Bauch verschränkt.

»Mr. Champigny …«

»Winks.« Der Bursche, der ausgestreckt auf dem Boden lag, lächelte zu Eli hoch. »So nennen mich alle.«

Elis Hund sprang heran und stellte die Vorderpfoten auf Winks’ Brust. »Watson, Platz!«, befahl Eli. »Mr. Champigny, ich muss Sie bitten aufzustehen. Die Firma Redhook hat die Erlaubnis, auf diesem Grundstück tätig zu werden.«

»Was hat er gesagt?«, rief Winks einer Gruppe von Grundstücksbesetzern zu.

»Können Sie die nicht festnehmen?«, fragte Rod van Vleet.

»Bis jetzt haben sie sich außer zivilem Ungehorsam noch nichts zuschulden kommen lassen.« Zumindest lauteten so die Anweisungen von Elis Chef, Chief Follensbee, der Sorge hatte, das Ganze könnte zu einem regelrechten Rassenkonflikt eskalieren. Eli wusste, dass die Abenaki sich zurückhalten würden, wenn man sie nicht unter Druck setzte. Trotzdem ging ihm das alles gegen den Strich. Er musste den stadtbekannten Trinker Abbott Thule von Abe’s Store abholen und in die Ausnüchterungszelle verfrachten. Er musste Futter für Watson besorgen. Er wollte sich jetzt nicht mit einem Haufen Indianer herumschlagen.

Er rieb sich den Nacken. In solchen Augenblicken fragte er sich, wieso er nach dem Tod seiner Mutter nicht nach Florida gezogen war. Er war sechsunddreißig und arbeitete viel zu viel. Verdammt, er könnte jetzt mit seinem Dad eine Runde Golf spielen. Er könnte unter einer Palme dösen. Neben ihm blickte Watson hechelnd zu ihm hoch.

»Auf diesem Grundstück ruhen menschliche Überreste«, beteuerte Winks.

»Stimmt das?«, fragte Eli.

Rods Gesicht verdunkelte sich. »Es sind keine gefunden worden. Bloß ein Medaillon aus Blech, ein paar Tonscherben und ein Penny von 1932.«

»Eine Pfeilspitze«, rief Az Thompson, obwohl Eli gedacht hatte, der alte Mann wäre zu weit entfernt, um sie zu verstehen. »Vergesst die Pfeilspitze nicht.«

Der Bauunternehmer verdrehte die Augen. »Was rein gar nichts beweist, nur dass ein paar Kinder hier mal Cowboy und Indianer gespielt haben.«

Az Thompson kam zu ihnen. »Pfeilspitzen interessieren uns nicht. Aber unsere Ahnen. Haben Sie Poltergeist gesehen? Wenn man ihre Ruhestätte umpflügt, wird nichts, was hier gebaut wird, auf Dauer Frieden erleben.«

Eli fragte sich, wieso der alte Mann an diesem Grundstück hing. Soweit er wusste, hatte Az früher irgendwo im Westen gelebt. Zugegeben, er lebte schon fast so lange hier wie Eli, aber Az hatte bestimmt keine besondere Verbindung zu diesem Fleckchen Land. Vermutlich wehrte er sich nur aus Prinzip gegen die Baumaßnahmen.

»Das ist eine Drohung«, sagte Rod zu Eli. »Sie haben’s gehört.«

Az lachte. »Womit hab ich Ihnen denn gedroht?«

»Mit einem Fluch. Irgendeiner … Hexerei.«

Der alte Indianer schloss eine Hand um seine Pfeife und zündete mit der anderen die Blätter darin an. »An so was muss man glauben, damit es funktioniert.« Er inhalierte. »Glauben Sie an so was, Mr. van Vleet?«

»Hören Sie«, sagte Eli mit einem Seufzer. »Ich weiß, was ihr alle von der Baufirma haltet, Az. Aber wenn ihr euch beschweren wollt, dann macht das am besten auf dem Rechtsweg.«

»Als das Rechtssystem beim letzten Mal behauptet hat, es wüsste, was gut für die Abenaki ist, wäre es ihm fast geglückt, uns auszurotten«, entgegnete Az. »Nein, Detective Rochert, ich glaube nicht, dass wir Ihren Rechtsweg einschlagen werden.«

»Seinen Rechtsweg?«, schnaubte Winks, der jetzt stand und sich die Jeans abklopfte. »Eli, wer hat dir denn erzählt, dass deine Haut in der schicken, blauen Uniform nicht ganz so rot aussieht?«

Eli packte Winks am Hemdkragen und stieß ihn seitlich gegen den Bulldozer. Sofort war Watson hinter ihm, fletschte die Zähne. Eli hörte das wohltuende Geräusch, als Winks’ Kopf auf Metall prallte, dann kam er wieder zur Vernunft. Er spürte, dass Az Thompson ihn beobachtete.

Als er sich abwandte und seinen Hund zurückrief, erinnerte Eli sich, wie er mit den Verwandten seiner Mutter am Ufer des Sees geangelt hatte, einen Sommer lang. Die Kinder, braun und barfuß, spielten so oft Fangen, dass das hohe Gras auf einer großen Fläche platt getreten war. Eli war zehn, als ihm klar wurde, dass der See, den er als pitawbagw kannte – das Wasser, das dazwischen liegt –, auf der Landkarte Lake Champlain hieß.

Mit einem Nicken gab er dem Fahrer des Bulldozers das Signal, dass er mit der Arbeit beginnen konnte, und drehte sich bewusst von den Indianern weg, entschlossen, für Ruhe und Ordnung zu sorgen.


