ELF
»Wer sind denn Sie?«, fragte Lia oder wer immer sie war. Sie wartete allerdings nicht erst auf eine Antwort, sondern streckte den Kopf zur Tür hinaus und rief nach einer Krankenschwester. Gleich darauf war das Zimmer voller Schwestern und Ärzte, die sich vor dem Bett drängten und sich gegenseitig beruhigten, dass kein erneuter Herzstillstand drohe. Lia hörte sich die Fachsimpeleien an, während sie stocksteif dastand und gebannt auf den Monitor starrte, bis der wieder zu seinem normalen Rhythmus zurückfand. Erst dann entspannte sie sich ganz langsam.
Ross schlich unbemerkt auf den Flur. Es war nicht Lia. Das Haar dieser Frau mit dem kleinen Mädchen war länger und lockiger, eher honig- als weizenfarben. Aber die bemerkenswerten braunen Augen waren die gleichen und auch die Traurigkeit in ihnen.
Sie war zu jung, um Lia Pikes Tochter zu sein. Aber die verblüffende Ähnlichkeit mit Lia verriet, dass sie eine nahe Verwandte sein musste.
Als die Krankenschwestern und Ärzte sich wieder entfernten, spähte Ross ins Zimmer. »Er ist ein alter Bekannter«, hörte Ross noch, bevor die Tür zufiel.
Eines war klar: Ruby Weber war keine alte Bekannte von ihm.
Und sie hatte das Baby mitgenommen, als sie damals die Pikes verlassen hatte.
Shelby wusste bereits, dass man eine Person erst dann als vermisst melden konnte, wenn sie mindestens vierundzwanzig Stunden verschwunden war; jetzt erfuhr sie zusätzlich, dass Burlington fünf größere Ausfallstraßen hatte und dass man vom Flughafen nach Chicago, Pittsburgh, Philadelphia, New York, Boston, Cleveland oder Albany fliegen konnte.
Und dass tagtäglich mehr als 2000 Menschen als vermisst gemeldet wurden.
Ihr Bruder war einer von ihnen.
Sie hatte seinen Zettel nicht mehr losgelassen, seit sie ihn fünf Stunden zuvor gefunden hatte. Die Innenseite ihrer Hand war inzwischen von der Tinte tätowiert, ein Tagebuch des Verlustes. Sie hatte Eli angerufen, und er war sofort gekommen und hatte versprochen, jeden Quadratmeter von Comtosook abzusuchen und die Kollegen in Burlington auf Ross anzusetzen. Aber Shelby wusste, dass Ross sich einfach in Luft auflösen würde, wenn er nicht gefunden werden wollte.
Das Telefon klingelte, und Shelby rannte aus Ross’ Zimmer über den Flur zu dem Apparat neben ihrem Bett. »Shelby?«
»Eli?« Sie war enttäuscht.
»Hat er angerufen?«
»Nein.«
»Schade … lass die Leitung frei, damit er durchkommt, wenn er sich meldet.«
Sie liebte ihn für seine Zuversicht. »Mach ich«, versprach sie, und als sie auflegte, sah sie einen unglücklich dreinschauenden Ethan in der Tür ihres Zimmers stehen.
»Ich glaube, ich bin schuld«, gestand er.
Shelby klopfte aufs Bett, damit er sich neben sie setzte. »Nein, Ethan, ganz bestimmt nicht. Früher hab ich auch gedacht, ich wäre schuld, weil ich irgendetwas nicht geleistet hatte, was Ross von mir gebraucht hätte.«
»Nein, das meine ich nicht.« Sein Gesicht verzog sich. »Wir haben neulich Abend drüber gesprochen – übers Sterben.«
Shelby wandte sich ihm langsam zu. »Was hat er gesagt?«
»Dass er ein Feigling wäre.« Ethan zupfte am Saum der Bettdecke. »Ich habe ihn nach seinen Narben gefragt. Vielleicht musste er ja ständig dran denken, nachdem ich ihn wieder erinnert hatte.«
Sie spürte, wie ihre Schultern sich entspannten. »Ethan, du hast Onkel Ross nicht auf diese Gedanken gebracht. Die hatte er längst im Kopf, noch bevor er herkam.«
»Warum tut er so was?«, platzte Ethan heraus. »Wieso will er unbedingt sterben?«
Shelby überlegte. »Ich glaube nicht, dass er sterben will. Ich glaube, er will nicht leben.«
Sie saßen eine Weile schweigend da. »Er hat auch gesagt, er besorgt mir ein Mädchen.«
»Er tut was?«
Ethan wurde rot. »Zum Küssen. Damit ich weiß, wie das so ist.«
»Aha. Und wo will dein Onkel dieses Mädchen besorgen?«
»Weiß nicht. Aber es gibt doch welche, die so was für Geld machen, oder?« Er zuckte die Achseln. »Vielleicht ist er ja jetzt bloß auf der Suche nach einem Mädchen.«
Der Gedanke war lange nicht so beängstigend wie die Vorstellung, dass Ross gerade irgendwo ganz allein starb. »Hoffen wir’s«, sagte Shelby.
Zwei Nächte schlief Ross auf dem Rücksitz seines Wagens auf dem Parkplatz von Wal-Mart. Tagsüber trieb er sich im Krankenhaus herum und schlüpfte zu Ruby ins Zimmer, wenn ihre Enkelin – Meredith, wie er inzwischen erfahren hatte – nicht da war. Ross drängte Ruby nicht, ihm mehr über die Pikes zu erzählen, und Ruby tat es nicht von sich aus. So schlichen sie um den heißen Brei und erzählten sich stattdessen gegenseitig aus ihrem Leben. Ross mochte Ruby – sie hatte einen scharfen Verstand, nahm kein Blatt vor den Mund und war noch dazu Baseballfan. Er wusste, dass ihre Gespräche für sie beide wichtig waren – Ruby brauchte die Zeit, um zu entscheiden, ob sie ihm die Geschichte anvertrauen konnte, die sie wie einen Stein in der Brust trug, und Ross lernte die Frau kennen, die Lias Baby großgezogen hatte.
Sie sprach nicht über Lia oder das Baby, aber sie erzählte ihm von Meredith, der alleinerziehenden, berufstätigen Mutter, die zu viel arbeitete. Von Lucy, die sich vor ihrem eigenen Schatten fürchtete. Sie musste lachen, wenn Ross den Kardiologen nachahmte, der einen Gang hatte wie ein kleiner Junge mit einer vollen Windel. Und immer wenn Ross zu ihr kam, strahlte Ruby übers ganze Gesicht.
So ähnlich wie Lia.
Meredith ging jeden Tag um drei, um Lucy vom Sommerfreizeitlager abzuholen, und war gegen halb fünf wieder im Krankenhaus. Ross nutzte diese Zeitspanne für seine Besuche bei Ruby. Als er am dritten Tag das Zimmer betrat, saß Ruby in einem Rollstuhl am Fenster.
»Na, wie ich sehe, geht’s bergauf«, sagte Ross.
»Ich wäre gern gleich losgelaufen, aber die Schwester meinte, ich soll erst mal hiermit anfangen.«
»Sehr vernünftig.« Er ließ ein kleines eingepacktes Geschenk in ihren Schoß fallen. »Machen Sie es auf.«
»Das wäre aber wirklich nicht nötig gewesen«, zierte Ruby sich zunächst. Doch dann löste sie die Schleife und das Papier. Zum Vorschein kam ein Kartenspiel. »Ich hab früher mal Poker gespielt«, sagte Ruby. »Mit den Kolleginnen in der Fabrik, in den Zigarettenpausen.«
»Ich hab es vor Kurzem erst gelernt. Von meinem Neffen.«
Sie fing an, die Karten zu mischen, bewegte ihre knotigen Hände verblüffend flink. »Dann will ich am Anfang mal Gnade walten lassen. Wie hoch ist der Einsatz?«
»Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie eine echte Spielerin sind«, sagte Ross scherzhaft. »Beim nächsten Mal bring ich genügend Bares mit.«
»Hoffentlich keine leere Versprechungen.«
Ruby mischte nur weiter die Karten.
»Es gibt noch was außer Geld, worum wir spielen könnten.«
Ruby zog die Stirn kraus.
Ross blickte ihr in die Augen. »Wir könnten um die Wahrheit spielen?«
Plötzlich schien das Zimmer selbst die Luft anzuhalten. Ruby ordnete die Karten fein säuberlich zu einem Packen. »Aber dann gewinnt keiner«, erwiderte sie.
»Ruby«, sagte er. »Bitte.«
Sie blickte ihn lange an. Dann mischte sie die Karten. »Nennen Sie den Einsatz.«
»Ich beantworte Ihnen eine Frage«, fing Ross an.
Ruby nickte und teilte für sie beide je zwei Karten aus, eine mit der Bildseite nach unten. Ross hatte eine Pik Zehn, Ruby eine Herzdame. Sie hob eine Augenbraue, wartete, dass Ross erhöhte. »Zwei Antworten«, sagte Ross.
»Ich gehe mit.« Sie teilte zwei weitere Karten mit der Bildseite nach unten aus. Ross bekam eine Kreuz Zwei, Ruby die Karodame.
»Sie gewinnen«, sagte Ross.
»Hab ich doch gesagt.«
Er blickte auf sein Blatt. »Drei Fragen nach Ihrer Wahl.«
Ruby zog wieder mit und teilte erneut zwei weitere Karten für jeden aus – Ross eine Kreuz Sechs und ein Kreuzass, Ruby zwei Könige.
»Ich erzähl Ihnen alles!«, erhöhte Ruby und fügte dann hinzu: »Ich will sehen.« Ross nickte, und beide drehten sie ihre Karten auf dem Tisch um. Ross sah, dass Ruby drei Herzen hatte. »Schlägt das eine Kreuz Zwei?«
»Eigentlich nicht«, sagte Ruby. »Aber Ihr Flush schlägt meine zwei Paare.«
»Obwohl Sie Leute mit einer Krone auf dem Kopf haben?«
»Ja. Anfängerglück, schätze ich.« Sie nahm seine Karten, und Ross sah, dass ihre Hand zitterte. »Also dann«, sagte sie und sah ihn an.
»Also dann«, erwiderte er leise.
Eines von den Geräten, an die sie angeschlossen war, fing an zu piepen, weil die Infusionslösung fast zu Ende war. Jeden Augenblick würde eine Krankenschwester hereinkommen. Und bis die Lösung ausgetauscht war, wäre Meredith sicherlich schon mit Lucy zurück. »Ich werde morgen entlassen«, sagte Ruby.
»Dann muss ich Ihre Spielschulden eben bei Ihnen zu Hause eintreiben.«
»Ich werde Sie erwarten.« Er stand auf und war schon auf dem Weg zur Tür, als die Krankenschwester hereinkam. »Ross«, rief Ruby. »Danke für die Karten.«
»Gern geschehen.«
»Ross!« Er drehte sich um, die Hand schon an der Tür. »Ich hab Sie gewinnen lassen«, sagte Ruby.
Ross lächelte. »Ich weiß.«
Shelby träumte von Blut, das dick wie Sirup eine Straße überschwemmte, als das Telefon sie weckte. »Ach, Mist«, sagte Ross, als sie sich meldete. »Du schläfst ja mittags. Ich hab nicht daran gedacht.«
Sie saß augenblicklich kerzengerade im Bett. »Ross? Geht’s dir gut? Ich hatte Angst, du wärst tot!«
»Ich bin nicht tot. Ich bin bloß in Maryland.« Ross schien ehrlich verdattert. »Wie kommst du denn auf so was?«
»Oh, ich weiß auch nicht – wahrscheinlich bloß eine blöde Fehlinformation. Zum Beispiel dein Abschiedsbrief und der Umstand, dass du schon mal versucht hast, dich umzubringen?«
»Das war doch kein Abschiedsbrief. Ich meine, nicht so einer. Ich hab bloß auf die Schnelle Auf Wiedersehen sagen wollen.« Als Shelby schwieg, fügte Ross bekümmert hinzu: »Aber ich kann dich verstehen, tut mir leid. Hör mal, ist Eli zufällig bei dir?«
»Eli sucht deine Leiche«, sagte Shelby spitz.
