SECHS

21. August 1932




Aus einer Broschüre zum Dritten Internationalen Eugenik-Kongress:

Allein im Jahr 1927 wurden in staatlichen Einrichtungen alle 31 Sekunden 100 US-Dollar für die Versorgung von Geistesgestörten, geistig Behinderten, Epileptikern, Blinden und Taubstummen aufgewendet.




Mitten in der Nacht weckt mich ein krampfartiger Schmerz im Unterleib. Ich blicke über das Matratzenmeer hinweg zu Spencer hinüber, der tief schläft. Ich versuche, die Schmerzen zu unterdrücken. Doch dann reißt etwas, und ich bin zu schockiert, um auch nur aufzuschreien. Ich sehe das Blut mein Nachthemd durchtränken und den Reißzahn, scharf wie ein Messer. Eine schuppige Schnauze drängt sich durch das Loch in meiner Haut, dann ein Klauenfuß, ein Reptilienbauch, ein Schwanz. Der Alligator, der schließlich zwischen meinen Beinen hockt, blickt auf und grinst.

»Miz Pike …«

Die Stimme gehört zu jemandem, der zusehen will, wie ich bei lebendigem Leib verschlungen werde. Der Alligatorrachen schließt sich um meinen Oberschenkel.

»Miz Pike … Lia!«

Erst mein heimlicher Name lässt den Alligator verschwinden. Ich blinzele und sehe Ruby im Nachthemd vor mir stehen, mitten in der Eingangshalle des Plaza Hotels. Ihre Augen sind tieftraurig. »Sie müssen zurück ins Bett.«

Ich bin wieder schlafgewandelt. Und Ruby hat gut aufgepasst, denn dafür haben wir sie mit auf diese Reise genommen. Sie führt mich zu unserer Suite und wendet die Augen von Spencer ab, der seelenruhig im Bett schläft. »Auf Reisen schläft keiner gut«, wispert Ruby beruhigend. Sie schlägt die Decke zurück und hilft mir ins Bett, als wäre sie die Ältere von uns beiden.


Aus dem Programm des Dritten Internationalen Eugenik-Kongresses:


Eröffnungsansprache: Dr. H. F. Perkins, Präsident der Amerikanischen Eugenik-Gesellschaft

»Biologische Klassifizierung von Immigrantengruppen«: Prof. Jap van Tysedijk

»Wie sich der Untergang des Abendlandes verhindern lässt«: Dr. Roland Osterbrand

»Das Aussterben des Alten Amerikaners: Eine Studie zur Verbesserung der menschlichen Rasse«: Dr. Spencer Pike


Der Dritte Internationale Eugenik-Kongress tagt im New Yorker Museum of Natural History. Wir sitzen in der Nähe des Vortragssaales im Aufenthaltsraum der angereisten Koryphäen. Spencer bereitet sich auf seinen Vortrag vor, mein Vater studiert die Erläuterungen zum Programm. Ruby sitzt still wie ein Geist in einer Ecke und strickt.

Wir haben den Vorkämpfer für das Sterilisationsprogramm in Michigan kennengelernt, einen kubanischen Physiologen, der mir erklärte, es sei die Pflicht von Frauen wie mir, die Welt zu retten, indem sie mehr Kinder bekommen, und einen New Yorker Arzt, der nach Knoblauch roch und mit Spencer eine Stunde lang über die jährlichen Kosten für die Versorgung der Nachkommen zweier schwachsinniger Familien (zwei Millionen Dollar) im Vergleich zu den einmaligen Kosten für die Sterilisation der Eltern (150 Dollar) fachsimpelte.

Jetzt debattieren mein Vater und mein Mann darüber, was genau Spencer in seinem Vortrag ansprechen soll.

»Ich weiß nicht, Harry«, sagt Spencer, »im letzten Jahr haben wir das mit den Stammbäumen doch eigentlich aufgegeben.«

Die Entscheidung, die Stammbaumkarten nicht länger als Hauptwerkzeug für die Eugenik-Bewegung in Vermont einzusetzen, wurde getroffen, nachdem drei einflussreiche Parlamentsmitglieder, ohne deren Stimmen das Sterilisationsgesetz nicht hätte verabschiedet werden können, auf den Karten aufgetaucht waren, und zwar als Nachfahren der degeneriertesten Familien im ganzen Staat.

»Spencer, wir haben getan, was notwendig war, um das Sterilisationsgesetz nicht zu gefährden. Aber damit ist jetzt Schluss. Wir sollten uns wieder der Basisarbeit zuwenden.« Mein Vater nimmt mir einen Orangenschnitz aus der Hand und schiebt ihn sich in den Mund. Dann hält er Spencer den Finger unter die Nase. »Riechst du das? Du siehst es nicht mehr … aber du weißt, dass es da war. Du musst die Karten nicht zur Sprache bringen, wenn du nicht willst. Meinetwegen verbrenn sie, wenn du dich dann besser fühlst. Aber jeder im Saal erinnert sich noch an unsere Arbeit vor fünf Jahren, als wir diese Familien erfasst haben. Jeder wird wissen, was du nicht aussprichst.« Dann geht er aus dem Zimmer.

Spencer betrachtet die Karte. »Was meinst du dazu?«, fragt er mich, und ich falle fast vom Stuhl. Dass ich nach meiner Meinung gefragt werde, bringt mich so aus der Fassung, dass ich kaum die richtigen Worte finde. Ich denke an die Zigeunerin, der man den Sohn weggenommen hat. An Gray Wolf, der allein aufgrund meiner Hautfarbe dachte, ich wäre gekommen, um sein Leben zu ruinieren.

»Ich denke, dass der Schaden bereits angerichtet ist«, erwidere ich. Da dringen durch die offene Tür Spencers Name und donnernder Applaus.

Wenn fünfhundert Menschen auf einmal applaudieren, klingt das, als würde die Erde um einen herum aufbrechen. Spencer rollt die Stammbaumkarte, die vor ihm auf dem Tisch liegt, zusammen, schiebt sie sich unter den Arm und geht hinaus in den Vortragssaal. »Ladys und Gentlemen«, beginnt er, und ich muss nicht weiter hinhören, weil ich weiß, was er sagen wird.

Ich stehe auf und gehe nach draußen, die Treppe hinunter.

»Gehen wir spazieren«, schlage ich Ruby vor.


