Meine Geschichte hinter

»Zeit der Gespenster«

Jodi Picoult im Interview







Ihr neues Buch behandelt ein sehr hässliches Kapitel amerikanischer Geschichte und eines, das wahrscheinlich nicht sonderlich bekannt ist: Vermonts Eugenik-Projekt der 1920er- und 30er-Jahre. Erzählen Sie uns von diesem Projekt und wie Sie davon erfahren haben.


Ich muss zugeben, dass ich durch Zufall davon erfahren habe. Ich hatte ursprünglich vor, eine Geistergeschichte zu schreiben, und meine Suche nach einem fiktionalen Geist führte mich zu den Abenaki-Indianern in Vermont, die gegen die Bebauung des Landes protestieren, weil sie behaupten, es sei ein ehemaliger Friedhof. Ich habe angefangen mich ein wenig mit den Abenaki zu beschäftigen und habe einen Artikel gefunden, in dem das Vermont Eugenik Projekt und seine Auswirkungen auf die Abenaki diskutiert wird. Je mehr ich las, desto fassungsloser war ich – in den 1920er- und 30er-Jahren hat in Burlington, Vermont, eine Gruppe fortschrittlich denkender Wissenschaftler, Ärzte, Juristen und Universitätsprofessoren entschieden, den bäuerlichen Charme der Gegend zu erhalten, indem sie beschlossen, die Leute, die nicht ins Bild passten, einfach loszuwerden. Konkret: Menschen mit dunkler Hautfarbe, Protestanten. Sie gaben eine Studie in Auftrag, die besagte, dass die sogenannten »degenerierten« Familien wegen mehrmaligen Aufenthalten in Armenhäusern, Psychiatrischen Kliniken und Gefängnissen ein negativer Wirtschaftsfaktor seien. Oftmals waren das Abenaki, Kanadier aus dem französischen Teil des Landes und Bedürftige. Schließlich wurde ein Gesetz verabschiedet, das die freiwillige Sterilisierung der genannten Gruppen stützte. Leider hatte »freiwillig« nur wenig mit freiem Willen zu tun. In vielen Fällen mussten nur zwei Ärzte unterschreiben, um das Ganze in die Wege zu leiten. Hunderte von Abenaki und andere wurden sterilisiert, bevor die Finanzierung in den spätern 1930er-Jahren eingestellt wurde – dank der Nazis, die das amerikanische Eugenikprogramm als Grundlage für ihre eigenen Pläne der Rassenhygiene bezeichneten.

Die aktuelle Debatte über die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, über Klonen und Genersatztherapie, behandelt viele derselben Fragen, die vor Jahren von den Fürsprechern der Eugenik aufgeworfen wurden. Ich wollte den Gedanken durchspielen, dass alle Dinge im Leben zurückkehren, um uns heimzusuchen – die Geschichte eingeschlossen. Und ich wollte zeigen, dass die Wissenschaftler der 1920er und 30er Jahre keine bösen Dr. Frankensteins waren, sondern vielmehr fortschrittsgläubige Denker, die wirklich meinten, das Richtige zu tun. Zur gleichen Zeit wollte ich die Menschen daran erinnern, dass die Wissenschaft, auch wenn sie mess- und überprüfbar ist, doch nichts ist, an das wir vorbehaltlos glauben sollten. Ohne mir in diesem Buch über die Eugenik oder die Abenaki ein Urteil anmaßen zu wollen, glaube ich, dass die Menschen es einfach verdienen zu wissen, was geschehen ist … auch wenn es in eine fiktionale Erzählung verpackt wurde.


Wie konnte Vermont dieses Eugenik Projekt so lange geheim halten? Gab es vergleichbare Projekte in anderes Teilen des Landes?