»Aha. Kannst du ihm bitte was ausrichten? Sag ihm, ich habe Ruby Weber gefunden.«
Shelby brauchte einen Augenblick, bis sie den Namen einordnen konnten. »Das Hausmädchen? Was hat sie dir erzählt?«
»Nichts«, gestand Ross. »Bisher jedenfalls.«
»Wann kommst du wieder?«
»Ich weiß es nicht.«
»Aber du kommst doch wieder?«
Statt auf die Frage zu antworten, sagte Ross: »Das Geld ist gleich alle «, und die Verbindung brach ab.
Shelby hielt den Hörer in der Hand. Die Sonne prallte gegen die heruntergelassenen Jalousien, drang durch die Ritzen. Shelby stieg aus dem Bett, zog die Jalousien hoch und ließ das Licht hereinfluten.
Ross klingelte an Rubys Haustür und steckte die Hände in die Taschen: Sie waren voller Rosenblütenblätter. »Ich weiß«, sagte er laut. »Ich bin auch nervös.«
Die Frau, die im Schwesternkittel an die Tür kam, war groß und kräftig und trug lange Rastazöpfe, die ihr bis zum Po reichten. »Wir kaufen nichts«, sagte sie und wollte die Tür wieder zuwerfen.
»Ich will auch nichts verkaufen. Ich möchte zu Ruby. Sagen Sie, Ross ist da.«
»Ms. Weber schläft.«
Eine Stimme aus dem Innern des Hauses rief: »Nein, ich schlafe nicht.«
Die Pflegerin kniff die Augen zusammen und trat zur Seite, um Ross ins Haus zu lassen. Sie knurrte etwas in einer Sprache, die Ross nicht verstand. Ross folgte ihr ins Wohnzimmer, wo Ruby auf einer Couch saß, eine Häkeldecke über den Beinen. »Willkommen zu Hause«, sagte er.
»Willkommen in meinem Haus.« Ruby wandte sich der Pflegerin zu. »Tajmalla, würden Sie uns allein lassen?«
Mit einer Haltung, die Ross an afrikanische Priesterinnen denken ließ, schwebte sie aus dem Zimmer. »Sie ist vom städtischen Pflegedienst«, sagte Ruby. »Sie bringt mir Swahili bei. Herrliche Sprache, fühlt sich an, als würde einem ein Fluss durchs Gehirn fließen.«
Ross setzte sich Ruby gegenüber. »Na los. Zeigen Sie mal, was Sie gelernt haben.«
Sie konzentrierte sich einen Augenblick. »Liya na tabia yako usilaumu wenzako.«
»Heißt das Hallo?«
»Nein. Es bedeutet: ›Mach andere nicht für die Probleme verantwortlich, die du dir selbst eingebrockt hast.‹«
Ross schüttelte den Kopf. »Ich hätte gedacht, als Anfänger lernt man als Erstes ›Hi, ich heiße Ross.‹«
»Eigentlich schon«, sagte Ruby, »aber ich hab sie gebeten, diesen Satz für mich zu übersetzen.« Sie nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. »Ich dachte, es wäre eine Hilfe, den Satz parat zu haben.« Bevor ich dir den Rest erzähle. »Als Erstes müssen Sie mir was erklären. Warum kommen Sie ausgerechnet jetzt mit der Geschichte?«
Ross dachte an Lia, wie sie ihm auf dem Pike-Grundstück erschienen war; an Shelby, wie sie die Ahnentafeln entrollte; an die Blütenblätter in seinen Taschen. »Weil ich wissen muss, was jemandem widerfahren ist, den ich liebe«, sagte er.
Ruby zog die Decke höher. »Er hat gesagt, ich soll das Baby begraben.«
»Spencer Pike?«
Sie nickte. »Wissen Sie – nun, ich habe seitdem nie wieder so einen Menschen getroffen. Er hatte so eine Art, mit einem zu reden, und ehe man sich’s versah, stimmte man allem zu, was er sagte, ohne dass man wusste, wie einem geschah. Ich habe immer gedacht, dass Cissy Pike ihn deshalb geheiratet hat.« Ruby blickte Ross an. »Sie hatte sich mit einem Indianer angefreundet, und die beiden haben sich oft heimlich getroffen. Der Professor hatte das mitbekommen. Eines Tages dann hat er ihn bei ihr im Zimmer ertappt und aus dem Haus geworfen. Miz Pike hat er geschlagen … und plötzlich haben bei ihr die Wehen eingesetzt.«
»Ist das Baby lebend zur Welt gekommen?«
Ruby wirkte überrascht über die Frage. »Oh ja. Das Kind hat lauthals geschrien …« Sie zögerte. »Professor Pike hat das Baby mitgenommen, damit seine Frau sich ausruhen konnte. Ich war noch beim Saubermachen, als er zurückkam und sagte, das Baby wäre gestorben. Er hatte die Kleine ins Eishaus gelegt, und er wollte, dass ich sie in einer alten Apfelkiste begrabe, bevor seine Frau wach wurde.«
»Hat er gesagt, woran das Baby gestorben war?«
Ruby schüttelte den Kopf. »Nein, und ich hab auch nicht gefragt. Ich glaube, ich wusste die Antwort. Ich bin ins Eishaus gegangen, und da lag sie, wie ein Püppchen in eine Decke eingewickelt. Sie sah aus wie ein Engel, und ich brachte es einfach nicht fertig, sie so in die Erde zu legen. Ich habe sie also in die Apfelkiste gelegt, aber den Deckel offen gelassen. Ich dachte, soll er doch das Baby selbst begraben, wenn er es für richtig hält.
Als ich wieder ins Haus kam, saß er in seinem Arbeitszimmer und trank. Ich bin dann nach oben ins Bett. Und mitten in der Nacht hörte ich plötzlich ein Baby weinen. Ich bin aufgestanden und nach draußen gegangen, immer dem Weinen nach.« Sie schauderte. »Manchmal höre ich es noch heute in der Nacht, kurz bevor ich einschlafe. Ich bin zum Eishaus gegangen, wo das Weinen herkam. Kurz vor der Tür bin ich gegen die Beine von Cissy Pike gestoßen.« Rubys Stimme war jetzt nur noch ein Flüstern. »Sie hing an einem Seil, das an einem Balken vom Vordach festgebunden war, ihre Augen waren weit geöffnet und hellrot … ich hab aufgeschrien. Ich dachte, der Professor hat sie umgebracht – und ich bin als Nächste dran. Ich wollte Reißaus nehmen, sofort – und da hörte ich es wieder. Das Weinen. Das Baby, das ich mit eigenen Augen tot hatte daliegen sehen, im Eishaus, in der Apfelkiste, schrie und strampelte.«
»Und Sie haben die Kleine mitgenommen.«
Ruby warf Ross einen Blick zu. »Ich hatte versprochen, mich um das Baby zu kümmern, falls irgendetwas passieren würde. Also hab ich das Baby aus der Kiste genommen, stattdessen einen Braten hineingelegt, den wir für eine Dinnerparty vorgesehen hatten, und den Deckel zugenagelt, genau wie der Professor es gewollt hatte. Dann bin ich mit dem Baby auf und davon.«
»Was ist aus der Kleinen geworden?«
Ruby schaute weg. »Sie war kränklich und ist auf dem Weg nach Baltimore gestorben.«
Ross dachte an Lia, an Lily, an Meredith. Und plötzlich wusste er, warum Ruby log. »Sie haben es ihr nicht erzählt«, sagte er leise.
Ihre Blicke trafen sich in jenem kleinen, engen Raum, in dem Worte keinen Platz finden. Nach all den Jahren, in denen das Geheimnis schwer auf ihr gelastet hatte, war Ross gekommen und bot ihr eine Schulter an. Aber dass sie sich ihm anvertraut hatte, bedeutete noch lange nicht, dass sie auch bereit war, es jemand anderem zu sagen.
Plötzlich ertönten trappelnde Schritte, und das kleine Mädchen, das Ross Tage zuvor in Begleitung seiner Mutter gesehen hatte, kam ins Wohnzimmer gelaufen. »Granny, wir sind wieder da.«
Gleich darauf erschien Meredith in der Tür, gefolgt von Tajmalla. »Wie geht’s dir?«, fragte sie Ruby, bevor ihre Augen sich auf Ross richteten. »Sie schon wieder.«
Ross stand auf. Er wollte sich vorstellen, doch die fast unheimliche Ähnlichkeit dieser Frau mit Lia Pike verschlug ihm die Sprache.
»Ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie mit meiner Großmutter zu schaffen haben«, sagte Meredith, »aber ich glaube kaum, dass …«
»Sein Name ist Ross, Liebes«, fiel Ruby ihr ins Wort. »Er will dich zum Essen abholen.«
»Was?«, entfuhr es Ross und Meredith gleichzeitig.
»Ich weiß genau, dass ich dir das gesagt habe. Letzte Woche.«
»Letzte Woche warst du im Krankenhaus und hast mit Leuten geredet, die gar nicht im Zimmer waren.«
Ruby lächelte sie verkniffen an. »Ross ist ein guter Freund … einer alten Freundin von mir. Und ich hab ihm schon so viel von dir erzählt.«
Ross spürte, wie Meredith ihn prüfend ansah und alles andere als zufrieden war. Dann schaute sie die Frau an, die sie für ihre Großmutter hielt – eine Frau, die fast gestorben wäre –, und ihr Blick wurde weicher. War das ein Trick von Ruby, um Ross loszuwerden? Wollte sie ihn auf diese Weise drängen, Meredith die Wahrheit zu sagen? Oder wollte sie ihm zu verstehen geben, warum sie ihr nicht selbst die Wahrheit gesagt hatte?
Jedenfalls wusste Ross, dass er mit dieser Frau ausgehen würde. Und sei es auch nur, um ihr gegenübersitzen und das Gesicht anstarren zu können, das ihm nicht mehr aus dem Sinn ging.
»Würden Sie mich, ähm, kurz entschuldigen«, sagte Meredith höflich zu Ross und wandte sich Ruby zu. Im Flüsterton, aber für Ross’ Ohren nicht leise genug, sagte sie: »Ruby, er ist nicht mein Typ …«
»Meredith, um einen Typ zu haben, muss man ab und zu mal mit einem ausgehen.« Ruby lächelte. »Lucy und Tajmalla können mir Gesellschaft leisten.«
»Auf einen Kaffee«, hörte Ross sich sagen. »Nur eine Tasse.«
Meredith wandte sich wieder an Ruby. »Wenn es dir wieder besser geht, erinnere mich bitte daran, dir den Hals umzudrehen«, murmelte sie und sagte dann zu Ross: »Nur eine Tasse.«
Ross blickte Ruby an, aber ihre Miene war undurchsichtig. Und als er mit Meredith aus dem Wohnzimmer ging, zwei Fremde, die beide dachten, den anderen besser zu kennen, als es der Fall war, merkte Ross, dass ihr Parfüm schwach nach Rosen roch.
Sie tat das nur, so sagte Meredith sich, weil sie nicht wollte, dass Ruby sich wieder aufregte. Angewidert sah sie zu, wie Ross Kaffeebecher, Musikkassetten und Zigarettenpackungen vom Beifahrersitz seiner alten Klapperkiste räumte und auf den Rücksitz warf. »Tut mir leid«, sagte er und hielt ihr die Tür auf.
Es roch nach Zigarettenqualm. Meredith beobachtete ihn, wie er zur Fahrerseite ging. Sein Haar war lang, stumpf geschnitten und reichte ihm fast bis auf die Schultern. Er trug ein kurzärmeliges Hemd offen über einem T-Shirt, und seine Jeans hatte ein Loch am linken Oberschenkel. Er sah aus wie jemand, der in U-Bahn-Gängen Gitarre spielte oder in einem verräucherten Café hockte und schlechte Gedichte schrieb. Wie jemand, der sich als Taxifahrer verdingte, während Leute wie sie, Meredith, sich abrackerten, um zu promovieren. Wie jemand, den sie normalerweise keines zweiten Blickes gewürdigt hätte.