Die Hölle kann nicht viel anders sein als New York im Sommer. Der Schweißgestank vermischt mit dem Geruch der Salzlake in den Gurkenfässern der Straßenverkäufer, das Gedränge von Hunderten von Menschen, die Zeitungsjungen, die für fünf Cent Tragödien verkaufen, die Auspuffgase, die wie Gespenster aufsteigen. Es ist eine Unterwelt. Und es gibt eine Menge Leute, die dir angeblich einen Notausgang zeigen können. In meinem Fall ist es das kleine Mädchen, das mit seiner Mutter unter einer Wagenplane wohnt und sich meinen Dollarschein zusammengerollt wie eine Zigarette hinters Ohr steckt. Die Kleine führt Ruby und mich zu einem Sandsteinhaus drei Straßen weiter. Ein kleines Schild hängt über der Tür: HEDDA BARTH, MEDIUM.

Die Frau, die uns die Tür öffnet, ist sogar noch kleiner als Ruby und hat langes weißes Haar. »Wir würden gerne eine spirituelle Sitzung abhalten, mit Ihrer Hilfe«, sage ich.

»Aber Sie sind nicht angemeldet.«

»Nein.« Sie mustert mich, dann tritt sie zur Seite und lässt uns herein.

Sie steigt vor uns eine kleine Treppe hinauf und streckt die Hand nach der Wohnungstür aus, die von allein aufschwingt.

Ein sechseckiger Tisch wartet im Dunkeln auf uns. »Da wäre noch die Kleinigkeit der Bezahlung zu klären«, sagt Hedda.

»Der Preis«, entgegne ich, »spielt keine Rolle.«

Also fordert Hedda uns auf, Platz zu nehmen und uns an den Händen zu fassen. Sie mustert prüfend mein Gesicht und das von Ruby. »Sie haben beide jemanden verloren«, erklärt sie. Aber das hätte jeder erraten können, wieso wären wir sonst gekommen?

Plötzlich jedoch beginnt der Tisch zu beben und zu schwanken, hebt zwei Beine wie ein sich aufbäumendes Pferd. Hedda verdreht die Augen, und ihr Mund klafft auf. Ich blicke unsicher zu Ruby hinüber, weiß nicht, ob das normal ist.

»Ma poule.« Die Stimme ist höher als die von Hedda. Das Herz pocht mir im Gaumen, und das Baby strampelt, als wolle es sich befreien.

»Simone?«, fragt Ruby leise, verstört. Jetzt wird mir klar, wo ich diesen Tonfall schon mal gehört habe – bei Ruby, wenn sie manchmal unwillkürlich in ihr Frankokanadisch fällt.

»Chérie, sag deiner Freundin, dass sie keine Angst haben muss, nein. Wir warten hier schon alle auf sie.«

»Das ist meine Schwester«, sagt Ruby fassungslos. »Simone. Sie ist die Einzige, die mich so genannt hat – ma poule. Mein Hühnchen.«

Die Schwester, die an Diphtherie gestorben ist.

Plötzlich erschlafft das Baby in mir. Meine Arme sinken herab, meine Sorgen lösen sich auf der Zunge auf. So müssen Menschen sich in dem Augenblick fühlen, bevor ihr Automobil gegen einen Baum prallt. Es ist das weiße Licht, von dem so oft geredet wird; es ist die nahende Stille.

Es ist etwas, das meine eigene Mutter gefühlt hat.

Ich habe so viele Fragen – Werde ich je meinen Sohn sehen, oder ist das zu viel verlangt? Wird er sich an mich erinnern? Wird es wehtun? Werde ich es wissen, wenn es passiert? Doch im Moment genügt mir die Bestätigung, genügt es mir zu wissen, dass meine Instinkte mich nicht getrogen haben.

Madame Hedda kommt aus ihrer Trance. Ein Speichelfaden hängt ihr aus dem Mund. Ich lege einen Zehndollarschein auf den Tisch. Spencer werde ich erzählen, ich hätte ihn verloren. »Komm zurück«, sagt sie, und ich weiß, sie meint, von der anderen Seite.


Wir wissen, was Schwachsinnigkeit ist, und wir vermuten, dass alle Menschen, die unfähig sind, sich ihrer Umwelt anzupassen und gesellschaftliche Konventionen zu respektieren oder vernünftig zu handeln, schwachsinnig sind.

Henry Goddard, Schwachsinnigkeit: Ursachen und Folgen. 1914


Am Ende möchte ich es an einem vertrauten Ort machen. Auf der langen Zugfahrt zurück nach Hause denke ich darüber nach. Ich bin fast trunken von dem, was kommen wird. »Ich hab’s gewusst«, sagt Spencer zu meinem Vater. »Ich hab gewusst, dass die Reise ihr guttut.«

Als wir zu Hause ankommen, ist es fast Mitternacht. Spencer öffnet die Tür zu unserem Haus, und es klingt, als würde ein Siegel aufgebrochen.

»Ruby, du kannst morgen auspacken«, sagt Spencer, als wir die Treppe hinaufsteigen. »Liebling, du auch. Du gehörst ins Bett.«

»Ich brauche ein Bad«, wende ich ein. »Ein paar Minuten allein, um zu entspannen.«

Sogleich dreht Ruby sich langsam um. Ihr Mund ist zu einer Frage gerundet. »Du hast gehört, was der Professor gesagt hat«, sage ich schroff. Nach Wochen der Kameradschaft sind diese kalten, schneidenden Worte eine Waffe, um sie zu vertreiben. Sie eilt die Stufen hinauf in die Dienstbotenkammer, den Kopf eingezogen, unfähig zu begreifen, was uns so plötzlich entzweit haben mag.

Im Schlafzimmer nehme ich ein ordentlich gefaltetes Nachthemd und einen Bademantel aus dem Schrank. Dann warte ich vor der Badezimmertür, bis Spencer herauskommt. »Ich hab dir Wasser einlaufen lassen«, sagt er und blickt mitleidig lächelnd auf meinen Bauch. »Bist du sicher, dass du alleine wieder aus der Wanne kommst?«

Ich präge mir die Linien seines Lächelns ein, die Landschaft seiner Schultern. All die Gründe, warum ich mich in Spencer verliebt habe. »Mach dir keine Sorgen um mich«, sage ich schließlich, und ich meine das auf ewig.