Ich würde nicht sagen, dass Vermont diese Projekte verheimlicht hat. Ich denke vielmehr, dass sie einfach irgendwie auf der Strecke geblieben sind. Sobald der Geldhahn abgedreht war, gab es niemanden mehr, der für die Sache der Eugenik vor Gericht gegangen wäre. Und ich nehme an, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg ein gewisses Unbehagen gab, beim Gedanken daran, diese Geschehnisse zu diskutieren. Jedenfalls wurden die Listen mit den Stammbäumen der betroffenen Familien und die übrigen Dokumente jahrelang vergessen, bis sie von einem Mann namens Kevin Dann ausgegraben wurden, einem Historiker aus Vermont. Und die traurige Wahrheit ist, dass mehr als die Hälfte der amerikanischen Staaten irgendwann ein Sterilisierungs-Gesetz in ihre Gesetzbücher aufgenommen hatten.

In Vermont hat sich übrigens nie jemand entschuldigt. Und weil das nördliche Neuengland einer dieser Landstriche ist, dessen Bewohner nicht unbedingt dafür bekannt sind, viel herumzukommen, leben die Nachfahren beider Gruppen, sowohl der Fürsprecher der Eugenik-Bewegung wie ihrer Opfer, noch immer in unmittelbarer Nachbarschaft. Einige Familien der Wissenschaftler empfinden sowohl Scham als auch Wut, Wut darüber, dass ihre Verwandten nicht selten als böse und größenwahnsinnig dargestellt werden. Einige Abenaki-Familien haben mit der Sache abgeschlossen, sie sind verbittert und ziehen es vor, keine alten Wunden aufzureißen. Aus diesen und anderen Gründen war es für beide Gruppen einfacher, die Ereignisse unter den sprichwörtlichen Teppich zu kehren, statt sie ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen.


Sie haben sich in »Zeit der Gespenster« auch eingehend mit Geisterjagd und paranormalen Erscheinungen beschäftigt. Gibt es wirklich so etwas wie Geisterjagd? Sind Sie tatsächlich auf Geisterjagd gegangen?


Um die Wahrheit zu sagen: Ich dachte ich, ich könne bei dieser Geistersache ein bisschen schummeln, statt die Recherche-Heldin zu sein, die ich sonst immer bin. Doch dann wurde mir klar, dass ich so Gefahr lief, mir von jedem Leser, der schon mal eine Geistererscheinung hatte, anhören zu müssen, dass ich alles falsch verstanden habe, und ich entschloss mich dazu, einen Experten auf dem Gebiet zu suchen, der mir etwas über Geisterjagd erzählen kann. Ich habe im Internet recherchiert und bin auf The Atlantic Paranormal Society (TAPS) gestoßen. Ich schrieb an jedes Gründungsmitglied eine E-Mail. Ich hätte geglaubt, dass es eine Weile dauern würde, jemanden zu finden, der an Geister glaubt – aber innerhalb weniger Stunden hatten mir alle geantwortet. Jason Hawes und Grant Wilson waren gerne bereit mit mir über den Forschungsstand zu übersinnlichen Erscheinungen zu sprechen. Sie machten mir den Vorschlag, sie auf Rhode Island zu besuchen, um sie auf einer Geisterjagd zu begleiten.

Das war eine ganz besonders interessante Erfahrung. Ich meine, einerseits erzähle ich meinen Kindern zu Hause, dass es so etwas wie Geister gar nicht gibt … andererseits mache ich mich schwarz gekleidet, mitten in einer Januarnacht mit einem Grüppchen von Forschern auf den Weg zu einer verlassenen psychiatrischen Anstalt in Neuengland. Das Gebäude war zugenagelt – es war das ehemalige Anstaltsschwimmbad, und ich konnte das leere Becken sehen, der Boden war bedeckt von Blättern und Unrat. Im Hintergrund sah ich etwas, das wie Glühwürmchen aussah – die Forscher erklärten, es seien Streukügelchen oder Energie wechselnde Formen. Später liefen wir über ein Feld auf dem ein Gebäude inklusive der darin untergebrachten Patienten bis auf die Grundmauern abgebrannt war. Ich lief zusammen mit einem »Fühlenden« (jemand, der Geister »fühlen« kann). Die Nacht war extrem kalt und sehr klar, und wir konnten unseren Atem vor uns sehen. Plötzlich stellten sich mir die Nackenhaare auf. Bevor ich das meinem Begleiter gegenüber auch nur erwähnen konnte, zückte er die Digitalkamera und hielt sie zwischen uns nach hinten gerichtet, über unsere Schultern und schoss ein Foto.

