ZEHN


»Ich hab sie getötet.« Az presste sich den kleinen Wattebausch auf die Stelle am Arm, an der ihm gerade Blut abgenommen worden war, und sah dem Detective, der ihm im Verhörraum gegenübersaß, ruhig in die Augen.

Eli verzog keine Miene. »Die Beweise deuten aber nicht darauf hin.«

»Soweit ich weiß, gibt es noch einen Haftbefehl gegen mich.«

Nachdem er gestanden hatte, wer er war, hatte Az sich bereiterklärt, mit Ross zur Polizei zu gehen. Ross hatte fast damit gerechnet, dass Az sich wieder aus dem Staub machen würde, doch er hatte vor dem Revier auf Ross gewartet. Er hatte sich bereitwillig die Fingerabdrücke abnehmen lassen, und selbst Ross waren die markanten Bögen aufgefallen, genau wie auf Gray Wolfs Fingerabdruckkarte aus dem Gefängnis. Und als Eli sicherheitshalber auch noch eine Blutprobe von Az für die DNA-Analyse haben wollte, hatte der alte Mann darauf bestanden, das auf der Stelle zu erledigen.

Aber wieso gestand er nach siebzig Jahren?

»Ich hab sie getötet«, wiederholte Az. »Ich hab einer jungen Frau, die wie eine Prinzessin aufgewachsen war, eröffnet, dass in ihren Adern nicht nur blaues Blut fließt. Es spielt keine Rolle, ob ich ihr die Schlinge um den Hals gelegt habe, ob ich in der Nacht überhaupt dort war. Sie wäre nicht gestorben, wenn ich ihr nicht gesagt hätte, dass sie meine Tochter ist.«

»Sie haben doch bestimmt gewusst, dass die Wahrheit für sie nicht leicht zu verkraften sein konnte«, sagte Eli.

»Ich habe nicht daran gedacht, was für Entscheidungen sich daraus für sie ergeben würden. Ich wollte sie bloß kennenlernen, weil sie das Einzige war, was ich in dieser Welt zurücklassen würde. Leider ist es nicht so gekommen.«

»Haben Sie es auch Pike gesagt?«

»Nein.«

»Glauben Sie, Lia hat es ihm gesagt?«

»Ich glaube, sie hat sich nicht getraut«, sagte Az. »Er hatte sie in der Woche davor eingesperrt. Sie war selbstmordgefährdet – und er sagte, er wollte sie im Auge behalten, damit sie sich nichts antut. Für Spencer Pike kam es einer Selbstzerstörung gleich, öffentlich zu verkünden, dass man ein Zigeuner war.«

»Wieso haben Sie sie nicht da rausgeholt?«, sagte Ross vorwurfsvoll. »Sie hätten sie retten können.«

»Ihr Mann hat mich zusammengeschlagen und aus dem Haus geworfen. Als ich zurückkam, um sie zu holen, war sie schon tot, und die Polizei war da … und Spencer Pike hatte den Cops erzählt, ich wäre der Mörder. Dass ich schon so lange lebe, das ist meine Strafe. Ich habe sie kennengelernt und musste dann den Rest meines langen Lebens ohne sie verbringen.«

Ross starrte vor sich hin, verblüfft, dass Az den gleichen Schmerz beschrieb, den auch er empfand.

Eli schüttelte den Kopf. »Ich weiß noch, wie Sie hierhergezogen sind, Az. Da war ich noch ein Kind. Sie sind zurück nach Comtosook gekommen, obwohl Sie wussten, dass Sie für eine Tat verhaftet werden könnten, die Sie nicht begangen hatten?«

»Ich bin zurückgekommen, weil ich es einem Menschen versprochen hatte, den ich geliebt habe.«


Er bewegte sich durch die Flure des Pflegeheims wie der Geist, der er schon fast war, las die Namen an den Türen, bis er fand, was er suchte.

Spencer Pike lag zusammengekrümmt unter der Bettdecke, das Gesicht so weiß wie der Bauch eines Wals, der Infusionsschlauch an eine patientengesteuerte Schmerzmittelpumpe angeschlossen. Sein Daumen drückte fest auf den Rufknopf, und sein Atem kam in kleinen, flachen Stößen. »Ich brauch mehr Morphium!«

Die Antwort klang blechern, entfernt. »Tut mir leid, Mr. Pike. Ich darf Ihnen nichts mehr geben.«

Mit einem qualvollen Stöhnen warf er das Steuergerät für die Pumpe auf den Boden. Er lag auf der Seite, die Gesichtszüge schmerzverzerrt. Selbst als der andere Mann aus dem Schatten nähertrat, dauerte es einige Sekunden, bis Pike das Gesicht klar sehen konnte. Er zeigte jedoch keinerlei Anzeichen von Erkennen. »Wer sind Sie?«, keuchte er.

Darauf gab es keine eindeutige Antwort. Er war in seinem Leben so viele verschiedene Personen gewesen: John Delacour, Gray Wolf, Az Thompson. Man hatte ihn Indianer genannt, Zigeuner, Mörder, ein Wunder. Doch die einzige Identität, die er sich je wirklich gewünscht hatte, war ihm verwehrt worden – Lilys Mann, Lias Vater.

Vielleicht phantasierte Spencer Pike von den Schmerzmitteln, oder er lag im Delirium; vielleicht sah er Mut in Az’ Augen und verwechselte ihn mit Verständnis. Jedenfalls griff er über die wenigen Zentimeter äußeren Abstands und die Meilen innerer Distanz hinweg nach Az’ Hand und hielt sie fest. »Bitte«, flehte er. »Helfen Sie mir.«

Es erschütterte Az zutiefst, dass er und Spencer Pike doch etwas gemeinsam hatten: Sie würden allein sterben, und ihre Trauer würde mit ihnen sterben. Er blickte auf den gebrochenen Mann vor sich, der so viele Leben zerstört hatte. »Helfen Sie mir zu sterben«, hauchte Pike.

Es wäre ganz einfach. Er könnte ihm ein Kopfkissen sekundenlang aufs Gesicht drücken. Eine Hand auf den ausgedörrten, verbitterten Mund pressen. Niemand würde es erfahren, und Az hätte seine biblische Gerechtigkeit: ein Leben für ein Leben.

Aber genau das wollte Pike. »Nein», sagte Az und verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzublicken.


Die Polizei von Comtosook hatte sechs Hilfskräfte angeheuert, die die Medien von der Exhumierung fernhielten. Um die offenen Gräber herum standen Wesley Sneap, Eli, Az mit einigen wenigen Abenaki und Ross. Aus der Erde stieg der süßliche Geruch der Zeit.

Da sollte ich liegen, dachte Ross, und im selben Moment sprach Az dieselben Worte laut aus. Die Hände des alten Mannes bebten, als er sie über die Särge hob. »Wohin bringt ihr sie?«, fragte Ross ihn.

»Auf einen Berg, einen heiligen Ort«, erwiderte der alte Mann. »Abenaki werden mit dem Gesicht nach Osten hin bestattet.« Er blickte auf. »Dann kann sie sehen, was kommt.«

Ross versuchte, an dem Kloß in seinem Hals vorbeizuschlucken. »Sagen … sagen Sie mir, wo ihr Grab ist?«

»Das kann ich nicht. Sie sind kein Abenaki.«

Ross hatte diese Antwort erwartet, trotzdem schossen ihm Tränen in die Augen. Er nickte, trat verlegen gegen ein Stöckchen auf dem Boden. Plötzlich spürte er, wie etwas in seine Hand geschoben wurde. Ein Briefumschlag.

Darin war ein verblasster Ausschnitt aus der Burlington Free Press, die Todesanzeige von Cecelia Beaumont Pike. Daneben war ein Foto abgedruckt. Sie lächelte schwach, als hätte der Fotograf gerade eine witzige Bemerkung gemacht, die sie nicht lustig fand, aber aus Höflichkeit wenigstens mit einem Lächeln quittieren wollte. »Behalten Sie das«, sagte Az.