Das Haus kommt allmählich zur Ruhe: Zunächst knarren noch die Wände und Dielenbretter, die Decke seufzt, dann wird alles still. Das Badezimmer ist voller Dampf. Ich entkleide mich, und der warme Nebel legt sich auf meine Haut. Mein Herz schlägt so schnell, dass ich schon meine, ich könnte es unter der Haut sehen – aber als ich nachschauen will, ist der Spiegel beschlagen. Anstatt ihn abzuwischen, presse ich die Hände auf die Scheibe, hinterlasse einen Abdruck. Mit einem Finger schreibe ich ein einziges Wort: H … I … L … F …E. Ich stelle mir vor, was geschehen wird, wenn man mich findet, reglos und weiß wie eine Marmorstatue. Ich male mir aus, dass alle nur Gutes über mich sagen, dass sie mich voller Mitleid und Liebe betrachten.

Um ein Uhr morgens ist das Badewasser kalt. Ich habe die Beine rechts und links von meinem gewölbten Bauch angewinkelt, die Handgelenke auf den Knien. Spencers aufklappbares Rasiermesser liegt auf dem Wannenrand.

Ich nehme es behutsam in die Hand und ziehe knapp unterhalb des Ellbogens eine Linie. Blut quillt hervor, und ich tauche meinen Finger hinein, verreibe es auf meinem Mund wie Lippenstift. Es schmeckt klebrig, salzig, metallisch. Es wundert mich nicht, dass ich bis ins Innerste bitter geworden bin.

Als der offene Schnitt nicht mehr schmerzt, setze ich die Klinge wieder an, einen Zentimeter tiefer. Zwei parallele Linien. Mein Leben und das meines Sohnes. Sie werden ihn aus meiner Schale befreien, und es wird ein besseres Leben sein. Sonst würde er, sobald er meinen Körper verlässt, anderen gehören – Spencer und meinem Vater. Und eines Tages würde er mich mit ihren Augen sehen – als jemanden, der die Wissenschaft, die sie neu erschaffen, nicht begreifen kann, als jemanden, der so naiv ist, an die Sprengkraft der Liebe zu glauben.

Und wenn mein Baby wundersamerweise doch ein Mädchen ist, dann wäre es noch schlimmer. Ich hätte versagt, weil Spencer sich einen Sohn wünscht. Und ich müsste nicht nur mit ansehen, wie er sie genauso behandelt, wie er mich behandelt hat … Ich müsste mit ansehen, wie sie die gleichen Fehler macht, die ich gemacht habe: sich in einen Mann verliebt, der das liebt, was sie ist, nicht die, die sie ist; heiratet, damit sie nicht allein ist, nur um festzustellen, dass sie dadurch noch einsamer wird; ein Kind in sich trägt, nur um zu erkennen, dass sie nie die sein wird, die das Kind verdient.

Noch ein Schnitt und noch einer. Blut wirbelt im Wasser, wie verträumt und rosa.

Endlich gehe ich fort, weil hier für mich kein Platz ist.

Mein letzter Schnitt, ins Handgelenk, ist der tiefste. Das Muster für diese Wunde ist schon vorgegeben, eine bläuliche Kreidelinie unter der Oberfläche.

Es wird noch ein Messer geben, das mich in der Mitte aufschneidet, um das Baby zu retten. Ärzte werden die Arbeit zu Ende führen, die ich begonnen habe, mich öffnen. Sie werden mit ratlosem Kopfschütteln innehalten, wenn sie verblüfft feststellen, wie leer ich bin.

Ein summendes Klopfen in den Ohren. Es ist jetzt so anstrengend, den Kopf oben zu halten. Mein Körper sinkt unter Wasser.

Da fliegt die Tür auf, und Ruby beugt sich über die Wanne, schreit mir ins Gesicht, ich solle durchhalten. Sie hält mich fest, weil ich mich längst nicht mehr an ihr festhalten kann. Sie ist mit meinem Blut beschmiert, aber irgendwie schafft sie es, mich über den Wannenrand zu hieven, sodass ich nass und nackt und blutig auf den Badezimmerboden falle, während sie nach Spencer ruft. Er erscheint in der offenen Tür und stürzt zu mir. »Cissy, Gott, nein.« Er wickelt ein Handtuch um meinen Arm, und als es sofort mit Blut durchtränkt ist, wird er weiß im Gesicht und rennt aus dem Zimmer. »Du bleibst hier bei ihr, verstanden?«, brüllt er Ruby an, die sich vor Entsetzen nicht rühren kann. In der Ferne höre ich ihn ins Telefon schreien und den Arzt verlangen.

Mit letzter Kraft strecke ich die Hand nach Ruby aus, packe ihr Nachthemd und ziehe sie zu mir. »Rette das Baby«, flehe ich heiser, aber sie schluchzt so laut, dass sie mich nicht hört. Also schlinge ich meine unversehrte Hand um ihren Nacken. Ich küsse sie auf die Lippen, damit sie meinen Schmerz schmeckt. »Rette mein Baby«, flüstere ich. »Versprich es mir!«

Ruby nickt, sieht mir in die Augen. »Ich verspreche es

»Das ist gut«, sage ich und lasse die Wellen über meinem Kopf zusammenfließen.


Die Rechte des Einzelnen können nicht umfassend geschützt werden, wenn er gezwungen ist, für Gesetzlose, Verwahrloste, Verkommene und psychisch Kranke Sorge zu tragen.

H. F. Perkins: Lehren aus der Eugenik-Erhebung von Vermont: Erster Jahresbericht, 1927


Alles ist weiß. Die Decke, das Licht, die Bilder auf der Innenseite meiner Augenlider. Der Verband, der von der Schulter bis zur Hand so fest um meinen Arm gewickelt ist, dass ich den Puls unter der Haut spüre.

Spencer und Dr. DuBois stehen vor der Tür. »Joseph«, sagt Spencer, »von der Sache hier darf nichts durchsickern.«

Dr. DuBois ist der angesehenste Arzt in Burlington. Er hat mich auf die Welt geholt; er wird ganz bestimmt auch mein Baby auf die Welt holen. »Spencer …«

»Bitte. Ich flehe dich an.«

»Es gibt Möglichkeiten, du weißt schon, auf dem Land, wo man sich um sie kümmern könnte. Alles sehr idyllisch – ich meine nicht Waterbury.«

»Nein. Das kann ich ihr nicht antun.«

»Cissy? Oder dir selbst?« Dr. DuBois schüttelt den Kopf. »Diesmal geht es nicht um dich, Spencer«, sagt er und verabschiedet sich.

Spencer setzt sich auf die Bettkante und starrt mich an. »Es tut mir leid«, bringe ich heraus.

»Ja, das glaub ich«, antwortet er, und trotz der Hitze im Zimmer läuft es mir kalt den Rücken runter.


