DREI


Endlich einmal gefiel es ihm, dass alle ihn anstarrten.

Ethan trug die Videokamera, obwohl sie schwer war, aber er würde seinem Onkel gegenüber ganz bestimmt nicht jammern. Außerdem schleppte Ross alles andere – von den Schlafsäcken bis zum Proviant (eine Überwachung, so hatte sein Onkel gemeint, war nun mal eine Überwachung, auch wenn die Leute, die man erwischen wollte, schon tot waren). Sie gingen an den Trommlern und dem Bulldozer und den Bauarbeitern vorbei, und Ethan merkte, dass so ziemlich jeder bei dem, was er gerade tat, innehielt. Ein alter Indianer starrte Ethan besonders eindringlich an, aber nicht, weil er seltsam aussah – sondern weil ihn der Mann und der Junge interessierten, die da so selbstverständlich über das Grundstück marschierten.

Ethan blieb einen Moment stehen und beobachtete einen Studenten beim Sandsieben. Der junge Mann trug nur eine kurze Hose, und seine Schultern und der Rücken waren nussbraun. Ethan schaute an sich selbst hinunter, auf die langen Ärmel und die dicke Hose. Er sog die Luft durch das Gitter der Schutzmaske ein, die er tragen musste, wenn er bei Tageslicht das Haus verließ.

»He, komm schon«, rief Ross über die Schulter, und Ethan hastete ihm nach.

Der Bauunternehmer, Mr. van Vleet, kam auf sie zu. Er trug schicke Lederschuhe und rutschte immer wieder auf dem Eis aus, das die Erde wie Zuckerguss überzog. »Mr. Wakeman«, sagte er leise zur Begrüßung. »Wir verstehen uns doch hoffentlich, dass Sie die Sache … mit äußerster Diskretion behandeln.«

»Und wir verstehen uns hoffentlich auch, dass ich meine Arbeit mache, wie ich es für richtig halte«, entgegnete Ross und kehrte dem Mann den Rücken zu. Er stieg die Stufen zu dem alten Haus hinauf. Eine brach in der Mitte durch, als er den Fuß daraufstellte.

Das Haus mit den schwarzen Fensterläden, die schief in den Angeln hingen, sah aus, als hätte es geweint. Ethan trat zurück und reckte den Hals, um bis ganz nach oben zu schauen. Es war irgendwann einmal weiß gewesen. Die meisten Fenster waren längst zerbrochen. Efeu überwucherte den Türrahmen. In der Diele rieselte Putz von der Decke, und die Bodenbretter waren dick mit weißem Staub bedeckt. Die Wände waren schmierig und voller Kritzeleien: SARI BLÄST DIR EINEN. Unter der Treppe waren die Reste eines Lagerfeuers und mindestens dreißig leere Bierflaschen.

Ethan blickte von dem zerbrochenen Geländer zu der düsteren Öffnung eines Nebenzimmers und dann zur Decke. Okay, es war gruselig, dachte er. Na und? Er war schließlich mutiger als die anderen Kinder, die er kannte … obwohl er, zugegeben, nicht viele kannte.

Das redete Ethan sich zumindest ein, bis ihn eine Berührung im Nacken heftig zusammenfahren ließ.


Kerrigan Klieg war der Reporter bei der New York Times, der regelmäßig zu Halloween den obligatorischen Artikel über Vampire verfasste und der die Eltern des ersten New Yorker Millenium-Babys interviewte. Er interessierte sich weder für Wirtschaft noch für große Politik. Zwar rissen ihn die Menschen, über die er schrieb, auch nicht immer vom Hocker, aber ihm gefiel an seiner Arbeit, dass er bei den Recherchen viel von Land und Leuten mitbekam. Er rief sich gern in Erinnerung, dass es außerhalb von Manhattan eine ganze Welt gab, in der die Menschen sich auf der Straße noch in die Augen sahen.

Und was sich ihm hier bot, war der Stoff, von dem er nur träumen konnte: ein hundertjähriger Indianer, eine verstörte Provinzstadt, ein Baulöwe und Gerüchte von einem bösen Geist.

Kerrigan ging neben Az Thompson her, dem Burschen, der ihn angerufen hatte, und fragte sich, wie der Alte es wohl geschafft hatte, so alt zu werden. »Seit Urzeiten ist uns unser Land weggenommen worden«, sagte Thompson. »Aber dass das auch nach unserem Tod noch so weitergehen soll, ist einfach deprimierend.«

Kerrigan stieg über einen Hund hinweg, der auf einem alten Schuh herumkaute. »Soweit ich weiß, wohnt der Besitzer des Hauses, Spencer Pike, schon eine ganze Weile nicht mehr hier.«

»Seit zwanzig Jahren nicht mehr.«

»Glauben Sie, er wusste, dass das Land hier angeblich ein Indianerfriedhof war?«

Der alte Mann blieb abrupt stehen. »Ich glaube, Spencer Pike weiß viel mehr, als er zugibt.«

Kerrigan öffnete den Mund, um noch eine Frage zu stellen, als er einen Mann und einen Jungen ins Haus gehen sah. »Wer sind die beiden?«

»Man munkelt, van Vleet hätte jemanden engagiert«, sagte Thompson. »Um sicherzugehen, dass es keine Geister gibt.« Er wandte sich dem Reporter zu. »Was meinen Sie dazu?«

»Dass das eine prima Story abgibt«, antwortete Kerrigan vorsichtig.

»Mr. Klieg, haben Sie sich schon mal die Schuhe angezogen, und die waren voller Schnee, mitten im August? Oder haben Sie gesehen, wie sich über Nacht Kürbisblüten aus einem Abfluss hochranken?«

»Äh, nein, ehrlich gesagt.«

Thompson nickte. »Dann sind Sie hier genau richtig«, sagte er.

Als Ross Ethan im Nacken berührte, machte der Junge vor Schreck einen Satz. »Alles in Ordnung?«, fragte Ross.

Ethan zitterten die Knie. »Klar. Ehrlich, alles cool.«

»Ich kann dich auch nach Hause bringen, wenn du willst. Kein Problem.« Ross blickte Ethan ernst an.

Statt einer Antwort legte Ethan die Hand auf das kaputte Treppengeländer und stieg nach oben.

Mit einem Seufzer folgte Ross ihm. Für Ethan mochte die Sache ja spannend sein, aber er könnte gut und gern darauf verzichten. Als van Vleet ihn gebeten hatte, die paranormalen Phänomene auf dem Pike-Grundstück zu untersuchen, hatte er rundheraus abgelehnt. Und dann hatte er gesehen, wie seine Schwester ihn beobachtete, wartend.

Er hatte vier Bedingungen gestellt. Erstens, Ross leitete die Untersuchung und würde sich von niemandem etwas sagen lassen müssen, nicht einmal vom Chef der gesamten Redhook-Gruppe. Zweitens, die Einzigen, die sich während der Untersuchung im Haus und in der Nähe aufhalten durften, würden Ross und sein Assistent sein – Ethan, was den Jungen gleichermaßen erstaunte und begeisterte. Drittens, Ross wollte keinerlei Informationen darüber, was sich in der Vergangenheit in dem Haus und auf dem Grundstück zugetragen hatte, bis er selbst darum bat – das könnte sonst seine Eindrücke verfälschen. Viertens, er würde kein Geld nehmen – anders als die Warburtons, die jedem x-beliebigen Kunden einen Geist lieferten, wenn nur das Geld stimmte.

Im Gegenzug versprach Ross, die Untersuchung diskret durchzuführen, ganz wie es die Geschäftsleitung von Redhook wünschte. Denn es sollte auf keinen Fall durchsickern, dass sie tatsächlich die Existenz übernatürlicher Phänomene in Betracht zog.

Also war er jetzt hier und bereitete eine nächtliche Überwachung vor, ganz wie in alten Zeiten. »Leg die Kamera hin«, wies Ross Ethan an. »Wir gehen jetzt erst mal durchs Haus und sehen, ob wir was empfangen.«

»Was empfangen

Ross musste einen Moment nachdenken. Wie erklärte man einem Kind das Gefühl, sich selbst so zu öffnen, dass jeder Geruch und jedes Bild eine unauslöschliche Spur hinterließen? Wie erklärte man die Empfindung, wenn die Luft so schwer wie eine Decke wurde, die sich einem über den Brustkorb legte? »Schließ die Augen«, sagte Ross, »und sag mir, was du siehst.«

»Aber …«

»Mach schon.«

Zuerst schwieg Ethan. »Licht … das aus den Ecken kommt.«

»Okay.« Ross drehte ihn sanft im Kreis und hielt ihn dann an den Schultern fest. »Und jetzt … ohne zu schummeln … wo ist die Treppe?«

»Hinter mir«, sagte Ethan, und das Staunen über seinen eigenen sechsten Sinn vibrierte in seiner Stimme.

»Woher weißt du das?«

»Einfach weil … na ja, es fühlt sich an wie ein Loch in der Luft.«

»Gut gemacht, Wunderknabe. Das war Lektion Nummer eins.«

»Und was ist Lektion Nummer zwei?«

»Keine Fragen stellen.«

Ross sah sich um. Sämtliche Möbel oder sonstigen Einrichtungsgegenstände, die es in diesem Haus gegeben hatte, waren längst verschwunden, und nur an den hellen Flecken an der Wand und den Abnutzungsspuren auf dem verdreckten Boden war zu erkennen, wo sie sich einst befunden hatten. Im ersten Stock waren drei kleine Schlafzimmer und ein Bad. Eine Treppe führte weiter nach oben zu einer winzigen Dienstbotenstube.

»Onkel Ross? Wann kommen sie?«

»Falls es hier Geister gibt, sind sie längst da.« Ross spähte in das Badezimmer. Er sah eine Wanne mit Löwentatzen, die in der Mitte einen Sprung hatte, und ein altes Klosett mit Spülkasten darüber. »Wahrscheinlich beobachten sie uns. Und wenn wir ihnen gefallen, werden sie versuchen, unsere Aufmerksamkeit zu erregen.«

Ethan drehte den Wasserhahn auf, und eine braune Flüssigkeit tropfte heraus. »Macht es ihnen was aus, dass wir hier sind?«

»Kann sein.« Ross tastete das Fenster ab. »Manche Geister wollen unbedingt zur Kenntnis genommen werden. Aber manche Geister wissen nicht mal, dass sie tot sind. Die sehen uns und fragen sich, wieso wir in ihrem Haus sind. Das heißt«, sagte er laut und herausfordernd, »falls es überhaupt welche gibt.«

Kommt und holt mich, dachte Ross.