»Das kann ich unmöglich annehmen.«

»Sie würde es so wollen.« Az legte den Kopf schief. »Sie hat mir gesagt, dass sie von Ihnen geträumt hat, wissen Sie.«

»Sie … hat was?«

»Von einem Mann, der so aussah wie Sie. Der irgendwelchen technischen Krimskrams hatte, mit dem sie nichts anfangen konnte. Sie sind zu ihr gekommen, wenn sie schlief.« Az zuckte die Achseln. »So ungewöhnlich ist das gar nicht. Man kann jahrelang von jemandem verfolgt werden, den man nie kennengelernt hat.«


»Sind Sie bereit?«, fragte Eli sanft, und der alte Mann nickte.

Wesley Sneap half Eli, den Deckel des größeren Sarges mit einer Brechstange aufzustemmen. Ross wich zurück, und zwei der Abenaki wurden kreidebleich. Eli spähte in den Kiefernsarg auf das vergilbte Gewirr aus Knochen auf einem Bett aus Sand und Staub. Nur eine Gliedmaße war ganz geblieben – der rechte Arm, eine durchgängige Linie von der Schulter über das Handgelenk bis zur Hand, lag auf dem Brustbein, das einst ein Herz bedeckt hatte.

Eli blieb mit gefalteten Händen stehen und fühlte sich zurück in seine Kindheit versetzt, als Az plötzlich in einer Sprache sprach, die er tief in sich trug. Kchai phanem ta wdosa … die Mutter und Tochter. Kchi Niwaskw … Großer Geist. Nosaka nia … Folge mir. Eli wusste nicht, ob Cecelia Pike oder ihr Baby an einem Ort waren, wo sie diese Zeremonie hören konnten, aber er hoffte es.

»Olegwasi«, sagte Az. »Träume gut.« Dann drehte er sich zu den anderen um. »Die Ojibway – das Volk, bei dem ich lebte, nachdem ich von hier fortgegangen war – halten eine Zeremonie ab, wenn ein Baby geboren wird.« Er nahm ein bisschen Tabak aus einem Leinenbeutel und zündete ihn an. »So kann die Geisterwelt ein Kind erkennen und ihm einen Platz bereiten, wenn seine Zeit zu gehen gekommen ist. Heute möchte ich meiner Enkelin einen Namen geben.« Er richtete sich nach Osten.

»Lily«, rief er.

»Lily«, wiederholte Eli.

Az wandte sich nach Norden. »Lily.«

»Lily.«

Dann bot er ihren Namen dem Westen und dem Süden dar. Als Az sich Eli wieder zuwandte, schneite es. Eli fasste sich auf den Kopf und wischte ein paar Blütenblätter ab. »Jetzt«, sagte Az.

Plötzlich verdunkelte sich der Himmel, bis er die Farbe eines Blutergusses hatte. Ross Wakeman drehte sich im Kreis, als erwartete er irgendeine Erscheinung, und der Teufel sollte Eli holen, wenn er das nicht auch für möglich gehalten hätte.

Doch in dem Augenblick öffnete Wesley den kleineren Sarg, eine Apfelkiste. Das verfaulte Holz brach in Stücke, und der Inhalt verteilte sich auf der Erde.

Die kleine Gruppe verstummte. Die Knochen, krumm und braun, waren ein einziges Wirrwarr. Doch selbst Eli, der für dergleichen nicht ausgebildet war, sah sofort, dass der Schädel fehlte. »Ähm … Wesley?«

Der alte Gerichtsmediziner kniete sich schwerfällig hin und untersuchte die Überreste mit einer behandschuhten Hand. »Die Rippen und Wirbel sind da«, sagte er, »aber für ein Neugeborenes sind sie zu groß. Ich glaube nicht mal, dass die von einem Menschen sind.«

»Und was zum Teufel sind das für Knochen?«

Wesley blickte zu Eli hoch. »Ich würde sagen, das war vor langer Zeit mal ein Rippenbraten«, sagte er.

Eli kniete sich neben den Sarg und spürte, wie Az hinter ihn trat. Alle blickten zum Himmel, der plötzlich Rosenblütenblätter regnen ließ, die den Boden, das Grab und die Knochen im Sarg bedeckten. Eine Böe fegte heran und wirbelte die Blütenblätter hoch. Sie schwebten hinab zur Erde, und wer genau hinsah, meinte zwei Buchstaben erkennen zu können: RW.


In ihren Träumen streckte Ruby die Hände aus. Die Vorahnung hockte wie ein Löwe auf ihrer Brust und presste sie nieder. Sie schreckte aus dem Schlaf und wollte sich aufsetzen, aber es ging nicht, weil der Löwe sie auf die Matratze niederdrückte, und als sie es trotzdem versuchte, rang sie schwer nach Atem.

War das Lucy, die da weinte?

Nein, es war ein Baby. Das leise Wimmern drang unter der Tür durch in Rubys Zimmer. Ruby kämpfte sich mühsam hoch, doch zuvor versetzte der Löwe auf ihrer Brust ihr noch einen bösen Prankenhieb.

Sie presste sich eine Hand auf die brennende Stelle über der linken Brust und fiel schwer zu Boden. In dem klaren Augenblick, den man mitunter bei großen Schmerzen erlebt, wusste Ruby plötzlich, wer das Baby war. Und sie wusste auch, dass sie im Traum die Hände nach Cecelia Pike ausgestreckt hatte.


Ross fuhr mit dem Wagen ziellos durch die Gegend, und als er sich selbst nicht länger etwas vormachen konnte, hielt er am Straßenrand. Er stieg aus, streckte sich auf der Motorhaube aus, den Kopf gegen die Windschutzscheibe gelehnt, und lächelte zum Himmel hinauf. »RW«, sagte er laut. »RW.«

Er hatte es mit eigenen Augen gesehen, und es war ihm gleich, ob es noch jemandem aufgefallen war – die Blütenblätter hatten seine Initialen geformt. Ross ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen.


»Was soll das heißen, die Leiche hat gefehlt?« Shelby saß neben Ross auf der Veranda und konnte es nicht glauben. »Es gab doch einen Totenschein.«

Am Ende der Einfahrt verbeugte sich Ethan, der soeben eine Reihe von Skateboardtricks vorgeführt hatte. »Ma! Hast du gesehen?«

Shelby klatschte. »Exorbitant!« Dann sagte sie zu Ross: »Musste denn der Arzt, der den Totenschein ausgestellt hat, die Leiche nicht wenigstens gesehen haben?«

»Keine Ahnung. Eli arbeitet mit Protokollen und Zeugenaussagen und Standesamtsunterlagen, aber das, was wirklich passiert ist, lässt sich daraus nur ungefähr rekonstruieren.«

»Er scheint zu wissen, was er tut«, sagte Shelby.