Frage:

Was versteht man unter negativer Eugenik?


Antwort:

Die Eliminierung der dysgenischen Elemente aus der Gesellschaft durch Maßnahmen wie Sterilisation, Immigration, gesetzliches Eheschließungsverbot von fruchtbaren Minderwertigen etc.


American Eugenics Society:

Ein eugenischer Katechismus, 1926


Es vergeht eine ganze Woche, bis Spencer mich mit Ruby allein im Haus lässt, weil er unbedingt wieder zur Universität muss. »Du weißt ja, du kannst mich jederzeit anrufen«, sagt er.

Ich blicke von der Weißbrotscheibe auf, die ich gerade mit Butter bestreiche. »Ja.«

»Vielleicht können wir heute Nachmittag zusammen ein Eis essen gehen. Wenn dir danach ist.« Das ist Spencers Art, mir zu sagen, dass ich noch am Leben sein soll, wenn er nach Hause kommt. »Also dann.« Er sieht so gut aus in seinem leichten Anzug, mit dem nach hinten gekämmten Haar und der Fliege, die so gerade hängt wie Justitias Waagschalen. Ich weiß, dass er das Buttermesser in meiner Hand anstarrt und sich fragt, ob es Schaden anrichten kann. Vor seinen Augen lecke ich die stumpfe Klinge ab, nur um seine Reaktion zu sehen.

»Ich schicke dir Ruby«, sagt er und flüchtet.

Ruby, die mir tunlichst aus dem Weg geht, kommt in die Küche geschlichen, als Spencers Wagen die Einfahrt hinunterrollt. »Miz Pike«, sagt sie.

»Miss Weber.«

»Wenn Sie meine Freundin wären«, platzt Ruby heraus, »hätten Sie mir gesagt, dass Sie das tun würden.« Ihre Augen starren auf mein verbundenes Handgelenk.

»Aber dann hättest du mich logischerweise daran gehindert«, antworte ich leise.

Lärm von draußen bewahrt mich davor, noch mehr sagen zu müssen. Wir treten aus der Hintertür, um nachzusehen, was los ist, aber dort sind nur zwei Libellen zu sehen, die sich gegenseitig jagen.

Wir wollen uns schon umdrehen, da sehe ich, dass die Tür zum Eishaus nur angelehnt ist. Das kleine Nebengebäude stammt noch aus der Zeit meiner Großmutter. Alle paar Tage bekommen wir Eisblöcke geliefert, die im Winter aus dem Lake Champlain geschnitten wurden. Sie werden in der kleinen Scheune in Sägemehl gepackt, und wir schlagen das Eis für den Eisschrank in der Küche davon ab. Spencer achtet peinlich genau darauf, dass die Tür geschlossen bleibt. Ruby holt wortlos die alte Flinte aus der Vorratskammer.

»Bleib hier«, sage ich, aber Ruby hört nicht auf mich. Wir gehen mit der Flinte zum Eishaus und schlüpfen hinein, warten, bis unsere Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt haben. Ich habe viel Zeit im Dunkeln verbracht. Ich spüre, dass da ein dritter Körper im Raum ist. »Rauskommen«, rufe ich, tapferer, als mir zumute ist.

Nichts.

»Ich habe gesagt, rauskommen!« Mit dem Mut der Verzweiflung hebe ich die Flinte und schieße auf einen der Eisblöcke. Er explodiert regelrecht. Ruby kreischt auf, und links hinter mir ruft ein Mann: »Verdammt!«

Gray Wolf kommt aus seinem Versteck, die Hände erhoben wie im Film. In seinem Gesicht spiegeln sich seltsamerweise Stolz und Schrecken zugleich.

»Was machen Sie denn hier?« Jetzt, wo es vorüber ist, zittern mir die Hände. »Ist schon gut«, beruhige ich die verängstigte Ruby. »Ich kenne ihn.«

»Sie kennen ihn?« Ruby klappt der Mund auf.

Ich antworte ihr nicht. In diesem Moment ist mir nur eines wichtig: Ich möchte ihm beweisen, dass ich nicht so bin, wie er mich bei unserer letzten Begegnung eingeschätzt hat.

»Gray Wolf«, sage ich, »das ist Ruby. Ruby, Gray Wolf.«

»Ich geh den Professor anrufen«, murmelt Ruby halblaut.

Ich halte sie am Arm fest. »Nein.«

Aber sie lebt schon eine Weile im Haus eines Eugenikers. Und ihre frankokanadische Abstammung ist bei Weitem nicht so bedenklich wie die eines Zigeuners. »Miz Pike«, sagt sie, und ihre Augen gleiten zu seinem Gesicht. »Er ist … er ist …«

»Hungrig«, führe ich den Satz zu Ende. »Würdest du uns bitte etwas aus der Küche holen?«

Sie schluckt, nickt und geht zum Haus. Als wir allein sind, hebt Gray Wolf meinen Arm und fährt mit dem Finger über die Spirale des Verbandes. »Sie sind verletzt.« Ich nicke. »Ein Unfall?«

Ich schaue weg und schüttele den Kopf.

Er betrachtet weiter die Mullbinde, ist sichtlich aufgebracht. »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht, das Sie schützen soll. Aber ich komme wohl zu spät.«

Er holt einen Lederbeutel aus der Tasche, der an einem langen Lederriemen hängt. Er riecht schwach nach Sommer – und nach ihm. »Schwarzesche, gemahlener Schierling, gelber Frauenschuh.« Gray Wolfs Augen huschen zu meinem Bauch. »Für euch beide.« Er streift mir den Riemen über den Kopf, und ich merke, wie ich mich ihm zuwende, wie das Leder meine Haut wärmt. »Kizi Nd’aib nidali

»Was bedeutet das?«

»›Ich weiß, wie das ist.‹«

Ich blicke in Gray Wolfs Gesicht, und ich glaube ihm. Dieser Mann weiß, wie es ist, an einem Ort gefangen zu sein, der ihn töten kann, falls er es nicht selbst tut. Ich lese es in seinen Augen – schwarz, die Farbe, die übrig bleibt, wenn alle anderen Farben der Welt untergehen.

»Was heißt ›Danke‹?«, frage ich.

»Wliwni

»Also dann: wliwni.« Ich berühre den Perlenbesatz auf dem Beutel, eine kunstvolle Schildkröte. »Woher wussten Sie, wo Sie mich finden können?«

Er muss lächeln. »In Burlington weiß doch jeder, wo Ihr Mann wohnt.«

»Sie haben die Mokassins für mich auf die Veranda gelegt.«

»Ich habe sie für das Baby dorthin gelegt.«

»Sie hätten nicht kommen sollen«, sage ich.