Eine Woche nach seiner Ankunft in Comtosook spazierte Ross am Ufer des Sees entlang, ohne auf die spitzen Kieselsteine unter seinen nackten Füßen zu achten. Das Wasser war kalt – zu kalt für August –, aber das störte ihn nicht. Etwas zu empfinden tat gut, selbst wenn es Unbehagen war.

Lake Champlain war so groß, dass man das gegenüberliegende Ufer nicht sehen konnte, obwohl dort in der Ferne die Adirondacks wie Soldaten aufragten. Aimee war auf der anderen Seite geboren worden, im Norden des Staates New York. An dem Tag, als die Welt unterging, waren sie unterwegs zu ihren Eltern.

Als Ross noch in dem Buchladen in Manhattan gearbeitet hatte, fand dort einmal eine Autorenlesung zum Thema Bestattungsrituale statt. In Tibet zog ein Mönch dem Verstorbenen das Fleisch von den Knochen und schnitt alles in Stücke, damit Geier die Überreste verschlingen konnten. Auf Bali wurden die Toten bis zu ihrer feierlichen Verbrennung beerdigt, weil die Vorbereitung der spektakulären Zeremonien mitunter Jahre dauerte.

Während der Lesung hatte Ross im Hintergrund gestanden und nur gestaunt. Irgendwann war Aimee hereingeplatzt und wäre fast an ihm vorbei ins Lager gestolpert, wenn er sie nicht festgehalten hätte.

Sie warf sich in seine Arme und fing an zu schluchzen. Das Publikum reckte schon die Köpfe, und auch der Autor blickte irritiert auf.

Ross zog Aimee an der Hand in die Abteilung für Gartenbücher. Mit klopfendem Herzen nahm er ihr Gesicht in beide Hände: Sie hatte Krebs, sie war schwanger, sie liebte ihn nicht mehr.

»Martin ist tot«, brachte sie schließlich mit erstickter Stimme heraus.

Martin Birenbaum war bei einer Explosion in einer Chemiefabrik schwer verletzt worden. Er hatte an 85 Prozent seines Körpers Verbrennungen dritten Grades erlitten. Aimee, die als Assistenzärztin in der Notaufnahme arbeitete, war für ihn zuständig gewesen. Sie hatte alles getan, um seine Schmerzen weitestgehend zu lindern. Als er sie fragte, ob er sterben würde, hatte sie ihm in die Augen geblickt und Ja gesagt.

Er war der erste Patient, den sie verlor, und deshalb hatte sich sein Gesicht unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingeprägt. »Ich bin bei ihm geblieben, weil ich wusste, dass ich ihm nicht helfen kann«, gestand Aimee. »Vielleicht wird es ja mit jedem Mal leichter. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht hätte ich nie Medizin studieren sollen.« Plötzlich starrte sie ihn an. »Wenn ich sterbe, musst du bei mir sein. So wie ich heute bei Martin war.«

»Du stirbst nicht …«

»Ross, bitte! Versprich es mir!«

»Nein«, sagte er kategorisch. »Weil ich zuerst dran bin.«

Sie schwieg einen Moment, lachte dann leise auf. »Hast du schon einen Termin?«

»Guei, das heißt hungrige Geister«, sagte der Vortragende genau in diesem Moment, »sind die Seelen der Chinesen, die keines natürlichen Todes gestorben sind … deshalb suchen sie die Lebenden heim.«

Ross warf einen Stein in den See, der über das Wasser hüpfte und unterging. Aimee war eingeäschert worden. Ihre Asche war irgendwo auf der anderen Seite des Sees, bei ihren Eltern. Er wusste nicht, was sie damit gemacht hatten; nach drei Jahren hatte er nicht mehr auf ihre Anrufe und Briefe reagiert, weil es einfach zu schmerzlich war.

Wenn ich sterbe, musst du bei mir sein.

Aber er war nicht bei ihr gewesen.


Meredith Olivers Büro im Generra Institute hatte eine Postleitzahl von Washington, D.C., und wenn man aus dem Fenster sah, konnte man in der Ferne das Jefferson Memorial erahnen. Sie fand das ziemlich absurd, da die meisten Wissenschaftler im Institut nichts von der Idee hielten, dass alle Menschen gleich geschaffen sind – ihrer Meinung nach überlebten nur die Stärksten.

Ihr gegenüber saßen Mr. und Mrs. De la Corria und hielten sich nervös an der Hand. »Gute Neuigkeiten«, sagte Meredith mit einem Lächeln. Sie war seit zehn Jahren in der genetischen Präimplantationsdiagnostik tätig und hatte festgestellt, dass für ein Paar nur eines noch nervenaufreibender war als die In-vitro-Befruchtung, nämlich das Warten auf die Ergebnisse der vorausgehenden Tests. »Es gibt drei lebensfähige Embryos.«

Carlos De la Corria war Bluter. Aus Angst, die Krankheit an seine Kinder zu vererben, hatten er und seine Frau sich für eine künstliche Befruchtung entschieden, wobei die aus seinem Sperma und ihren Eiern entstandenen Embryos von Meredith genetisch untersucht wurden. In den Uterus der Mutter eingepflanzt wurde dann der Embryo, der nicht die Gene für Hämophilie, die Bluterkrankheit, in sich trug.

»Wie viele davon sind Jungs?«, fragte Carlos.