Ross betrachtete das Gesicht seiner Schwester. »Reden wir jetzt noch über den Mordfall, oder möchtest du mir irgendwas anvertrauen?«

Sie zog die Füße ein, weil Ethan nur wenige Zentimeter vor ihren Zehen auf seinem Skateboard vorbeisauste. »Eli ist gründlich, mehr will ich damit nicht sagen.«

»Aha.«

Shelby bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. »Das Ganze ist irgendwie nicht logisch. Wenn die Leiche des Babys nicht im Sarg war, dann wurde es vermutlich woanders begraben … oder gar nicht. Pike hätte es nicht woanders begraben, denn wenn der Gerichtsmediziner auf einer Exhumierung bestanden hätte, um das Baby zu sehen, hätte er wohl kaum den Rippenbraten erklären können. Aber er scheint mir auch nicht zu der Sorte Mensch zu gehören, die ein Baby auf den Stufen einer Kirche ablegt.«

»Wieso sollte jemand ein totes Baby vor einer Kirche ablegen?«

Shelby blickte ihn an. »Wer sagt denn, dass das Baby tot war?«

»Spencer Pike«, erwiderte Ross und blinzelte dann. »Verdammt

»Genau.«

»Also, wenn er gelogen hat … und das Baby noch am Leben war … dann hat vielleicht jemand versucht, es zu retten. Das wäre eine Erklärung für den Braten im Sarg … Pike sollte glauben, dass das Baby gestorben war.«

»Was Pike vermutlich nur zu gern geglaubt hat«, fügte Shelby hinzu. »Und wenn Cecelia Pikes Spukerei auf dem Grundstück gar nichts damit zu tun hat, wie sie gestorben ist? Wenn sie als Geist zurückgekommen ist, um ihr Kind zu suchen?«

Ethan flitzte vorbei, mit strahlenden Augen. Er vollführte drei rasante Drehungen und fiel beim vierten Versuch der Länge nach hin. Er blieb einfach liegen und lachte aus vollem Hals, so, wie es nur Kinder können. »Ich glaube, dafür würdest du zurückkommen«, sagte Ross.

»Nein«, erwiderte Shelby. »Ich würde erst gar nicht gehen.«


Es war ein zu schöner Ort für Spencer Pike. Als er ihn sah, in seinem Rollstuhl im weißen Gartenpavillon des Pflegeheims, eine Decke über dem Schoß, wünschte Eli ihm Pech und Schwefel, einen Kerker aus dem Mittelalter. Der Mann war schließlich ein Mörder, der ungeschoren davongekommen war.

Eli versuchte, ruhig zu bleiben. Pike ein Geständnis zu entlocken war für ihn zur persönlichen Mission geworden. »Was würden Sie sagen, wenn Sie unter dem Vorwand abgeholt würden, ein Bad zu nehmen«, sagte er mit ruhiger Stimme, »um anschließend festzustellen, dass man bei Ihnen eine Vasektomie vorgenommen hat?«

»Das würde mein jetziges Leben wohl kaum noch beeinträchtigen.«

»Ich bezweifle«, sagte Eli, »dass Ihre Sterilisationsopfer das auch so sehen würden.«

»Durch Hitler ist die Eugenik in Verruf geraten, und ihr Linksliberalen seid über uns hergefallen. Dabei wollten wir das Gleiche wie ihr. Auch wir wollten die Welt verbessern.«

»Indem die Armen und alle, die anders waren als ihr, sich nicht mehr fortpflanzen konnten. Wirklich sehr human.«

»Sie haben doch keine Ahnung. Die Kinder dieser Leute hatten nicht mal ein anständiges Dach über dem Kopf. Sie hatten keine moralische Orientierung. Die, die wir retten konnten, haben wir gerettet. Die anderen, na ja, es war nur zu ihrem Besten.«

»Haben Sie jemals daran gedacht, ihnen eine zweite Chance zu geben?«

»Natürlich. Aber sie haben immer wieder dieselben Fehler gemacht.«

»Und Sie?«, sagte Eli. »Haben Sie nie einen Fehler gemacht?«

Pikes Augen verengten sich. »Würden Sie mir wohl verraten, was das mit dem Bauprojekt auf meinem Grundstück zu tun hat?«

»Gut, dass Sie die Sache ansprechen, mit dem Bauprojekt wird es wohl nichts werden.« Er reichte Pike eine Kopie der einstweiligen Verfügung, die auch Rod van Vleet zugegangen war.

»Das ist … das ist lächerlich«, stotterte Pike. »Mein Grundstück ist kein Indianerfriedhof.«

»Doch, ist es.« Eli trat einen Schritt näher an ihn heran. »Sagen Sie, Spencer, hat sie sich gewehrt? Hat sie Sie angefleht, es nicht zu tun, als Sie ihr die Schlinge um den Hals gelegt haben?«

»Sie war meine Frau

»Und sie war Halb-Abenaki«, konterte Eli. »Was auf ein eingetragenes Mitglied der amerikanischen Eugenik-Gesellschaft kein gutes Licht geworfen hätte, oder?«

Er beobachtete Pikes Gesicht, sah, wie sich der Schock abzeichnete. »Das haben Sie schon letztes Mal gesagt.«

»Weil es die Wahrheit ist«, sagte Eli.

Der alte Mann schüttelte den Kopf, als könnte er so verhindern, dass ihm die Wahrheit bewusst wurde. »Cissy war keine … ihr Haar war blond … und ihre Haut war wie Milch …«

»Und ihr Vater war nicht Harry Beaumont, sondern ein Abenaki namens Gray Wolf.«

»Ihr Vater?«

»Sie hatte das Pech, nicht die zu sein, die Sie brauchten, und Sie haben das Problem so gelöst wie alles andere auch, das Ihnen nicht in den Kram passte – indem Sie es einfach aus der Welt geschafft haben.« Eli beugte sich jetzt zu dem alten Mann hinab. »Sagen Sie die Wahrheit, Spencer. Sagen Sie, was Sie getan haben.«

Pike schloss die Augen, schwieg so lange, dass Eli sich schon fragte, ob er vielleicht einen Schlaganfall erlitten hatte. »Ich hab gedacht, sie liebt ihn«, flüsterte er schließlich. »Ich hab gedacht, das Kind wäre von ihm.«

»Was haben Sie mit dem Baby gemacht?«

Die Kehle des alten Mannes schnürte sich zu, und sein Mund bewegte sich, ohne einen Laut hervorzubringen, bis die Worte plötzlich aus ihm herausbrachen. »Ich hab es getötet. Ich hab es erstickt. Hab den Leichnam im Eishaus versteckt und Cissy gesagt, das Baby wäre gestorben. Ich dachte, wir könnten vielleicht noch einmal von vorn anfangen. Aber ich habe Cissy nicht angerührt. Ich schwöre es, ich habe sie geliebt. Ich habe sie geliebt.«

Eli dachte an die vergrabene Apfelkiste, in der kein Neugeborenes gewesen war. »Was haben Sie mit dem toten Baby gemacht?«

»Es begraben«, sagte Spencer. »Am nächsten Morgen fand ich Cissy … und ich hab die Kiste vergraben, bevor ich die Polizei gerufen habe. Ich hatte keine andere Wahl, sonst hätten sie herausgefunden, was ich getan hatte.« Er packte Elis Ärmel. »Ich habe es getan, weil ich sie so geliebt habe. Ich wollte doch nur …«

»Eine zweite Chance?«, fiel Eli ihm unbarmherzig ins Wort. »Die Frage ist, haben Sie den gleichen Fehler noch einmal gemacht?«


Am schwersten war es für Meredith, nicht zusammenzubrechen, während sie der Kardiologin zuhörte, die ihre Großmutter nach dem Herzinfarkt behandelt hatte. Sie standen vor dem Bett, in dem Ruby an Schläuche und Apparate angeschlossen war. »Sie ist noch längst nicht über den Berg«, sagte die Ärztin. »Und ich muss sie für einige Tage zur Beobachtung hierbehalten.«

Meredith legte die Stirn auf die Bettdecke und hielt Rubys Hand. »Lass mich nicht allein«, flehte sie.

Sie spürte, wie die papierdünne Haut von Rubys Fingern zuckte. Meredith richtete sich hoffnungsvoll auf und sah, dass ihre Großmutter die Augen geöffnet hatte. »Für die Dinnerparty bin ich bestimmt wieder auf den Beinen.«

Dinnerparty? Meredith runzelte verwirrt die Stirn.