Er ging wieder die Treppe hinunter, inspizierte die Küche, die Vorratskammer, den Keller und das Wohnzimmer. In einem kleinen Arbeitszimmer mit Flügeltür stand noch ein alter Sessel, in dessen zerfetztem Polster sich eine Mäusefamilie eingenistet hatte. Der Boden war mit alten Zeitungen übersät, und an den Wänden klebte etwas, das aussah wie Schmierfett.

»Onkel Ross? Ist Aimee ein Geist?«

Ross spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. »Das weiß ich nicht, Ethan.« Die Erinnerung an Aimee stieg in ihm auf wie eine Meerjungfrau aus dem Ozean. »Sterben … weißt du, ich stelle mir vor, das ist wie in einen Bus einsteigen. Viele sitzen drin bis zur Endstation. Aber manche steigen schon vorher aus.«

»Vielleicht ist sie ausgestiegen, um dich zu sehen.«

»Vielleicht«, sagte Ross.

»Was ist, wenn …«

»Ethan«, unterbrach Ross ihn. »Psst.« Er drehte sich im Kreis, versuchte, den flüchtigen Gedanken festzuhalten, der ihm gerade gekommen war. Er blickte über das Geländer nach unten auf den Unrat am Fuße der Treppe, auf die huschenden Mäuse. In der Ecke entdeckte er ein Hornissennest. Überall auf dem Flur sah er Spinnweben und Staub, Moos und Schimmel – die Spuren von Verwahrlosung und Feuchtigkeit. Ross ging in das Schlafzimmer, das nach hinten lag. Dort waren die Holzdielen schwarz von Schmutz und mit zerbrochenem Geschirr und leeren Süßigkeitenverpackungen übersät. Aber die Decke war so sauber, als wäre sie eben erst gestrichen worden. Kein einziges Spinnennetz, kein Schimmel, keine Insekten. Anders als im übrigen Haus hatten sich in diesem Zimmer keinerlei Tiere eingenistet.

Ross drehte sich zu seinem Neffen um. »Hier«, sagte er, »bauen wir unsere Geräte auf.«


»Ich weiß nicht, was passiert ist«, sagte Lucys blutjunge Betreuerin im Freizeitlager. Sie hastete vor Meredith her über einen Pfad zum Geräteschuppen, in den sich Lucy vor fünfundvierzig Minuten eingeschlossen hatte. »Sie hat mit den anderen Völkerball gespielt, und auf einmal ist sie schreiend weggerannt.«

Meredith stolperte ständig wegen ihrer hohen Absätze. Hatte sie Lucys Medikamente dabei? Wenn sie sich vor lauter Angst allein im Dunkeln versteckte, dann hatte sie wahrscheinlich einen Asthmaanfall. »Wir haben sofort bei Ihnen zu Hause angerufen«, sagte die Betreuerin. »Ihre Mutter hat gesagt, dass sie nicht Auto fahren kann.«

»Meine Großmutter«, verbesserte Meredith sie automatisch. Ruby war mit ihren fast achtzig Jahren zwar geistig noch hellwach, fühlte sich aber hinter dem Steuer nicht mehr wohl. Sie hatte Meredith im Labor angerufen. Ein Notfall, hatte sie gesagt.

Sie erreichten die kleine Holzhütte am Waldrand. »Lucy?« Meredith rüttelte am Türgriff. »Lucy, du machst jetzt sofort die Tür auf!« Sie schlug zweimal mit der Faust gegen die Tür. Beim dritten Schlag schwang sie auf, und Meredith trat gebückt ein.

Die stickige Hitze sprang sie förmlich an. Lucy kauerte hinter einem Netz voller Fußbälle. Sie hielt eine lila Seidenschleppe an die Brust gepresst, Teil eines Kostüms für eine längst vergessene Musicalaufführung. Sie weinte.

»Hier«, sagte Meredith und reichte ihr das Albuterol, das Lucy gehorsam in den Mund steckte und inhalierte. Dann nahm Meredith ihre Tochter in den Arm. »Wieso heißt das Spiel eigentlich Völkerball?«, sinnierte sie, als gäbe es nichts Normaleres, als hier und jetzt diese Frage zu stellen.

Lucys Brust hob und senkte sich noch immer wie ein Blasebalg. »Es war nicht das Spiel«, gestand sie. »Ich hab was gesehen?«

»Was denn?«

»Da hing was. Im Baum. An einem Seil.«

»Eine Schaukel?«

Lucy schüttelte den Kopf. »Eine Frau.«

Meredith zwang sich, Ruhe zu bewahren. »Zeigst du mir, wo?«

Sie liefen nach draußen, vorbei an Lucys Betreuerin, vorbei an den kleinen Pavillons, in denen die Bastelstunden stattfanden, über eine schmale Brücke, die zu den Sportanlagen führte. Eine Gruppe von Kindern, allesamt älter als Lucy, spielte dort Völkerball.

»Wo?«, fragte Meredith. Lucy deutete nach links auf einen Baum. Meredith nahm die Hand ihrer Tochter und blickte nach oben. »Kein Seil«, sagte sie leise. »Nichts.«

»Es war aber da.« Lucys Stimme klang rau vor Hilflosigkeit. »Ehrlich.«

»Lucy. Ich glaube dir, dass du etwas gesehen hast. Es gibt bestimmt eine vernünftige Erklärung. Vielleicht hat dich die Sonne geblendet.«

»Vielleicht«, wiederholte Lucy leise.

»Vielleicht war es ein Ast, der sich im Wind bewegt hat.«

Lucy zuckte die Achseln.

Plötzlich streifte Meredith ihre Pumps ab und gab Lucy ihren Laborkittel. »Halt mal«, sagte sie und begann, den Baum hochzuklettern. Sie kam bis zu einem ausladenden Ast.

Mittlerweile schauten alle Kinder zu, und selbst Lucy musste lächeln. »Nichts«, stellte Meredith fest und stieg wieder hinunter.

Ihre Nylonstrümfe hatten Löcher, und ihre Frisur war ruiniert. Lucy nahm das Gesicht ihrer Mutter in beide Hände. »Vielleicht hat mich ja die Sonne geblendet«, flüsterte sie.

Meredith zog ihre Tochter fest an sich. »Tapferes Mädchen«, sagte sie und wusste genau, dass sie sich beide selbst nicht glaubten.


Von den Warburtons hatte Ross gelernt, dass die Geisterstunde zwischen zehn Uhr abends und drei Uhr morgens war. Um halb elf war Ross mit den Vorbereitungen im Schlafzimmer des verlassenen Hauses fertig.

»Wo bleiben denn die ganzen coolen Geräte?«, fragte Ethan enttäuscht. »Du weißt schon, die aus dem Fernsehen.« Er beäugte die Videokamera mit unverhohlener Skepsis.

»Curtis sagt immer, beim ersten Mal sollte man nicht zu viel technischen Kram aufbauen«, erklärte Ross. »Am Ende ist man dann zu sehr mit den Geräten beschäftigt. Außerdem stören Geister das Magnetfeld und lösen oft Kurzschlüsse aus.«

»Trotzdem«, quengelte Ethan. »Ohne vernünftige Ausrüstung sind wir doch lahme Enten.«

Ross lachte, doch dann sah er das bekümmerte Gesicht seines Neffen. »Hör mal. Wenn hier irgendwas ist, kommen wir mit den richtig coolen Geräten zurück, okay?«

Sie hatten die Kamera auf eine Zimmerwand ausgerichtet, die Schlafsäcke waren auf dem dreckigen Boden ausgerollt. Das einzige Licht im Raum kam von einer kleinen Taschenlampe, die einen hellen Kreis zwischen Ross und Ethan warf. Ross holte ein Kartenspiel heraus und fing an zu mischen. Ethan nahm es ihm aus der Hand. »Onkel Ross? Meinst du, der Geist hier ist irgendwie auf schreckliche Weise gestorben?«

»Ich weiß doch noch gar nicht, ob hier ein Geist ist.«

Der Junge fing an, die Karten zu verteilen. »Ich würde gern wissen, ob er wütend auf uns ist.«

Ross neigte den Kopf in den Lichtkegel der Taschenlampe. »Um was spielen wir eigentlich?«

»Gummibärchen.«

»Ich setze zwei Gummibärchen.«

Im Grunde glaubte Ross nicht, dass auf dem Pike-Grundstück ein Geist umging. Aber zumindest würde Ethan diese Nacht guttun. Ross stützte sich auf den Ellbogen und beobachtete seinen Neffen, der gerade sein Blatt hinlegte. »Ich hab einen Straight.«

»Drei Buben.«

»Vielleicht müsstest du mit Handicap spielen«, schlug Ethan vor. Er mischte die Karten neu. »Ich denke, ich komme wieder.«

»Hierher?«

»Nein, nicht hierher. Ich meine, wenn ich tot bin.« Er sah sich im Zimmer um, fixierte dann herausfordernd seinen Onkel.

Ross war mit den Warburtons in Häusern gewesen, in denen Kinder gestorben waren. Die Mütter hofften darauf, dass Curtis ihnen zurückgeben würde, was sie verloren hatten. In all den Fällen waren die Warburtons nicht deshalb gerufen worden, weil es seltsame Geräusche und unerklärliche Vorkommnisse gab, sondern gerade weil es sie nicht gab.

Er dachte an seine Schwester und schob die Karten zusammen.

»Ich hab Hunger«, sagte Ethan. Er verschwand in der Dunkelheit und hantierte herum, bis es plötzlich laut krachte.

»Alles in Ordnung?« Ross leuchtete mit der Taschenlampe auf den Proviant, den sie mitgebracht hatten, aber die Ecke des Zimmers war leer.