»Zwei.« Meredith blickte ihm in die Augen. Die Gene für Hämophilie wurden über das X-Chromosom übertragen. Ein männliches Kind der De la Corrias konnte somit die Krankheit des Vaters nicht weitervererben.

Carlos hob seine Frau aus dem Sessel und wirbelte sie durch Meredith’ kleines Büro. All die Moralapostel, die ständig vor den möglichen Folgen genetischer Modifikation warnten, müssten nur einmal einen solchen Augenblick erleben.

Mrs. De la Corria sank atemlos wieder in ihren Sessel. »Das Mädchen?«, fragte sie leise.

»Der dritte Embryo ist leider ein Träger«, erwiderte Meredith.

Carlos drückte die Hand seiner Frau. »Na dann«, sagte er optimistisch, »bekommen wir eben zwei Jungs, Zwillinge.«

Es gab noch immer genügend Hindernisse zu überwinden, aber Meredith hatte ihren Teil der Arbeit getan. Die Implantation würden Kollegen von ihr vornehmen. Meredith nahm den Dank der De la Corrias entgegen und schaute dann in ihren Terminkalender. Noch zwei Beratungsgespräche, und dann konnte sie den Nachmittag über im Labor arbeiten.

Sie setzte ihre Lesebrille auf und zog den Stift aus dem Haar, den sie als behelfsmäßige Spange benutzte. Ihre honiggelben Locken fielen ihr wirr auf die Schultern, so chaotisch, als hätte Gott sich einen Scherz erlaubt, indem er der Ordnungsfanatikerin Meredith Oliver eine Haarpracht bescherte, die sich einfach nicht bändigen ließ. Sie fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht, rieb ihre geröteten Augen. »Heute Abend«, so sagte sie laut zu sich selbst, »werde ich nicht arbeiten.«

»Dr. Oliver?« Ihre Sekretärin kam herein. »Die Albertsons sind da«, sagte die Sekretärin.

»Einen Moment noch.«

Sobald die Tür sich schloss, griff Meredith zum Telefon und rief zu Hause an. Sie stellte sich ihre Tochter vor, wie sie am Küchentisch saß, die Zöpfe über den Rücken warf und Schönschreibübungen machte. Lucy meldete sich. »Hallo?«

»Hey, Schätzchen.«

»Mom! Wann kommst du nach Hause?«

»Bald.«

Kurzes Schweigen. Dann: »Bevor es dunkel wird?«

Meredith schloss die Augen. »Ich bin zum Essen da«, versprach sie. »Sag das auch Granny. Und keine Kekse mehr, bis ich nach Hause komme.«

Lucy stockte der Atem. »Woher weißt du, dass ich …«

»Weil ich deine Mom bin. Ich hab dich lieb.« Meredith legte auf, schlang dann ihr Haar oben auf dem Kopf zusammen. Sie kramte in ihrer Schublade nach einem Gummiband, fand aber nur ein paar Büroklammern, die als Haarnadeln herhalten mussten. Ihr Blick fiel auf die von den De la Corrias unterschriebene Einwilligungserklärung zur Beseitigung des dritten, des weiblichen Embryos. Spontan schob Meredith das Formular in die unterste Schreibtischschublade. Sie würde es verlieren, vorübergehend. Nur für alle Fälle.

Sie drückte den Knopf der Sprechanlage, und gleich darauf traten die Albertsons ein. Sie wirkten niedergeschlagen und müde, wie die meisten Paare, die zum ersten Mal in ihr Büro kamen. Meredith erhob sich. »Ich bin Dr. Oliver. Ich habe mir Ihren Fall angesehen. Und«, sagte sie energisch, »ich kann Ihnen helfen.«


Az wusste genau, im Ernstfall könnte er nicht mal ein Eichhörnchen aus dem Steinbruch vertreiben, geschweige denn einen bewaffneten Eindringling. Dass die Geschäftsleitung ihn als Wachmann behielt, geschah aus reiner Menschenfreundlichkeit oder Mitleid, vielleicht aber auch, weil er sich nur selten die Mühe machte, seinen Gehaltsscheck abzuholen, schließlich konnte er auf lange Sicht ohnehin nicht viel mit dem Geld anfangen. Zum Glück gab es nur eine Zufahrtsstraße zum Steinbruch, und nicht mal der schenkte Az große Aufmerksamkeit. Er saß in dem kleinen, beleuchteten Wachhäuschen, in das drei Sicherheitskameras ihre Bilder übertrugen, und starrte stattdessen auf den vierten Monitor, der ein Spiel der Red Sox zeigte.

»Ha«, fauchte Az gerade einen Spieler an. »Und dafür kassierst du elf Millionen im Jahr?«

Im Steinbruch wurde, wie vielerorts in Vermont, Granit abgebaut. Vor langer Zeit hatte man die Sprenglöcher noch mit der Hand gebohrt und den Stein dann für den Transport zurechtgefräst. Heutzutage war fast alles computergesteuert. Az bekam kaum je eine Menschenseele zu Gesicht. Manchmal fragte Az sich, ob er vielleicht der einzige Mensch war, der hier noch angestellt war.

In den dreißig Jahren, die er nun im Steinbruch arbeitete, hatte er nur zwei Vorfälle melden müssen. Beim ersten hatte ein Gewitter eine Explosion ausgelöst, die für den nächsten Tag geplant war. Beim zweiten war ein Mann in selbstmörderischer Absicht über die Schutzmauer geklettert und von einer Klippe in die Tiefe gesprungen. Der Idiot hatte sich beide Beine gebrochen und nach seiner Genesung eine Dotcom-Firma eröffnet.