»Die Kleine ist jetzt das Wichtigste.«

Lucy. »Sie malt im Schwesternzimmer und kann es auch kaum erwarten, dass du wieder gesund wirst.«

Rubys Augen schlossen sich. »Das werde ich«, murmelte sie. »Versprochen, Miz Pike.«


Shelbys Gesicht erstrahlte, als sie Eli vor der Haustür stehen sah. »Ich freu mich, dass du gekommen bist«, sagte sie und ließ ihn herein.

»Ich freu mich auch.«

»Ich fand unser Essen neulich Nacht sehr schön.« Shelby musste daran denken, wie Eli sie in seinem Pick-up nach Hause gefahren hatte. Wie er sich zu ihr gebeugt und gefragt hatte, ob er sie küssen dürfe, ehe Watson ihm zuvorkam. Wie gut es tat, von jemandem im Arm gehalten zu werden.

»Schön. Ich bin nämlich gekommen, um dir einen Heiratsantrag zu machen und so.«

»Einen … was?«

Eli grinste. »Ich könnte mir denken, bei deiner Aversion gegen erste Rendezvous bist du bestimmt auf zweite auch nicht unbedingt versessen. Da könnten wir den Dingen doch einfach vorgreifen.«

»Vielleicht sollten wir dann gleich bis zur Silberhochzeit springen«, sagte Shelby. »Sicherheitshalber.«

»Ich hätte nichts dagegen«, erwiderte Eli, und Shelby dachte daran, wie sich ein Bett anfühlen würde, wenn es auf der anderen Seite nicht leer war.

»Möchtest du was trinken?«, fragte Shelby.

»Ich möchte zu Ross.«

Sie blickte enttäuscht. »Ach so. Du bist seinetwegen hier.«

Plötzlich kam Watson durch die offene Tür gestürmt. »Ich hab doch gesagt, du sollst im Wagen bleiben«, sagte Eli, aber der Bluthund sauste ins Wohnzimmer, wo er mit dem Schwanz eine Fernbedienung und etliche Bücher vom Couchtisch fegte. Eli lief seinem Hund hinterher und sammelte die Bücher auf. Eines war ein Album mit Zeitungsausschnitten. Neugierig blätterte Eli darin. »Was ist denn das?«

Shelbys Wangen waren rot vor Verlegenheit, während Eli die Artikel überflog. In einem ging es um einen sechs Jahre alten Jungen, der nach einem Badeunfall ins Koma gefallen war. Wochen später, als man ihn schon für hirntot erklären wollte, war der Junge wieder aufgewacht, als wäre nichts gewesen.

Der jüngste Artikel handelte von einem kleinen Jungen in Kanada, der aus dem Haus gelaufen und in einer zwei Meter tiefen Schneewehe eingeschlafen war. »An die Sache kann ich mich erinnern«, sagte Eli. »Er wurde für tot erklärt und ins Krankenhaus gebracht …«

»Und dort hat man ihn ganz allmählich wieder aufgewärmt, und er ist wieder aufgewacht.« Shelby nahm ihm das Album aus der Hand. »Es ist albern, ich weiß, aber ich sammle Artikel über Leute, die gestorben sind, aber eben nicht … na ja, nicht endgültig tot waren. Vielleicht schneidet ja irgendwann mal jemand aus dem gleichen Grund einen Artikel über Ethan aus.«

Plötzlich kam Ross die Treppe herunter, die Haare noch nass vom Duschen. »Dachte ich mir doch, dass ich Ihre Stimme gehört habe«, sagte er zu Eli, während Watson an ihm hochsprang. »Wie ist es bei Pike gelaufen?«

Aber Eli las noch immer gebannt den Artikel über den kanadischen Jungen. »Das McGill-Krankenhaus«, sagte er. »Das ist doch direkt hinter der Grenze, in Montreal. Die Familie muss ganz in der Nähe wohnen. Shelby, sollen wir hinfahren?«

Sie dachte nicht an Ethan oder an ihre Arbeit oder an ihren Bruder. Und sie wunderte sich auch nicht darüber, warum Eli sich plötzlich ebenso brennend für den nur beinahe gestorbenen Jungen interessierte wie sie. Shelby wusste nur, dass man nicht zögern soll, wenn man die Chance bekommt, ein Wunder zu erfahren.


Eli bog vom Highway in die Zufahrt zu einem Motel. Sie hatten es in Rekordzeit nach Kanada geschafft, trotzdem war es schon kurz vor acht – was bedeutete, dass Eli erst am nächsten Tag mit Dr. Holessandro würde sprechen können. »Es ist nicht gerade das Ritz«, entschuldigte Eli sich. »Aber das Ritz erlaubt keine Hunde.«

»Ich hoffe, du sprichst von Watson.«

An der Motel-Rezeption spielte ein Junge mit grünem Irokesenschnitt Scrabble gegen sich selbst. »Sprichst du Französisch?«, fragte Shelby Eli.

»Kein Problem.« Eli trat näher, doch der Junge blickte nicht einmal hoch. »Hallo.« Er verdrehte die Augen. »Bonjour.«

»Bonjour», sagte der Junge und grinste Eli und Shelby vielsagend an – offenbar weil sie kein Gepäck hatten. »Vous désirez une chambre?«

Shelby öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Eli bremste sie. »Ich mach das schon«, sagte er. »Non, deux chambres, s’il vous plaît.«

Der Junge blickte Shelby an und dann wieder Eli. »Deux? Vous êtes sûr?«

»Oui«, sagte Eli.

Der Junge hob eine Augenbraue. »Et Madame? Elle est sûre aussi?«

»Bon, d’accord. Avez-vous des chambres ou non?«

»Oui, oui … ne vous fâchez pas. D’abord, j’ai besoin d’une carte de crédit …« Eli klatschte seine MasterCard auf die Theke. »Voilà les clefs pour les chambres 40 et 42.«

»Merci.«

»Ou préférez-vous plus de distance entre les chambres?«

»Non, ça va comme ça.« Eli fasste Shelby am Arm und zog sie zur Eingangstür. »Bonne nuit, alors«, rief der Junge ihnen lachend nach.

Draußen marschierte Eli eilig Richtung Pick-up.

»Ich hol den Hund. Ich möchte ihn nicht im Auto lassen.«

»Eli!« Shelby stemmte die Hände in die Hüften. »Verdammt, jetzt hör mir doch mal zu!«

Er drehte sich langsam um. »Was ist denn?«

»Ich hab dich vorhin gefragt, ob du Französisch kannst, weil ich es auch kann, und ich hätte auch einchecken können. Hätten Sie lieber Zimmer, die weiter auseinanderliegen?«, äffte sie den Jungen von der Rezeption nach.

Eli wäre am liebsten im Erdboden versunken. »Shelby, es ist nicht so, wie du denkst …«

»Du hast keine Ahnung, was ich denke«, konterte sie und fügte dann leise hinzu: »Ich habe gedacht, der Bursche hatte recht. Du hättest ein Zimmer nehmen können.«

Eli trat einen Schritt vor, bis er dicht vor Shelby stand. »Nein, hätte ich nicht«, sagte er.

Er sah, wie das Leuchten in ihren Augen erlosch, und merkte, dass sie ihn missverstanden hatte. Er suchte nach den richtigen Worten. »Du kennst das vielleicht, man liest ein tolles Buch und dann hört man an einer schönen Stelle kurz auf zu lesen, weil man das Ganze verlängern will. Ich wünsche mir nichts mehr als dich … dich zu liebkosen. Aber das führt dann zu mehr … ziemlich schnell sogar. Die Phase, die ich im Augenblick erlebe – die wir erleben –, ist so ephemer. Und wenn sie vorüber ist, bekommen wir diese Empfindung nie wieder.« Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich will es nicht langsam angehen lassen, aber ich zwinge mich dazu.«

»Liebkosen? Ephemer?« Langsam breitete sich ein Lächeln auf Shelbys Gesicht aus. »Eli, was hast du denn für einen ausgefallenen Wortschatz?«

Er zwinkerte ihr zu. »Du bist nicht die Einzige, die ein Wörterbuch lesen kann.«


Das Krankenhaus strahlte eine falsche Heiterkeit aus. Als Lucy auf das Bett kletterte, bemühte sie sich angestrengt, kein Geräusch zu machen – nicht nur weil ihre Mom und ihre Urgroßmutter schliefen, sondern weil die knisternden Decken und Plastiklaken bereits voller Leute waren, die Lucy sehen konnte, auch wenn sie damit offenbar die Einzige war.