Der Wagen sprang erstaunlicherweise sofort an. »Also«, sagte er lächelnd. »Wohin?«
»Irgendwas in der Nähe.« Meredith beschrieb ihm den Weg zum ersten Starbucks, das ihr einfiel, und als er sich abwandte, meinte sie, sich den Hauch von Enttäuschung in seinen Augen nur eingebildet zu haben.
Was für Augen. Das musste sie ihm lassen. Er hatte Augen wie Waldteiche, in denen man versinken wollte, so leuchtend grün.
Er hielt eine Packung Zigaretten hoch. »Was dagegen, wenn ich rauche?«
Und ob sie was dagegen hatte, aber es war ja sein Auto. Sie kurbelte das Fenster herunter, während er sich eine Zigarette anzündete und tief inhalierte. »Nur zu Ihrer Information«, sagte Meredith, »normalerweise lasse ich mich von meiner Großmutter nicht verkuppeln.«
»Klar.«
»Was soll denn das heißen?«
Ross blies einen Streifen Rauch zum Fenster hinaus. »Dass eine Frau wie Sie für Verabredungen keine Nachhilfe braucht.«
Meredith spürte, wie sie rot wurde. »Wie ich«, wiederholte sie, sofort auf der Hut. »Sie kennen mich doch gar nicht.«
»Stimmt«, gab Ross zu.
»Dann verschonen Sie mich bitte mit Ihren Unterstellungen.« Aber, so dachte Meredith, hatte sie nicht genau das Gleiche bei ihm gemacht?
Er fuhr mit der rechten Hand am Steuer, die Zigarette in der linken. »Sie erinnern mich bloß an eine Frau, die ich mal gekannt habe. Sie war ebenso schön wie Sie.«
Die wenige Male in ihrem Leben, die jemand ihr Komplimente wegen ihres Aussehens gemacht hatte, konnte sie an einer Hand abzählen. Erfolgreich, intelligent, kreativ lauteten gemeinhin die Adjektive, mit denen sie belegt wurde. Doch sie selbst hatte ja ihre physischen Attribute immer in den Hintergrund gedrängt und stattdessen ihren scharfen Verstand herausgestellt. Schön, dachte sie.
Sie fragte sich, was aus der Frau geworden war, die er mal gekannt hatte. War sie gestorben, oder hatte sie ihn verlassen? Meredith betrachtete Ross erneut, und diesmal sah sie keinen Verlierertyp mehr, sondern einen Menschen, der eine Geschichte zu erzählen hatte.
Zu ihrer eigenen Überraschung wollte sie sie hören.
»Und?«, fragte Ross, und sie dachte, er könnte vielleicht auch Gedanken lesen.
»Und was?«
»Gehen wir rein?« Er blickte zum Seitenfenster hinaus, und sie merkte, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Er hatte ein Grübchen in der linken Wange, wenn er lächelte.
»Ja, klar.«
Ross stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete ihr die Tür. Sie gingen in das Café und stellten sich in die Schlange vor der Theke. »Wissen Sie, was Sie möchten?«, fragte er.
Zum ersten Mal seit Jahren hatte Meredith keine Antwort parat.
Bruno Davidovich hatte sich schon in allen möglichen Jobs versucht, er war Profifootballer gewesen, Rausschmeißer und Fernsehkoch, bevor es ihn in die Lügendetektorbranche verschlug. Wichtig sei, so hatte er Eli erklärt, den Probanden keine Sekunde aus den Augen zu lassen. Er erschien stets pünktlich zu den Testterminen, was einer der beiden Gründe war, warum Eli ihn gern engagierte. Der andere war der, dass Bruno den Leuten allein schon durch seine Körpergröße solchen Respekt einflößte, dass sie die Wahrheit sagten.
»Bitte entspannen Sie sich«, sagte Bruno zu Spencer Pike, der bereits an den Polygraphen angeschlossen war. Pike hatte sich auf Elis Anfrage zu dem Test bereiterklärt, weil er, wie er sagte, die Sache endgültig geklärt haben wollte. Jetzt waren ihm zwei Pneumographenschläuche an Brust und Bauch befestigt worden, sein Ring- und Zeigefinger waren mit zwei Metallplatten verbunden, und um seinen dünnen Oberarm schlang sich eine Manschette für das Messen des Blutdrucks.
»Ist heute Mittwoch?«, fragte Bruno.
Pike verdrehte die Augen. »Ja.«
»Ist Ihr Name Spencer Pike?«
»Ja.«
»Ist Ihr Gesundheitszustand gut?«
Eine Pause. »Nein.«
»Haben Sie jemals gelogen?«, fragte Bruno.
»Ja.«
»Haben Sie jemals in wichtigen Dingen gelogen?«
»Ja.«
»Haben Sie jemals gelogen, weil Sie sonst in eine schwierige Lage gekommen wären?«
»Ja.«
Eli hörte zu, wie Bruno sich zu den wichtigen Fragen vortastete. Das Ergebnis des Detektortests war zwar weder vor Gericht verwendbar, noch konnte es als eindeutiger Beweis für Spencer Pikes Schuld oder Unschuld herhalten. Aber Eli musste um seines eigenen Seelenfriedens willen wissen, warum Spencer Pike offenbar meinte, für den Tod eines Kindes verantwortlich zu sein, das gar nicht ermordet worden war, und andererseits den Mord an seiner Frau abstritt.
»Ist das Baby tot zur Welt gekommen?«, fragte Bruno jetzt.
»Nein.«
»Haben Sie das Baby nach der Geburt auf dem Arm gehalten?«
»Ja.«
»Haben Sie das Baby nach der Geburt getötet?«
Pike atmete zittrig aus. »Ja«, sagte er.
»Hatten Sie kurz vor der Geburt des Babys einen Streit mit Ihrer Frau?«
»Ja.«
»Hatten Sie nach der Geburt des Babys einen Streit mit Ihrer Frau?«
»Nein.«
»Haben Sie Ihre Frau geschlagen?«
Pike senkte den Kopf. »Ja.«
Bruno blickte Pike durchbohrend an. »Haben Sie Ihre Frau erhängt?«
»Nein«, lautete die Antwort.
»Danke«, sagte Bruno. Er zog den Ausdruck aus dem Polygraphen und ging auf den Flur, Eli folgte ihm.
Eli wartete ab, während Bruno sich den Ausdruck ansah. »Und?«
»Sehen Sie hier. Als ich gefragt habe, ob er seine Frau geschlagen hat, und er bejaht hat … das war die Kontrollfrage. Dann habe ich gefragt, ob er seine Frau ermordet hat, und seine physiologische Reaktion darauf war nicht so stark wie auf die Frage davor.«
»Er war es nicht«, sagte Eli leise.
»Sieht ganz so aus.« Bruno zögerte. »Soll ich ihm ein bisschen Angst einjagen? Vielleicht kriegen wir ja ein anderes Ergebnis.«
Eli blickte durch die Tür. Pikes wässrige Augen starrten auf irgendetwas draußen vor dem Fenster. Seine Hände schlossen sich immer wieder krampfhaft um die Armlehnen des Rollstuhls. »Nein«, sagte Eli. »Er ist am Ende.«
Erst als der Mitarbeiter von Starbucks hinter der Kundentheke seine Schürze abnahm und anfing, den Boden um ihren Tisch herum zu wischen, wurde Meredith klar, dass sie schon seit fünf Stunden mit Ross hier saß. »In der Natur sind Designerbabys die Norm«, sagte sie. »Zum Beispiel Gorillas. Da sind die Weibchen hinter den Silberrückenmännchen her, weil die schon so lange leben, dass sie grau geworden sind. Wenn also die Zeit der Fortpflanzung kommt, sucht man sich jemanden, der einem Nachwuchs mit der größten Lebenserwartung bescheren kann.« Merediths Hirn lief auf Hochtouren, weil sie ihre Arbeit verteidigen wollte, und sie wusste, das kam nicht nur daher, dass sie schon ihren vierten Latte Macchiato trank. »Wir sorgen im Labor lediglich dafür, dass es in der Natur etwas glatter läuft.«
»Aber wenn man heute Embryos entsorgt, weil sie das Gen für Mukoviszidose in sich tragen«, konterte Ross, »wie groß ist dann der Schritt dahin, irgendwann alles loszuwerden, was nicht blaue Augen hat?«
Meredith überlegte. »Na ja, blaue Augen sind ein Ein-Gen-Defekt, möglich wäre es also. Aber bei den meisten Eigenschaften, die Eltern für nicht wünschenswert halten, sind Hunderte von Genen gleichzeitig im Spiel. Es lässt sich nicht bestimmen, an welcher Stelle auf dem DNA-Strang Dummheit oder eine schwache Gesundheit oder Hässlichkeit liegen.«
»Noch nicht«, sagte Ross. »Aber irgendwann wird man so weit sein, und dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis man die Stammzellentherapie dazu einsetzt, solche … unerwünschten Eigenschaften auszusondern. Und auf einmal ist dann die ganze Welt voller Replikanten.«
»Erstens, es ist ein Unterschied, ob jemand, der bereits krank ist, geheilt wird oder ob jemand produziert wird, der nicht krank werden kann. Zweitens, 99,9 Prozent der Wissenschaftler, die auf diesem Gebiet forschen, machen das aus den richtigen Gründen – nicht weil sie an Größenwahn leiden und eine Herrenrasse erschaffen wollen. Drittens, bevor Sie mich kritisieren, sollten Sie mal mit einer Frau sprechen, die drei Kinder durch Leukämie verloren hat und jetzt flehentlich um ein Kind bittet, das ihr nicht wegstirbt.« Meredith schüttelte den Kopf. »An meiner Bürotür hängt ein Schild mit der Aufschrift Die letzte Hoffnung. Das ist es, was die Eltern, die zu mir kommen, in mir sehen. Und es ist unbeschreiblich, wenn dieselben Eltern dann Monate später ein gesundes Baby haben.«
»Und wer definiert, was krank ist?« Ross rührte seinen Kaffee um. »Mein Neffe hat XP. Haben Sie schon mal davon gehört?«
»Selbstverständlich.«
»Er ist die Sorte Kind, das auf Empfehlung der genetischen Präimplantationsdiagnostik ausgesondert worden wäre. Aber Ethan ist der cleverste, aufgeweckteste und tapferste Junge, den ich kenne. Und auch wenn er nur zehn oder dreizehn oder dreißig Jahre clever, aufgeweckt und tapfer sein kann, ist das nicht besser, als gar nicht gelebt zu haben? Wer will das bestimmen?«
»Ich nicht«, stimmte Meredith zu. »Das ist Sache der Eltern.«
»Aber es gibt doch jede Menge Eltern da draußen, die auf Ethan gern verzichtet hätten …«
» … der zu dem Zeitpunkt noch gar nicht Ethan war«, wandte Meredith ein. »Gerade mal ein Klumpen Zellen.«
»Egal. Entscheidend ist, Eltern ziehen bei ganz unterschiedlichen Dingen die Grenze. Was, wenn die Präimplantationsdiagnostik feststellt, dass eine bestimmte Krankheit erst im Alter von über dreißig oder vierzig ausbricht? Oder wenn sie lediglich eine Anfälligkeit für Herzerkrankungen oder Krebs feststellt … Was, wenn man irgendwann vorhersagen kann, dass ein Kind später einmal suizidgefährdet ist?« Ross schlug die Augen nieder. »Haben Menschen das Recht, auch solche Embryos auszusondern?«
Meredith zog die Augenbrauen hoch. »Und wenn gehörlose Eltern sich der Präimplantationsdiagnostik bedienen würden, um ein Kind mit der gleichen Erbvoraussetzung bekommen zu können? Das wäre dann das Fördern einer Behinderung.«
»Sie können mir nicht erzählen, dass das die meisten Ihrer Kunden wollen.«
»Nein«, gab sie zu. »Aber es kommt vor. Und genau deshalb ist meine Arbeit nicht das Böse schlechthin. Was ist falsch daran, wenn eine Mutter von vornherein weiß, wie ihr Kind werden wird?«
»Und was ist, wenn ein Kind herausfindet, dass die Umstände seiner Geburt ganz anders sind, als es gedacht hat?«, fragte Ross vorsichtig.
