ACHT


Wenn Az Thompson nachts nicht im Steinbruch arbeitete, wühlte er sich stundenlang durch das Durcheinander von Fakten in seinem Kopf.

Die Ärzte nannten so etwas Schlaflosigkeit, aber Az wusste es besser. Er ging nicht schlafen, weil er dann nicht aufwachen und sich fragen musste, warum er über Nacht nicht gestorben war.

Az war körperlich erschöpft, doch er legte sich nicht auf die Pritsche. Stattdessen beobachtete er, wie die Regentropfen auf das Dach seines Zeltes trommelten. In vier Stunden würde die Sonne aufgehen, und er würde immer noch da sein.

Plötzlich hörte er einen Schrei. Er schien gleichzeitig aus dem fernen Wald und aus Az selbst zu kommen, eher ein wehes Ziehen als ein Klang.

Da – wieder der Klang.

Das war kein Donner. Der Ton war zu tief für ein Kind und zu kehlig für eine Frau. Nein, es war das Requiem eines Mannes, der so viel verloren hatte, dass er sich selbst nicht mehr finden konnte. Jemand wie … ja, er selbst.

Az seufzte. Er glaubte nicht an den ganzen mystischen Quatsch, aber er wusste auch, dass die Vergangenheit in vielerlei Verkleidungen wiederkehren konnte, als schriller Schrei einer Eule oder auch als die Augen eines Fremden, die einem auf der Straße hinterherblickten. Und wer sollte besser wissen als er, dass man, wenn man seiner eigenen Geschichte den Rücken kehrte, umso leichter von ihr überrumpelt werden konnte.

Andererseits war da draußen vielleicht nur jemand im Dunkeln gestolpert und hatte sich verletzt.

So oder so, dachte Az müde, er würde nachsehen müssen.


Ross saß auf dem Boden des Zeltes, Az Thompsons Indianerdecke um die Schultern gewickelt. Hose und Hemd waren völlig verdreckt. Das nasse Haar fiel ihm in die Augen, während er den Instantkaffee trank, den der alte Mann mit einem batteriebetriebenen Tauchsieder zubereitet hatte. Er zitterte wie Espenlaub, nicht wegen der Feuchtigkeit, die ihm bis ins Mark drang, sondern wegen einer Frau, die nach Rosen duftete. Einer Frau, in die er sich … verliebt hatte. Eine Frau, die nicht mehr lebte.

»Alles in Ordnung?«, fragte Az.

Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.

Ross konnte nicht antworten. Er beugte den Kopf zum Kaffeebecher und nahm einen Schluck, der ihm heiß in der Kehle brannte. Tränen schossen ihm in die Augen.

Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie ihre Haut durchscheinend wurde. Er hatte das Entsetzen in ihrem Gesicht gesehen, als sie auf den Grabstein hinabblickte und ihren Namen sah. Sie hatte keine Ahnung gehabt, genauso wenig wie Ross. Ross, der sich intensiv mit dem Übersinnlichen beschäftigt hatte, der wusste, dass ein Dämon faulig stank und dass ein Poltergeist seine Energie aus jungen Mädchen zog, hatte nicht gewusst, dass ein Geist einen Kuss erwidern konnte.

Konnte ein Geistwesen auch wegen eines geliebten Menschen zurückkehren, den es noch gar nicht kennengelernt hatte?

Die Pritsche quietschte, als Az sich daraufsetzte. Er faltete die Hände im Schoß und starrte Ross mit brennenden schwarzen Augen an. »Wollen Sie drüber reden?«, fragte Az leise.

Ross schüttelte den Kopf. Er konnte nicht.


Eli saß auf der Couch und wartete, während Shelby Wakeman sich oben anzog. Er saß auf der linken Seite, fürchtete dann aber, wenn sie zurückkam, könnte sie denken, er hätte es sich gemütlich gemacht, mit dem Arm auf der Lehne, also rutschte er in die Mitte und drehte seine Uniformmütze in den Händen, bis Shelby ins Zimmer kam und die ganze Luft wegnahm, einfach so.

»Tut mir leid. Normalerweise gehe ich nicht an die Tür, wenn ich noch nicht präsentabel bin.«

»Präsentabel?«, fragte Eli.

»Richtig angezogen und so weiter.« Shelby lächelte verlegen und setzte sich Eli gegenüber, strich sich das Haar hinter die Ohren. »Und Ross hat wirklich … keinen Ärger?«

»Mit mir jedenfalls nicht«, versicherte Eli ihr.