Sie fasste sie nicht gern an, mochte es nicht, wie deren Arme und Beine sich mitten durch sie hindurchbewegten und wie ihr davon innen drin ganz kalt wurde. Sie mochte es nicht, wie sie sie anstarrten, als wären sie neidisch darauf, dass sie in einen Raum gehen konnte und bemerkt wurde, ohne sich dafür anstrengen zu müssen. Lucy rollte sich also ganz klein zusammen und sah zu, wie ihre Urgroßmutter sich ausruhte.

Lucy spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten, als ein Mädchen neben ihr mit langen schwarzen Zöpfen und einer lustig gestreiften Schürze sie mit einem langen Finger piekste. Sie sah aus wie um die sechzehn und wirkte kränklich, die Wangen fast blau. »Ma poule«, flüsterte das Mädchen.

Plötzlich schlug Granny Ruby die Augen auf. »Du bist da«, sagte sie und streckte eine Hand nach Lucy aus.

»Ich bin mit Mama gekommen.«

Ruby blickte sich hektisch um. »Mama? Ist sie auch hier?« Doch bevor Lucy antworten konnte berührte ihre Urgroßmutter sie an der Wange. »Simone«, sagte sie. »Du bist zurückgekommen.«

»Ich bin nicht Simone«, flüsterte Lucy, aber ihre Urgroßmutter hörte schon nicht mehr zu. Und das durchsichtige Mädchen mit den schwarzen Zöpfen streckte die Hände aus und schubste Lucy vom Bett.


Am 3. Januar 2002 war Alexandre Proux vor seiner Mutter Geneviève wach geworden. Er öffnete die Hintertür, an deren Klinke er seit einer Woche heranreichte, und trottete in seinem Spiderman-Pyjama über die Veranda hinweg. Es schneite, und er wollte im Schnee spielen gehen.

Als seine Mutter aufwachte und merkte, dass er weg war, war Alexandre schon unter dem Schnee begraben. Sechs Stunden lang suchte die Polizei die ganze Gegend ab, bis sie ihn fand.

Jetzt war Alex drei und versuchte gerade, dem kleinen Beagle, den er zu Weihnachten bekommen hatte, ein Halstuch umzubinden.

»Es gibt nichts Schlimmeres«, sagte Geneviève leise, »als zu sehen, wie das eigene Kind reglos daliegt. Ich hab ständig gedacht, Gleich wacht er auf. Er öffnet die Augen und schaut mich an, und alles ist wieder gut.«

Shelby verstand, was sie meinte.

»Sie haben auch einen Sohn?«

»Ethan. Er ist neun.«

»Dann wissen Sie ja, was ich meine.«

Alex kam angelaufen und warf sich seiner Mutter in die Arme. Sie küsste ihn hinters Ohr. »Ja«, sagte Shelby. »Absolut.«


Dr. Gaspar Holessandro hatte ein schlecht sitzendes Haarteil und eine Schwäche für Sardinen. »Verzeihen Sie«, sagte er und leckte sich die Finger ab, nachdem er eine weitere Sardine aus einer Tupperware-Dose gefischt hatte. »Normalerweise esse ich nicht, wenn ich Besuch habe.« Da er ein viel beschäftigter Mann war, hatte Dr. Holessandro sich bereiterklärt, mit Eli während der Mittagspause zu sprechen. Sein Büro war winzig klein und grenzte direkt an das Kliniklabor, in dem er drei Tage die Woche forschte. Die anderen vier Tage arbeitete er in der Klinik, in die der kleine Alexandre Proux steif und blau verfärbt und vermutlich tot eingeliefert worden war.

Eli hatte mal wieder die Wahrheit ein wenig verbogen. Er hatte sich Holessandro als Detective aus Vermont vorgestellt, der den Tod eines Babys untersuche, einen Fall, der gewisse Ähnlichkeiten mit dem des kleinen Alex aufweise. Er wolle wissen, ob extreme Kälte paradoxerweise die Wiederbelebung begünstigen könnte, sodass ein Baby, das erstickt worden war, plötzlich wieder anfangen könnte zu atmen, nachdem es eine Zeit lang in einem Eishaus gelegen hatte. Er sagte dem Arzt nicht, dass die Sache sich 1932 zugetragen hatte.

Holessandro biss den Schwanz einer Sardine ab. »Wenn ein Mensch erstickt«, sagte er, »kommt es zu Hypoxie, das heißt zu Sauerstoffmangel im Gewebe und in den Organen. Ein Erwachsener atmet dann immer heftiger – er hyperventiliert. Bei Kleinkindern dagegen, deren Körper sich physiologisch stark von dem eines Erwachsenen unterscheidet, blockiert die Hypoxie die Atmung. Es kann also sein, dass ein Baby, das erstickt wurde, einige Minuten aufhört zu atmen … und dann von allein wieder anfängt.«

»Sie meinen, es bleibt nicht tot?«

»Wenn man den Teil des Babyhirns stilllegt, der für die normale Atmung zuständig ist, übernimmt ein anderer Teil des Gehirns die Aufgabe. Das Baby schnappt dann ein paarmal nach Luft, damit es etwas Sauerstoff bekommt, um Herz und Lunge Starthilfe zu geben.« Er lächelte. »Es ist eigentlich recht schwer, ein Baby zu töten.«

»Aber derjenige, der das Baby erstickt hat, muss doch mitgekriegt haben, dass es kurz darauf nach Luft geschnappt hat.«

»Nicht, wenn er sich schnell genug aus dem Staub gemacht hat. Die Sache ist in einem Eishaus passiert, sagten Sie?«

Eli zuckte die Achseln. »Ja.«

Holessandro schüttelte den Kopf. »Und ich hab gedacht, hier in Kanada wäre die Zeit stehen geblieben. Wie dem auch sei, bei einem Eishaus kommt noch ein weiterer Aspekt dazu. Nehmen wir an, das Baby wurde erstickt … und hat dann nach Luft geschnappt … und wurde in eine kalte Umgebung gebracht. Dann würde das Gleiche passieren wie bei Alexandre. Die Haut würde abkühlen, was wiederum die Blutzirkulation abkühlen würde, was das Gehirn abkühlen würde, was zur Folge hat, dass der Hypothalamus den Stoffwechsel auf Grundumsatz senkt. Vielleicht noch niedriger – je jünger das Kind ist, desto stärker ist der Reflex, der die Körpersysteme auf diese Weise abschaltet.«

»Dann wirkt das Baby also tot, obwohl es gar nicht tot ist?«

»Ganz genau. Wie der Energiesparmodus beim Computer … der Bildschirm schaltet ab, aber die Daten bleiben erhalten. So ähnlich ist es in dem Fall mit dem Baby: Das Blut wird nur noch zu den lebenswichtigen Organen geleitet, die Haut wird blau und kalt. Keine sichtbare Atmung, kein spürbarer Puls. Wie bei Alex.«

»Wie lange könnte ein Baby so leben?«

»Es kann nicht so leben«, sagte Holessandro. »Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen kommt es jedenfalls nicht oft vor. Aber die Biologie funktioniert nach anderen Regeln als die Physik, und wie der Fall Alex zeigt – manchmal eben doch.« Er steckte sich die letzte Sardine in den Mund. »Und, hat das Baby in Ihrem Fall gelebt?«

»Wir wissen es nicht genau.«

»Nun, falls es gelebt hat, muss irgendjemand oder irgendetwas es aufgewärmt haben. Nur so kann es aus dem Winterschlaf erwacht sein, um es mal so auszudrücken. Vor allem bei Neugeborenen ist das so – sie können nicht zittern, deshalb können sie sich nicht selbst aufwärmen.«

Wer hätte das Baby in der Nacht aufwärmen können? Da war zum einen Spencer Pike, der gestanden hatte, das Baby getötet zu haben. Wieso sollte er einen Mord gestehen, wenn er das Baby lebend irgendwohin gebracht hatte? Möglich war auch, dass Cecelia Pike ihr Kind in den Stunden vor ihrem Tod versteckt hatte. Vielleicht hatte ja sogar Az Thompson das Kind mitgenommen und wusste mehr, als er zugab.