Az arbeitete gerne nachts und allein. Wenn er auf seinen Rundgängen leise war, konnte er förmlich hören, wie Blüten aufplatzten, er konnte den Wechsel der Jahreszeiten riechen.

Er hätte gern gewusst, was am Otter Creek Pass vor sich ging. In der Woche, seit Rod van Vleet da gewesen war, hatte der Protest der Abenaki zugenommen und war von der Öffentlichkeit registriert worden. Die Tatsache, dass der Trunkenbold des Ortes, Abbott Thule, eines Morgens feststellen musste, dass sein bis dato glattes Haar über Nacht ganz kraus geworden war, tat ihr Übriges.

Wenn Rod van Vleet halbwegs auf Draht wäre, würde er seine Baumaschinen nachts anrollen lassen, wenn die meisten Indianer zu Hause in ihren Zelten schnarchten. Zum Glück war der verantwortliche Vertreter der Firma Redhook ein Trottel. In Anbetracht der üblichen Desorganisation des Abenaki-Protestes sorgte das für eine gewisse Chancengleichheit.

Ein Glühwürmchen schwebte an Az’ linkem Auge vorbei. Dann merkte er, dass es gar kein Glühwürmchen war, sondern ein schwacher Lichtstrahl auf dem pechschwarzen Überwachungsmonitor, der auf die Nordwand des Steinbruchs eingestellt war. Plötzlich lief es Az heiß zwischen den Schulterblättern herunter. Er setzte sich seinen Hut auf und marschierte los. Mit jedem Schritt fielen die Jahre von ihm ab, bis er aufrecht und stark war, weil er wieder gebraucht wurde.


Ross wusste nicht, wem er mehr die Schuld gab: Ethan, weil er ihm diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte, oder sich selbst, weil er auf ihn gehört hatte. »Im Angel-Steinbruch spukt’s«, hatte sein Neffe behauptet, »das sagen alle.« Er ging behutsam den schmalen Pfad entlang, bis er spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. Hier würde er also seine Ausrüstung aufbauen.

Die Erinnerung an Aimee heute Nachmittag hatte ihm den Anstoß gegeben, noch einen letzten Versuch zu starten, auch wenn er Shelby erzählt hatte, dass er seine Arbeit als Geisterjäger aufgegeben hatte. Daher war er vom Lake Champlain direkt nach Burlington gefahren, wo er sich bei einem Elektronikdiscounter eine neue Infrarotkamera gekauft hatte. Als Shelby das Abendessen auf den Tisch stellte, erzählte er ihr, er hätte später noch eine Verabredung.

»Im Ernst?« Sie hatte ihn so glücklich angestrahlt, dass es Ross einen Stich versetzte. »Wer ist sie?«

»Geht dich nichts an.«

»Ross«, antwortete Shelby, »das ist genau das Richtige für dich.«

Er schämte sich, weil er seine Schwester angelogen hatte.Und jetzt, während seine Schwester sich den Kopf zerbrach, mit welcher Frau er sich wohl traf, legte Ross seine Taschenlampe auf einen Felsvorsprung, damit er das Stativ für die Kamera sehen konnte. »Ich werde nichts sehen«, murmelte Ross, als er durch den Sucher spähte. Dann stieß er einen Fluch aus.

Er hatte die Sache an den Nagel gehängt.

Er glaubte nicht an Geister, nicht mehr.

Aber was, wenn sich dieses Mal doch irgendwas materialisierte? Falls Ethan recht hatte – falls im Steinbruch jemand ermordet worden war –, bestand die Chance, dass sich hier ein ruheloser Geist herumtrieb. Einer, der Unerledigtes zurückgelassen hatte – oder einfach einen geliebten Menschen nicht verlassen wollte.

Ross vertraute seinem Instinkt und richtete die Kamera auf eine Stelle, die seinen Blick immer wieder anzog, obwohl er nicht wusste, ob dort tatsächlich ein Mord geschehen war. Er legte eine Kassette ein, lehnte sich zurück und wartete.

Plötzlich blendete ihn ein greller Lichtstrahl. »Ich kann das erklären«, setzte er an.

Doch dann versagte ihm die Stimme, denn vor ihm stand ein greisenhafter Mann in einer alten Nachtwächteruniform; ein Mann, in dessen Augen so viel Weltklugheit lag, dass Ross sicher war, einem Geist gegenüberzustehen.


»Wer sind Sie?«, flüsterte der Mann und blickte Az fragend an. Er glotzte, als hätte er noch nie einen amerikanischen Ureinwohner gesehen, und das verärgerte Az.

»Sie haben widerrechtlich Privatgelände betreten«, sagte Az.

»War das früher Ihr Land?«

Az hatte auf einmal Mitleid mit dem Mann. »Hör mal, du packst jetzt dein Zeug hier ein und verschwindest, und ich sag keinem, dass ich dich gesehen habe.«

Der Mann nickte, und dann machte er plötzlich einen Schritt nach vorn und versuchte, ihn zu berühren. Verblüfft wich Az zurück und hob seinen Gummiknüppel.

»Bitte! Ich … ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen stellen.«

Himmelherrgott. Wenn das so weiterging, würde Az noch das Ende des Spiels verpassen.