Ethan meldete sich hinter ihm. »Ich bin hier«, sagte er mit zitternder Stimme. »Das, äh, das war ich nicht.« Er drängte sich an den Rücken seines Onkels.

»Sehen wir uns mal ein bisschen um«, flüsterte Ross. Es herrschte wieder Stille. Ross legte den Arm um Ethans Schultern. »Es kann alles Mögliche gewesen sein, Ethan.«

»Genau.«

»Komm, wir spielen weiter. Diesmal schlag ich dich.«

Ethan entspannte sich ein wenig.

Ross verteilte die Karten, aber seine Augen suchten die Dunkelheit ab. Nichts Ungewöhnliches, nichts, das seine Aufmerksamkeit erregte, bis auf die Verschlusskappe der Videokamera, die an einem schwarzen Band herunterhing und hin und her pendelte.

Obwohl im Zimmer kein Lüftchen wehte.

Von draußen kam ein Geräusch wie ein dumpfer Aufprall – ein fallender Ast oder ein Mensch, der auf allen Vieren landete. »Hast du das gehört?«, raunte Ethan zittrig.

»Ja.« Ross ging zu dem zerbrochenen Fenster und spähte hinaus, sah den Wald, der bis an das Grundstück heranreichte. Etwas Weißes blitzte dort auf – das Hinterteil eines Rehs, eine Sternschnuppe, die Augen einer Eule.

Er hörte Blätter rascheln und deutliche Schritte. Ein kurzer klagender Ruf, wie das Weinen eines Babys.

»Vielleicht sollten wir mal nachsehen«, murmelte Ross.

Ethan schüttelte heftig den Kopf. »Auf keinen Fall. Ich bleib hier.«

»Ist wahrscheinlich bloß ein Waschbär.«

»Und wenn nicht?«


Shelby hoffte, dass es ihrem Sohn guttat, Ross bei der Arbeit zu helfen – vielleicht tat das ja beiden gut.

Sie ging in Ethans Zimmer, hob seinen Gameboy vom Boden auf und ein paar Kassetten, die unter dem Bett lagen. Der Spielplan der Bostoner Baseballmannschaft hing an der Wand, und auf dem Schreibtisch lagen die Schulbücher, mit denen Shelby ihn unterrichtete. Sie ließ sich auf sein Bett sinken. Ob Ethan sie wohl vermisste, nur ein bisschen?

Beklommen starrte sie den Computer an. Vor einiger Zeit hatte sie heimlich seine E-Mails gelesen und herausgefunden, dass er sechs Brieffreunde hatte – Kinder aus der ganzen Welt, alle in seinem Alter. Zuerst hatte Shelby sich gefreut. Dass Ethan einen Weg gefunden hatte, mit anderen Kindern Kontakt zu pflegen, machte ihr Mut. Doch dann musste sie feststellen, dass Ethan sich in seinen E-Mails als ein anderer ausgab. Für Sonya in Dänemark war er ein Sechstklässler mit Mathe als Lieblingsfach. Für Tony in Indianapolis war er der Star seiner Baseball-Schulmannschaft. Für Marco in Colorado war er ein begeisterter Bergwanderer, der jedes Wochenende mit seinem Dad eine Tour machte. In keiner einzigen Mail erwähnte er seine Krankheit. Er war ausnahmslos ein ganz normaler, sportlicher Durchschnittsjunge mit glücklich verheirateten Eltern.

Ethan hatte sich zu all dem gemacht, was er nicht war.

Mit einem Seufzer ging Shelby aus dem Zimmer Richtung Treppe. Als sie an Ross’ Tür vorbeikam, zögerte sie. Sie war acht Jahre älter als Ross, und es kam ihr so vor, als hätte sie schon ihr ganzes Leben lang auf ihn aufgepasst.

Sie öffnete die Tür und begann aufzuräumen. Sie machte sein Bett und packte Shampoo und Zahncreme zurück in seinen Kulturbeutel.

Auf dem Stuhl lagen die Kleidungsstücke ihres Bruders in einem unordentlichen Haufen. Kopfschüttelnd strich sie ein Hemd glatt und legte es aufs Bett. Als sie seine Jeans zusammenlegen wollte, fiel etwas aus der Tasche. Shelby bückte sich und hob es auf. Es waren drei Pennys aus dem Jahr 1932.


Ross drehte sich um und winkte Ethan zu, der oben am Fenster stand, dann näherte er sich behutsam der Stelle im Wald, wo er zuletzt etwas Weißes hatte aufblitzen sehen. Er hatte Ethan die Taschenlampe dagelassen, daher konnte er kaum einen Meter weit sehen, aber er hörte deutlich, dass irgendjemand – oder irgendetwas – sich ganz in der Nähe bewegte.

Ross fröstelte. Hier draußen war es kälter, als er gedacht hatte. Auf einmal roch er den Duft von Wildrosen. Zeig dich, dachte er.

Doch stattdessen sah er plötzlich eine junge Frau vor sich, die auf dem Boden kauerte und versuchte, mit bloßen Händen in der gefrorenen Erde zu graben.

Sie trug ein geblümtes Kleid, und ihr helles Haar flatterte ihr ins Gesicht. Das Weiß, das Ross gesehen hatte, war ein Spitzenkragen. Sie bewegte sich fieberhaft, ganz auf das Graben konzentriert. Sie war jung und hübsch und hatte hier nichts zu suchen. Und sie war ebenso real wie der Boden unter seinen Füßen. Offensichtlich hatte sie ihn noch nicht bemerkt. »Was machen Sie hier?«, fragte er.

Sie drehte sich langsam um und blinzelte dann, als wäre sie überrascht, sich mitten im Wald wiederzufinden. »Ich … ich weiß nicht.« Als sie ihre Hände ansah und den Schmutz unter den Fingernägeln bemerkte, zog sie die Stirn kraus.

»Hat van Vleet Sie geschickt?«

»Ich kenne keinen van Vleet …«

Ross überlegte. Vielleicht war es ja nur ein unwahrscheinlicher Zufall, dass es eine Schlafwandlerin ausgerechnet in der ersten Nacht seiner Geisterjagd auf das Grundstück verschlug? Auf einmal bedauerte er, dass er sie so barsch angesprochen hatte. »Wonach suchen Sie denn?«

Die Frau wurde rot, und es sah so aus, als würde sie von innen leuchten. Als sie den Kopf schüttelte, roch er wieder ihr blumiges Parfüm. »Ich habe keine Ahnung. Letztes Mal bin ich im Schlaf auf den Heuboden eines Nachbarn gestiegen.«

Ross stopfte die Hände in die Hosentaschen. »Ich bin Ross Wakeman«, sagte er.

Sie sah zu ihm hoch, noch immer fassungslos. »Ich muss gehen.«

»Nein, wissen Sie, da, wo ich herkomme, antwortet man auf so etwas mit: ›Hallo, ich bin Susan.‹ Oder: ›Hi, ich bin Hannah.‹«

Ein zartes Lächeln umspielte ihren Mund. »Ich bin Lia«, sagte sie.

»Und weiter?«

Sie zögerte. »Beaumont. Lia Beaumont.«

Jede Faser ihres Körpers war auf Flucht eingestellt. Sie nickte unsicher und wollte sich entfernen. Ross empfand das unerklärliche Verlangen, sie daran zu hindern, und überlegte krampfhaft, was er sagen könnte, um sie zum Bleiben zu bewegen.

Plötzlich drehte sie sich zu ihm um. »Was tun Sie hier um diese Uhrzeit?«

»Ich erforsche paranormale Phänomene.« Sie blickte ihn verwirrt an. »Geister«, erläuterte er. »Ich suche nach Geistern. Ehrlich gesagt, ich bin hergekommen, weil ich dachte, Ihr Kragen wäre … na, egal. Sie habe ich jedenfalls nicht erwartet.«

»Tut mir leid.«

»Aber nein.«

Sie neigte den Kopf und musterte ihn eindringlich. »Glauben Sie wirklich, Tote können zurückkommen?«

»Glaubt das nicht jeder?« Sie sah traurig aus. »Vielleicht sind wir auch jetzt nicht allein.«

Prompt schaute Lia sich ängstlich um. »Wenn er mich findet …«

Wer?, wollte Ross fragen, aber da drang ein gellender Schrei aus dem Haus. »Onkel Ross!«, kreischte Ethan. »Onkel Ross, komm schnell!«

Ross sah zu dem Fenster hoch, in dem kein Licht mehr zu sehen war, weder von der Taschenlampe noch von der Videokamera. Das Blut wich aus seinem Gesicht. »Ich muss gehen«, sagte er zu Lia und rannte los.


Ethan wusste jetzt, wie Furcht sich anfühlte: wenn einem etwas von allen Seiten die Stirn zusammenpresste und die Beine so heftig zitterten, dass man sich hinsetzen musste, um nicht zu fallen.

»Ich hatte keine Angst, ehrlich«, beteuerte Ethan. »Ich meine, es war bloß komisch, verstehst du? Weil auf einmal alles dunkel war.«

Ross saß neben ihm im Wohnzimmer, und das Infrarotvideogerät war an den Fernseher angeschlossen. Der Bildschirm zeigte ein körniges, dunkles Bild mit zuckenden Rändern. Ethan begriff einfach nicht, was daran interessant sein sollte, sich ein Dreistundenband anzusehen, das nur eine Wand zeigte. Und obwohl das anscheinend ein unerlässlicher Bestandteil der Arbeit eines Geistersuchers war, musste er gähnen.

Ethan war, ehrlich gesagt, völlig ausgeflippt, als die Taschenlampe und die Kamera von allein ausgingen. Wie sich herausstellte, war bei der Kamera einfach das Band zu Ende gewesen, und bei der Taschenlampe waren die Batterien leer.

Jetzt blickte seine Mom stirnrunzelnd auf den Bildschirm. »Entgeht mir da was?«

»Noch nicht.« Ross sah Ethan an. »Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, es war mit dir im Raum.«

Ethan lief es kalt den Rücken herunter. »Ich … ich dachte, du bist nach draußen gegangen, weil du da was gesehen hattest.«

»Nein, da war jemand.« Plötzlich drückte Ross die Pausentaste an der Fernbedienung. »Seht ihr das?«

»Glühwürmchen?«, sagte Shelby.