Aber wenn das Baby am Leben geblieben war, was war dann aus der Kleinen geworden?

»Ich hoffe, ich konnte Ihnen helfen, ein paar Antworten zu finden«, sagte Holessandro.

»Auf jeden Fall«, erwiderte Eli. Aber er wurde das Gefühl nicht los, dass er noch nicht die richtige Frage gestellt hatte.


»Es kann losgehen«, sagte Ross, reichte Ethan eine Vase voll mit Popcorn und ließ sich neben ihm in den Liegestuhl fallen. Sie saßen um Mitternacht in der Einfahrt und schauten sich einen Thriller an, den Ross per Beamer auf die weißen Garagentüren projizierte.

»Was soll die Vase?«, fragte Ethan.

»Saubere Schüsseln waren alle.« Ross grinste, als der Vorspann begann. »Das ist doch wohl besser als jedes Autokino, oder?«

Ethan nickte. »Fehlt nur noch ein Mädchen.«

Sein Onkel hätte sich beinahe an einem Stück Popcorn verschluckt. »Meine Güte, Ethan. Bist du nicht noch ein bisschen jung, um schon an so was zu denken?«

»Kommt drauf an. Schließlich fangen die meisten Jungs mit vierzehn oder fünfzehn an, und dann bin ich schon tot.«

Ross richtete sich auf, sodass der Film über sein Gesicht lief, es verzerrte. »Ethan, das kannst du doch gar nicht wissen.«

»Dass Jungs mit vierzehn Sex haben?«, verstand Ethan ihn absichtlich falsch. »Wie alt warst du, als du das erste Mal Sex hattest?«

»Jedenfalls älter als neuneinhalb.«

»Und wie ist das?«

Ethan sah, dass sein Onkel nach den richtigen Worten suchte, aber er wusste, dass Ross ihm die Wahrheit sagen würde. Anders als seine Mutter wusste Onkel Ross, wie wichtig es war, möglichst viel zu erleben, bevor man sich aus dem Leben verabschiedete. »Es ist ziemlich verblüffend«, sagte Ross. »Ein Gefühl, als würde man nach Hause kommen.«

Das hatte Ethan nicht gerade erwartet. Er fragte sich, wie es wohl bei seiner Mutter und diesem Eli in Kanada war, bei dem sie immer rot wurde, wenn er vorbeikam. Sie hatte in letzter Zeit doch nur noch diesen Detective im Kopf.

Onkel Ross schien jetzt die richtige Erklärung eingefallen zu sein. »Ich glaube, wenn man mit jemandem schläft, nimmt man einen Teil von dem anderen mit, einen Teil von dem, was den anderen ausmacht.«

Jeder hatte jemanden, dachte Ethan. Jeder außer ihm. »Vielleicht könnte ich ja bloß mal ein Mädchen küssen, damit sie ab und zu mal an mich denkt. So, ach, das war doch der Junge, den ich mal geküsst habe und der krank war und gestorben ist

»Ethan, du wirst nicht …«

»Onkel Ross«, sagte er müde. »Fang du nicht auch noch an, mich zu belügen.«

Ethan griff nach der Hand seines Onkels. Er schob ihm den Ärmel hoch, bis die Narbe am Gelenk zum Vorschein kam. »Warum?«, fragte er sehr leise.

»Der Unterschied zwischen dir und mir ist folgender: Du bist ein Held, Ethan, und ich bin ein Feigling.« Ross zog die Hand weg und schob den Ärmel wieder nach unten. »Ich werde persönlich dafür sorgen, dass du ein Mädchen küsst, bevor du stirbst, und wenn ich eines engagieren muss«, sagte er, und er meinte es ernst, und das brachte Ethan fast zum Weinen.

Im Film prasselten Schüsse. Ethan wühlte mit den Fingern im Popcorn, das raschelte wie Herbstlaub. »Würdest du jetzt gern sterben?«, fragte er.

Ross schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Ich auch nicht«, sagte Ethan und wandte sich wieder dem Film zu.


Eli hatte noch nie gut schlafen können, wenn ein Fall ihm zu schaffen machte. Jetzt kam noch eine kräftige Dosis sexuelle Frustration hinzu, und so war es nicht verwunderlich, dass er sich kurz nach Mitternacht auf dem Parkplatz vor dem Motel die Beine vertrat. Es hatte heftig geregnet. Watson lag auf der Erde, den Kopf auf den Pfoten, und beobachte Eli, der auf dem matschigen Boden auf und ab ging.

Shelby schlief. Zumindest glaubte er das. Sie hatte ihm einen so leidenschaftlichen Gutenachtkuss gegeben, dass er den Druck ihres Körpers noch Stunden später spüren konnte. Dann hatte sie ihm die Tür zu ihrem Zimmer vor der Nase zugemacht. Das sollte bestimmt eine Art Bestrafung sein, ein kleiner Vorgeschmack von dem, was ihm entging, weil er es ja nun mal langsam angehen lassen wollte.

Er fragte sich, was sie wohl nachts anhatte.

Wieso wollte er es überhaupt langsam angehen lassen? Sie hatte ihm doch klipp und klar gesagt, dass sie interessiert war. Vielleicht brauchte er ja nur an ihre Tür zu klopfen. Mit Shelby Wakeman zu schlafen, daran hatte Eli keinen Zweifel, war das Einzige, was ihn von dem Mordfall ablenken könnte.

Aber die letzte Frau, für die er nach so kurzer Zeit so viel empfunden hatte, war seine Frau gewesen. Er hatte sie nur wenige Monate nach ihrem ersten Rendezvous geheiratet, überzeugt, dass sie ihn genauso liebte wie er sie. Und dann hatte sie ihn wegen eines anderen verlassen. Eli wollte das nicht noch einmal erleben. Und wer sich nicht verbrennen wollte, musste in sicherer Entfernung von allem bleiben, was nach einem potenziellen Feuer aussah.

»Milch.«

Er drehte sich um und sah Shelby in einem Tanktop und einer Jogginghose vor sich stehen. Sie kam näher, barfuß auf der nassen Erde.

»Was?«

»Milch. Warm. Das wirkt.« Sie lächelte ihn an. »Du kannst nicht schlafen, stimmt’s? Ich trinke immer warme Milch, wenn mein Biorhythmus durcheinander ist – wenn ich mit Ethan die ganze Nacht wach war und dann am helllichten Tag ins Bett gehe.«

Eli hörte nur die Worte »ins Bett«. Er nickte und fragte sich, ob er mit der flachen Hand die glatte Fläche zwischen ihren Hüften bedecken könnte. Ihr Top rutschte ein Stückchen hoch und ließ einen schmalen Streifen Haut sehen. Eli stockte der Atem.

Hypoxie, dachte er.

Eli starrte zu Boden, rang um Fassung. Einer von Shelbys Fußabdrücken, zart und voll, war zufällig direkt auf seinem gelandet – größer, breiter. Es war das Erotischste, was er je gesehen hatte.