»Die Eltern müssen entscheiden, ob sie es ihrem Kind erzählen oder nicht. Wenn alles gut läuft, ist das Kind ohnehin glücklich … weil es Eltern hat, die es so lieben, wie es geworden ist.«
»Liebe hat nichts mit Wissenschaft zu tun«, sagte Ross. »Bei Liebe gibt es kein weil, da gibt es nur ein bedingungslos.«
»Aber warum so ein Risiko eingehen?«, hielt Meredith ihm entgegen. »Können Sie denn ehrlicherweise behaupten, dass es an Ihnen nichts gibt, von dem Sie sich wünschen, es wäre vor Ihrer Geburt verbessert worden?«
Ross antwortete nicht. Dann fragte er: »Habt ihr das Gen für Glücksempfinden schon gefunden?«
Sie erwiderte nichts, sondern blickte ihn schweigend an. Das einzige Geräusch war das leise Wischen des Mops über den Fliesenboden hinter ihnen. In diesem Augenblick erkannte Meredith, was so anders war an Ross Wakeman – in den fünf Stunden, die sie jetzt mit ihm zusammensaß, war das der erste kurze Einblick, den er ihr in sein Inneres gewährt hatte. Sie hatten über Lucy gesprochen, über Rubys Gesundheitszustand, über Meredith’ Arbeit … und kein bisschen über ihn. Meredith konnte sich nicht an eine einzige Verabredung mit einem Mann erinnern, der nicht die ganze Zeit über sich gesprochen hatte. Ross – ja, Ross tat genau das, was sie normalerweise tat.
Sie wusste nichts über diesen Mann, der sie ganz durcheinanderbrachte, außer dass er einen Neffen mit XP hatte, ihre Großmutter kannte – und ihren Puls ein wenig beschleunigte, wenn er lächelte. »Entschuldigen Sie«, sagte Meredith, »jetzt haben wir fast nur über mich gesprochen.«
»Ich wollte möglichst viel über Sie erfahren.«
»Ich würde auch gern etwas über Sie erfahren«, erwiderte Meredith.
»Da gibt es leider nicht viel Interessantes.« Ross nahm eine Zigarette aus der Packung und zündete sie an.
Sie wedelte eine Rauchwolke weg. »Die Dinger bringen Sie noch um.«
»Schön wär’s.«
»Wieso?«
»Weil ich nicht sterben kann«, sagte Ross.
Meredith musste lächeln. »Sie meinen, solange ich nicht meine Kryptonit-Halskette auspacke.«
»Nein, im Ernst. Ich bin von Kugeln und vom Blitz getroffen worden. Ich bin bei einem Verkehrsunfall aus dem Wagen geschleudert worden und immer nahezu unbeschadet davongekommen.«
»Sie machen Witze.«
»Ich kann Ihnen die Arztrechnungen zeigen.«
Meredith war einen Moment lang sprachlos. »Das nenn ich ein beachtliches Talent.«
»Das Talent nützt aber nichts, wenn man jemand anderen retten will«, sagte Ross.
»Ihren Neffen.«
»Unter anderem.«
Sie beugte sich vor, angezogen von dem Schmerz, den sie tief in seinen Augen sah. »Die Frau, die Sie vorhin erwähnt haben? Der ich ähnlich sehe?«
Er antwortete nicht – er konnte es einfach nicht, jetzt nicht. Meredith fragte sich, wie es wohl wäre, wenn ein Mann sie so sehr lieben würde, dass er noch nach ihrem Tod nicht von ihr loskäme. Vielleicht würde er in den Gesichtern anderer Frauen ihr Gesicht suchen. Der Starbucks-Mitarbeiter kam an ihren Tisch. »Hier ist Rauchen verboten.«
Ross wandte sich ihm zu. »Ich rauche nicht, ich betreibe Autodestruktion.«
Der junge Mann blickte irritiert. »Mensch, was Sie sonst so treiben, ist mir egal, aber geraucht wird hier nicht.«
Meredith hustete, um ihr Lachen zu überspielen. »Wir sollten langsam gehen.« Sie zögerte. »Es war wirklich nett mit Ihnen. Ich glaube, das letzte Mal, dass ich das zu einem männlichen Wesen gesagt und es auch so gemeint habe, war im Kindergarten.« Meredith blickte schüchtern zu ihm hoch. »Sind Sie noch länger in der Gegend? Vielleicht könnten wir uns ja noch mal treffen. Dann für ein komplettes Abendessen. Oder auch erst mal nur für die Vorspeise.«
»Ich kann nicht.«
Das hatte Meredith schon öfter erlebt, dass ihr Gegenüber sie nicht attraktiv genug fand oder einfach andere Vorstellungen hatte. Sie spürte, wie sie innerlich auf Distanz ging. »Nun, dann eben nicht.» Sie hielt ihm forsch die Hand hin. »Jedenfalls, es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen.«
Er nahm ernst ihre Hand, hielt sie ganz vorsichtig. »Meredith«, sagte Ross leise, »ich mag Sie, ich mag Sie sehr. Aber es gibt da eine andere Frau.«
Die Frau, mit der Meredith so große Ähnlichkeit hatte. Sie senkte den Kopf. »Verzeihen Sie«, murmelte sie. »Ich wusste nicht, dass Sie noch mit ihr …«
Sie spürte, wie ihr etwas in die Hand gedrückt wurde. Ein Zeitungsausschnitt, vergilbt und verblasst, aber das Gesicht der Frau auf dem Foto war noch zu erkennen. Ein Gesicht wie Meredith’ Spiegelbild. Lia Beaumont Pike, lautete die Überschrift. 1914–1932.
»Sie war Ihre biologische Großmutter«, sagte Ross. »Und ich liebe sie.«
Es war ein Krieg, das wurde Ross klar, und Meredith verlor. Sie stand mit verschränkten Armen da, den Rücken kerzengerade, die Augen lodernd vor Wut. Ross und Ruby, die auf der Couch saß, parierten ihre Attacken und hofften, sie endlich überzeugen zu können.
»Als ich deiner Mutter erzählt habe, dass sie nicht meine Tochter ist, dass sie nicht Luxe, sondern in Wirklichkeit Lily Pike heißt«, sagte Ruby, »hat sie einen Herzinfarkt bekommen und ist gestorben. Kannst du es mir da verdenken, dass ich dir die Sache verschwiegen habe?«
»Ja, das kann ich!«, schrie Meredith. »So was verschweigt man keinem Menschen!«
»Doch, wenn man ihn nicht verlieren will«, schaltete Ross sich ein.
Sie fuhr herum wie ein verwundetes Tier: »Erklären Sie mir doch mal eines. Wie können Sie eine Frau kennen, die längst tot war, als Sie auf die Welt kamen?«
»Ich habe Sie bei meiner Arbeit kennengelernt.«
»Arbeit. Wecken Sie Tote auf?«
Ross warf Ruby einen Blick zu. »Ich suche nach ihnen.«
»Toll. Sie jagen Geister, wenn Sie nicht gerade vom Blitz getroffen werden und wie durch ein Wunder am Leben bleiben. Ruby, ich begreife nicht, wieso du dich von dem Typen so um den Finger wickeln lässt. Der ist doch verrückt. Ich glaube …«
»Ich glaube, du solltest ihm lieber zuhören, Meredith«, unterbrach Ruby sie. »Er sagt die Wahrheit.«
»Die Wahrheit. Jetzt glaubst du also auch an Geister? Na schön. Dann rufen Sie doch mal meine Großmutter herbei. Wenn sie hereingeschwebt kommt und mir das Gleiche erzählt, dann glaub ich Ihnen.«
»So funktioniert das nicht«, erklärte Ross.
»Wie praktisch.«
»Lass deinen Zorn nicht an ihm aus«, sagte Ruby mit ernster Miene.
»Soll ich mich bei ihm bedanken, weil er mir erzählt, dass mein ganzes Leben bisher eine Lüge war?«
»Es war keine Lüge«, sagte Ross. »Es … war bloß anders, als Sie gedacht haben.« Er ging auf Meredith zu. »Sie sind Lia Pikes Enkelin. Und somit gehört Ihnen ein Grundstück in Comtosook, Vermont.«
Er hätte ihr gern erzählt, dass man von dem Grundstück aus einen wunderschönen Blick auf die üppig grünen Berge hatte und dass die Luft unvorstellbar sauber roch. Er hätte ihr gern die Stelle gezeigt, wo er sich in Lia verliebt hatte.
»Ich brauche kein Grundstück in Vermont«, sagte Meredith.
»Aber eine ganze Reihe Abenaki-Indianer schon. Die versuchen nämlich zu verhindern, dass auf dem Land gebaut wird.«
»Das ist nicht mein Problem.«
»Nein, aber wenn Ihnen das Land gehört, können Sie entscheiden, was damit geschehen soll.«
»Aha, jetzt kapier ich, woher der Wind weht. Sie sind so einer, der sich für die Rechte der Indianer einsetzt.«
»Ich bin …«
»Und klar, wenn Sie mich überzeugen können, dass in meinen Adern auch Abenaki-Blut fließt, dann werde ich mich bestimmt auf die Seite meiner Verwandten stellen. Bin ich denn die Einzige hier, die nicht mit Blindheit geschlagen ist? Seht mich doch an.« Meredith löste ihren Haarknoten. »Ich bin blond. Ich bin hellhäutig. Sehe ich aus, als hätte ich auch nur einen Tropfen Indianerblut in mir?«
»Nein, aber Lia sah auch nicht so aus. Hören Sie, Sie sind Wissenschaftlerin«, sagte Ross. »Ihr Urgroßvater Az Thompson ist noch am Leben. Ein DNA-Test könnte den Beweis erbringen.«
»Und dann?«
Ross sah Ruby an, dann wieder Meredith. »Das liegt bei Ihnen.«
Meredith kniff die Augen zusammen. »Was haben Sie eigentlich davon? Kassieren Sie Provision von den Abenaki? Kriegen Sie einen Vertrag für ein Buch?«
»Nichts.« Ross blickte auf den Tisch, auf Lias Todesanzeige. »Ich möchte ihr bloß helfen.«
Plötzlich spürte er kleine Hände an seinem Knie, die ihn aus dem Weg schoben. Meredith’ Tochter Lucy, die längst schlafen sollte, hatte gelauscht. »Lucy!«, sagte Ruby. »Wieso bist du denn auf?«
»Ab zurück ins Bett«, befahl Meredith.
Aber Lucy zeigte auf Lias große Augen, die weißen Wangen. »Sie hat ihr Baby verloren.«
Alles in Ross erstarrte.
»Lucy.« Meredith ging in die Hocke. »Ich weiß nicht, was du alles aufgeschnappt hast, aber …«
»Lassen Sie sie reden«, murmelte Ross.
»Sie sagt es mir jedes Mal.« Lucy stockte. »Sie hat auch gesagt, dass Sie kommen würden.«
»Wer hat das gesagt?«, fragte Ross tonlos.
»Die Frau da«, sagte Lucy und zeigte auf Lias Foto. »Die seh ich immer mitten in der Nacht.«
Eli war nicht bewusst gewesen, wie heruntergekommen sein Zuhause aussah, bis er es durch Shelbys Augen sah. »Erwarte nicht zu viel«, hatte er sie gewarnt, und als er die Haustür öffnete, stachen ihm gleich der zerkratzte Holzboden und die schäbige Couch ins Auge. In der Spüle stapelte sich das schmutzige Geschirr, neben der Tür lagen seine Schuhe durcheinander. »Ich, ähm, hab’s nicht mehr geschafft aufzuräumen«, entschuldigte sich Eli.
»Wow!« Ethan drängte sich an ihnen vorbei. »So will ich auch mal wohnen«, sagte er und folgte Watson die Treppe hinauf. Gleich darauf erklang ein Begeisterungsschrei.