Eli hätte auch bis zum nächsten Morgen warten können. Doch er war so mit dem Rätsel beschäftigt gewesen, das durch Frankies DNA-Ergebnisse noch verwirrender geworden war, dass er auch um diese Zeit dringend jemanden brauchte, der ihm weiterhalf. Gray Wolfs DNA war nicht an dem Seil gewesen, doch damit schied er als Mordverdächtiger nicht unbedingt aus. Vielleicht war Spencer Pikes DNA an dem Seil, doch damit war er nicht automatisch der Täter. Die Frage blieb, wer hatte Cissy Pike ermordet? Und war sie in jener Nacht das einzige Opfer gewesen?

Eli versuchte, sich das alles in Erinnerung zu rufen – und dass er nicht in dieses Haus gekommen war, weil Shelby Wakeman ihm seit drei Wochen durch den Kopf geisterte. Sie roch nach Äpfeln, genau wie sein Schlafzimmer morgens, wenn er von ihr geträumt hatte. Jetzt sah sie noch schöner aus.

Eli räusperte sich. »Ich, äh, ich halte es für möglich, dass Ihr Bruder nützliche Informationen zu einem Fall hat.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Ross geht kaum aus, und wenn er in letzter Zeit außer Haus war, dann um zu arbeiten.«

»Auf Geisterjagd«, sagte Eli.

»Ja.« Shelby hob den Kopf. »Sie denken bestimmt, er ist ein Spinner.«

Eli wollte schon nicken, aber dann stammelte er: »Ich weiß nicht, was ich denke.«

Shelby wurde es plötzlich heiß, und sie stand abrupt auf, murmelte etwas, was sich anhörte wie xerothermisch, während sie sich abmühte, ein Fenster zu öffnen, das klemmte. »Moment«, sagte Eli und trat neben sie. Ihre Schultern berührten sich. Eli riss das Fenster mit zu viel Wucht nach oben, und ein kühler Luftzug fiel wie eine Guillotine zwischen sie.

»Danke.«

Eli starrte sie an. »Gern geschehen.«

Was immer Eli auch sagen wollte – und in dem Augenblick hätte er wirklich keine Worte finden können –, es ging in einem Hagel von Schritten unter, die die Treppe hinuntergepoltert kamen. »Verzeihung. Ich wusste nicht, dass da oben jemand schläft.«

»Ethan hat nicht geschlafen«, sagte Shelby, als der Junge ins Zimmer kam. Er war klein, mager und trug für die Jahreszeit viel zu viele Kleidungsstücke. Eine Mütze überschattete seine Augen, doch obwohl sein Gesicht halb bedeckt war, konnte Eli sehen, dass die Haut des Jungen milchweiß wie Porzellan war. Eine Hand war bandagiert, und die andere hatte an mehreren Stellen Blasen, als wäre sie in kochendes Wasser getaucht worden. Er hatte das lebhafte Lächeln seiner Mutter.

»Ethan, du kannst nach draußen«, sagte Shelby im Befehlston.

»Aber es regnet …«

»Nicht mehr. Geh.« Sie wartete, bis die Tür ins Schloss fiel und seine Skateboardräder über die Zufahrt ratterten. Dann wandte sie sich Eli zu und verschränkte die Arme, eine ganz andere Frau als die, die er eben noch vor sich gesehen hatte. »Das ist mein Sohn.«

Eli sah, wie ihre Finger sich in die Haut ihrer Arme gruben. Sie stand stocksteif da.

»Sie denken, mit ihm stimmt was nicht«, sagte sie vorwurfsvoll.

Er hätte ihr gern mit der Hand über den Rücken gestrichen. Er hätte sie gern in die Arme genommen.

»Eigentlich«, sagte Eli, »hab ich gerade gedacht, er sieht aus wie Sie.«


Der Laut war kaum zu vernehmen, doch er hallte durch Spencer Pikes Schädel. Wie viele Kissen er sich auch über den Kopf legte, das Schreien des Babys hörte er trotzdem noch. Spencer wand sich, zerkratzte sich die Ohren, bis ihm Blut in den Pyjamakragen lief.

»Mr. Pike! Um Himmels willen. Ich brauche hier jemanden, der mir hilft!«, schrie die Krankenschwester in die Sprechanlage.