»Warum nicht?«

»Spencer wird das nicht gefallen.«

»Ich bin nicht seinetwegen hier, Lia«, erwidert Gray Wolf. »Ich bin Ihretwegen hier.«

Ich weiß nicht, was ich sagen soll, doch in dem Moment kommt Ruby mit einem Tablett mit Limonade und Gebäck aus dem Haus. Als ich auf sie zugehe, spüre ich den Medizinbeutel an meinem Körper. Gray Wolf und ich sind die einzigen Menschen auf der Welt, die wissen, dass er da ist. Ich frage mich, wieso er mich schon zweimal Lia genannt hat, wo ich mich ihm doch gar nicht so vorgestellt habe.


Erste Statistiken zeigen, dass die Bevölkerung von Vermont einen Höchststand an körperlichen und geistigen Defekten aufweist. Man vermutet, dass dies mit dem hohen frankokanadischen Bevölkerungsanteil zusammenhängt.

H. F. Perkins: Projekt Nr. 1, EEV-Archiv, 1926


Irgendwie weiß Gray Wolf, wann er kommen kann. Wenn Spencer eine Vorlesung hat und Ruby Einkäufe macht, sitzt er plötzlich auf meiner Veranda. Er tritt hinter einem Baum hervor, wenn ich einen Abendspaziergang im Wald mache. Wenn er nicht selbst kommt, finde ich weitere Geschenke: ein Weidenkörbchen, einen kleinen Schneeschuh, die Zeichnung eines galoppierenden Pferdes. Wenn wir zusammen sind, frage ich mich, wo er mein Leben lang gesteckt hat.

Ich weiß sehr wohl, dass ich das nicht fördern sollte. Er kommt vom rauen Rand der Gesellschaft, ich bin in ihrer festen Mitte aufgewachsen. Er ist dunkel und ruhig und völlig anders als ich, und genau deshalb sollte ich ihn auf Distanz halten. Aber genau deshalb bin ich auch so fasziniert von ihm.

Wenn man durch die Straßen von Burlington geht, kann man Menschen aller Schattierungen sehen – Iren, Italiener, Zigeuner, Juden –, aber alle, die so aufwachsen wie ich, lernen Scheuklappen zu tragen. Man registriert nur die Menschen, die so aussehen wie man selbst.

Was würde Spencer wohl sagen, wenn er wüsste, dass der Mensch, mit dem ich mich am meisten identifiziere, ein Zigeuner ist, jemand, der genauso wenig in diese Welt passt wie ich?

Heute werde ich Gray Wolf nicht sehen, und ich bin enttäuscht. Ich werde tagsüber nicht zu Hause sein, sondern muss zum monatlichen Treffen des Klifa Club. Das ist der angesehenste Damenclub in Burlington; aufgrund meiner gesellschaftlichen Stellung versteht sich meine Mitgliedschaft von selbst.

Ich lausche zwei Stunden lang einer Harfenistin und weitere zweieinhalb Stunden dem langatmigen Vortrag eines Botanikers über Gärten und Parks in Italien. Ich quäle mich durch Limonaden und Kanapees, während andere Frauen mir sagen, was ich schon weiß – dass es ein Junge wird. Ich schleiche mich die Treppe hinunter, als die Damen die Veranstaltung im kommenden Monat besprechen.

Unter der grünen Markise wartet Gray Wolf auf mich, als wären wir verabredet. Ich bin ein klein wenig erschrocken, dass er mich sogar hier in der Stadt gefunden hat, doch er hebt nur die dunklen Augenbrauen und bietet mir eine Zigarette an. Wir spazieren gemeinsam weiter. Zunächst spricht keiner von uns. Es ist nicht nötig.

»Der Klifa Club«, sagt er schließlich.

»Ja.«

»Wie ist es da so?«

»Natürlich prachtvoll. Und sehr exklusiv.«

Er lacht.

Als wir zu einer Straßenkreuzung kommen und er meinen Ellbogen umfasst, erstarre ich. Wir haben uns zwar schon häufig getroffen, aber berührt hat Gray Wolf mich noch nie. Er bemerkt meine Anspannung, lässt mich los.

»Sie nennen mich Lia«, sage ich. »Warum?«

Er zögert. »Weil Sie nicht aussehen wie eine Cissy.«

»Wie würde mein Name in Ihrer Sprache klingen?«

Er schüttelt den Kopf. »Meine Sprache spricht niemand mehr.«

»Aber Sie tun es.«

»Nur weil ich nichts mehr zu verlieren habe.« Er sieht mich kurz an. »Man kann nicht jedes beliebige Wort in Alnôbak übersetzen.« Gray Wolf deutet mit dem Kinn auf die Brosche an meiner weißen Bluse, eine kleine Uhr. »Das zum Beispiel heißt papizwokwazik. Aber das bedeutet nicht Uhr. Es ist ›das Ding, das tickt‹. Ein Biber kann ein tmakwa sein – ein Holzfäller – oder ein abagôlo – Flachschwanz – oder ein awadnakwazid – der Holzschlepper … je nachdem, wie man ihn sieht.«

Mir gefällt die Vorstellung, dass ein Name sich von Fall zu Fall ändern kann. »Awadnakwazid«, wiederhole ich genüsslich. »Ich wünschte, ich hätte einen Namen wie Gray Wolf.«

»Dann geben Sie sich selbst einen. Ich hab’s getan.« Er zuckt die Achseln. »Mein Geburtsname ist John … Azo. Aber Gray Wolf passt besser zu mir.«

Wir sind inzwischen auf die belebte College Street eingebogen. Ich weiß genau, dass die Mutter, die mit ihrer Tochter spazieren geht, und der Geschäftsmann mit seinem Elfenbeinstock und die beiden jungen Soldaten nicht verstehen, was jemand wie ich mit jemandem wie Gray Wolf zu schaffen hat. Ich frage mich, wer uns sonst noch alles sieht.