Eli blickte zur Decke. »Schätze, er hat den Schießstand entdeckt.«
»Du hast einen Schießstand?«
»Kleiner Scherz«, sagte Eli und stellte eine Tüte mit Lebensmitteln in der Küche ab – Shelby hatte versprochen einen Festschmaus zuzubereiten. Was spielte es da für eine Rolle, dass es drei Uhr morgens war?
Shelby machte sich gleich in der kleinen Küche ans Werk. Seit sie wusste, dass ihr Bruder noch unter den Lebenden weilte, war sie wie verwandelt.
Ross war also in Maryland auf der Suche nach Ruby Weber, und Eli bekam gerade von einer wunderschönen Frau ein Abendessen zubereitet. Alles in allem, dachte er, schnitt er gar nicht so schlecht ab. Und plötzlich spürte Eli das Bedürfnis, Shelby nicht mehr gehen zu lassen.
Er beobachtete sie, wie sie Paprikaschoten auf der Arbeitsplatte nebeneinanderlegte – durch die kleinen Farbtupfer sah seine Küche gleich viel besser aus. Sie drehte sich um, eine Styroporpackung mit Hähnchenfleisch in der Hand. »Das muss so lange in den Kühlschrank«, sagte sie, und fast im selben Augenblick baute Eli sich in voller Größe vor der Kühlschranktür auf.
»Wie du willst«, sagte Shelby langsam, »dann kriegst du eben eine Salmonellenvergiftung.«
»Moment.« Eli griff hinter sich und zog ein Foto weg, das mit einem Magneten an der Kühlschranktür haftete. Dann trat er beiseite und öffnete den Kühlschrank.
»Was hast du denn da?«, fragte Shelby und zeigte auf das Foto in seiner Hand.
»Nichts.«
»Nichts im Sinne von einer Verflossenen?« Blitzschnell nahm sie ihm das Foto aus der Hand – und schrie auf.
»Ich hoffe, das ist keine Verflossene«, sagte Shelby kleinlaut.
Eli blickte auf das Foto von Cecelia Pike unter dem Vordach des Eishauses. Ihr Gesicht war auberginenfarben, die Zunge hing heraus, die Augen waren blutunterlaufen und quollen hervor. »Tut mir leid«, murmelte Eli. »Ich hätte dich warnen sollen.«
»Du lieber Himmel, Eli, wieso steckst du dir solche grausigen Fotos überhaupt an den Kühlschrank?«
»Als Erinnerung. Das mach ich immer, wenn ich an einem Fall arbeite.«
Ethan kam hereingefegt. »He, weißt du was, Eli hat eine neue Playstation!«
»Viel Spaß damit«, sagte Eli, und schon war Ethan wieder verschwunden.
Shelby hatte angefangen, Pilze zu schneiden. Eli setzte sich und beobachtete, wie sich die Muskeln unter ihrem T-Shirt bewegten, während sie arbeitete. »Sieht man wirklich so aus, wenn man sich aufgehängt hat?«
»Ja.«
»Dann kann ich ja wohl von Glück sagen, dass Ross sich für die blutige Variante entschieden hatte.« Sie blickte kurz hoch.
»Die erste Regel im Morddezernat lautet: Der Tod ist nicht schön. Niemals.«
Er sah, wie ihre Hand über dem Schneidebrett verharrte. »Shelby …«
»Wieso sagt man eigentlich: ›Für dies oder jenes könnte ich sterben‹?«
»Wahrscheinlich weil es der höchste Preis ist, den man bezahlen kann.«
Shelby begann eine Salatsauce anzurühren. »Stimmt ja auch. Und ich wäre bereit, ihn zu bezahlen, damit mein Sohn am Leben bleibt.«
Da er nicht wusste, was er sagen sollte, betrachtete Eli das Foto, das jetzt auf der Arbeitsplatte lag. Cecelia Pike war ermordet worden, und ihr Kind war verschont geblieben. Aber wenn es Mord war, wer war dann der Mörder? Den Beweisen nach war es nicht Gray Wolf, seinem Instinkt nach war es nicht Spencer Pike. Und Ruby Weber hätte, selbst wenn sie in der fraglichen Nacht dort gewesen war, doch nicht die Körperkraft gehabt, um Cissy mit der Schlinge um den Hals an dem Seil hochzuziehen. Dennoch war auf dem Foto deutlich eine Schleifspur im nassen Sägemehl zu erkennen.
Er hoffte inständig, dass Ross, wenn er wiederkam, die fehlenden Puzzleteilchen mitbrachte.
»Koste mal«, sagte Shelby, und bevor er sich aus seinen Gedanken reißen konnte, drückte sie ihren Mund auf seinen.
Außer der Süße schmeckte er etwas Bitteres. Scharfes. Öliges.
Sie wich zurück. »Moment, nicht sagen. Französisch ist dir lieber.«
»Ich mag am liebsten gar kein Dressing«, sagte Eli.
»Tatsächlich? Ich hätte nicht gedacht, dass du ein Salatpurist bist.«
Eli lächelte. Er zog sie an sich, sodass das Foto auf den Küchenboden schwebte, vergessen. »Ging’s um Salat?«
Es war Temezôwas, die Zeit des Schnittermondes, und Az war entsprechend nervös. Eine Jahreszeit, in der Dinge ein Ende fanden … und noch dazu war Vollmond – nicht gerade die beste Zeit, um Sprengladungen im Steinbruch auszulegen. Auch wenn die Sprengungen erst am nächsten Morgen um fünf stattfinden sollten, wenn kein Mensch da sein würde. Az, der am Rand des Steinbruchs patrouillierte, wusste, dass irgendwann etwas schiefgehen würde.
Der Himmel war unruhig heute Nacht, rosafarbene Finger reckten sich zwischen die Sterne wie eine Dämmerung, die es nicht mehr erwarten konnte. Und es war warm – so warm, dass man förmlich hörte, wie die Löwenzahnknospen aufplatzten. Az bog an der Nordkante des Steinbruchs ab, wo die meisten Sprengladungen in den gebohrten Löchern im Felsen steckten. Da unten befanden sich Beutel mit Ammoniumnitrat, Dynamitstangen, Zündkapseln und Zündschnüre. Computergesteuerte Verzögerer würden die Sprengungen der Reihe nach auslösen, bis rund acht Tonnen Felsen bewegt worden waren. Das Ganze geschah in zwei Schritten – die eine Hälfte des Steinbruchs würde morgen gesprengt werden, die andere in ein paar Tagen. Und dann würden die Arbeiter kommen und den Granit für den Verkauf abbauen. Az hatte von Geröll, von Rauch, von Geschwüren und Narben geträumt; Armageddon auf Schalterdruck. Er hatte sogar seinen Boss bekniet, eine Woche zu warten, aber der jüngere Mann hatte nur gelacht. »Kümmere du dich um deine Nachtwache, Häuptling«, hatte er gesagt, »und überlass die Entscheidungen mir.«
Az war daher nicht überrascht, als er einen Eindringling entdeckte. »He«, rief er, aber der Mann ging unbeirrt weiter. Az lief ihm nach – so gut er es noch mit seinen kaputten Hüften konnte –, und als er ihn eingeholt hatte, sah er, dass es ein stadtbekannter Trunkenbold war.
Abbott Thule hatte die meisten Leute überlebt, die in all den Jahren den Kopf geschüttelt hatten, wenn er irgendwo seinen Rausch ausschlief. Er war ein Halbblut, inzwischen über achtzig und hatte vier Ehefrauen gehabt, einmal sogar zwei zur selben Zeit. Falls Abbott überhaupt je gearbeitet hatte, so wusste Az jedenfalls nichts davon. »Herrgott, Abbott, das ist doch gefährlich hier«, schnaufte Az, fasste den Alten am Arm und zog ihn herum.
»Ich muss mit dir reden. Wegen so Zeug, das ich gehört hab.«
Az hatte wirklich keine Zeit, sich um einen Betrunkenen zu kümmern. »Geh doch rüber zu Winks, da kriegst du bestimmt ein Bett für die Nacht. Ich muss arbeiten.«
Aber Abbott rührte sich nicht vom Fleck. »Als ich klein war, musste meine Mom ins Krankenhaus. So eines, wenn man im Kopf krank ist. Eine Frau war zu uns gekommen, ich weiß nicht mehr, wie die hieß, und die hat gesagt, es wäre unchristlich, wenn man zwei Kinder von zwei verschiedenen Vätern hat und nicht verheiratet ist. Dann haben sie meine Mutter weggebracht, und mich und meine Schwester Carol, sie ruhe in Frieden, haben sie in verschiedene Besserungsanstalten gesteckt.« Er holte tief Luft. »Was ich sagen will, Az, ich hatte vier Frauen. Aber ich habe keine Kinder, es hat einfach nicht geklappt. Und ich frage mich …« Er sah auf, die Augen tränennass. »Haben die in der Anstalt vielleicht was mit mir gemacht, was ich nicht mehr weiß?«
»Abbott.« Az legte dem Alten die Hand auf die Schulter. »Komm, wir trinken eine Tasse Kaffee.«
Meredith wusste genau, in welchem Augenblick Ross’ Wagen die Stadtgrenze von Comtosook überfuhr, denn plötzlich war die Windschutzscheibe voller flatternder Schwammspinner. Als Ross die Scheibenwischer betätigte, um die Schmetterlinge zu verscheuchen, sah Meredith aus den Augenwinkeln, wie sich Lucy auf dem Rücksitz unter ihrem Sweatshirt versteckte.
Um Ruby kümmerte sich Tajmalla, die ein wenig beleidigt gewesen war, dass Meredith zuerst Bedenken geäußert hatte, ihre Großmutter – oder was immer sie war – in der Obhut einer städtischen Altenpflegerin zu lassen. Auf der Fahrt nach Norden hatte im Auto Schweigen geherrscht, nur unterbrochen von den Verkehrsdurchsagen im Radio.
Meredith sprach nicht mit Ross. Als sie zusammen im Starbucks gewesen waren, hatte sie den Rauch seiner Zigarette beobachtet und das Gefühl gehabt, er forme sich zu Buchstaben einer geheimen Botschaft. Sie hatte auf seiner Haut Vanille gerochen, und ihr war schwindelig geworden. Sie hatte aus seiner Kaffeetasse getrunken, als er mal zur Toilette gegangen war, hatte ihre Lippen auf die Stelle gelegt, die seine Lippen berührt hatten, damit ihre Sinne sich daran erinnern würden, wenn – nicht falls – sie ihn schließlich richtig schmecken würde.
Sie hatte sich lächerlich gemacht.
Nach all den katastrophalen Verabredungen mit Männern, die sie als interessant eingeschätzt hatte, löste ausgerechnet ein Typ, den sie nicht mal eines Blickes gewürdigt hätte, Gefühle bei ihr aus, wie es keinem vor ihm gelungen war. Auf den ersten Blick war Ross Wakeman ein Niemand. Doch wenn man genauer hinschaute, sah man seinen Humor, seinen Charme, seine Verletzlichkeit.
Und dass er rettungslos in eine andere Frau verliebt war, noch dazu eine tote.
»Und?«, sagte Meredith laut. »Sind wir da?«
Ross nickte. »Das ist Comtosook.«
Sie bogen von der Hauptstraße auf einen Schotterweg. Doch statt an einem der wenigen Häuser anzuhalten, fuhr Ross bis ans Ende durch und parkte den Wagen. »Wo sind wir?«, fragte sie.
Es war schon fast dunkel, der Himmel sah aus wie die glänzende Haut einer Aubergine. Meredith folgte Ross in den Wald. Sie war schließlich Wissenschaftlerin, sagte sie sich, und von Natur aus neugierig.
Mit Lucy dicht an ihrer Seite ging Meredith über Wurzeln und Steine und, wie es aussah, Bauschutt. Plötzlich öffnete der Wald sich, und sie sah eine große, kahle Fläche, die mit Plastikband abgesperrt war. »Hier wohnen Sie?«
Ross murmelte etwas, das sich anhörte wie: Schön wär’s.