Zwei Pfleger waren erforderlich, um Spencer die Arme nach unten zu drücken, bis er am Bett festgeschnallt war. »Das Baby«, keuchte Spencer, während die Krankenschwester die tiefen Kratzwunden um seine Ohren betupfte. »Schafft das verfluchte Baby weg.«

»Hier ist kein Baby. Sie hatten bestimmt einen Albtraum.«

Tränen liefen ihm über das Gesicht. Das Geräusch zerriss ihm den Schädel. Wieso konnten sie es nicht hören? »Das Baby«, schluchzte er.

Die Krankenschwester gab ihm eine Beruhigungsspritze. »Gleich geht’s Ihnen wieder besser.«

Aber das stimmte nicht. Er würde nur einschlafen, und im Schlaf würde das Baby auf ihn warten. Er lag ganz still da, starrte an die Decke, während das Beruhigungsmittel sich in ihm ausbreitete. Er spürte, wie seine Hände sich entspannten, dann die Beine und schließlich sein Kiefer. »Wann werde ich sterben?«, dachte Spencer, doch er hatte offenbar laut gesprochen.

Denn die Krankenschwester blickte ihn unverwandt mit ihren braunen Augen an. »Bald«, sagte sie sanft.

Spencer seufzte. Ihre Antwort brachte ihm größere Erleichterung, als es irgendein Medikament vermocht hätte.


Männer, fand Meredith, waren ein Accessoire. Man brauchte nicht unbedingt einen, um sein Aussehen zu vervollkommnen.

Jetzt, um kurz vor elf Uhr abends, war sie auf dem Weg nach Hause. Die Fahrt vom Büro war die einzige Zeit am Tag, zu der sie es sich erlaubte, an andere Dinge als an ihre Arbeit zu denken.

Es regnete. Meredith dachte an Lucy, bei der sich noch immer keine Besserung abzeichnete, obwohl sie das Risperdal nicht mehr nehmen musste. Eher war ihre Tochter noch wunderlicher geworden – sie sprach beim Frühstück mit Leuten, die gar nicht da waren, und schnallte im Auto auf dem Sitz neben sich etwas nicht Vorhandenes an. Meredith hatte eine Schwäche für wissenschaftliche Tatsachen, sagte sich aber, dass ihre Tochter die genetische Anlage zu blühender Phantasie in sich trug.

Sie bog in die Einfahrt zum Haus. Nur im Wohnzimmer brannte noch Licht. Die beiden schliefen längst. Meredith stieg steifbeinig aus dem Wagen. Einen Augenblick lang stockte ihr der Atem angesichts der wunderschönen Sternennacht. Sie brachte so viel Zeit dafür auf, sich die winzigsten Elemente des Menschseins anzuschauen, dass sie manchmal vergaß, wie einfach die Welt doch sein konnte.

Meredith trat ins Haus und sah, dass Lucy auf der Treppe saß, komplett angezogen. Sie starrte geradeaus auf einen Koffer zu ihren Füßen. »Luce?«, sagte sie, doch ihre Tochter reagierte nicht.

»Sie kann dich nicht hören.«

Ruby kam die Treppe herunter. Ihr langes, weißes Haar wie eine Wolke, die Hände Halt suchend um das Geländer gelegt. »Sie schlafwandelt.«

Sie schlafwandelt? Lucys Augen waren offen. »Bist du sicher?«, fragte Meredith ihre Großmutter. »Bist du schon mal schlafgewandelt?«

Ruby beugte sich zu Lucy hinab und half ihr hoch. »Ich kannte mal jemanden, der das oft getan hat.«

Lucy folgte Ruby nach oben, fügsam wie ein Lamm. Meredith wollte ihnen nach und stolperte über den Koffer. Er klappte auf, und der Inhalt ergoss sich zu ihren Füßen: ein Berg von Puppen. Es waren Puppen, mit denen Lucy seit Jahren nicht mehr gespielt hatte, und sie starrten zu Meredith hoch, mit glasigen Augen.


Wenn man zu einem Haus kommt, in dem Menschen wohnen, die man liebt, und man einen Streifenwagen davor stehen sieht, hat man das Gefühl, als würde einem das Herz unter Strom gesetzt. Ross sprang aus seinem Wagen, rannte die Einfahrt hoch und rief, schon während er die Tür aufriss, Shelbys Namen.

Sie stand sofort auf. »Ross!« Er musterte sie und Ethan, der mit seinem Skateboard hinter Ross hereingekommen war, und blickte dann den Cop an, der im Wohnzimmer stand.