»Wann hast du denn das letzte Mal so viele Glühwürmchen gesehen, dass es aussieht wie Schneegestöber?« Er ließ das Band ein Stück zurücklaufen und drehte die Lautstärke höher, sodass seine und Ethans Stimme zu hören waren. »An der Stelle gehe ich«, erläuterte Ross. Seine Schritte auf der Treppe verklangen. »Seht ihr? Die Lichter tauchen auf, nachdem ich weg bin.«

Dann wurde das Bild schwarz.

Ross richtete sich auf. »Ich denke, dass dieses Etwas ins Zimmer kam, als ich draußen war. Die Sternchen auf dem Band – das war Energie, die ihre Gestalt verändert. Und das würde auch erklären, warum die Taschenlampe ausgegangen ist. Geister brauchen Energie, um sich zu materialisieren und zu bewegen. Der hier hat die Batterien in der Taschenlampe dafür benutzt.«

Doch Ethan war allein im Zimmer gewesen, und er hatte nichts gesehen. Oder doch?

Eine Badewanne. Einen Fuß, der aus dem Schaum auftaucht.

Das Bild tauchte unvermittelt vor seinen Augen auf, verschwand aber wieder, bevor er es festhalten konnte. Ethan war inzwischen todmüde. Er hörte die Stimme seiner Mutter wie durch Wasser. »Und was erzählst du jetzt dem Baufritzen?«

Die Antwort seines Onkels bekam Ethan schon nicht mehr mit. Er träumte von einem Strand mit Sand, der so heiß war, dass er ihm unter den Füßen brannte.


»Kommen Sie zurecht?«

Shelby schob ihre Lesebrille höher und sah von dem Mikrofiche-Lesegerät zu dem pockennarbigen Mitarbeiter des Nachlassgerichtes hoch. »Ja, danke.« Zum Beweis zog sie den Leseschlitten heraus und wechselte geschickt die Vorlage, um die nächste Seite des Testaments zu studieren.

Ross hatte sie darum gebeten – und weil er sie so selten um Hilfe bat, hatte sie Ja gesagt. Sie sollte für ihn herausfinden, wie lange das Land schon im Besitz der Familie Pike war und ob es irgendwann von amerikanischen Ureinwohnern besiedelt gewesen war. Für Letzteres gab es keinerlei Hinweis, und sie stellte fest, dass das Grundstück erst seit den Dreißigerjahren Spencer Pike gehörte. Er hatte den Besitz allerdings nicht etwa durch Kauf erworben, sondern geerbt. Von seiner verstorbenen Frau.


Testament von Mrs. Spencer T. Pike aus Comtosook, Vermont.


Shelby runzelte die Stirn, als sie das Datum sah – 1931. Die Unterschrift war zart und krakelig: Mrs. Spencer T. Pike – als hätte es die Frau vor ihrer Heirat gar nicht gegeben. Die Juristensprache war kompliziert, aber der Inhalt lief ganz klar auf eines hinaus: Mrs. Spencer T. Pike hatte alles ihrem Ehemann hinterlassen. Fast.


Ich hinterlasse meinem Ehemann Spencer Pike meine gesamte persönliche Habe, darunter alle Möbel und sonstigen Einrichtungsgegenstände meines Hauses, meinen Schmuck und meine Automobile. Ich hinterlasse meinen Nachkommen aus der Ehe mit Spencer Pike mein Grundeigentum an der Kreuzung von Otter Creek Pass und Montgomery Road in Comtosook, Chittenden County im Staate Vermont. Sollten bis zum Zeitpunkt meines Todes keine lebenden Nachkommen aus meiner Ehe mit Spencer Pike hervorgegangen sein, so hinterlasse ich das oben genannte Grundeigentum meinem Ehemann Spencer Pike.


In dem Testament stand nichts darüber, wie ausgerechnet diese Frau mit so wenig Selbstbewusstsein in den Besitz des Grundstücks und des Hauses gekommen war. Ebenso wenig ging daraus hervor, wie ihr Mann ihren frühzeitigen Tod verkraftet hatte, ob er jeden Quadratzentimeter des Grundstücks, das jetzt ihm gehörte, liebend gern verschenkt hätte, wenn er sie dadurch hätte zurückbekommen können.

Shelby verließ das Nachlassgericht. Kaum hatte sie einen Fuß auf die Straße gesetzt, kam ein Streifenwagen der Polizei mit quietschenden Reifen angebraust und hielt knapp vor ihr. Der Fahrer stieg aus, nuschelte eine Entschuldigung und rannte, gefolgt von einem monströs aussehenden Hund, ins Polizeirevier, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen.

Shelby brauchte eine ganze Weile, um sich von dem Schreck zu erholen. Und nahm sich fest vor, noch im Laufe dieser Woche ihr Testament zu machen.


Diesmal war Ross besser ausgerüstet, mit einer Digitalkamera und einem Thermoscanner – alles per Internet auf Shelbys Kreditkarte bestellt, was er seiner Schwester bislang verschwiegen hatte. Ethan wäre begeistert gewesen, aber er war diesmal nicht dabei – Shelbys Nachsicht war offenbar an ihre Grenzen gestoßen. Es war kurz nach elf, etwa eine halbe Stunde bevor der Geist Ethan beim letzten Mal erschienen war. Ross hockte sich hin und wartete. Er hoffte nichts weiter, als dass ihm das Glück genauso hold sein würde wie seinem Neffen.

Er hatte die Geräte auf einer Lichtung ein Stück hinter dem Haus aufgebaut. Rod van Vleet hatte das Gebäude mittlerweile schon zur Hälfte abreißen lassen. Daher würde ein Geist sich einen anderen Aufenthaltsort suchen – und das Grundstück war weitläufig. Die Tatsache, dass Ross just an der Stelle anfing, wo er Lia Beaumont vor einigen Nächten getroffen hatte, war, so redete er sich ein, purer Zufall.

Eine Zeit lang lauschte Ross dem Gezirpe der Grillen und dem Quaken der Frösche. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war, als er Schritte in der Nähe des Hauses hörte. Er blickte auf seinen Thermoscanner. Wenn ein Geist nahen würde, hätte die Temperatur stärker sinken müssen. Dennoch begann sein Herz zu rasen, als er gleich darauf eine Gestalt auftauchen sah.

Der Wachmann vom Steinbruch trug diesmal nicht seine Uniform, doch Ross erkannte ihn sofort. Es gab in Comtosook nicht viele hundertjährige Indianer. Er hielt etwas in der Hand, das aussah wie eine weiße Rose. »Sie?«, sagte Az stirnrunzelnd.

Ross zuckte die Achseln. »Ich bin meistens dort, wo der Geist mich hinführt.«

Der Indianer schnaubte. »Und diesmal hat er Sie zum Handlanger dieser Blutsauger gemacht.«

»Ich arbeite auf eigene Rechnung«, stellte Ross klar. »Die bezahlen mir keinen Penny.«

Das schien den Alten ein wenig zu besänftigen. »Suchen Sie schon wieder nach Geistern?«

»Ja.«

»Was würden Sie denn tun, wenn Ihnen einer über den Weg liefe?«

»Ein Geist? Keine Ahnung. Hab noch nie einen entdeckt.«

»Meinen Sie, diese Baulöwen wissen, was sie im Fall eines Falles tun würden?«

Ross dachte an van Vleet. »Ich denke, sie würden versuchen, ihn loszuwerden.«

Az’ Mund wurde schmal. »Oh ja, treibt sie schön alle zusammen, und dann ab mit ihnen ins Reservat. Wenn man sie nur weit genug wegschafft, kann man sich einbilden, es hätte sie nie gegeben.«

»Wohnen Sie hier in der Nähe?«, fragte Ross, um das Thema zu wechseln.

Az deutete auf ein paar Zelte, die jenseits der Straße schwach zu erkennen waren. »Ich komme manchmal nachts hierher. Alte Menschen brauchen nicht viel Schlaf«, sagte er trocken. »Warum soll ich meine Zeit mit etwas vertun, was ich sowieso demnächst bis in alle Ewigkeit tun werde?« Az wandte sich ab und ging, aber am Rande der Lichtung drehte er sich um. »Wissen Sie, wenn Sie einen Geist finden, werden Sie ihn nicht loswerden. Ob das van Vleet nun passt oder nicht.« Az verschwand um eine Ecke des Hauses. Der Wind frischte auf. Ross zog sich seine Jacke über. Er war enttäuscht. Es lag sicher daran, redete er sich ein, dass der Alte gekommen war, wo Ross doch auf einen Geist gehofft hatte, und hatte nichts damit zu tun, dass Az gekommen war, wo Ross doch auf Lia gehofft hatte.


Meredith fühlte sich in Dr. Calloways Büro äußerst unwohl. Ganz im Gegensatz zu Lucy, die außer Hörweite am anderen Ende des Raumes mit dem Bauch auf einem kolossalen Plüschfrosch lag und eine Barbie anzog.

»Eine isolierte optische Halluzination ist selten«, sagte die Psychiaterin. »Psychotische Symptome treten häufiger in Gestalt von akustischen Halluzinationen oder als Erregungszustände auf.« Dr. Calloway sah kurz zu Lucy hinüber, die seelenruhig spielte. »Hat sich ihr Verhalten drastisch verändert?«

»Nein.«

»Neigt sie zu Aggressionen? Zu Jähzorn?« Meredith schüttelte den Kopf. »Wie sieht es mit ihrem Ess- oder Schlafverhalten aus?«

Lucy aß sehr schlecht – Meredith witzelte manchmal, dass ihre Tochter per Fotosynthese lebte –, und was das Schlafen anging, nun ja, sie hatte schon seit einer Ewigkeit keine Nacht mehr durchgeschlafen. »Schlafen ist ein Problem«, gab sie zu. »Die Phantasie geht mit ihr durch. Meistens lässt sie das Licht an, und wenn sie einschläft, dann aus purer Erschöpfung.«

»Möglicherweise leidet Lucy unter den gleichen Angstvorstellungen, die bei Achtjährigen ganz normal sind«, sagte Dr. Calloway. »Andererseits sieht sie vielleicht tatsächlich etwas in ihrem Schrank und unter dem Bett.«

Meredith schluckte trocken. Ihr Kind konnte nicht psychotisch sein, ausgeschlossen. Und ganz weit hinten im Kopf blitzte ein Gedanke auf, heiß wie eine Flamme: Du wolltest sie damals nicht, und das ist die Strafe dafür.