Plötzlich wusste Meredith, wo sie war. »Ach, verdammt«, seufzte sie und nahm Lucys Hand, um zum Wagen zurückzugehen. Sie hatte gerade mal zwei Schritte geschafft, als Ross sie festhielt und umdrehte. »Sie«, sagte er mit wildem Blick, »bleiben schön hier.«
Meredith war sich jetzt ganz sicher, dass Ross Wakeman tatsächlich wahnsinnig war. Außerdem war er größer und stärker als sie und mit ihr und Lucy allein. Also verschränkte Meredith die Arme vor der Brust und gab sich tapfer. Sie wartete darauf, dass irgendein Geist erschien oder dass Ross endlich kapierte, dass es hier niemanden zu sehen gab.
Lucy zitterten die Knie so heftig, dass Meredith es regelrecht hören könnte. »Ganz ruhig«, sagte sie. »Das ist alles bloß fauler Zauber.«
Als Ross das hörte, wandte er sich langsam ab. Die qualvolle Trostlosigkeit in seinen Augen ließ sie schlucken. Was, wenn jemand sie so innig lieben würde? »Es … es tut mir leid«, murmelte sie.
Ross rannte förmlich über den Weg zurück aus dem Wald. Meredith folgte mit Lucy. Sie sagte sich, dass damit zu rechnen gewesen war. Ich bin nicht Lia, dachte sie. Ich bin es nicht.
Shelby zog sich gerade ihr T-Shirt über den Kopf, als sich ihr plötzlich die Nackenhaare sträubten. Sie lief zum Fenster und sah gerade noch, wie die Scheinwerfer eines Wagens ausgingen. »Ross«, flüsterte sie, und dann jauchzte sie auf und lief nach unten, um ihren Bruder zu begrüßen.
Vor dem Haus warf sie ihm die Arme um den Hals. »Gott sei Dank, du bist wieder da.«
Er lächelte. »Bei dem Empfang werde ich öfter wegfahren.«
Über seine Schulter hinweg sah Shelby eine Frau aus dem Wagen steigen. Und ein kleines Mädchen. »Shel«, sagte Ross und trat zur Seite: »Ich möchte dir Lia Pikes Enkelin vorstellen.«
»Das muss sich erst noch zeigen«, sagte die Frau, aber sie gab Shelby die Hand. »Meredith Oliver. Und das ist meine Tochter Lucy. Entschuldigen Sie, dass wir so spät hier aufkreuzen …«
»Das macht überhaupt nichts. Wir stehen gerade auf«, erwiderte Shelby. »Kommt alle mit rein.«
Ross ging voraus, dann brummte er: »Ich bin hundemüde«, und verschwand nach oben.
Shelby und Meredith waren beide gleichermaßen fassungslos ob dieser Unhöflichkeit. Als Shelby sich wieder gefangen hatte, beugte sie sich zu Lucy hinab. »Mein Sohn ist im Garten, durch die Tür da vorne. Er ist ungefähr so alt wie du. Willst du ihm nicht Hallo sagen?«
Lucy drückte sich an Meredith. »Na, geh schon«, drängte Meredith und schob ihre Tochter behutsam von sich weg. Die Kleine stakste zögerlich zur Tür.
»Lucy braucht immer ein Weilchen, bis sie auftaut«, erklärte Meredith.
Shelby war jetzt mit dieser Frau allein, die offensichtlich genauso ungern hier war wie ihre Tochter. »Hätten Sie, ähm, vielleicht Lust auf eine Tasse Kaffee?« Als sie ihnen beiden einschenkte, nahm Shelby Meredith über die Kanne hinweg genauer in Augenschein. Honigblondes Haar, kastanienbraune Augen … irgendwie kam sie ihr bekannt vor.
Meredith stand am Küchenfenster und sah zu, wie ihre Tochter sich draußen umsah. Etwas entspannter nahm sie Platz. »Glauben Sie auch an Geister?«, fragte sie.
»Ich glaube an meinen Bruder.«
Verdrossen blickte Meredith weg. »Es war schon etwas merkwürdig, müssen Sie wissen, dass Ihr Bruder so einfach aus dem Nichts auftaucht und mir sagt, ich müsste mit nach Vermont kommen.«
Shelby schob ihr ein Kännchen Sahne und eine Zuckerdose hin. »Manchmal ist man erst von etwas überzeugt, wenn man es mit eigenen Augen sieht.«
»Stimmt«, sagte Meredith. »Vor hundert Jahren hätte es niemand für möglich gehalten, dass etwas mikroskopisch Kleines für die Körpergröße oder die Hautfarbe oder die Intelligenz eines Menschen verantwortlich ist – was heute niemand mehr bezweifelt.«
Dann können wir ja vielleicht in hundert Jahren Geister sehen, dachte Shelby. Doch stattdessen sagte sie höflich: »Haben Sie beruflich damit zu tun? Mit DNA-Forschung?«
»Nein, genauer gesagt, mit PID. Das bedeutet, Präimp…«
»Ich weiß, was das bedeutet«, fiel Shelby ihr ins Wort. »Ich hab mal …«
Sie brach ab, ließ den Löffel fallen, den sie in der Hand hielt. Vor ihrem inneren Auge sah sie plötzlich den Eintrag in ihrem Kalender, rot umkringelt: Dr. Oliver, Genetikerin. Der Termin war abgesagt worden, weil Dr. Oliver einen Abtreibungstermin hatte.
Shelby drehte den Kopf zum Fenster, zu den beiden Kindern im Garten. »Sie haben das Baby behalten«, flüsterte sie.
Meredith hob den Kopf. »Was haben Sie gesagt?«
»Schon gut«, sagte Shelby mit einem breiten Lächeln und schenkte Meredith Kaffee nach.
Lucy fand es gruselig, im Dunkeln durch einen fremden Garten zu laufen. Von dem Jungen war nichts zu sehen. Nur seine Sachen lagen überall herum: ein Baseballschläger, ein Kickboard. Der Garten selbst war voller Falter, die wie Feen über den Pflanzen schwebten.
Plötzlich trat sie auf ein Skateboard, das auf die Einfahrt rollte und dort gegen einen Pfahl prallte. Sie hob es auf, und dann drang eine Stimme in ihren Kopf. He, hörte sie. Was machst du denn da?
So sprachen die Geister immer mit ihr, als hätte sie Lautsprecher im Gehirn. Und als sie sich umdrehte, mit rasendem Herzen, rechnete sie bereits mit dem weißen Gesicht, das vor ihr auftauchte. Sie schluckte. »Bist du ein Geist?«, fragte sie.
Was war das denn für eine blöde Frage? »Noch nicht«, sagte Ethan und nahm der kleinen Zicke, die in seinen Garten eingedrungen war, sein Skateboard ab. Er stellte sich drauf und vollführte den coolsten Kickflip, den er zustande brachte, bloß um ihr so richtig zu imponieren. Geist. Als müsste er daran erinnert werden.
Er kam zu ihr zurückgerollt, außer Atem. Sie sah ein bisschen jünger aus als er, trug Zöpfe, und ihre Augen waren so schwarz vor Angst, dass er ihre richtige Farbe nicht erkennen konnte. Er sah ihr an, dass sie darauf brannte, ihn anzufassen, nur um zu sehen, ob ihre Hand durch ihn hindurchgehen würde. »Wer bist du?«
»Lucy.«
»Und was hast du in meinem Garten zu suchen, Lucy?«
Sie schüttelte den Kopf. »Deine Mom hat mich nach draußen geschickt.«
Ethan trat hinten auf sein Skateboard, sodass es ihm wie von allein in die Hand flog. Noch so ein starker Trick. Er hatte nicht oft Gelegenheit, Fremde zu beeindrucken. »Du suchst Geister? Ich weiß nämlich, wie man welche findet. Mein Onkel hat’s mir gezeigt.«
Lucy brachte nichts als einen erstickten Laut hervor. Sie klopfte sich auf die Brust und keuchte. »Schnell … In…«
Ethan erstarrte. »In… was? Was soll ich machen?«
»In…halator …«
Er sauste los wie von der Tarantel gestochen und stürmte durch die Küchentür. »Sie kriegt keine Luft mehr«, rief er.
Eine Frau stürzte so schnell an ihm vorbei, dass er nicht mal ihr Gesicht sehen konnte. Er lief ihr nach und sah, wie sie sich über Lucy beugte und ihr irgendetwas an den Mund hielt. »Ganz ruhig, Lucy«, sagte die Frau, während Ethans Mutter einen Arm um ihn legte.
»Asthma«, murmelte sie.
Ethan sah Lucys blau verfärbte Haut und dachte, dass sie jetzt auch fast wie ein Geist aussah. »Kann sie … daran sterben?«
»Wenn sie nicht rechtzeitig ihre Medizin nimmt. Oder zu einem Arzt kommt.«
Ethan war sprachlos. Das Mädchen da, das wie ein ganz normales Kind aussah, könnte jederzeit das Zeitliche segnen. Wie er.
Nach einer Weile sagte Lucys Mutter zu der Kleinen: »Komm, wir gehen rein.«
Lucy folgte ihr brav. Als sie an Ethan vorbeikam, sagte sie zu ihm: »Die finden mich«, als wäre ihre Unterhaltung gar nicht unterbrochen worden.
Az konnte die Augen nicht von ihr abwenden. Er starrte Meredith Oliver an, während sie beide nebeneinander auf einer Holzbank im Flur des Kriminallabors in Montpelier saß, zwei Fremde mit einem Wattebausch in der Armbeuge, und auf das Ergebnis eines DNA-Tests warteten. »Entschuldigen Sie«, sagte Az. »Es ist unhöflich von mir.«
Sie öffnete den Mund, als wollte sie ihm recht geben – zuckte dann aber mit den Schultern. »Es muss für Sie ja genauso merkwürdig sein wie für mich.«
In vielerlei Hinsicht. Erstens, ihre Ähnlichkeit mit Lia war frappierend. Zweitens, so ein DNA-Test war schon seltsam genug, aber noch seltsamer war, dass Ross Wakeman und Eli Rochert ihn hingebracht hatten.
Meredith schien zu ahnen, wie ihm zumute war. Sie lächelte ihn beruhigend an – sie hatte ein Grübchen, aber nur in der linken Wange, genau wie er. »Und?«, scherzte sie. »Sind Sie öfter hier?«
»Ein-, zweimal die Woche.« Az erwiderte ihr Lächeln, sah, wie ihre Augen größer wurden, als sie das Grübchen auch bei ihm entdeckte. »Der Saft und die Plätzchen, die sie einem hier spendieren, sind einfach köstlich.« Sie lehnten sich zurück, beide ein bisschen entspannter. »Sie wohnen in Maryland?«, fragte Az.
»Ja. Mit meiner Tochter.«
»Tochter.« Er sprach das Wort mit Ehrfurcht aus; es gab also noch eine Nachfahrin.
»Lucy. Sie ist fast neun.«
»Hat sie Ähnlichkeit mit Ihnen?«
Meredith schüttelte langsam den Kopf. »Sie hat Ähnlichkeit mit meiner verstorbenen Mutter. Dunkles Haar, dunkle Augen.«
Genau wie ich, dachte Az, und als sich eine unsichtbare Wand zwischen sie senkte, wusste er, dass Meredith das Gleiche dachte.
»Eli hat gesagt, Sie sind Medizinerin.«
»Mr. Thompson.« Sie sprach seinen Namen freundlich aus, aber mit einem eisenharten Unterton, der ihn an Lilys rebellisches Wesen erinnerte. »Ich will Sie nicht kränken, aber ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass wir nach dieser Veranstaltung hier genauso wenig miteinander zu tun haben werden wie davor.«
»Ms. Oliver, ich hab meine Tochter nicht sehr gut gekannt. Und die Tochter meiner Tochter habe ich nie zu Gesicht bekommen. Ich hoffe einfach, dass Sie – falls sich herausstellt, dass wir doch mehr miteinander zu tun haben – mir helfen werden, diese Umstände ein wenig zu verbessern.«
Plötzlich kamen Eli und Ross aus dem Labor, gefolgt von dem Labormitarbeiter. Eli hielt ein paar Blätter in der Hand, die der Gift und Galle spuckende Laborant vergeblich an sich zu reißen versuchte. »Für ein gesichertes Ergebnis brauche ich mehr als acht Stunden«, sagte der Mann vom Labor.