Gott, er war nicht mehr zu retten.

Egal, dachte Eli und ging auf Shelby zu. Er könnte in weniger als drei Minuten mit ihr im Bett liegen, und um die Folgen würde er sich später kümmern. Er stieg über Watson hinüber, über den doppelten Fußabdruck – und blieb abrupt stehen.

Doppelte Fußabdrücke, wie die auf den Fotos, die nach dem Mord an Cecelia Pike am Tatort gemacht worden waren. Als diese Spuren ihm das erste Mal aufgefallen waren, hatte er damit die Theorie zerpflückt, dass Gray Wolf da gewesen war, um Cecelia aufzuhängen. Außerdem war davon auszugehen, dass Cissy, wenn sie nach der Niederkunft aus ihrem Zimmer entführt worden war, keine Schuhe getragen hätte. Sie wäre, wie Shelby, direkt aus dem Bett gekommen.

Die Abdrücke von Pikes Schuhen waren überall gewesen, schließlich hatte er die Tote abgeschnitten. Aber der einzelne Abdruck einer Frau war auf dem des Mannes zu sehen gewesen, wie die Fußabdrücke, die er und Shelby gerade hinterlassen hatten – der kleine Fuß der Frau quer über dem größeren des Mannes, ihr Schritt, nachdem der Mann seinen gemacht hatte.

Tote Frauen können nicht gehen.

»Ich weiß, wo das Baby ist«, sagte Eli.


Ross glaubte an Wiedergeburt. Er glaubte auch, dass die Person, in die man sich in jedem Leben verliebte, dieselbe Person war, in die man sich im Leben davor und dem vorvorherigen Leben verliebt hatte. Manchmal konnte man die Person auch verpassen – wenn sie zum Beispiel nach dem Ersten Weltkrieg wiedergeboren wurde und man selbst erst in den Fünfzigerjahren. Manchmal lief man sich über den Weg und erkannte sich nicht. Aber wenn man es richtig machte – das heißt sich bis über beide Ohren, Hals über Kopf, bis zum Wahnsinn verliebte –, dann erwartete einen vielleicht eine ganze Ewigkeit zu zweit.

Und wenn Lia Pike die Richtige für Ross gewesen war? Wenn sie getötet worden war, bevor sie ihn finden konnte, und dann als Aimee zurückgekehrt war, nur um bei einem Unfall ums Leben zu kommen, nachdem sie sich in ihn verliebt hatte? Wenn sie ihm als Geist erschien, weil das die einzige Möglichkeit war, mit ihm in Verbindung zu treten?

Und wenn er deshalb ständig an Selbstmord dachte, weil es eine Möglichkeit war, sein Leben zu beenden, damit er ein neues mit der Frau beginnen konnte, die für ihn bestimmt war?

Er starrte auf den Nachruf in seiner Hand, den Az Thompson ihm Tage zuvor gegeben hatte. Inzwischen war Lias Körper dort, wo er hingehörte. Aber der Rest von ihr wartete auf ihn. Sie hatte es sogar gesagt, mit seinen Initialen.

»Ross!«

Shelbys Stimme rief von unten herauf. Er faltete den Nachruf mit Lias Bild zusammen, steckte ihn in die Tasche und ging nach unten ins Wohnzimmer, wo Eli Rochert und seine Schwester ihn freudestrahlend erwarteten, das Ungetüm von Hund zwischen ihnen.

»Wo ist Ethan?«, fragte Shelby.

Ross sah auf die Uhr an der Wand. »Er ist wohl noch draußen Skateboard fahren.«

»Ich seh mal nach.« Shelby ging zur Küche, drehte sich dann zu Eli um. »Na los. Sag’s ihm schon.«

»Was sollen Sie mir sagen?«, fragte Ross.

Eli ließ sich auf der Couch nieder und verteilte einen Wust Papiere neben sich auf dem Kissen. »Pike erstickt das Baby oder glaubt es zumindest. Er lässt es im Eishaus liegen und überbringt seiner Frau die traurige Nachricht. Bei dem Baby kommt es zu einer Selbstwiederbelebung …«

»Wie bitte?«

»Glauben Sie mir. Es fängt wieder an zu atmen, doch dann geht es in eine Art Stand-by-Modus, weil sein Körper so kalt ist. Es wirkt tot, ist es aber nicht.«

Ross setzte sich ebenfalls. »Weiter«, sagte er aufmerksam.

»Cecelia Pike will die Leiche ihres Kindes sehen. Sie bricht aus dem Schlafzimmer aus, wo sie eingeschlossen war, und findet das Baby im Eishaus, blau verfärbt und kalt, wie tot. Sie nimmt es hoch und weint bitterlich … als Pike dazukommt. Er dreht durch – da trauert seine Frau um ein Kind, das, wie er glaubt, von ihrem Geliebten ist – und erhängt sie. Aber das Baby ist nicht tot.« Er warf Ross ein Foto hin, die grobkörnige Aufnahme von Fußabdrücken. »Jemand ist nach Pike über das Sägemehl gegangen, jemand, der ganz ähnliche Schuhe trug wie die, die Cecelia Pike an den Füßen hatte – ein Mädchen namens Ruby.«

»Ruby?«

»Ja. Sie war das Hausmädchen, das bei den Pikes gewohnt hat. Duley Wiggs, der Cop von damals, hat Ruby erwähnt – aber ich hab mir nichts dabei gedacht.«

»Wieso war von ihr niemals die Rede?«

»Weil sie eine Bedienstete war. Und weil sie in der fraglichen Nacht verschwunden ist. Pike hat sie mir verschwiegen, weil sie wahrscheinlich weiß, dass er seine Frau auf dem Gewissen hat.«

»Wenn Ruby also in der Mordnacht das Baby mitgenommen hat …«

»Dann könnte das Baby noch am Leben sein. Über siebzig und Erbin eines hübschen Stücks Land«, führte Eli den Gedanken zu Ende. »Außerdem könnte Ruby die Lücken füllen. Ich hab ein bisschen im Internet recherchiert. Eine gewisse Ruby Weber, geboren im Northeast Kingdom, ist 1925 mit ihrer Familie nach Comtosook gezogen und 1932 aus Vermont verschwunden. Sie lebt heute in Gaithersburg, Maryland, Thistlehill Lane 45.«

Ross erstarrte. Ruby Weber. RW. Lia hatte den um ihr Grab Versammelten doch nicht zeigen wollen, dass sie ihn liebte. Sie hatte Eli und den anderen nur die richtige Richtung gezeigt.


Als Meredith etwa in Lucys Alter war, war ihr Hund von einem Auto überfahren worden. Ihre Mutter hatte Blue vom Tierarzt einschläfern lassen, und statt sich die Augen auszuweinen, stürzte Meredith sich in die Taschenspielerkunst. Sie ließ Münzen, rote Gummibälle und kleine Papierblumensträuße verschwinden – um sie dann hinter Ohren oder aus der Besteckschublade wieder hervorzuzaubern. Sie führte diese Tricks Ruby vor, die ihre Enkelin durchschaute: »Engelchen«, hatte sie zu Meredith gesagt, »manches kann man nicht mehr zurückholen, sosehr man es sich auch wünscht.«

Jahre später wusste Meredith, dass sie sich glücklich schätzen konnte, fünfunddreißig geworden zu sein und ihre Großmutter noch immer bei sich zu haben. Schließlich hatte sie den viel zu frühen Tod ihrer Mutter erlebt und wusste aus erster Hand, wie sehr die Trauer um einen geliebten Menschen an einem nagen konnte.