Also es ist wichtig daran zu denken, dass a) unser Atem vor uns war und b) niemand und nichts hinter uns. Und das Objektiv der Kamera hat deutlich erkennbar eine Art Nebelschwaden festgehalten. Ein Geisterjäger wird ihnen sagen, dass Geister manchmal Filmaufnahmen oder Digitalfotos beeinträchtigen können, aufrund großer Hitze oder magnetischer Energiefelder.

Von dort machten wir uns auf den Weg zu einem echten Fall. Ein Paar in Massachusetts hatte – so glaubten beide – einen Geist gesehen. Sie baten die Leute von TAPS (The Atlantic Paranormal Society) zu kommen und das Ganze zu bestätigen. Was mich an dieser Gruppe wirklich beeindruckt hat, war, dass sie über sich selbst lachen konnten – es wurde ein Witz über Geisterjäger nach dem anderen gemacht – und sie berechneten ihren »Klienten« nichts für ihren Einsatz. Niemand, so ihre Überzeugung, sollte dafür bezahlen müssen, Besuch von einem Geist zu haben; für mich hieß das, dass sie das also nicht nur taten, um Geld zu machen.

Das Haus war klein, und das Poltern, das die Bewohner gehört hatten, kam vom Dachboden, einem kleinen Raum in der dritten Etage mit einer kleinen Tür und einem Vorhängeschloss. Die TAPS-Jungs gaben mir den einzigen Schlüssel und stellten dann in der Mitte des Dachbodens eine Videokamera auf. Auf diese Weise fangen sie oft etwas – Streukügelchen, Geräusche, Stimmen. Der Dachboden war sauber gefegt, es war nichts Übersinnliches zu sehen. Ich war die letzte, die den Raum verließ, und ich schloss hinter mir ab, dann steckte ich den Schlüssel in die Tasche. Als die anderen die Treppe hinunterstiegen, um sich unten zu unterhalten, warf ich einen Blick in die zwei Kinderschlafzimmer – beide Kinder schliefen in bequemen Gitterbettchen in Räumen, die tadellos sauber und ordentlich waren. Unten beschrieben die Eltern, wie sie um zwei Uhr in der Nacht Spieldosen-Musik gehört hätten, nur um dann, als sie dem Geräusch nachgingen, ein Spielzeugklavier für Kinder auf der Treppe zum Dachboden zu finden. Sie erzählten davon, wie sie nach Hause kommen und alle Wasserhähne sind aufgedreht oder alle Cornflakespackungen aus dem Vorratsschrank geholt, der Inhalt auf dem Boden verschüttet. Von Räumen, in denen es urplötzlich zwanzig Grad kälter wird. Nachdem ich den beiden ein Weile zugehört hatte, erklärte ich, dass ich wieder zurück nach oben gehen wolle. Wieder warf ich einen Blick ins Zimmer des ersten Kindes. Jetzt lagen auf dem Teppich in einer Reihe sechs Pennies, die vorher nicht dort gewesen waren. Sie waren alle auf die Jahre zwischen 1968 und 1972 datiert. Ich hob sie auf, steckte sie in die Tasche und ging zum Zimmer des nächsten Kindes, wo ich dasselbe fand – sechs Pennies, alle aus dem gleichen Zeitraum. Schließlich ging ich auf den Dachboden, holte den Schlüssel hervor, schloss das Vorhängeschloss auf und knipste das Licht an. Ich fand eine Handvoll Pennies unterhalb der Videokamera, alle auf die Jahre zwischen 1968 und 1972 datiert. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob es in diesem Haus spukte, aber ich kann Ihnen versprechen, dass Sie, wenn Sie in ihr Portemonnaie schauen, kaum einen Pennie finden werden, der in diesem Jahr geprägt wurde – geschweige denn dreißig.