»Regen Sie sich ab«, sagte Eli über die Schulter und reichte Az die Papiere.
Für Az hätte das, was da stand, auch in Navajo geschrieben sein können. Mit den dicht zusammenstehenden Zahlenpaaren konnte er nichts anfangen. »Vielleicht sollte er uns aufklären.«
Aber Meredith zog sie ihm aus der Hand. »Lassen Sie mal sehen.«
»Sie werden genauso wenig …«
»Doch, Az. Sie verdient damit ihr Geld.«
»Womit?«
Meredith blickte nicht von der Zahlenkolonne auf, an der ihr Finger entlangfuhr. »Gendiagnose. Ich teste Embryos, damit Frauen gesündere Babys kriegen.«
Az hatte das Gefühl, als würde die Zeit stillstehen, als würden Vergangenheit und Gegenwart sich die Hand reichen. »Genau wie Ihr Großvater«, murmelte er. Er wandte sich an Eli: »Weiß Spencer Pike Bescheid?«
»Wie sollte er?«, sagte Meredith. »Er ist tot.«
Az lachte. »Schön wär’s. Wer hat Ihnen das denn erzählt?«
Er sah, wie sie sich umwandte, mit zornblitzenden Augen. Ross und Eli interessierten sich auf einmal auffällig für das Muster des Linoleumbodens. Und Az begriff, dass Ross Meredith wohl etwas Entscheidendes verschwiegen hatte.
»Ich hab mich noch gar nicht bedankt«, sagte Eli, »dass Sie Meredith hergebracht haben.«
Er und Ross warteten auf der Eingangstreppe vor dem Labor auf Meredith, die sich auf die Toilette zurückgezogen hatte, nachdem sie erfahren hatte, dass Az Thompson eindeutig ihr biologischer Urgroßvater war und dass ihr biologischer Großvater noch lebte. Az hatte Ross und Eli gesagt, sie sollten ihr ein wenig Zeit geben, den doppelten Schlag zu verkraften, und war in seinem alten Wagen zur Arbeit gefahren.
»Ich hab es nicht für Sie getan«, erwiderte Ross.
»Ich weiß. Aber trotzdem.« Eli fächerte sich mit dem DNA-Bericht Luft zu. Es war brütend heiß hier draußen, und er hoffte, dass Meredith Oliver sich bald wieder im Griff hatte. Er schielte zu Ross hinüber, der auf einer Stufe saß und mit einem Stein malte. »Ich bin auch froh, dass Sie selbst wieder da sind«, sagte Eli.
Ross blickte auf. »Hat Shelby Sie verrückt gemacht? Ich meine, auf dem Zettel, den ich ihr dagelassen hatte, stand nichts von Adieu, du schnöde Welt.«
»So ein Missverständnis ist vielleicht naheliegend, wenn man seinen Bruder schon mal nach einem Selbstmordversuch gefunden hat.«
Rock blinzelte zu ihm hoch. »Sie hat es Ihnen erzählt?«
»Ja.« Eli seufzte und setzte sich neben Ross. »Wissen Sie eigentlich, wie viel Sorgen sich Shelby um Sie macht?«
»Ich werde schon allein mit dem Leben fertig.«
»Ja«, sagte Eli. »Genau davor hat sie ja Angst.« Er stützte seine Ellbogen auf die Knie. »Hören Sie. Ich kriege in meinem Job jede Menge Mist zu sehen, Sachen, die sich hinter verschlossenen Türen abspielen. Ich sehe Leute mit Problemen, die kein Mensch haben sollte. Im Vergleich dazu haben Sie ein tolles Leben vor sich.«
»Und das wissen Sie, weil Sie mir ein paar Tatortfotos gezeigt haben?«
»Ich weiß jedenfalls, dass keiner, um den jemand wie Shelby sich sorgt, das Recht hat, an Selbstmord zu denken.«
Ross legte den Kopf schief. »Lieben Sie sie?«
Eli nickte. »Ja. Ich glaube, ja.«
»Wenn sie nach Burlington ziehen würde, würden Sie dann mitgehen?«
»Klar.«
»Und wenn sie nach Seattle ziehen würde?«
Eli zögerte, und dann spürte er, wie sich etwas in seiner Brust löste. »Ja, ich würde mitgehen.«
»Und wenn sie irgendwo hinwollte, wo man noch schwerer hinkommt?«
»Wenn zwei Menschen sich über alles lieben, dann überwinden sie jede Hürde, um zusammenzubleiben.«
»Aber was ist, wenn sie irgendwo hinginge, wohin Sie ihr nur folgen könnten, wenn Sie sich eine Kugel in den Kopf jagen oder sich aufhängen oder in der geschlossenen Garage in Ihren Wagen setzen und den Motor laufen lassen? Ich habe es getan, weil ich eine Frau über alles geliebt habe«, sagte Ross. »Nicht obwohl.«
Er stand abrupt auf, und das grelle Sonnenlicht blendete Eli. »Ich seh mal nach, wo sie bleibt«, knurrte Ross und ging ins Gebäude.
Eli legte den Kopf auf die Knie. Er war Polizist und hatte Selbstmord immer als Flucht gesehen – nicht als Zuflucht. Er dachte an Shelby und daran, wie sie auf das Foto der erhängten Lia Pike gestarrt hatte. Sieht man wirklich so aus, wenn man sich aufgehängt hat?
Elis Mund wurde trocken. Er stand gerade auf, als Ross aus dem Gebäude gestürzt kam. »Meredith«, sagte er. »Sie ist weg.«
Meredith saß im Bus von Montpelier nach Comtosook und hatte nur diesen einen Gedanken: Ruby war nicht ihre Großmutter. Ihre Großmutter war 1932 gestorben. Meredith’ Vorfahren stammten nicht aus Akadien und Frankreich, sie hatten immer hier gelebt. Und ihr Großvater war nicht irgendein junger Mann gewesen, der Ruby das Herz gebrochen und schwanger sitzen gelassen hatte – die Lüge, die ihr all die Jahre aufgetischt worden war. Ihr Großvater war Wissenschaftler gewesen, der erforscht hatte, wie sich die Vererbung von Anomalien von einer Generation zur nächsten verhindern ließe.
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Vom Busbahnhof in Comtosook war Meredith zu Fuß zu Shelbys Haus gegangen. Und dort hatte sie von Shelby die ganze Wahrheit erfahren – die furchtbaren Folgen der Eugenik-Bewegung ihres Großvaters und dass Spencer Pike noch am Leben war, wenn auch schwer krank, in einem Pflegeheim keine zehn Meilen entfernt. Sie erzählte Meredith alles, was ihr Bruder bequemerweise ausgelassen hatte: Sie erzählte von Cecelia Pikes brutalem Tod, von Gray Wolfs Verschwinden, von Az’ Geständnis in der Woche zuvor.
Jetzt saß sie in Shelbys Auto und sah noch einmal auf die Wegbeschreibung zum Pflegeheim. Es war nicht mehr weit.
Wenn Pike noch am Leben war, verstand sie nicht, wieso Ross und sein Freund von der Polizei ihm nicht eine Blutprobe für den DNA-Test hatten abnehmen lassen – das wäre aus wissenschaftlicher Sicht einfacher gewesen. War es ihnen darum gegangen, dass sie Az Thompson kennenlernte, dessen Opfer so viel größer gewesen war, als Meredith’ es je sein könnte? Oder lag es daran, dass niemand einen Mann ansehen wollte, der so viel Schaden angerichtet hatte wie Spencer Pike?
Das Pflegeheim war ein hochherrschaftliches Haus im Kolonialstil, von Eichen umstanden und gesäumt von gepflasterten Wegen. Meredith ging die Treppe hinauf in die Eingangshalle. Trotz der freundlichen und hellen Atmosphäre lag ein Geruch in der Luft, der aus den Fugen zwischen den Bodenfliesen zu dringen schien. Es roch nicht nach Tod, sondern nach Reue – ein süßeres, stechenderes Aroma.
Eine Krankenschwester mit einem Stethoskop um den Hals saß an einem Schreibtisch. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich möchte jemanden besuchen.«
»Zu wem möchten Sie denn?«
»Spencer Pike.«
Die Krankenschwester legte die Stirn in Falten. »Ihm geht es heute gar nicht gut …«
»Ich bin … ich bin eine Verwandte«, sagte Meredith.
Die Schwester nickte, gab ihr einen Passierschein zum Anstecken und beschrieb ihr den Weg.
Die Vorhänge waren zugezogen, alle Lampen ausgeschaltet. Ein Atemgerät röchelte irgendwo links von ihr, und sie konnte nur undeutliche Umrisse erkennen. Sie tastete sich vorsichtig um das Bett herum zum Fenster, wo sie die Vorhänge einen kleinen Spalt öffnete.
Spencer Pike war gebrechlich und haarlos. Das weiße Laken, das ihn bedeckte, betonte seine vorstehenden Knochen. Sie trat ans Bett, rechnete damit, Groll oder Hass oder gar eine traurige Nähe zu empfinden – aber da war absolut nichts. Der Mann vor ihr hätte ein Fremder sein können.
Nicht Blut oder Gene oder das, was durch beides weitergegeben wurde, machte eine Familie aus. Um das zu begreifen, musste man sich nur Meredith und ihre Mutter und Ruby ansehen. Oder eben Spencer Pike, der hier einsam und verlassen starb.
Er drehte sich in seinem Morphiumschlaf auf den Rücken, blieb mit dem Arm an einem durchsichtigen Schlauch hängen, der vom Oberkörper zu seinem Gesicht führte. Er erdrosselt sich noch selbst, dachte Meredith, und gleich darauf: Wäre das so schlimm? Doch dann griff sie nach dem Schlauch und behob die Gefahr.
Seine Hand hob sich langsam und umklammerte ihr Handgelenk. Als Meredith nach unten blickte, sah sie, dass er wach war und weinte. Er wollte etwas sagen, aber seine Worte waren wegen der Sauerstoffmaske nicht zu verstehen. Sie zögerte, zog ihm dann die Maske ein Stück herunter.
»Es tut mir leid«, sagte Spencer Pike. »Es tut mir so leid.«
Meredith erstarrte. »Schon gut«, murmelte sie und wollte zurückweichen.
»Nicht gehen. Bitte noch nicht.«
Sie schluckte, nickte dann. Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich an das Bett ihres Großvaters.
Seine Atmung wurde unregelmäßiger, und eine Schmerzwelle spülte über sein Gesicht. »Cissy«, sagte Spencer Pike, »wirst du auf mich warten?«
Cissy. Cecelia. Sie sehen einer Frau ähnlich, die ich mal gekannt habe. Meredith hatte das Naheliegende vergessen – wenn sie wirklich so große Ähnlichkeit mit ihrer verstorbenen Großmutter hatte, dann würde das diesem Mann natürlich erst recht auffallen.
»Ja, Spencer«, erwiderte sie ruhig. »Solange es dauert.«
Kurz darauf fiel er in einen unruhigen Schlaf. Meredith hielt ihr Versprechen. Sie saß am Bett ihres Großvaters, während seine Lunge röchelte und pumpte. Sie saß bei ihm, bis die Symphonie der Apparate zu einer einzigen Note in ihrem Kopf wurde. Sie saß bei ihm, bis die Krankenschwestern kamen, um Spencer Pike seine nächste Dosis Morphium zu verabreichen, bis sie nach einer Weile wiederkamen und Meredith davon überzeugt hatten, dass sie jetzt ruhig gehen könne, weil er gestorben war.