»Was soll ich tun?«, fragte sie.

»Vergessen Sie nicht, dass Achtjährige an den Weihnachtsmann glauben, imaginäre Freunde haben und in ihrer eigenen Phantasiewelt leben. In Lucys Alter fangen Kinder gerade erst an, Einbildung und Wirklichkeit zu unterscheiden – und es könnte durchaus sein, dass das, was sie zu sehen meint, Teil dieses Prozesses ist.«

»Aber wenn es nicht aufhört?«

»Dann würde ich empfehlen, Lucy auf eine niedrige Dosis Risperdal zu setzen. Aber warten wir erst mal ab.«

»Okay.« Meredith sah zu, wie Lucy anfing, der Puppe Zöpfe zu flechten. »Okay.«


Ross war gar nicht hungrig, daher wusste er auch nicht recht, wieso er in den einzigen Diner im Ort gegangen war – ein Lokal, das es schon so lange gab wie Comtosook selbst und das wie eine Erbkrankheit von einem übergewichtigen Besitzer an den nächsten weitergegeben wurde.

Als Ross eintrat, waren jeder Tisch und jeder Platz an der Theke besetzt. Er beschloss zu warten, lehnte sich gegen eine verspiegelte Wand und holte seine Zigaretten heraus. »Tut mir leid«, sagte die Kellnerin. »Hier ist Rauchen verboten.«

Es kam ihm lächerlich vor, dass ein Restaurant mit einer derart fettlastigen Speisekarte das Rauchen verbot, doch Ross steckte seine Zigaretten wieder ein. »Ich geh draußen eine rauchen«, sagte er zu der Frau. »Halten Sie mir einen Tisch frei?«

Sie lächelte. »Nur wenn ich von Ihnen eine Zigarette kriege.«

Jetzt, fünf Minuten später, lehnte er am Müllcontainer hinter dem Diner und ließ sich den Rauch durch die Kehle gleiten. Er kniff die Augen zusammen und betrachtete die glühende Zigarettenspitze.

Er hätte eine Jacke anziehen sollen – hier hinten war es bestimmt zehn Grad kälter. Solche Temperaturschwankungen waren im Ort inzwischen an der Tagesordnung, und die Einheimischen hatten sich offenbar daran gewöhnt.

Ross drückte die Schultern gegen die Metallwand des Containers, um etwas von der Wärme abzubekommen, die darin gespeichert war. Mit gebeugtem Kopf warf er die Kippe weg.

»Die war aber noch gar nicht zu Ende geraucht.«

Er sah auf. »Lia.«

Selbst wenn sie nichts gesagt hätte, hätte Ross gewusst, dass sie in der Nähe war, denn ihr Blumenduft lag in der Luft. Sie trug wieder das geblümte Kleid, diesmal mit einer Strickjacke darüber.

»Ich habe Sie gesucht«, sagte Lia.

Ihre Worte passten nicht zu ihrer Körperhaltung. Sie sah aus, als wollte sie jeden Moment davonstürzen. Sie hatte etwas Hilfloses, Eingesperrtes an sich, das Ross vertraut vorkam. »Ich hab auch nach Ihnen gesucht.« Erst als er es aussprach, merkte er, dass es die Wahrheit war.

»Haben Sie Ihren Geist schon gefunden?«

»Nicht meinen Geist«, stellte Ross klar. »Einen Geist.« Er lächelte sie an. »Warum haben Sie mich gesucht?«

Lia sprach hastig. »Weil … weil ich neulich nicht dazu gekommen bin, Ihnen zu sagen, dass ich … ich suche nämlich auch nach Geistern.«

»Ach ja?« Ross war völlig perplex.

»Aber ich bin wohl Amateurin, im Vergleich zu Ihnen.«

»Haben Sie schon mal was entdeckt?«, fragte Ross.

Sie schüttelte den Kopf. »Hat das überhaupt schon mal jemand?«

»Ja, sicher. Ich meine, mal abgesehen von Geisterfotografie und Medien ist sogar schon an den Universitäten von Princeton und Edinburgh auf dem Gebiet geforscht worden. Sogar die CIA hat Untersuchungen zu übersinnlicher Wahrnehmung und Telepathie in Auftrag gegeben.«

»Die CIA

»Ja«, sagte Ross. »Offizielle Stellen sind sogar zu dem Schluss gekommen, dass Menschen an Informationen gelangen können, ohne ihre fünf Sinne zu benutzen.«

»Das ist aber noch kein Beweis für das Leben nach dem Tod.«

»Nein, aber es lässt vermuten, dass Bewusstsein mehr ist als nur etwas rein Physisches. Vielleicht ist es nur eine andere Form von Hellsichtigkeit, wenn man einen Geist sieht. Vielleicht sind Geister gar nicht richtig tot, sondern leben irgendwo in der Vergangenheit, und …« Ross’ Stimme erstarb. »Entschuldigen Sie. Ich weiß … die meisten Leute halten das, was ich mache, für Spinnerei.«

»Das kriege ich auch oft zu hören.« Lia lächelte zaghaft. »Und bitte entschuldigen Sie sich nicht. Ich bin noch nie einem Wissenschaftler begegnet, der nicht ins Schwärmen gerät, wenn es um seine Arbeit geht.«

Ein Wissenschaftler. War Ross je so genannt worden? Er war geschmeichelt, erstaunt, fasziniert. Um seine Verunsicherung zu überspielen, griff er nach seinen Zigaretten und bot Lia eine an. Ihre Hand hob sich unsicher, dann verschwand sie rasch hinter ihrem Rücken. Aber es war Ross nicht entgangen, dass sie einen schmalen goldenen Ring am Finger trug.

Wieder brach für ihn eine Welt zusammen.

»Er wird’s nicht erfahren«, sagte Ross und sah ihr in die Augen.

Lia starrte ihn an. Dann zog sie eine Zigarette aus der Packung und ließ sich von Ross Feuer geben. Sie rauchte, als wollte sie ein Geheimnis verschlucken – einen Schatz, der behütet werden wollte. Sie schloss die Augen, hob das Kinn, und die geschwungene Linie ihres Halses wurde sichtbar.

In diesem Moment spielte es keine Rolle, dass sie die Frau eines anderen war, dass die wenigen Minuten, die Ross mit ihr hatte, nur gestohlen waren. Es mochte der Beginn eines schweren Fehlers sein, aber Ross brachte es nicht fertig, sie gleich wieder gehen zu lassen. »Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.«

»Es verrät Sie schon niemand.«

»Die ganze Stadt kommt in den Diner. Wenn er erfährt, dass ich mit Ihnen da war …«

»Na und? Dann sagen Sie ihm die Wahrheit. Wir sind zwei Freunde, die sich über Geister unterhalten haben.«

Falsche Antwort. Lia wurde sichtlich blass, und Ross sah wieder ihre Verletzlichkeit. »Ich habe keine Freunde«, sagte sie leise.

Keine Freunde. Und du darfst nicht mal einen Kaffee trinken und musst dich mitten in der Nacht davonstehlen. Was mochte das für ein Tyrann sein, der Lia so vollkommen beherrschte?

»Nur eine Tasse«, flehte Ross.

»Na schön«, gab sie schließlich nach. »Eine Tasse.« Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und fixierte ihn dabei. »Sind wir uns schon mal begegnet?«

»Neulich im Wald.«

»Ich meine davor.«

Ross schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht«, sagte er, aber er hatte das Gefühl, sie schon immer gekannt zu haben. Aber vielleicht wünschte er sich das ja nur.

Er wollte sie fragen, warum sie vor ihrem Mann Angst hatte. Er wollte sie fragen, was sie ausgerechnet jetzt zu dem Diner geführt hatte, wo er da war. Aber er fürchtete, wenn er auch nur irgendetwas sagte, würde sie einfach verschwinden, wie die Rauchfäden, die zwischen ihnen schwebten.

»Glauben Sie wirklich, dass es dort einen Geist gibt?«, fragte Lia.

»Auf dem Pike-Grundstück? Vielleicht. Falls es tatsächlich ein alter Indianerfriedhof ist.«

»Ein Indianerfriedhof?« Die Idee schien sie zu verblüffen. »Das glaube ich nicht.«

»Kennen Sie sich in der Gegend aus?«

»Ich bin hier aufgewachsen.«

»Und Sie haben nie irgendwas gehört, dass da früher mal eine Indianersiedlung gewesen sein könnte?«

»Da hat Ihnen jemand einen Bären aufgebunden.«

Ross überlegte. Die Möglichkeit war nicht von der Hand zu weisen.

»Aber dieser Indianer … das ist doch nicht Ihr erster Geist«, sagte Lia zögernd.

»Doch, und auch nur, falls er sich mal zeigt.«

»Nein, ich wollte sagen, das ist nicht der Geist, der Sie dazu gebracht hat, nach Geistern zu suchen.« Sie neigte den Kopf, und ihr Haar fiel nach vorne, verdeckte ihr Gesicht. »Meine Mutter ist am Tag meiner Geburt gestorben. Manchmal suche ich sie.«

Plötzlich wurde ihm klar, dass der Grund für Lias Glaube an paranormale Phänomene nicht Aufgeschlossenheit war, sondern Verzweiflung – wie bei ihm. Dass er bei ihr denselben Schmerz erkannte wie bei sich selbst.