»Wohnen Sie hier?«

»Nein, und ich habe auch kein Tipi, falls du das meinst.« Az packte ihn am Arm. »Und jetzt stell das Ding da ab, sonst …«

»Sie können mich anfassen …?«

»Ich kann dir auch eine Tracht Prügel verpassen«, sagte Az. »Die Red Sox spielen gegen die Yankees, also mach schnell.«

Der Eindringling erlosch förmlich. Az hatte das schon öfter beobachtet, am Sterbebett von Freunden, wenn das innere Licht plötzlich ausging, das einen Menschen zu dem machte, der er war. »Die Red Sox«, murmelte der Mann. »Dann sind Sie kein Geist.«

»Ich mag ja alt sein, aber den Löffel hab ich noch nicht abgegeben.«

»Ich dachte, Sie wären …« Er schüttelte den Kopf, streckte ihm dann die Hand hin. »Ich bin Ross Wakeman.«

»Sie sind verrückt, mehr nicht.«

»Das wohl auch.« Ross strich sich durchs Haar. »Ich erforsche das Übersinnliche. Jedenfalls hab ich das, bis vor Kurzem.«

Az zuckte die Achseln. »Schon mal was gefunden?«

Ross merkte auf. »Gibt’s denn hier was zu finden?«

»Hab noch nie was gesehen. Jedenfalls hier nicht.«

»Aber anderswo schon?«

Az ließ die Frage unbeantwortet. »Sie können hier nicht bleiben. Privatgelände.«

Ross fing an, seine Ausrüstung einzupacken, wobei er sich reichlich Zeit ließ. »Ich hab gehört, hier ist vor Jahren ein Mord geschehen.«

»Das sagen die Leute.«

»Wissen Sie irgendwas darüber?«

Az blickte in die Grube vom Steinbruch. »Das war vor meiner Zeit hier als Wachmann.«

»Alles klar.« Ross schulterte die Tasche mit der Kamera. »Entschuldigen Sie … wegen der Verwechslung.«

»Schon gut.« Az begleitete den jungen Mann nach draußen. Als Ross schon an seinem Wagen war, legte Az die Hände um die gusseisernen Stangen des Eingangstors. »Mr. Wakeman«, rief er. »Die Geister, die Sie suchen – Sie sind schon ganz nah dran.«

Er ging zurück in sein Wachhäuschen und ließ Ross mit der Frage allein, ob das ein Versprechen oder eine Drohung war.


Im Laufe der folgenden Wochen lernten die Einwohner von Comtosook, an das Unerwartete zu glauben. Mütter erwachten nachts, die Stimme tränenerstickt, sodass sie nicht einmal mehr nach ihren Kindern rufen konnten. Geschäftsleute, die zufällig ihr Spiegelbild in einer Glasscheibe sahen, erkannten ihre eigenen Gesichter nicht wieder. Liebespärchen, die an einem einsamen Platz im Auto leidenschaftliche Schwüre tauschten, merkten, dass ihre Worte wie Luftblasen herauskamen und sogleich wieder platzten.

Shelby Wakeman stellte fest, dass es an allen nach Norden gehenden Fenstern ihres Hauses von Marienkäfern nur so wimmelte. Rod van Vleet konnte höchstens eine Viertelmeile in seinem Firmenwagen fahren, dann drang aus den Lüftungsschlitzen ein so penetranter Beerengeruch, dass er das Gefühl hatte, in einem Marmeladenglas zu sitzen. Spencer Pike schob die Hand unter sein Kissen und entdeckte drei himmelblaue Rotkehlcheneier.

Obwohl er wusste, dass es für ihn nicht gut war, riskierte Ethan immer wieder einen heimlichen Blick auf die Sonne.

Katzen entwischten von zu Hause und spazierten zum Fluss, um dort zu baden. Der Wasserpegel des Lake Champlain hob und senkte sich zweimal täglich, als gäbe es dort Ebbe und Flut.

Und trotz des milden Augustklimas gefror der Boden des umstrittenen Grundstücks am Otter Creek Pass, sodass die Ausschachtungsarbeiten eingestellt werden mussten.


»Was haltet ihr davon?«, fragte Winks Smiling Fox und schob die Trommel ächzend ein Stück nach links. Wo sie gesessen hatten, war die Erde vereist. Ein wenig weiter wuchs der Löwenzahn.

»Erinnert ihr euch noch an die alten Geschichten von Azeban?«, fragte Winks.

»Azeban?«, echote Fat Charlie. »Der Waschbär?«

»Genau.« Winks nickte. »Wie er aus Spaß für irgendjemanden eine Falle gebaut hat und dann selbst hineingeraten ist? Oder wie er das Feuer austrampeln wollte, neben dem der Fuchs schlief, und sich dabei den Schwanz verbrannte?«

»Ein kleines Feuerchen wäre hier auch nicht schlecht, ehrlich gesagt …«

»Nein, Charlie«, sagte Az, der unbemerkt näher gekommen war. »Winks meint, wenn man anderen Böses tut, widerfährt einem selbst auch Böses.«

Er sah zu, wie seine Freunde sich wieder hinsetzten und nach den Trommelstöcken griffen. Abgesehen von dem Gesang in ihrer schon fast vergessenen Stammessprache verriet nichts, dass diese Männer Abenaki waren. Ihre Ahnen hatten Weiße geheiratet, in der Hoffnung, sich hinter weißen Familiennamen und europäischen Gesichtszügen verstecken zu können. Winks hatte blondes Haar. Fat Charlies Haut war so blass wie die eines Iren.