Eli tigerte schon vor der Tür auf und ab, als Tuck Boorhies eintraf, und scheuchte ihn gleich in sein Fotolabor. Tuck sollte schon wieder eines der Tatortfotos von dem lange zurückliegenden Mordfall vergrößern. Diesmal jedoch ging es um einen Ausschnitt, auf dem der Boden zu sehen war. Tuck hatte den Kontrast noch ein bisschen bearbeitet, und siehe da, in dem feuchten Sägemehl waren Fußspuren zu sehen, die offenbar zu anderen Spuren passten: Fußabdrücke einer Frau. Aber noch interessanter war die lange Schleifspur im Sägemehl.
Jetzt blickte er von dem Hocker auf, auf dem er saß, in der Hand eine Polaroidkamera. »Was machen wir jetzt noch mal?«, fragte er Eli, der dabei war, eine Mülltüte an einem Haken an der Decke zu befestigen. In der Tüte waren rund drei achtelliter Wasser. Auf dem Boden hatte Eli Sägemehl verteilt.
»Laut Wesley Sneap fasst die menschliche Blase höchstens rund vierhundert Milliliter«, sagte Eli.
»Was wichtig ist, weil …« Tuck zog eine Augenbraue hoch.
»Hilf mir mal, ja?« Eli kletterte auf einen Hocker und signalisierte Tuck, die Tüte mit dem Wasser etwas anzuheben, während er einen stabilen Knoten an dem Haken darüber machte. »Er hat gesagt, dass im Augenblick des Todes die Schließmuskelnerven von Anus und Blase nicht mehr stimuliert werden und es zu Inkontinenz kommt.«
»Gut zu wissen.«
Eli verteilte das Sägemehl mit dem Fuß unter der Abfalltüte und trat dann zurück. »Okay, Tuck«, sagte er. »Stich meine Blase an.«
»Was soll ich?«
»Meine Blase anstechen.« Eli zeigte auf die Tüte.
»Wie du willst«, murmelte Tuck und piekste mit seinem Stift in die Tüte.
Beide schauten sie zu, wie der dünne Strahl das Sägemehl benetzte. Er rieselte auf ihre Fußabdrücke, verwischte die Ränder. Als die Tüte leer war, hatte der nasse Fleck auf dem Sägemehl etwa die Größe eines Kanaldeckels. »Davon möchte ich eine Aufnahme, Tuck«, sagte Eli und ging aus dem Labor.
Als die Polaroidkamera das Foto ausspuckte, kam Eli wieder herein, eine Holzkiste in den Händen. »Und?«
»Sieht aus wie eine Pfütze. Was hast du sonst erwartet?«
Eli nahm Tuck das Foto aus der Hand und sah es sich an, legte es dann neben die Vergrößerung, die Tuck zuvor gemacht hatte. »Täusch ich mich, oder sind die beiden Pfützen völlig verschieden?«
Sie konnten verschiedener nicht sein. Der dunkle Fleck nassen Sägemehls auf dem Polaroidfoto war nur halb so groß wie der auf dem Schwarz-Weiß-Abzug. Doch noch ehe Tuck antworten konnte, öffnete Eli die Holzkiste und hob einen sechzig mal dreißig Zentimeter großen Eisblock heraus. Er setzte ihn auf dem Sägemehl ab, stellte ihn hochkant und schob ihn mitten in die Pfütze, was eine lange Schleifspur hinterließ, ähnlich wie die auf dem Foto. Dann zog er einen Hocker neben den von Tuck und holte ein zusammengefaltetes Kreuzworträtsel hervor.
»Was hast du vor?«, fragte Tuck.
»Kreuzworträtsel lösen.«
»Nein, mit dem Eisblock da.«
Eli folgte seinem Blick. »Abwarten«, erwiderte er.
Ethan band sich gerade die Turnschuhe zu, als er den Schrei hörte. Er lief über den Flur zu dem Zimmer, wo Lucy und ihre Mutter schliefen, und stieß die Tür auf.
Lucy saß aufrecht im Bett und zitterte wie verrückt. »Lucy?«, sagte Ethan und ging vorsichtig näher. »Was ist denn?« Er sah sich im Zimmer um. Ihre Mutter war nicht da. Na ja, es war erst Mitternacht. Sie hatte vielleicht noch keine Lust gehabt, ins Bett zu gehen. »Kannst du atmen?«
Sie nickte, und ihre Hände, die krampfhaft die Decke festhielten, entspannten sich. »Hab ich dich geweckt?«
»Nein, ich wollte gerade nach draußen.« Ethan scharrte mit einem Schuh über den Teppich. »Wo ist deine Mom?«
Sie blickte sich um, als würde sie jetzt erst merken, dass ihre Mutter nicht da war. »Keine Ahnung. Deine Mutter hat mich ins Bett gebracht.«
Ethan grinste. »Mütter sind doch alle gleich.«
Sie lächelte, aber nur ein bisschen. Ethan überlegte, was seine Mutter immer für ihn tat, wenn er mal Albträume hatte. »Milch«, sagte er. »Soll ich dir ein Glas Milch holen? Das hilft angeblich, wieder einzuschlafen. Sagt meine Mutter immer, wenn ich Panik kriege.«
»Ich wette, du kriegst nie Panik.«
»Klar doch. Jeder hat mal Albträume.«
»Was träumst du denn dann so?«
»Dass ich in der Sonne bin und nicht wegkann«, sagte Ethan ausdruckslos. »Und du?«
»Von Geistern«, flüsterte Lucy.
»Also, ich hab keine Angst vor Geistern.«
»Ich hab keine Angst vor der Sonne«, erwiderte Lucy.
Er hätte ihr nichts verschweigen dürfen. Ross machte sich Vorwürfe, denn er war sicher, dass er für Meredith’ Verschwinden verantwortlich war. Sie war jetzt schon seit Stunden weg, hatte nicht einmal angerufen, um sich nach Lucy zu erkundigen. Vielleicht brauchte sie einfach Zeit, um nachzudenken.
Vielleicht wollte sie gar nicht nachdenken.
Ross stieß den Kopf gegen den Stamm des Baumes, an dem er lehnte. Wie gern hätte er jetzt fünf Minuten in der Vergangenheit. Fünf Minuten, um mit Meredith Oliver zu sprechen und ihr zu sagen, dass er das Gefühl kannte, aufzuwachen und zu erkennen, dass das eigene Leben doch ganz anders war, als man bis dahin geglaubt hatte.
Bedauern gehörte zum Leben dazu, wie eine Reißleine, die einen daran erinnerte, dass man nicht immer bekommt, was man will. Wie er, der er Aimee überlebt hatte. Oder Az, der seine Tochter suchte und fand und sie dann gleich wieder verlor. Oder Shelby, die ein Kind hatte, das allmählich starb. Ethan, in einen Körper hineingeboren, den niemand verdiente. Irgendwann wurde jeder von dieser Welt verraten.
So gesehen fühlte sich Ross nicht ganz so allein. Wer im Strudel der Trauer um das, was hätte sein können, gefangen war, kam aus eigener Kraft vielleicht nicht mehr heraus – aber er konnte gerettet werden, wenn ein anderer ihm die Hand reichte.
Vielleicht war er deshalb nach Maryland gefahren, um Meredith zu suchen.
Helden sprangen nicht von einem Hochhaus zum nächsten und hielten auch keine Gewehrkugeln mit der bloßen Hand auf. Sie trugen keine Stiefel und Umhänge. Sie bluteten und holten sich blaue Flecken, und ihre übermenschlichen Kräfte zeigten sich in der einfachen Fähigkeit, zuzuhören oder zu lieben. Helden waren normale Menschen, die wussten, dass sie, auch wenn ihr eigenes Leben schier unlösbar verknotet schien, das eines anderen zum Besseren wenden konnten. Und vielleicht war dann ja auch ein anderer in der Lage, ihnen zu helfen.
Ross schloss die Augen und lächelte, doch das Weinen eines Babys lenkte ihn ab. Vielleicht war es auch etwas anderes, irgendein Tierlaut. Aber dann ertönte es erneut: dünn, verzweifelt, menschlich. Er trat hinaus auf die Lichtung und sah Meredith auf dem Boden kauern.
»Was machen Sie denn hier?«, fragte er, und als sie aufstand – Hände und Fingernägel dunkel vor Erde –, sah Ross, dass es gar nicht Meredith war.
Wer ruft mich? Ich blicke auf und sehe mich um, besorgt, dass man mich bereits entdeckt hat. Aber es ist niemand da, nur mein eigenes Misstrauen, das mir so ausladend und dick vorkommt wie diese alten Eichen. Ich bücke mich und ziehe noch mehr Gestrüpp und Dickicht beiseite, suche. Wo hat er sie versteckt, wo kann sie sein?
Ich habe einen Schrei gehört, ich weiß es genau. Einmal war im Klifa Club ein Vortrag, von einem afrikanischen Dschungelzoologen, der gekommen war, um Spencer kennenzulernen. Der Zoologe sagte, dass Mütter in der Natur ihren Nachwuchs an den Lauten erkennen. Der Fötus hört eine Stimme im Mutterleib, und wenn das Baby zur Welt kommt, ist es in der Lage, seine Mutter überall herauszuhören.
Meine Hände bluten. Ich habe unter jedem Stein nachgeschaut, hinter jedem Baum. Dann höre ich sie wieder, wie sie mich leise ruft.
Diesmal konzentrieren sich alle meine Sinne, und auf einmal stehe ich, drehe mich um und gehe zum Eishaus. Ich stoße die Tür auf, schlurfe durch das Sägemehl. Und sehe sie.
Ihre Wimpern sind so lang wie der Nagel meines kleinen Fingers. Ihre Wangen sind milchig blau.
Lily. Lily Delacour Pike.
Selbst nachdem ich sie wieder in die Kiste gelegt habe, spüre ich noch ihr regloses Gewicht in meinen Armen. Irgendwas wird immer fehlen.
Er wird mir niemals glauben, er wird es niemals verstehen. Der einzige Weg, ihm zu zeigen, was er getan hat, ist der, ihm das Gleiche anzutun. Ihm das zu nehmen, was er auf der Welt am meisten liebt.
Einer von den Eisblöcken ist dünner als die anderen. Ich kann ihn anheben und nach draußen ziehen. Ich lege mir zuerst das Seil um den Hals und mache einen Knoten. Dann stelle ich mich auf den Eisblock und befestige das andere Ende des Seils am Balken. Warte auf mich, denke ich und springe meinem Baby hinterher.
Der Schmerz ist größer, als ich dachte, als das Gewicht meines Lebens von der Schwerkraft nach unten gezogen wird. Meine Lungen sind kurz vor dem Zerreißen, die Welt wird allmählich schwarz.
Aber plötzlich schreit sie. Und schreit. Durch das Fenster vom Eishaus, während ich an dem Seil hänge, sehe ich, wie sie mit ihren winzigen Fäusten rudert. Sie ist zu mir zurückgekommen, doch ich bin bereits fort.
Lily, schreie ich im Kopf, und ich versuche, das Seil zu packen, es vom Balken loszureißen. Aber ich habe zu gute Arbeit geleistet. Lily. Ich trete mit den Füßen nach den Stützpfosten, nach allem. Ich kratze, komme aber nur bis zur Brust, höher schaffen es meine Arme einfach nicht.
Oh Gott, ich kann sie nicht zweimal verlieren.
Sie wird meine Stimme hören, obwohl ich nicht laut rufen kann. Sie wird über eine Wüste hinweg zu mir finden, sie wird im tiefsten Meer zu mir schwimmen.
Ich gebe meinem Baby das Versprechen, das mein Vater mir gegeben hat, bevor er mich überhaupt kennenlernen konnte: Ich werde dich finden.
Als sie vor seinen Augen wieder verschwand, merkte Ross, dass er die ganze Zeit den Atem angehalten hatte.
Lias Geist war noch einmal zurückgekehrt, um etwas zu suchen.
Aber sie hatte nicht nach dem Baby gesucht und auch nicht nach Ross. Erst als sich die Vision aufgelöst hatte, wusste er, warum sie wiedergekommen war: Auf der anderen Seite der Lichtung stand Meredith Oliver, das Gesicht starr vor Entsetzen und Fassungslosigkeit, denn auch sie hatte alles gesehen und gehört, was Lia zu sagen hatte.