Glauben Sie jetzt an Geister?


Ich glaube, dass es vieles in dieser Welt gibt, was wir nicht verstehen. Und dass Geister zu sehen oft eine Alles-oder-Nichts-Sache ist – die Menschen glauben nicht daran, bis sie einen sehen und dann sind sie ganz plötzlich überzeugt. Ich habe Dinge gesehen, die ich mir mit dem bloßen Verstand nicht erklären kann. Und das bringt mich dazu zu glauben, dass die Existenz von Geistern durchaus möglich ist. Einer der für mich angenehmsten Aspekte, während des Schreibens von »Zeit der Gespenster« war, die Natur des Glaubens zu erforschen. Wir neigen dazu zu glauben, dass etwas ohne wissenschaftlichen Beweis nicht existieren kann. Die Menschen sagen, man könne nicht an Geister glauben, weil man sie nicht sehen, berühren oder einfangen kann. Aber dann müssten diese Menschen auch sagen, dass Liebe nicht existiert … und dennoch haben die meisten von uns das Gefühl, in der einen oder anderen Form, schon mal erlebt.


»Zeit der Gespenster« ist ein gelungenes Beispiel für die Mischung von Fakt und Fiktion, von Gegenwart und Vergangenheit. Wie haben sie es geschafft, diese verschiedenen Elemente in Ihrem Roman so nahtlos miteinander zu verknüpfen?


Wenn man etwas schreibt, das in irgendeiner Form von historischer Bedeutung ist, dann ist damit eine riesige Verantwortung verbunden, die Pflicht einer hundertprozentigen Genauigkeit. Aber in diesem Fall macht das Thema der sich wiederholenden Geschichte ein Eintauchen in die Vergangenheit ganz besonders notwendig. Es fiel mir sehr schwer zu entscheiden, ob ich die richtigen Namen der für das Eugenik-Projekt Verantwortlichen benutzen sollte – wie Harry Perkins, zum Beispiel. Er taucht im Buch auf, allerdings als eine Person über die gesprochen wird, die aber nie selbst in Erscheinung tritt. Die Protagonisten sind alle frei erfunden.

Die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart basiert vor allem auf den Charakteren von Lia und Meredith. Lias Verbindung ist offensichtlich, Merediths Anknüpfungspunkte sind eher intellektuell. Als Präimplantationsdiagnostikerin ist sie die moderne Version einer früheren Eugenikerin: eine Frau, die die Wissenschaft einsetzt, um Gutes zu tun, indem sie Techniken anwendet, die – wenn sie in die falschen Hände geraten –, verheerende Folgen haben können. Wer entscheidet, was ›optimal normal‹, ›optimal‹ oder ›optimal wertvoll‹ ist? Nicht der Wunsch der Eugeniker, eine besser Welt zu schaffen war falsch – es war die Definition von ›besser‹, die falsch war.

Von all meinen Büchern war das Schreiben bei diesem – erzählerisch gesehen – am schwierigsten. All diese Anknüpfungspunkte im ersten Teil so zu arrangieren, dass ich sie im letzten Teil schließlich auflösen konnte. Es gibt so viele überraschende Wendungen in »Zeit der Gespenster«, und dennoch musste es funktionieren, denn wenn man über historische Ereignisse schreibt, ist das Bedürfnis für eine Schlüssigkeit des Erzählten beim Leser besonders groß. Sie lesen das Buch und glauben zu wissen, was kommt … und in Wahrheit wissen Sie es nicht.

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