»Meinst du, es steckt vielleicht noch mehr dahinter?«, fragte Winks. »Ich meine, da passieren wirklich seltsame Dinge.«

»In der Stadt sagen sie, wenn die Indianer Redhook nicht von dem Land vertreiben, dann erledigen die Geister das«, fügte Charlie hinzu.

»Wenn mein Grab von einem Bulldozer umgepflügt würde, wäre ich auch ziemlich sauer.« Winks schnaubte. »Habt ihr den Archäologen gesehen? Immer wenn er meint, keiner hört ihn, flüstert er ein Vaterunser. Die haben ordentlich Schiss.«

»Mir ist letztes Jahr der Geist von meinem Urgroßonkel bei einer Schwitzzeremonie erschienen«, sagte Fat Charlie. »Du hast doch auch schon welche gesehen, Az?«

»Es gibt einen Unterschied zwischen einem Geist, der weitergezogen ist, und einem, der nicht wegkann«, sagte Az. Er hob ein Messer auf und begann, einen Ast anzuspitzen. »Wo ich herkomme, gab es mal eine junge Frau, die nicht den Mann heiraten durfte, den sie liebte, weil ihre Eltern dagegen waren. Deshalb erhängte sie sich an einer Buche oben auf dem Berg. Am Tag nach ihrer Beerdigung ging ihr Freund zu demselben Baum und erhängte sich ebenfalls. Und wenn ein Indianer durch Erhängen stirbt, kann sein Geist nicht auffahren – er bleibt im Körper gefangen.« Er prüfte die Speerspitze mit dem Daumen. »Nach ihrem Tod tauchten nachts immer wieder zwei blaue Lichter über dem Berg auf.«

Winks beugte sich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt. »Ist mal jemand nachsehen gegangen?«

Der Alte führte das Messer erneut an dem Ast entlang. Er spürte Rod van Vleet hinter sich, der so tat, als würde er nicht zuhören. »So dumm«, sagt Az, »war keiner.«


»Ethan?«

Ethan erstarrte unter dem Verdunkelungsrollo, als er die Stimme seiner Mutter hörte. Er schnellte von der warmen Fensterscheibe zurück und schob die Sonnenbrille in den Spalt zwischen Bett und Wand. »Hi«, sagte er, als sie in sein Zimmer trat.

Ihr scharfer Blick registrierte die zerknitterte Tagesdecke, die Mütze auf Ethans Kopf, die geschlossenen Vorhänge. Sie kam auf ihn zu, musterte ihn und zog dann den Ärmel seines Sweatshirts tiefer, weil ein Zentimeter Haut am Handgelenk noch frei war. »Ich muss zur Arbeit«, sagte seine Mutter. »Du solltest längst schlafen.«

»Ich bin nicht müde«, maulte Ethan. Aber ihm kam der Gedanke, dass seine Mutter erschöpft sein musste. Schließlich blieb sie die ganze Nacht mit ihm auf und arbeitete dann halbtags in der Bücherei. »Mom«, erkundigte er sich, »bist du müde?«

»Ständig«, antwortete sie und gab ihm dann einen Abschiedskuss.

Er wartete, bis er ihre Schritte auf dem Fliesenboden in der Küche hörte. Ethan tastete sich an der Bettkante entlang, bis er seine silberne Wraparound-Sonnenbrille wiederfand. Er zog sich die Mütze tiefer in die Stirn. Dann hob er das Rollo an und kauerte sich auf die Fensterbank. Nach wenigen Minuten zeichneten sich rote Flecken auf seiner kreideweißen Haut ab, aber Ethan war das egal. Er würde die Narben in Kauf nehmen, wenn er nur so beweisen konnte, dass er tatsächlich Teil dieser Welt gewesen war.


Die Stadtbücherei von Comtosook zog nicht viele Besucher an. Kleine Räume reihten sich aneinander wie Perlen und hätten sich viel besser für einen Gasthof auf dem Lande geeignet denn als Aufbewahrungsort für Literatur. Die Regale standen kreuz und quer, manche mitten im Raum. Die Bibliothekarin – und das war vormittags Shelby – musste nicht nur verschiedene Suchmaschinen beherrschen, sondern auch den Bestand der Bücherei genau kennen. Die meiste Zeit jedoch konnte Shelby tun und lassen, was sie wollte, und ihre große Leidenschaft waren ausgefallene Wörter.

Manchmal saß sie mit aufgeschlagenem Wörterbuch da und studierte es mit der gleichen atemlosen Faszination, wie andere einen Thriller lasen. Hibernal: winterlich. Pilose: übermäßiger Haarwuchs. Polygyn: in Vielweiberei lebend.

Nach vier Jahren College und abgeschlossenem Studium durchschaute sie sehr wohl, dass sie die Sprache als Pufferzone zwischen sich und dem Rest der Welt benutzte. Sie war sich auch darüber im Klaren, dass sie, selbst wenn sie jeden Eintrag im Wörterbuch auswendig lernen würde, noch immer keine Erklärung dafür hätte, was aus ihrem Leben geworden war.

Sie machte sich Sorgen um Ethan. Sie machte sich Sorgen um Ross. Sie war so damit beschäftigt, den Alltag zu meistern, dass sie nie darüber nachdachte, wieso sich eigentlich niemand Sorgen um sie machte.

Die Bücherei war menschenleer, denn die Menschen wagten sich in einer Stadt, die sich vor ihren Augen veränderte, kaum noch vor die Tür. Für Shelby, die tagtäglich mit dem Abnormen lebte, waren die jüngsten Ereignisse kein Grund zur Unruhe.