»Früher bin ich manchmal im Haus meines Vaters auf das Dach geklettert und hab überlegt, ob ich springen soll«, sage ich. »Einmal bin ich tatsächlich gesprungen. Und hab mir prompt den Arm gebrochen.«

»Warum wollten Sie springen?«

Das hat mich noch nie jemand gefragt. »Weil ich es konnte.« Ich bleibe stehen, und die Passanten müssen uns ausweichen. »Geben Sie mir einen Namen.«

Er sieht mich lange an. »Sokoki«, sagt er. »Die ausgebrochen ist.«

Plötzlich höre ich hinter mir jemanden rufen. »Cissy?« Spencers Stimme. »Bist du das?«

Vielleicht wollte ich ja ertappt werden, vielleicht habe ich damit gerechnet. Aber als Spencer vor Gray Wolf steht, zittern mir die Knie. Ich würde hinfallen, wenn Spencer mich nicht auffangen würde.

»Liebling?«

»Mir ist nur ein bisschen schwindelig nach dem Klifa Club.«

Spencer wirft Gray Wolf einen herablassenden Blick zu. »Geh weiter, Häuptling.«

»Ich bin kein Häuptling.«

Mit klopfendem Herzen greife ich in meine Handtasche und hole einen Dollarschein heraus. »Also gut«, mische ich mich ein, als hätten Gray Wolf und ich um etwas gefeilscht. »Aber mehr zahle ich nicht dafür.«

Er spielt mit, aber Enttäuschung verdunkelt seine Augen. »Danke, Ma’am.« Er gibt mir etwas Kleines, um das ein Taschentuch gewickelt ist. Dann verschwindet er zwischen den vielen Menschen.

»Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht mit Bettlern sprechen«, sagt Spencer und nimmt meinen Arm.

»Es ist christliche Barmherzigkeit«, murmele ich.

»Was hat er dir denn angedreht?«

Ich luge zwischen die Falten des Taschentuchs, und schon wird mir wieder schwindelig. »Billigen Schmuck«, sage ich und stopfe das Miniaturporträt in meine Tasche, bevor Spencer das Gesicht erkennt. Es ist das gleiche wie auf dem Bild, das auf meiner Frisierkommode steht und mir helfen soll, das Aussehen meiner Mutter nicht zu vergessen.


Das Gerät aus dem Traum spüre ich förmlich noch, ein TriField EMF-Messgerät, das ein Mann mit langen Haaren bedient.

Die andere Seite des Bettes ist leer. Ruhelos gehe ich ins Bad und spritze mir Wasser ins Gesicht. Dann gehe ich nach unten und suche Spencer.

Er ist in seinem Arbeitszimmer. Nur die Lampe mit dem grünen Glasschirm auf seinem Schreibtisch brennt. Einige Stammbaumkarten sind auf dem Dielenboden ausgerollt wie alte Straßen, und durch das offene Fenster dringen die Rufe der Ochsenfrösche. Als er den Kopf hebt, sehe ich, dass er betrunken ist.

»Cissy. Wie spät ist es?«

»Nach zwei.« Ich mache ein paar Schritte auf ihn zu. »Komm doch ins Bett.«

Er vergräbt das Gesicht in den Händen. »Wieso bist du wach geworden?«

»Die Hitze.«

»Hitze.« Spencer nimmt sein Glas und leert es. Eine Ameise krabbelt über den Schreibtisch. Er zerquetscht sie mit dem Boden des Whiskyglases.

»Spencer?«

Er wischt das Glas mit seinem Taschentuch ab und blickt zu mir hoch. »Denkst du«, fragt er leise, »dass sie es spüren? Denkst du, sie wissen, was passiert?«

Ich schüttele verwirrt den Kopf. »Du musst jetzt schlafen.«

Doch da zieht Spencer mich auf seinen Schoß. Er hält meinen Arm fest und berührt die Stelle, wo der Verband in der Armbeuge festgeklebt ist. »Weißt du eigentlich, wie furchtbar es für mich wäre, dich zu verlieren?«, flüstert er leidenschaftlich. »Hast du überhaupt eine Ahnung, wie viel du mir bedeutest?«

Meine Lippen bewegen sich kaum. »Nein.«

»Ach, Cissy.« Er drückt das Gesicht zwischen meine Brüste, und sein Atem fällt über unser Kind. »Du bist doch der Grund, warum ich es tue.«


Ruby sagt mir Bescheid, dass er wartet.

»Spencer ist drinnen«, sage ich angstvoll, als ich Gray Wolf auf unserer Veranda erblicke.

»Frag mich«, verlangt er.

Ich bin unruhig. Spencer sitzt in der Badewanne. Und ich habe so viele Fragen. »Haben Sie meine Mutter gekannt?« Als er nickt, überrascht mich das nicht.

»Wie war sie?«

Seine Augen werden weich. »Wie du.«

Ich bin an einem Ort angelangt, wo es keine Worte mehr gibt. »Mehr«, bringe ich heraus.

Und so erzählt er mir, wie sie aussah, als sie genau auf dieser Veranda stand, in diesem Haus, in dem sie aufwuchs, bevor sie meinen Vater heiratete. Er malt die Farbe ihres Haars, und sie passt zu meiner. Er erzählt mir, dass sie laut pfeifen konnte und dass ihre Kleidung immer nach Zitronen duftete. Er hatte für ihren Vater auf dem Feld gearbeitet, damals, als der Besitz noch eine richtige Farm war. Er erzählt mir, dass meine Mutter gern gelacht hat.

Er erzählt mir, dass sie sich eine Tochter wünschte, mehr als alles auf der Welt, damit sie mit ihr noch einmal aufwachsen könnte.

Ich lehne mich gegen die Hauswand und schließe die Augen. Wird mein Kind auch so viel Glück haben? Wird ihm in vielen Jahren jemand von mir erzählen?

Ich sehe Gray Wolf an. »Ich werde sterben.«

»Lia«, sagt er, »das werden wir alle.«

Plötzlich geht die Tür auf. Spencers Haar ist noch nass. »Ich hab doch gehört, dass du dich mit jemandem unterhältst«, sagt er vorwurfsvoll.

»Das ist Gray Wolf«, erkläre ich. »Ich habe ihn gerade eingestellt.«

Spencer überlegt, wieso ihm Gray Wolfs Gesicht so bekannt vorkommt … aber es wird ihm nicht einfallen. An jenem Tag auf der Straße wollte Spencer nur so schnell wie möglich einen Zigeuner loswerden. Gray Wolf hätte keinen bleibenden Eindruck hinterlassen können.

»Das Dach hier und das vom Eishaus müssen ausgebessert werden. Du hast gesagt, ich soll jemanden suchen, der das erledigt. Gray Wolf, das ist mein Mann, Professor Pike.«

Spencers Blick wandert ein letztes Mal von Gray Wolf zu mir. »Die Leiter ist in der Garage«, sagt er endlich. »Und fangen Sie mit der Dachrinne an.«

»Ja, Sir.« Gray Wolfs Miene ist ausdruckslos. Er geht auf die Garage zu, um eine Arbeit auszuführen, die er gar nicht haben wollte.