Lia streckte den Arm aus, schob den Ärmel ihrer Strickjacke hoch und entblößte ein ganzes Netz von Narben. »Manchmal muss ich mich selbst schneiden«, gestand sie, »weil ich ganz sicher bin, dass ich nicht bluten werde.«

Es war so lange her, dass irgendjemand ihn verstanden hatte. »Mein Geist«, sagte Ross mit belegter Stimme. »Ihr Name ist Aimee.«

Und er erzählte, was er alles an Aimee geliebt hatte – ihr Lächeln zum Beispiel oder die rauhe Stelle an ihren Ellbogen. Er sprach von dem traumatischen Unfall und davon, was für ein Gefühl mit der Einsicht einherging, dass manche Fehler unauslöschlich sind. Er sprach, bis seine Kehle ganz heiser war und er seine ganze Trauer wie eine Gabe zu Lias Füßen ausgebreitet hatte.

Als er fertig war, weinte sie. »Glauben Sie wirklich, dass man einen Menschen sehr lieben kann, sehr, sehr lieben kann, auch wenn man in verschiedenen Welten lebt?«

Ross spürte, dass die Frage sich nicht nur auf seinen eigenen Schmerz bezog. »Wie kann ich denn nicht daran glauben?«

Sie machte ein paar Schritte rückwärts. »Ich muss gehen.«

Instinktiv griff Ross nach ihr – und ebenso rasch wich Lia zurück.

»Lia, sagen Sie mir, was er Ihnen angetan hat.«

»Er betet mich an«, flüsterte sie. »Er liebt eine Frau, die es eigentlich gar nicht gibt.«

Damit hatte Ross nicht gerechnet. Konnte man einen anderen Menschen so sehr lieben, dass man ihn quälte, ohne es zu wollen?

Lia berührte sacht seinen Ärmel, und die Tränen an ihren Fingerspitzen hinterließen einen kühlen Fleck. »Wenn Sie Aimee finden«, sagte sie leise, »sagen Sie ihr, wie glücklich sie sich schätzen kann.«

Als Ross den Blick hob, entfernte sie sich bereits. In seinem Kopf überschlugen sich die Fragen: Was konnte sie nur getan haben, dass sie meinte, der Zuneigung ihres Mannes nicht würdig zu sein? Und falls Lia ihn liebte, warum brach es ihr dann das Herz?

Ross hatte sie nicht bekümmern wollen. Er hatte ihr nur begreiflich machen wollen, dass sie nicht allein war. »Lia«, rief er und eilte ihr nach, doch sie blickte nur kurz über die Schulter und beschleunigte dann ihre Schritte.

»He.« Die Kellnerin öffnete die Eingangstür des Diners. »Jetzt ist ein Tisch frei!«

Ross folgte ihr hinein. Sie führte ihn an einen Tisch, der noch nicht abgeräumt war. Er setzte sich und gab ihr eine Zigarette, wie versprochen.

Sie lachte, schob sie sich in den Ärmel und wischte den Tisch ab. »Ganz allein unterwegs?«

Er sah zum Fenster hinaus. »Ich fürchte, ja.«

Als die Kellnerin verschwand, um ihm Besteck und eine Tasse Kaffee zu holen, bemerkte Ross den Penny, der auf dem Tisch lag. Er war 1932 geprägt worden.


Zu Hause überlegte Ross, was er über Lia wusste: Sie hatte einen ungemein schüchternen Eindruck auf ihn gemacht. Das Übernatürliche faszinierte sie, aber sie fürchtete sich vor ihrem eigenen Schatten. Freiheit gab es für sie nur in der Nacht. Sie war mit einem Mann verheiratet, der sie regelrecht gefangen hielt.

Und, ja, sie war innerlich gebrochen. Sie verbarg es gut, doch Ross wusste aus eigener Erfahrung, dass man, auch wenn die Einzelteile wieder zusammengefügt wurden, nach einem solchen Sturz nie wieder derselbe Mensch war.

Er ließ das Band, das er einige Nächte zuvor aufgenommen hatte, vorlaufen, spielte sein Gespräch mit Az Thompson erneut ab. Das Problem war, dass er sich stärker für Lia Beaumont interessierte als für die Frage, ob auf dem Grundstück ein Geist umging oder nicht.

Auf dem Band war absolut nichts Verwertbares. Was sollte er Rod van Vleet sagen?

Das Telefon klingelte, riss ihn aus seiner Grübelei. Er griff hastig nach dem Hörer, damit Shelby und Ethan nicht wach wurden. »Hallo?«

Es meldete sich niemand, aber Ross hörte ein sanftes Rauschen. Er klemmte sich den Hörer zwischen Schulter und Ohr. »Lia?«, murmelte er.

Sie war es. Darauf hätte er alles verwettet. Sie konnte sich nicht mit ihm treffen, aber sie wusste, wo sie ihn finden konnte. Und das teilte sie ihm auf diese Weise mit.

Ross legte nicht wieder auf. Er schlief mit dem Hörer am Ohr ein, sein erster richtiger Schlaf seit Tagen.


Vor Tausenden von Jahren siedelten die Abenaki nicht nur vom Nordwesten Vermonts bis in den Südwesten, sondern auch im Westen von Massachusetts, in Teilen New Hampshires und sogar in Quebec. Sie nannten das Gebiet nd’akina, was so viel hieß wie »unser Land«. Der Name ihres Stammes, Abenaki, bedeutete »Volk der Morgendämmerung«. Sie selbst bezeichneten sich als alnôbak, Menschenwesen. Irgendwann betrug ihre Zahl vierzigtausend.

Sie lebten vom Ackerbau, und ihre Dörfer lagen meist in den Feuchtgebieten der Flüsse. Durch Jagd und Fischerei ergänzten sie ihren Speiseplan. Während der längsten Zeit des Jahres lebten sie zerstreut in großen Familienverbänden, doch im Sommer kamen sie alle zusammen. Sie hatten kein allgemeines Oberhaupt. Wenn sie Krieg führten, verließen die Abenaki ihre Dörfer, teilten sich in kleinere Gruppen und tauchten irgendwo weiter weg wieder auf, um zum Gegenangriff überzugehen. Häufig zogen sie sich dann auch nach Quebec zurück, weshalb viele Kolonialisten in Neuengland sie für kanadische Indianer hielten und ihnen unter diesem Vorwand einen Großteil ihres Landes in Maine, New Hampshire und Vermont wegnahmen, ohne sie je dafür zu entschädigen.

Im Jahre 2001 lebten noch schätzungsweise 2500 Abenaki in Vermont. Aber ob davon einige jemals auf dem Pike-Grundstück gelebt hatten, war Ross noch immer ein Rätsel, obwohl er das Internet durchforstet und fast jedes historische Nachschlagewerk in der Stadtbücherei von Comtosook in der Hand gehabt hatte.

Frustriert ließ er den Kopf auf den Schreibtisch sinken. Shelby trat hinter ihn und massierte ihm die Schultern. »Glück gehabt?«

»Und damit verdienst du dein Geld?«, ächzte Ross.

»Ich schließe daraus, dass du nichts gefunden hast.« Sie setzte sich auf den Stuhl neben ihn und vergewisserte sich mit einem kurzen Blick auf Ethan, dass er noch immer mit seinem Gameboy beschäftigt war. »Vermont ist nicht gerade berühmt für dokumentarische Genauigkeit«, sagte sie. »Die meisten alten Dokumente verschimmeln irgendwo im Keller des Stadtarchivs. Und in denen ist meist auch nur die Geschichte der Engländer verzeichnet, die sich hier niedergelassen haben. Ich glaube kaum, dass die Ureinwohner vor tausend Jahren schon wussten, wie wichtig Besitzurkunden sind.«

Ross betrachtete den Monitor. »Ich will mal sehen, was ich über diese Briten rausfinden kann. Vielleicht werden in ihren Aufzeichnungen ja irgendwelche Indianersiedlungen erwähnt.«

»Mach, was du willst. Ich bringe Ethan jetzt nach Hause.«

»Eine Frage noch, Shel«, rief Ross, als seine Schwester schon an der Tür war. »Kommt dir der Name Beaumont bekannt vor?«

»Ist das einer von den englischen Siedlern?«

»Nein.« Ross rief das Adressverzeichnis von Comtosook im Computer auf.

Shelbys Kollegin sah ihn über den Rand ihrer Brille hinweg an. »An der Universität von Vermont gibt es eine Fachbibliothek für Biologie, die nach einem Beaumont benannt ist. Wir leihen uns manchmal dort Bücher aus.«

»Tut mir leid, Ross«, sagte Shelby kopfschüttelnd. »Sagt mir gar nichts.«

Sie schob Ethan zur Tür hinaus, während Ross den Namen in den Computer tippte.

BEAUMONT, ABEL. 33 Castleton Rd.

BEAUMONT, C. Postfach 358.

BEAUMONT, W. 569 West Oren St.

Er hatte auch nicht damit gerechnet, Lias Namen auf der Liste zu finden. Es würde nicht leicht sein, die Beaumonts mit der Postfachanschrift zu finden, doch die beiden anderen Adressen waren kein Problem. Er packte seine Sachen ein.

»Erfolg gehabt?«, fragte die Bibliothekarin lächelnd.

Ross pfiff vor sich hin. »Könnte man so sagen.«


Meredith saß über ihr Mikroskop gebeugt und untersuchte eine einzige Zelle von einem Embryo, der kürzlich in einem Reagenzglas entstanden war. Wie es aussah, war der hier nicht dazu verdammt, Mukoviszidose zu erben – ein kleines Wunder, da die vorausgegangenen vier Versuche des Paares, ein gesundes Kind zu bekommen, gescheitert waren. Sie streckte den Rücken und lächelte: Der hier würde es schaffen. Und Meredith musste es wissen.

Bei Lucy war es nämlich so ähnlich gewesen. Nicht weil genetisch irgendwelche Hindernisse bestanden hätten, sondern weil die Umstände dagegen sprachen. Acht Jahre zuvor hatte Meredith eine Beziehung zu einem Professor beendet, der zu beschäftigt gewesen war, um sie zur Beerdigung ihrer Mutter nach Maryland zu begleiten. Ihre Mutter war noch keine sechzig gewesen, als sie aus heiterem Himmel an einem Herzinfarkt starb. Meredith war am Boden zerstört, doch für ihre Großmutter war es noch schlimmer, und so musste Meredith, damals sechsundzwanzig, sich um alles kümmern. Sie konnte sich noch lebhaft an den surrealen Besuch bei dem Bestattungsunternehmen erinnern, wo sie nicht nur den Sarg, sondern auch die Farbe des Stoffes für die Sargauskleidung aussuchen musste. Sie erinnerte sich an die Beerdigung, als Granny Ruby sich mit ihrem zarten Gewicht gegen sie gelehnt hatte und Meredith gezwungen war, aufrecht und gerade zu stehen.