Als die Tür sich quietschend öffnete, blickte Shelby auf. Ein Fremder kam herein. Er trug einen teuren Anzug, der aus keinem der Geschäfte im Umkreis von fünfzig Meilen stammen konnte. Aber irgendetwas an ihm stimmte nicht. Seine Haut war fast so weiß wie Ethans. Er sah von dem schiefen Boden über die schrägen Wände mit den bis zur Decke reichenden Enzyklopädien und fragte: »Können Sie mir helfen?«

»Dafür bin ich da.«

Sein Blick kreiste durch den Raum wie ein Vogel und blieb dann auf Shelby haften. »Kann man denn hier irgendwas finden?«

Rhabdomantie, dachte Shelby. Das Wahrsagen mit der Wünschelrute. »Was suchen Sie denn?«

»Indianerfriedhöfe. Was mit ihnen passiert ist, in der Vergangenheit, wenn darauf gebaut wurde. Präzedenzfälle. So was in der Art.«

»Sie sind bestimmt von der Baufirma«, sagte Shelby. Sie führte ihn in einen entlegenen Winkel der Bibliothek, wo ein Mikrofiche-Lesegerät hinter einem Regal mit Kochbüchern stand. »Vor etwa einem Jahr hat es in Swanton einen ähnlichen Streitfall gegeben. Vielleicht schauen Sie zuerst mal hier nach.«

»Sie wissen nicht zufällig, wie die Sache ausgegangen ist?«

»Der Staat hat das Land gekauft.«

»Oh, prima. Toll.« Er ließ sich in den Sessel sinken. »Lag auf dem Grundstück in Swanton auch ein Fluch?«

»Wie bitte?«

Einen Moment lang schien er völlig am Ende. »Was machen diese Indianer … beschwören die ihre ganzen toten Ahnen, wenn sie sie brauchen, nur damit wir wieder verschwinden?«

Shelby kaute auf einem Fingernagel.

»Herrje, wir wollen doch bloß ein kleines Einkaufszentrum bauen. Ich hab die Unterschrift des Besitzers, alles ganz legal. Ich hab bereits fünfzigtausend Dollar hingeblättert. Ich hab mir nichts zuschulden kommen lassen, und was krieg ich dafür? Die Temperatur sackt auf einmal ohne ersichtlichen Grund in den Keller, ich höre mitten in der Nacht kreischende Stimmen, die halbe Belegschaft kündigt mir. Und … heute Morgen bin ich geschubst worden, und dabei war gar niemand hinter mir!« Er sah Shelby direkt an. »Ich bin nicht verrückt.«

»Natürlich nicht«, murmelte sie.

Der Mann strich sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich weiß nicht, wieso ich hergekommen bin. Sie können mir nicht helfen.«

»Nein, kann ich nicht«, sagte Shelby. »Aber ich denke, ich kenne jemanden, der das kann.«


Ross saß in Shelbys Wohnzimmer vor dem Fernseher. Kabel verbanden die Videokamera mit dem Bildschirm, und er ließ das kurze Band laufen, das er im Steinbruch aufgenommen hatte. Eine Sequenz sah er sich genauer an. Aber nein, das Flackern in einer Ecke war bloß eine Spiegelung – nichts Paranormales.

Er schaltete den Fernseher ab und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. »Reine Zeitverschwendung.«

»War es so schlimm?« Shelby kam herein.

»Mit Ethan gab’s keine Probleme.«

»Ich meinte deine Verabredung. Verrätst du mir jetzt, wer die Glückliche ist, oder ist das ein Staatsgeheimnis?«

»Kennst du nicht.«

»Woher willst du das wissen?« Shelby setzte sich. »Was machst du mit der Videokamera?«

Ross wechselte rasch das Thema. »Wie war die Arbeit?«

»Ich glaube, ich hab dir heute einen Job verschafft.«

»Danke, aber Bibliotheksarbeit ist nichts für mich.«

Shelby setzte sich und zog die Beine hoch. »Heute ist ein gewisser Rod van Vleet in die Bücherei gekommen. Er arbeitet für die Baufirma, die drüben am Otter Creek Pass ein Stück Land gekauft hat …«

»Wo?«

»Ist egal. Wichtig ist aber, dass er mit den Nerven am Ende ist, weil er denkt, da spukt’s.« Shelby lächelte triumphierend. »Jetzt rate mal, wo du ins Spiel kommst.«

Seine Kiefermuskulatur verkrampfte sich. »Geht’s dir ums Geld? Wenn du willst, dass ich Miete zahle …«

»Ross, bitte nicht. Ich hab dich erwähnt, weil ich dachte, du würdest dich freuen. Seit du hier bist, bläst du Trübsal.«

Ross stand auf, riss das Verbindungskabel aus dem Fernseher und packte die Videokamera ein. »Mir war nicht klar, dass du solche Erwartungen an mich stellst«, sagte er verbittert.

Shelbys Hände umschlossen Ross’ Handgelenke. Mit dem Daumen schob sie die Ärmel seines Pullovers hoch, glitt über seine vernarbte Haut. »Ich wollte dich fragen, ob du zum Abendessen Suppe haben willst, Suppe, Ross, und du lagst da in deinem Blut.«

»Du hättest mich einfach liegen lassen sollen«, sagte Ross und löste sich sanft von ihr.