Spencer sieht ihm nach. »Wo hast du den denn aufgetrieben?«

»Über die Hardings«, lüge ich.

»Cal Harding?« Das wird Spencer überzeugen, unser Nachbar ist nämlich ein Perfektionist. »Haben sie seine Referenzen überprüft?«

»Spencer, er repariert unser Dach, mehr nicht.«

Aus der Garage ertönt Geklapper. »Der Mann gefällt mir nicht«, sagt Spencer.

»Mir aber«, erwidere ich.


Eugenik ist der wissenschaftliche Niederschlag unseres Selbsterhaltungswillens und unserer elterlichen Instinkte.

O. F. Cook: »Das Erlöschen des bäuerlichen Lebens: Wie die Vernachlässigung der Eugenik die Landwirtschaft schädigt und die Zivilisation gefährdet«, aus einer Rezension von E. R. Eastman im »Journal of Heredity«, 1928


Als Kind ging ich oft in das Büro meines Vaters in der Universität und bildete mir ein, sein wuchtiger Ledersessel wäre ein Thron und ich die Königin. Ich bildete mir ein, den Raum mit der gleichen Autorität ausfüllen zu können wie mein Vater.

Er sitzt an dem Schreibtisch und arbeitet, als ich unangemeldet eintrete. »Cissy! Das ist aber eine nette Überraschung. Was führt dich her?«

Seit ein paar Tagen ist mein Bauch zum Zerreißen gespannt. »Dein Enkelsohn wollte dich besuchen.«

Er sieht, dass mir beinahe die Tränen kommen, steht auf und nimmt meine Hand. »Sag mir, was los ist.«

Oh Gott, wo soll ich da anfangen? Schließlich bringe ich nur ein Wort heraus: »Mama«, flüstere ich.

»Sie wäre so stolz auf dich. Sie hätte dieses Baby furchtbar gern gesehen.« Er überlegt kurz. »Es ist ganz natürlich, dass du dir Sorgen machst. Aber Cissy, du bist eine andere Frau als deine Mutter, Gott hab sie selig. Du bist stärker.«

»Woher weißt du das?«

»Weil etwas von mir in dir steckt.« Er lächelt. »Vielleicht komme ich heute Nachmittag zu euch raus. Wie ich höre, habt ihr einen Zigeuner da, der ein paar Arbeiten erledigt.«

»Ja.« Ich frage mich, was Spencer ihm erzählt hat.

»Ich selbst habe noch nie einen angeheuert.« Mein Vater lehnt sich gegen den Schreibtisch. »In meiner Schule war ein Indianer. Linwood … meine Güte, ich weiß doch tatsächlich noch seinen Namen! Der Junge war ein Indianer wie aus dem Bilderbuch. Mit Zöpfen und allem. Natürlich wollten wir Jungs damals alle Cowboy und Indianer spielen. Und dieser Linwood konnte Fallen stellen und jagen und mit Pfeil und Bogen schießen. Was sage ich, er konnte einen Schießbogen bauen.« Bewunderung schwingt in der Stimme meines Vaters. »Er trug Mokassins zur Schule«, sagt er müde. »Er hat alle möglichen Sachen gemacht, die wir anderen nicht durften.«

Ich frage mich, ob etwas so Simples sich vielleicht im Kopf meines Vaters festgesetzt und ihn überhaupt erst zur Eugenik gebracht haben könnte. Eine zufällige Begegnung, die damals ganz unwichtig war, im Laufe der Zeit aber eine ungeheure Bedeutung angenommen hat. Man denkt nicht lange über die Mokassins eines Indianerjungen nach, die man selbst so gerne gehabt hätte, aber vielleicht vergisst man sie nie.

Ich studiere sein Gesicht. »Wie war das mit Mama? Kannte sie irgendwelche Indianer?«

Das Licht in den Augen meines Vaters erlischt. »Nein«, antwortet er. »Sie hatte Todesangst vor ihnen.«


Styla Nestor, eine angeheiratete Kusine von Gray Wolf Delacour, bringt seine regelmäßigen Alkoholexzesse und seinen unsittlichen Lebenswandel mit dem unsteten Zigeunerleben in Verbindung, das höchstwahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, dass Aufseher und Bürger ihn loswerden wollten. Die einzige halbwegs dauerhafte Adresse, die ihr Vetter ihrer Erinnerung nach jemals hatte, war das Staatsgefängnis.

Aus den Akten von Abigail Alcott, Sozialarbeiterin


Die Mittagssonne kitzelt mich am Hals. Ich fahre im Bett hoch, sehe auf den Wecker und bin erschrocken. Wieso hat Ruby mich nicht längst geweckt?

Das stete Klopfen des Hammers über meinem Kopf verrät mir, dass Gray Wolf schon auf dem Dach arbeitet, und es gibt so vieles, das ich ihn fragen möchte.

»Kaffee?«, fragt Ruby, als ich in die Küche komme.

»Jetzt nicht.«

»Miz Pike …«, setzt sie an, doch ich bin schon zur Hintertür hinaus.

Ich schirme die Augen mit der Hand ab. »Gray Wolf?«, rufe ich und stolpere rückwärts, als das Gesicht meines Mannes über dem Dachrand auftaucht. »Spencer, was machst du denn da?«

»Die Arbeit zu Ende bringen, die ich von vornherein selbst hätte erledigen sollen.« Er schiebt den Hammer in die Schlaufe hinten an seinem Gürtel und steigt vorsichtig die Leiter hinunter. »Ich hab ihn rausgeschmissen«, sagt er, als er vor mir steht.

»Was … was hat er angestellt?«

»Was hat er nicht angestellt, Cissy?« Spencer zieht ein Blatt Papier aus der Tasche. Es ist der Durchschlag eines fast zwanzig Jahre zurückliegenden Gerichtsurteils, in dem es heißt, dass John »Gray Wolf« Delacour wegen Mordes für schuldig befunden und für fünfundzwanzig Jahre hinter Gitter geschickt wurde. Ein zweites Blatt ist daran geheftet – seine Entlassung auf Bewährung aus dem Staatsgefängnis, datiert auf den vierten Juli dieses Jahres.