Sie beschloss, nach Boston zu fahren, ihre Dissertation abzuschließen, und dann nach Silver Spring zurückzukehren und zu Granny Ruby ins Haus zu ziehen. Doch vier schlaflose Nächte forderten ihren Tribut: Nach einigen Stunden Fahrt verlor sie die Kontrolle über ihren Civic.

Als Meredith im Krankenhaus erwachte, das linke Bein in Gips, Prellungen am ganzen Körper, stand an ihrem Bett eine Krankenschwester, die ihr versicherte, dass es ihrem Baby gut gehe. Baby? Was für ein Baby? Man brachte ihr schonend bei, dass eine Ultraschalluntersuchung zur Feststellung möglicher innerer Verletzungen ergeben hatte, dass sie in der achten Woche schwanger war.

Sie wollte keine alleinerziehende Mutter sein. Sie wollte gar keine Mutter sein, basta. Sie wollte nur ihre eigene Mutter wiederhaben. Also vereinbarte sie einen Termin für eine Abtreibung.

Den hielt sie nicht ein.

Heute liebte sie ihre Tochter und konnte sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Aber wenn sie ehrlich mit sich war, hätte vor acht Jahren alles anders laufen können.

Ach Lucy, dachte sie, wenn ich doch die Zeit zurückdrehen könnte. Sie würde weniger arbeiten und mehr mit ihrer Tochter unternehmen. Sie würde zugeben, dass sie nicht auf alles eine Antwort hatte und vielleicht auch nie die richtigen Antworten finden würde.


Weder die Castleton Road noch die West Oren Street lagen in der Nähe des Pike-Hauses, trotzdem fuhr Ross zu den beiden Adressen. Aber Lia Beaumont wohnte weder in dem verschlafenen viktorianischen Häuschen noch in dem Blockhaus, das von einem Schäferhund namens Armageddon bewacht wurde. Möglicherweise war die Postfachanschrift die richtige. Er würde sie fragen, wenn er sie das nächste Mal sah. Falls er sie sah.

Ross hatte nur noch in dem Diner gegessen, und die letzten beiden Nächte hatte er auf dem Pike-Grundstück Wache gehalten, aber Lia Beaumont war nicht gekommen.

Ross wollte sie fragen, ob sie glaubte, dass ihre Mutter gefunden werden wollte, auch wenn es Jahre dauerte. Er wollte sie fragen, ob sie ihren Mann genauso liebte, wie er Aimee geliebt hatte. Er wollte herausfinden, ob es tatsächlich eine unüberwindbare Mauer zwischen ihnen gab.

Außerdem machte Ross sich Sorgen, ob der Ehemann vielleicht von ihrem Treffen am Diner erfahren und sie dafür bestraft hatte. Schließlich begann Ross sogar, die Todesanzeigen zu lesen, und war erleichtert, wenn er ihren Namen nirgends entdeckte.

Während mancher Nächte auf dem Pike-Grundstück war mehr los als sonst. Es gab jähe Temperaturschwankungen, und manchmal blitzten zwischen den Ästen kleine blaue Lichter auf. Ab und zu war der Kiefernduft so stark, dass man kaum noch Luft bekam. Zweimal hatte Ross leise ein Baby weinen gehört.

Als er in der dritten Nacht am Rande der Lichtung saß, die Nacht stockfinster, fiel ein Stein vom Himmel. Er war etwa so groß wie ein Teller und auch beinahe so flach und traf Ross mit großer Wucht am Schienbein. »Verdammt!«, schrie Ross und sprang auf. Er spürte, wie sein Bein unterhalb des Knies anschwoll. Als er mit der Taschenlampe in den nächsten Baum leuchtete, konnte er nichts entdecken. »He!«, schrie er wütend auf. »Wer ist da?«

Nichts. Er riss einen Ast ab und schlug damit auf den Baum ein, weil er so aufgebracht war. Erst als er innehielt, hörte er das Graben.

Es war schwach, aber deutlich zu hören. Ross humpelte über die Lichtung. Seine Taschenlampe beleuchtete etwa dreißig kleine Erdhügel, die ohne jede erkennbare Ordnung verteilt waren.

Das Grundstück war an einigen Stellen von diversen archäologischen Expertenteams untersucht worden, doch dieser Teil war unberührt gewesen, als Ross in der Abenddämmerung auf die Lichtung gekommen war. Und als Ross sich bückte und versuchte, einen Stock in das Erdreich zu bohren, war der Boden genauso hart gefroren wie bereits seit Tagen.

Ross hatte noch nie einen Indianerfriedhof gesehen, aber er stellte sich vor, dass er ungefähr so aussah.

Er zog seine Digitalkamera aus der Tasche und machte mehrere Fotos. Dann spähte er in das winzige LCD-Display, um sich die Aufnahmen anzusehen. Doch auf allen war der Boden vollkommen glatt, von einer unberührten Eisschicht bedeckt. Verwundert richtete Ross die Lichtkegel seiner Lampe auf die Stelle.

Es waren keine Hügel da.

Er bückte sich und rollte sein Hosenbein hoch – die Schwellung war da, dick und blau unterlaufen. Der Stein war tatsächlich gefallen. Das Geräusch war ein Grabegeräusch gewesen. Die Erdhügel waren da gewesen.

Ein Grund mehr, sich Lia herbeizuwünschen: Wenn sie die Hügel heute Nacht auch gesehen hätte, müsste Ross nicht an seinem Verstand zweifeln.


Ethan hasste es, zum Hautarzt zu gehen.

Es erinnerte ihn daran, was für ein Monster er war.

Heute waren ihm drei präkanzeröse Wucherungen aus dem Gesicht entfernt worden. Er fühlte sich klein und schwach.

Wieder zu Hause, in seinem Zimmer, stellte er sich vor den Spiegel. Die Blasen hatten sich noch nicht gebildet – das würde erst morgen passieren. Aber schon jetzt war sein Gesicht ein Globus mit wandernden, fleckigen Kontinenten an den Stellen, wo die Wucherungen entfernt worden waren.

Unwillkürlich hob er die Faust und rammte sie in den Spiegel. Blut lief ihm am Arm herunter, aber er hatte erreicht, was er wollte: Er musste sich jetzt nicht mehr selbst sehen.

»Ethan?« Die Stimme seiner Mutter. »Ethan!« Sie war jetzt hinter ihm, umwickelte seine Faust mit einem Laken, das sie vom Bett gerissen hatte. »Wie ist das passiert?«

»Es tut mir leid«, Ethan wippte vor und zurück. »Es tut mir leid.«

»Was hast du nur angestellt?«

Ethan riss seine Hand weg. »Wieso benutzt du dauernd so blöde Wörter, die kein Mensch versteht? Wieso sagt mir nie einer die Wahrheit?«

Seine Mutter starrte ihn an. »Was willst du hören, Ethan?«

Er schluchzte, und ihm lief die Nase. »Dass ich ein Monster bin.« Er hob die gespreizten Finger ans Gesicht, beschmierte Kinn und Wangen mit Blut. »Sieh mich doch an, Ma. Sieh mich doch nur an.«

Seine Mutter brachte ein Lächeln zustande. »Ethan, Schatz, du bist müde. Du müsstest längst im Bett sein.« Ihre Stimme nahm den üblichen beruhigenden Tonfall an. Sie senkte sich auf Ethans Schultern, und er musste dagegen ankämpfen, einfach nachzugeben. Er spürte, wie seine Mutter seine Hand untersuchte und ihn dann ins Bad führte, um ihn zu verarzten.

»Ich glaube, das muss nicht genäht werden«, sagte sie, als sie seine Hand verband. Dann brachte sie ihn zurück in sein Zimmer. Ethan stieg ins Bett und starrte den leeren Spiegelrahmen an der Wand an.

»Schlaf jetzt, danach geht’s dir wieder besser«, sagte seine Mutter, und Ethan wusste nicht, ob sie mit ihm oder sich selbst sprach. »Wenn du aufstehst, machen wir was Schönes zusammen – vielleicht holen wir das Teleskop raus und suchen die Venus … oder wir sehen uns alle Star-Wars-Filme hintereinander an … das wolltest du doch schon immer, nicht?« Während sie sprach, kauerte sie auf dem Boden und sammelte die Spiegelscherben ein. Er war nicht sicher, ob sie weinte.


Eli schreckte aus dem Schlaf und setzte sich auf, rang nach Luft. Das ganze Zimmer duftete so intensiv nach Äpfeln, als hätte er direkt neben einer Apfelpresse geschlafen. Er rieb sich die Augen, konnte aber das Bild nicht loswerden, das ihm vorschwebte: schon wieder diese Frau. Sie kauerte auf dem Boden und versuchte weinend, ein scheinbar unmögliches Puzzle zusammenzufügen.

Er kannte ihre Stimme, obwohl er sie nie hatte sprechen hören. Er wusste, dass sie unter dem linken Ohrläppchen eine Narbe hatte, dass ihr Mund nach Vanille und Traurigkeit schmeckte.

Seine Mutter hatte an die Macht der Träume geglaubt. »Wenn wir wach sind«, so hatte sie immer gesagt, »sehen wir, was wir sehen müssen. Wenn wir schlafen, sehen wir, was wirklich ist.«

Er hatte sich oft gefragt, ob seine Mutter je geträumt hatte, dass sie einen Weißen heiraten würde, dass sie irgendwann an Diabetes sterben würde. Und er fragte sich, ob sie gewusst hatte, dass ihr einziger Sohn sich lieber einen Arm abhacken würde, als den Indianerglauben anzunehmen, dass Träume mehr waren als wüst drauflos feuernde Neuronen.