»Ach, Scheiße.« Tränen glitzerten in Shelbys Augen. »Wenn du gleich ins Bad gehst, frage ich mich, ob du Pillen schluckst. Wenn du mit dem Wagen unterwegs bist, frage ich mich, ob du gegen einen Baum fährst. Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass du nicht der Einzige bist, der einen geliebten Menschen verloren hat? Aimee ist gestorben. Menschen sterben. Du lebst, und du musst anfangen, dich auch so zu verhalten.«

Sein Blick war eisig. »Ob du das in ein paar Jahren auch so siehst, wenn es um Ethan geht?«

Ein leises Geräusch drang von der Tür, aber als sie sich umwandten, war der Junge, der jedes Wort mitgehört hatte, bereits weggelaufen.


Er trug ein Sweatshirt und eine lange Hose und natürlich seine Baseballmütze, aber Gesicht und Hände waren unbedeckt. Als Ethan den Steinbruch erreichte – die höchste Stelle der Stadt, mit schroffen Felsen, die in den Himmel ragten –, waren seine Finger angeschwollen und rot und pochten bei jedem Herzschlag.

Vielleicht würde ihn unterwegs ein Laster überfahren. Vielleicht würde er verbrennen, einfach in Flammen aufgehen. Wenn er jetzt starb, was machte das schon aus?

Was er über Comtosook wusste, hatte er aus Landkarten und aus dem Internet erfahren. Natürlich war er auch früher schon mal draußen gewesen – aber bei Tageslicht sah alles anders aus. Er konnte die Augen nicht von den Straßen losreißen, die voller Autos waren, von den Bürgersteigen voller Menschen. Er wusste ja nicht, dass der Ort normalerweise noch viel belebter war – für Ethan wirkte diese sonnige Welt so geschäftig, dass es ihm den Atem verschlug.

Ethan wusste, dass er sterben würde. Psychologen und Ärzte und Sozialarbeiter hatten mit ihm geredet und versucht, ihm dabei zu helfen, die Prognose für einen XP-Patienten zu akzeptieren. Vielleicht würde er fünfzig, höchstwahrscheinlich jedoch nicht älter als fünfzehn. Das hing davon ab, wie stark seine Zellen bereits vor der Diagnose geschädigt waren.

Die Felsen des Steinbruchs ragten vor ihm auf. Er wusste nicht, was er hier eigentlich tun sollte. Vielleicht sein Sweatshirt ausziehen, bis die Schmerzen unerträglich wurden und er das Bewusstsein verlor.

Er lief die Einfahrt hinauf und blieb abrupt stehen. Sein Onkel Ross stand da gegen die Motorhaube seines verbeulten Autos gelehnt, die Arme verschränkt. »Wie hast du mich gefunden?«

»Gefunden? Ich war zuerst hier.« Ross sah, dass Ethans Hände und sein Gesicht von der Sonne verbrannt waren, sagte aber nichts. Er reichte Ethan nur eines von seinen eigenen Sweatshirts, dessen Ärmel ihm bis über die Hände fielen. Dann blinzelte er in den Himmel. »Ich hab mir gedacht, ein Junge, der mit der Sonne noch eine Rechnung offen hat, würde versuchen, ihr möglichst nah zu kommen. Und das hier ist die höchste Stelle in der Stadt.« Er sah Ethan an. »Deine Mutter ist verrückt vor Angst.«

»Wo ist sie?«

»Zu Hause. Für den Fall, dass du dort zuerst auftauchst.« Er öffnete die Beifahrertür. »Können wir diese Unterhaltung im Haus weiterführen?«

Nach einem Moment nickte Ethan. Er stieg ins Auto, nahm seine Baseballmütze ab und rieb sich den Kopf. »Stimmt das, dass du versucht hast, dich umzubringen?«

»Ja.«

Ethan spürte, wie sich ihm der Hals zuschnürte. Sein Onkel war einer der wenigen Männer, zu denen Ethan überhaupt Kontakt hatte, und er war ganz sicher der Coolste von allen. Er hatte total irre Sachen gemacht, Fallschirmspringen und Eisklettern. Ethan wollte so sein wie er, falls er das Glück hatte, je so alt zu werden. Aber er konnte einfach nicht begreifen, wieso der Mann, den er auf der Welt am meisten bewunderte, nicht bloß die Gefahr suchte, sondern darin umkommen wollte. »Warum?«

»Um auf die andere Seite zu kommen«, erklärte sein Onkel.


»Gott sei Dank«, schrie Shelby. Sie rannte zum Auto und zerrte Ethan hinaus. Shelby hielt ihren Sohn fest, als wäre er eine Verlängerung ihres eigenen Körpers.

Ross lehnte sich gegen die Motorhaube und dankte Gott, dass er Ethan am richtigen Ort gesucht hatte. Er wollte zur Haustür gehen und merkte erst jetzt, dass ein Fremder neben seiner Schwester auf der Veranda stand. »Das ist Rod van Vleet«, sagte sie in einem Tonfall, der Ross verriet, dass ihr Streit noch längst nicht beendet war. »Er wollte dich sprechen.«

Ross warf seiner Schwester den düstersten Blick zu, den er unter den gegebenen Umständen zustande brachte. Der Mann war kleiner als Ross, und sein Kopf mit dem schütteren Haar hatte die unvorteilhafte Form einer Erdnuss. Er trug einen eleganten Anzug, gestärktes Hemd, Krawatte. »Mr. Wakeman«, sagte er mit einem unsicheren Lächeln. »Wie ich höre, jagen Sie Geister.«

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