Etwas verspätet merkte er, dass Shelby seine verdreckte Kleidung und sein nasses Haar registrierte. Bestimmt hatte sie die Polizei verständigt, weil sie sich seinetwegen Sorgen machte – das traute er seiner Schwester ohne Weiteres zu. »Es sieht schlimmer aus, als es ist«, sagte Ross. »Aber mir geht’s gut. Ihr könnt die Suchtrupps zurückpfeifen.«

Da trat Eli Rochert vor. »Eigentlich«, sagte er, »bin ich hier, um Sie zu bitten, bei uns mitzumachen.«


Ross wollte in seinem Zimmer in Shelbys Haus sein, bei ausgeschaltetem Licht und mit einer Flasche Jameson’s neben sich, während er mit der Spitze eines Messers Lias Namen in seinen Arm ritzte. Vielleicht würde es bluten, vielleicht würde es wehtun – nein, weder noch, darauf würde er wetten. Er wusste, was anscheinend sonst niemand ahnte – er war schon tot, sein Körper hinkte nur noch ein wenig hinterher.

Im Verhörraum des Polizeireviers von Comtosook zu sitzen, mit Eli und dessen Ungetüm von Hund, stellte eine ganze andere Form von Folter dar, wie er fand. Auf dem Tisch lagen Beweisfotos von der toten Lia, von den Schuhen, die sie getragen hatte, sogar von dem Kleid, das sie angehabt hatte, als sie ihm erschienen war. Der Anblick der Fotos war ein tieferer Schnitt, als Ross ihn sich hätte selbst zufügen können.

»Sie, äh, haben bei unserem letzten Gespräch gesagt, Sie hätten angefangen, die Hintergründe von Cecelia Pikes Tod zu erkunden«, sagte Eli.

»Lia«, murmelte Ross. »Sie möchte Lia genannt werden.«

»Dann … haben Sie sie gesehen?«, fragte Eli.

»Sie werden mir sowieso nicht glauben, also, warum fragen Sie überhaupt?«

Eli zögerte, dann antwortete er. »Mr. Wakeman, vor einer Woche haben Sie mich gebeten, einen siebzig Jahre alten Fall wieder aufzunehmen. Obwohl ich Bedenken hatte, habe ich es getan. Und mein Interesse ist so groß, dass ich der Sache weiter nachgehen möchte, obwohl ich dafür meine Freizeit opfern muss.« Er legte die Hände flach auf den Tisch. »Sie haben angedeutet, dass Spencer Pike vielleicht mit dem Mord zu tun haben könnte. Wie kommen Sie darauf?«

»Die Abenaki erheben Anspruch auf das Land. Pike reagierte aufgebracht, als ich die Sache ansprach. Und Geister kommen nur dann zurück, wenn sie einen guten Grund haben. Ich dachte, wenn es auf dem Grundstück einen Geist gibt, dann ist es ein Indianer – vielleicht sogar der, dem der Mord angelastet wurde. Aber der Geist, den ich dann gefunden habe, war Lia.« Er wandte den Blick ab. »Tut mir leid, dass Sie Ihre Zeit verschwendet haben.«

»Vielleicht war es ja keine Zeitverschwendung«, sagte Eli. »Falls Sie recht haben, wäre es doch denkbar, dass an dem Tod von Lia Pike tatsächlich etwas nicht stimmt.«

Plötzlich stand Ross ihr Gesicht vor Augen, und er sprang auf, um zu gehen, ehe er vor diesem Cop die Fassung verlor. »Wenn man mit achtzehn Jahren ermordet wird, dann stimmt weiß Gott was nicht. Aber ich möchte jetzt wirklich gehen, Officer Rochert …«

»Darf ich Ihnen nur noch rasch etwas zeigen?« Eli reichte Ross den siebzig Jahre alten Tatortbericht. »Pike sagt, Gray Wolf hat sie erhängt. Die Beamten vor Ort haben Anzeichen für einen Kampf festgestellt. Es gibt jede Menge Fotos, von dem Vordach, an dem die Tote gehangen hat, von Fußspuren, von einer zerschlagenen Fensterscheibe im Schlafzimmer. Ich habe DNA, die mit dem Blut des Opfers übereinstimmt, plus DNA von zwei verschiedenen Männern, die nachweislich am Tatort waren.«

Ross schluckte. »Hört sich an, als könnten Sie bald beweisen, dass Pike recht hat.«