Diese Frau, die ihm in der Dunkelheit erschien – ihre Augen hatten die gleiche Farbe wie das Stück Seeglas, das Eli einmal am Strand von Rhode Island gefunden hatte.

Er zog sich die Decke bis zum Kinn und sank zurück aufs Kopfkissen.


Als der gellende Schrei erklang, stürzte Meredith in Lucys Zimmer. Nein, nein, nein, dachte sie. Es lief doch in letzter Zeit alles so schön normal.

Ihre Großmutter war bereits da, strich Lucy das feuchte Haar aus der Stirn und raunte ihr zu, dass alles in Ordnung sei. »Sie hört nicht auf«, sagte Granny Ruby alarmiert. »Es ist, als könnte sie mich nicht mal hören.«

Meredith legte beide Hände um das Gesicht ihrer Tochter und beugte sich dicht zu ihr. »Lucy. Hör zu. Es geht dir gut. Hier kann dir nichts passieren. Hast du verstanden?«

Lucys Blick wurde klarer, und schließlich verstummte sie. Dann begriff sie, wo sie war, und wich ans Kopfende des Bettes zurück, wo sie sich ganz klein machte. »Könnt ihr sie nicht sehen?«, flüsterte sie. »Sie ist genau da.«

Sie zeigte auf eine Stelle zwischen Meredith und Ruby, eine Stelle, an der überhaupt nichts war. Dann tauchte sie unter die Decke. »Ich soll ihr beim Suchen helfen.«

»Suchen? Wonach?«, fragte Meredith.

Aber Lucy antwortete nicht. Meredith spürte einen Schmerz in der Brust. »Granny«, sagte sie mit tonloser Stimme, »bleibst du bei ihr?«

Ohne die Antwort abzuwarten, ging sie zurück in ihr Schlafzimmer. Sie griff zum Telefon und holte die Visitenkarte hervor, die sie in ihre Nachttischschublade gelegt hatte. Sie zögerte kurz, dann rief sie Dr. Calloway an. Sie kapitulierte.


Als Ross am Abend um elf Uhr auf dem Pike-Grundstück eintraf, wartete Lia schon. »Bin ich zu spät?«, fragte er beiläufig, als hätte er damit gerechnet, sie anzutreffen. Während er seine Geräte aufstellte, beobachtete er sie aus den Augenwinkeln. Sie schien irgendwie verändert – Ross bemerkte eine zarte Entschlossenheit an ihr, die er nicht gefährden wollte, indem er sie auf die Umstände ihres letzten Abschieds ansprach. Also zeigte er ihr stattdessen die Stelle, an der er zwei Nächte zuvor die Erdhügel gesehen hatte. Er ließ sie sein neues EMF-Messgerät zur Erfassung elektromagnetischer Felder bestaunen, das frisch mit der Post eingetroffen war. Wenn sie mit ihm auf Geisterjagd gehen wollte, dann würde er sie lassen. Es war immerhin ein Anfang.

Sie fuhr sacht mit der Hand über die Videokamera auf dem Stativ. »Mein Vater hat auch eine Kamera«, sagte sie, »aber die ist größer. Wuchtiger.«

»Das hier ist eine Digitalkamera.« Ross spähte über die Lichtung. Schon jetzt empfing er starke Schwingungen von dort. »Wir sollten uns hinsetzen und abwarten, vielleicht haben wir Glück.«

»Ich darf … bleiben?«

»Ich dachte, deshalb wären Sie gekommen.«

Lia antwortete nicht, aber sie ließ sich neben ihm auf dem gefrorenen Boden nieder. Ihre Angst war wie ein Keil zwischen ihnen. Ross fragte sich, wovor sie sich fürchtete – vor einem Geist oder vor ihrem Mann. »Alles in Ordnung?«, fragte er.

Sie nickte und blickte zu dem EMF-Messgerät hinüber, dessen Nadel reglos war. »Und dieser Kompass geht los, wenn ein Geist erscheint?«, erkundigte sie sich.

»Er geht los, wenn ein Geist sich materialisiert. Der Übergang von einem Zustand zum anderen wirkt sich nämlich auf ein elektromagnetisches Feld aus. Dann hören wir ein Knistern.«

Sie schwiegen, aber es gab viele Fragen, die keiner von beiden als Erster ansprechen wollte. Irgendwann wurde Ross der Abstand zwischen seiner und ihrer Schulter bewusst. Wenn er sich nur leicht bewegen würde, könnte er sie berühren. Verdammt. Er holte tief Luft.

Es war fast zehn Jahre her, dass Ross etwas Derartiges empfunden hatte – eine körperliche Nähe, die seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, ein leises Gebet um etwas, das die Lücke zwischen ihnen schloss. Er hatte so lange nach dem Geist einer Frau gesucht, dass es ihn aus der Bahn warf, jetzt von einer realen Frau direkt neben ihm so fasziniert zu sein. Aber Lia war verheiratet, und eigentlich wollte er ja nur Aimee zurück.

Und wenn das eigenartige Sehnen, das er in Lias Nähe empfand, gar nicht sein Bedürfnis war, sie zu retten, sondern die Möglichkeit, dass sie vielleicht ihn retten könnte? Und wenn er in Comtosook gar keinen Geist finden sollte, sondern … diese eine Frau?

Aimee ist tot. Lia ist hier

Der Gedanke schoss ihm durch den Kopf und brachte ihn derart durcheinander, dass es ihn unvermittelt in die entgegengesetzte Richtung drängte, hinaus aus dem gelben Lichtkegel und weg von Lia. »Ist was passiert?«, fragte sie atemlos.

Nein, dachte Ross, Gott sei Dank. Er stand auf und machte ein paar Schritte.

»Spüren Sie was?«

»Nein«, antwortete Ross. Ja.

Sie stand auf, trat in die Dunkelheit. »Ich aber«, murmelte sie. »Als würde alles … schärfer. Fester.«

Als sie an Ross vorbeikam, spürte er einen Lufthauch. Der helle Rand ihres Rocks strich über seine Hand, und unwillkürlich griff er danach, doch er glitt zwischen seinen Fingern hindurch wie Wind.

Das Herz war ihm zu groß in der Brust, und es schlug nicht mehr regelmäßig. Ross, der seine Liebe nicht hatte sterben lassen, als seine Geliebte starb, merkte plötzlich, dass ihn so etwas Kleines wie der Leberfleck am Knie einer Frau erregte.

Er sagte sich, dass er mit Aimee eine gemeinsame Welt gehabt hatte, dass sie ihn besser gekannt hatte als je ein Mensch in seinem Leben. Aber die Wahrheit war, dass Aimee ihn heute nicht wiedererkennen würde. Die Trauer hatte ihn verändert, den Tonfall seiner Stimme, seine Bewegungen. Aimee hatte verstanden, was Ross glücklich gemacht hatte.

Lia schien zu verstehen, was ihn zerstört hatte.

Plötzlich erklang klar und deutlich der Schrei eines Babys. »Haben Sie das gehört?«, flüsterte Lia und griff nach Ross’ Hand.

Er hatte es gehört. Aber er merkte, dass Lia nicht mehr auf das Geräusch lauschte. Sie nahm die Taschenlampe und leuchtete damit auf die Narben an Ross’ Handgelenk. »Oh«, sagte Lia, und die Lampe fiel scheppernd zu Boden, tauchte sie beide in Finsternis.

Er konnte Lia zwar nicht sehen, aber er wusste, dass sie ihre eigenen alten Wunden betastete. »Warum haben Sie mir nichts gesagt?«

»Sie haben mich nicht gefragt.« Ross zündete sich eine Zigarette an, holte damit ihr Gesicht aus dem Dunkel.

»Wann?«

»Ist eine Weile her. Damals glaubte ich nicht, dass es für mich in dieser Welt noch irgendetwas gab, wofür es sich zu leben gelohnt hätte.« Er hielt ihrem Blick stand. »Ich glaube es noch immer nicht.«

»Ich bin heute Nacht nicht hergekommen, um einen Geist zu suchen«, gestand Lia. »Ich bin gekommen, weil ich dann nicht zu Hause sitze und darüber nachdenke, ob ich ein Messer oder Tabletten oder Gift nehmen soll.« Er zitterte, als sie die Lippen an sein Ohr legte. »Ross«, raunte sie, »sag mir, wie es auf der anderen Seite ist.«

Ross hatte sich schon einmal so gefühlt, als ob jede Zelle seines Körpers bersten könnte. Hinterher, als er erwachte, sagten ihm drei Ärzte, dass er von einem Blitz getroffen worden war. Er hob eine Hand an Lias Kinn. Wenn du mich so klar sehen kannst, dachte er, dann muss ich real sein.

Wenige Meter entfernt begann das EMF-Gerät zu knistern. Das statische Rauschen begann leise und wurde rasch so laut, dass es sogar das Tosen in Ross’ Kopf übertönte. Noch nie war er Zeuge einer derart heftigen Reaktion gewesen – irgendetwas Starkes kündigte sich an. Und es war absolut erklärlich: Der Geist nutzte die Energie, die zwischen Ross und Lia entstanden war, um sich zu materialisieren.

Ross lief zu dem EMF-Gerät und versuchte, die Anzeige abzulesen. »Die Taschenlampe«, rief er Lia zu, gerade als er mit dem Schuh gegen die Lampe stieß. Das Rauschen ließ nach. Einen überzeugenderen Beweis für einen Geist hatte er nie zuvor erlebt, doch in diesem Augenblick wäre es Ross egal gewesen, wenn der Geist direkt auf ihn zugekommen wäre. Er musste Lia finden, musste den Ausdruck in ihrem Gesicht sehen.

Ross schaltete die Taschenlampe an und ließ den Lichtstrahl im Kreis wandern, aber Lia war verschwunden.

Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand im Verlauf einer paranormalen Untersuchung davonlief. Doch Lias Angst hatte nichts mit dem Nahen der Geister zu tun. Es war die gleiche Angst, die Ross empfunden hatte und die ihn noch immer zittern ließ: die Einsicht, dass er zum zweiten Mal in seinem Leben jemanden brauchte, den er nicht haben konnte.

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