»Mein Gott, er war mit dir und Ruby hier allein!«


John »Gray Wolf« Delacour ist angeblich ein Enkel von Missal Delacour, der alten Zigeunerin. John ist nicht ganz so dunkel wie seine Vorfahren, aber er hat den lockeren, schlurfenden Gang eines Zigeuners. Seine eigenen Verwandten halten ihn für hochnäsig, ungebildet und unmoralisch, wenngleich er Lesen und Schreiben gelernt hat. Wer sich für Evolution interessiert, müsste John Delacours Stammbaum nicht sehr weit zurückverfolgen, um auf das Missing Link zu stoßen.

Aus den Aufzeichnungen von Abigail Alcott, Sozialarbeiterin


Es fällt mir alles so erstaunlich leicht – der erfundene Arzttermin zur Schwangerschaftsuntersuchung, die hastige Fahrt in die Stadt, die Abzweigung, die mich zum Lager am Seeufer bringt.

Als ich diesmal durch das Labyrinth von Zelten gehe, fallen mir die Farben auf. Eine Frau schüttelt einen leuchtend gestreiften Seidenmantel aus. Einige Zelte weiter hockt eine Alte auf einem Stuhl und befestigt einen dünnen Eschengriff an einem Korb. Eine scheckige Katze spielt zu ihren Füßen; ein knallgelber Kanarienvogel hockt auf ihrer Schulter. Männer packen ihre Waren zum Verkauf in bunte Kisten, laden sie für die nächste Fahrt zum Bauernmarkt ein. Im Vergleich dazu kommt mir mein Leben farblos und blass vor.

Als ich auf die Korbflechterin zugehe, tut sie so, als sähe sie mich nicht. »Entschuldigung«, sage ich. Ihre Katze maunzt und läuft weg. »Ich suche Gray Wolf. John Delacour?«

Vielleicht liegt es daran, dass ich hochschwanger bin, vielleicht an meinem dringlichen Blick – jedenfalls steht die alte Frau auf, nimmt den Kanarienvogel von ihrer Schulter und setzt ihn auf die Stuhllehne. Sie lässt den unfertigen Korb auf dem Boden liegen und hinkt auf den Wald zu. Dann deutet sie auf ein Kiefernwäldchen, das sich über einen steilen Hang erstreckt, und überlässt mich mir selbst. Meine Beine schmerzen von der Anstrengung des Aufstiegs, und ich werde unsicher, ob diese Frau überhaupt verstanden hat, nach wem ich suche. Doch dann tut sich unversehens eine kleine Lichtung vor mir auf. Der Boden ist uneben, als kochte die Erde unter dem Gras. Zwischen diesen Erhebungen sitzt Gray Wolf.

Als er mich sieht, steht er auf, und ein Lächeln erhellt sein Gesicht. »Ich wusste nicht, ob ich Sie noch mal wiedersehe«, sagt er erleichtert.

Beklommen verschränke ich die Arme über dem Bauch. »Sie haben mich angelogen. Spencer hat herausgefunden, dass Sie im Gefängnis waren. Und mein Vater sagt, dass meine Mutter Sie nicht gekannt hat. Dass Sie Angst hatte vor Menschen wie Ihnen.«

»Menschen wie mir. Ist Ihnen schon mal der Gedanke gekommen, dass ich vielleicht nicht der Einzige bin, der hier lügt?«

»Aus welchem Grund sollten die beiden denn lügen?«

»Warum lügt man?«, fragt er zurück. »Fragen Sie mal unten am Fluss die Leute, wer sie sind, und jeder wird Ihnen erzählen, sie wären dunkelhäutige Franzosen. Vielleicht haben sie auch irisches oder italienisches Blut. Manche geben sich lieber als Schwarze oder Mohawk aus, weil das immer noch nicht so schlimm ist wie Abenaki. Eines müssen Sie wissen, Lia, hier darf es keine Indianer geben, das würde nämlich bedeuten, dass hier Menschen gelebt haben, bevor die alten Vermonter herkamen.«

»Wegen Mordes ins Gefängnis zu wandern ist aber etwas ganz anderes«, wende ich ein. »Man wird nicht für ein Verbrechen verurteilt, das man nicht begangen hat.«

»Ach nein?« Er macht einen Schritt auf mich zu. »Hat Spencer Ihnen von dem Mann erzählt, den ich getötet habe? Er war Aufseher im Steinbruch, und er hat einen Mann geschlagen, weil er nicht schnell genug Steine geschleppt hat. Einen Mann, der siebenundneunzig Jahre alt und mein Großvater war und der vor meinen Augen an den Schlägen gestorben ist.«

Ich rufe mir Abigails Unterlagen in Erinnerung: John ist ein notorischer Lügner und sehr gerissen … es ist absolut unmöglich, ihm die Wahrheit zu entlocken. »Dafür hätte Sie kein Gericht wegen Mordes verurteilt.«

»Auch nicht, wenn gewisse Leute mich loswerden wollten?«, sagt Gray Wolf. »Leute, auf die Geschworene große Stücke halten?«

Schlagartig sehe ich meinen Vater vor mir, der kurz vor der Verabschiedung des Sterilisationsgesetzes mit Governeur Wilson diniert. Dr. DuBois, der Spencer nicht dazu bringen kann, mich einweisen zu lassen … und der kein Sterbenswörtchen über den Selbstmordversuch von Professor Pikes Gattin verloren hat. »Sie haben aber nicht die volle Strafe abgesessen«, wende ich ein.

»Nein. Ob Sie’s glauben oder nicht, endlich hatte ich mal etwas, das sie wollten, etwas, mit dem ich handeln konnte.« Er blickt nach unten. »Der Gefängnisdirektor war ganz begeistert von dem neuen Sterilisationsgesetz. Insassen, die sich freiwillig für eine Vasektomie zur Verfügung stellten, bekamen fünf Jahre erlassen. Für mich bedeutete das die Freiheit.«

Es ist eine Sache, Spencer zuzuhören, wenn er über Sterilisation theoretisiert. Es ist etwas völlig anderes, einen Mann über seine eigene Vasektomie sprechen zu hören. »Aber um welchen Preis«, murmele ich.

»Ich habe nicht daran gedacht, was sie mit mir anstellen würden, auch nicht, dass ich nie eine Familie haben würde. Ich hatte nur den einzigen Gedanken, dass ich dann endlich das Kind kennenlernen könnte, von dem ich bereits wusste und das zur Welt kam, als ich schon im Gefängnis saß.« Gray Wolf hebt mein Kinn an. »Lia«, sagt er, »du warst es wert.«

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