»Du darfst nicht sterben«, stellte Meredith ganz ruhig fest. Sie drückte die Hand ihrer Großmutter. »Du darfst erst sterben, wenn ich es sage.«

Sie zuckte zusammen, als Ruby ihren Händedruck prompt erwiderte. Sie sah die offenen Augen ihrer Großmutter – und das Licht des Erkennens darin. »Meredith«, sagte Ruby mit schwacher, dünner Stimme, »wer hat denn was von Sterben gesagt?«


Nachdem Eli sich verabschiedet hatte und Ethan ins Bett gegangen war, verkroch Ross sich in seinem Zimmer. Shelby klopfte an die Tür, um ihm etwas zu essen zu bringen, aber er wollte nichts. Eine Stunde später klopfte sie erneut, um ein wenig mit ihm zu plaudern, doch er kam in Unterwäsche an die Tür und sagte, er wolle allein sein.

Sie tat es nur äußerst ungern, aber als sie kein Geräusch mehr aus seinem Zimmer hörte, schlich sie hinein, vergewisserte sich, dass ihr Bruder nur schlief, und versteckte seinen Rasierer.

Sie schlief unruhig und erwachte um neun Uhr morgens mit rasenden Kopfschmerzen. Jemand hatte das Radio zu laut gestellt.

Shelby stürmte zuerst in Ethans Zimmer, überzeugt, dass ihr Sohn der Übeltäter war. Doch er schlief tief und fest, zusammengerollt unter der Bettdecke. Shelby ging weiter zum Zimmer ihres Bruders und klopfte an die Tür. »Ross«, rief sie, »stell das Ding leiser!«

Doch die Musik plärrte weiter. Sie drückte die Tür auf, die nur angelehnt war. Der Lärm kam von einem Radiowecker.

Das Bett war gemacht, die Kommode leer geräumt, und Ross’ Reisetasche fehlte.

Auf dem Kopfkissen lag ein Zettel.

Shel, las sie, verzeih mir, dass ich einfach so verschwinde. Aber wenn ich je etwas richtig machen würde, wäre ich schließlich nicht der Bruder, den du kennst.

Ein Schrei ballte sich in ihr zusammen. Das war ein Abschiedsbrief.


Ross saß in seinem Wagen, blickte auf die schnurgerade Reihe Ahornbäume, lauschte den Vögeln und dachte, dass es keinen passenderen Ort als diesen geben könne, um alles zu einem Ende zu bringen. Er holte tief Luft, wissend, dass das, was er jetzt vorhatte, nicht nur sein Leben, sondern das vieler Menschen verändern würde. Aber er hatte keine andere Wahl.

Er war stundenlang herumgefahren, bis er eine Entscheidung getroffen und sich alles Notwendige besorgt hatte. Er könnte sagen, dass er es für Lia tat, aber das wäre nicht die Wahrheit. Ross tat es für sich selbst, um zu beweisen, dass es – endlich – etwas gab, das ihm gelang.

Er griff auf den Beifahrersitz, nahm den Zettel, auf den Ruby Webers Adresse gekritzelt war, und stieg aus dem Wagen.

Auf dem Briefkasten stand WEBER/OLIVER, und Ross fragte sich, ob diese Ruby Weber wohl mit jemandem zusammenlebte. Er ging über den gepflasterten Weg zur Haustür und klingelte.

»Es ist niemand da.«

Ross drehte sich um und sah eine Frau im Nachbargarten ihren Rasen sprengen. »Wissen Sie vielleicht, wann sie wiederkommen?«, fragte er. »Ich hab meinen Besuch nicht angekündigt …«

»Gehören Sie zur Familie?«

Ross dachte an Lia. »Ja.«

Die Nachbarin kam näher. »Es tut mir sehr leid«, sagte sie mitfühlend, »aber Ruby liegt im Krankenhaus.«


Ross streifte durch die Flure der Krankenhausverwaltung, bis er zu einem Büro kam, in dem gerade keine Sekretärin saß und innen an der Tür ein Arztkittel hing. Als Mediziner verkleidet, ging er zielstrebig zum Schwesternzimmer in der kardiologischen Station und bat um Ruby Webers Krankenblatt.

Er studierte es kurz, prägte sich ihr Alter ein, den Befund und das Zimmer, auf dem sie lag. Doch als er dort ankam, sah er eine Frau bei Ruby auf der Bettkante sitzen.

Da er ungestört mit Ruby sprechen wollte, tat er auf dem Flur so, als wäre er mit einer Akte beschäftigt, bis die Frau aus dem Zimmer kam, an der Hand ein kleines Mädchen. Als die beiden ein Stück entfernt waren, huschte Ross ins Zimmer. »Mrs. Weber«, sagte er, »ich würde gern mit Ihnen reden.«

Sie hatte stahlgraues Haar und Augen so blau wie das Zentrum einer Flamme. Ihre Haut erinnerte Ross an Reispapier. »Na, das ist ja mal was Neues. Ihre Freunde haben immer nur an mir rumgepiekst und Blut abgezapft.«

Ross zog sich den Kittel aus und faltete ihn zusammen. »Das liegt daran, dass ich gar kein Arzt bin.«

Er sah ihr an, dass sie erwog, den Rufknopf zu drücken und ihn rauswerfen zu lassen … aber sie wollte hören, was er zu sagen hatte. Nach einem sehr langen Augenblick schob Ruby sich in eine sitzende Position. »Sind Sie Patient? Sie sehen aus, als hätten Sie Schmerzen.«

»Hab ich auch. Überall.« Ross trat näher. »Ich möchte mit Ihnen über das Jahr 1932 reden.«

»Ich wusste, dass es dazu kommen würde«, murmelte sie. »Der Herzinfarkt war eine Warnung.«

»Sie waren dabei. Sie wissen, was mit Lia passiert ist.«

Sie drehte den Kopf zur Seite, und Ross staunte über ihr edles Profil. Diese Frau, deren Vorfahren Spencer Pike in seinen Familiengenealogien als unzureichend klassifiziert hatte, hätte der Urtyp einer Königin sein können, der Kopf auf einer goldenen Münze. »Es gibt Dinge, über die sollte man nicht reden«, sagte Ruby.

Es war immerhin einen Versuch wert gewesen. Mit einem Seufzer nahm Ross den Kittel und ging zur Tür.

»Und es gibt Dinge, die hätten gar nicht erst verschwiegen werden sollen.« Sie blickte Ross an. »Wer will das wissen?«

Er überlegte, ihr von dem Bauprojekt zu erzählen, von dem Protest der Abenaki, von Elis Ermittlungen. Doch dann sagte er schlicht: »Ich.«

»Ich habe für Spencer Pike gearbeitet. Ich war vierzehn. Cissy Pike war erst achtzehn, wissen Sie – ihr Mann war acht Jahre älter als sie. In der Nacht damals hatten sie einen Streit, und plötzlich setzten ihre Wehen ein, drei Wochen zu früh. Das winzigste Baby, das man sich vorstellen kann. Als das Baby starb, ist Miz Pike ein wenig verrückt geworden. Ihr Mann hat sie in ihrem Zimmer eingesperrt, und ich hatte solche Angst, dass ich rasch ein paar Sachen eingepackt habe und weggelaufen bin.« Sie raffte die Bettdecke zwischen den Händen. »Später hab ich dann erfahren, dass sie in der Nacht ermordet worden war.«

»Haben Sie ihre Leiche gesehen?«, drängte Ross. »Haben Sie das tote Baby gesehen?«

Ruby öffnete den Mund und schloss ihn wieder, als wollte sie ihre Worte neu formen. Farbe stieg ihr ins Gesicht, und einer der Monitore begann, schneller zu piepen.

Die Tür flog auf. »Granny? Was ist das für ein Geräusch? Ist alles in Ordnung?«

Ross drehte sich um, eine Erklärung auf den Lippen. Und plötzlich blickte er in das Gesicht von Lia Beaumont Pike.

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