Eli fuhr fort, als ob Ross nichts gesagt hätte. »Es gibt aber auch Beweise, die keinen Reim ergeben. Deshalb frage ich mich, ob Sie nicht richtig damit liegen, dass Spencer Pike Gray Wolf loswerden wollte. Und möglicherweise auch seine Frau.«

»Hören Sie.« Der Raum drehte sich vor Ross’ Augen. »Ich kann jetzt nicht darüber reden.«

»Sie sollen auch nicht reden. Sie sollen mir helfen.«

Ross blickte auf. »Ich bin kein Polizist.«

»Nein«, sagte Eli ruhig. »Aber Sie können anscheinend Dinge finden, die wir anderen nicht sehen können.«


LISTE DER BEI DER HAUSDURCHSUCHUNG GEFUNDENEN GEGENSTÄNDE: Mordfall Pike, 19. Sept. 1932

GEGENSTÄNDE VOM VORDACH DES EISHAUSES:

Abgeschnittene Schlinge, Lederbeutel, Pfeife

Fotografien: Sägemehl mit Fußspuren, abgeschnittener Leichnam

GEGENSTÄNDE VOM LEICHNAM:

Schuhe, Kleid, Unterwäsche/ Damenbinde

Fotos: Obduktion

GEGENSTÄNDE AUS SCHLAFZIMMER:

Fotografien: zerbrochene Fensterscheibe

Fotografien: Räume des Hauses – durchwühlt

Namensliste für geplante Dinnerparty in der folgenden Woche

Bettlaken, Kopfkissen, Tagesdecke, Nachthemd – befleckt

Windeln, Waschschüssel


Als Ross nach Hause kam, wurde es Tag. Er ging ins Haus, dankte einem Gott, an den er nicht mehr glaubte, dass Shelby anscheinend nicht auf war. Er eilte in sein Zimmer, schloss die Tür hinter sich, kroch vollständig angezogen ins Bett und verzweifelte. Er sehnte sich nach einer Frau, die genauso empfand wie er – als hätte ihr etwas gefehlt, bis sie sich kennenlernten, einer Frau, die bereit war, alles aufzugeben, um ihm von einer Welt in die andere zu folgen, überzeugt, dass jede Sekunde, die sie unglücklich allein gewesen war, nur zu der Begegnung mit ihm geführt hatte.

Er wollte eine Frau, die es nicht gab.

Es klopfte an der Tür. Ross ignorierte es.

»He.« Shelby setzte sich auf die Bettkante, legte eine Hand sachte auf die Stelle der Decke, wo seine Schulter war. »Ich weiß, dass du nicht schläfst.«

Er zog die Decke ein Stück herunter. »Woher?«

»Weil du nie schläfst.«

Er sah zu, wie Shelby den Rand der Decke zu einem Fächer faltete, den sie sofort wieder auseinanderfallenließ. »Was wollte der Polizist von dir?«

»Nichts.«

»Er kommt extra den weiten Weg hierher und nimmt dich mit aufs Revier wegen nichts?«

»Lass mich in Ruhe, Shelby. Wenn du jemanden bemuttern willst, geh zu deinem Sohn.«

»Mein Sohn weint aber nicht.«

Ross berührte seine Wangen – verdammt, er hatte es nicht mal gemerkt. »Ich kann jetzt nicht.«

»Ross, red mit mir …«

Er drehte sich auf den Rücken, legte den Arm über die Augen. »Shel, hör mal. Ich habe nicht erfahren, dass ich nur noch sechs Wochen zu leben habe, leider. Ich habe auch nichts verbrochen. Ich hatte bloß eine richtig beschissene Nacht, die mich daran erinnert hat, warum es nichts bringt, sich zu verlieben. Also geh wieder in dein Zimmer oder in die Stadtbücherei oder egal wohin und lass mich allein, ja?«

»Wer ist sie?«, fragte Shelby.

Ross stützte sich auf einen Ellbogen. »Sie«, sagte er, »ist der Geist einer Frau, die vor siebzig Jahren ermordet wurde.«

Shelbys Mund klappte auf, und Ross sank wieder aufs Kissen. »Voilà.«

»Du hast einen Geist gesehen?«

»Ich hab einen Geist gesehen. Ich hab einen Geist berührt. Ich hab einen Geist geküsst.«

»Du hast einen Geist geküsst

»Ich hab mich so heftig in einen Geist verliebt, dass ich innerlich noch ganz wund bin.«

»Ross, bitte …«

»Nicht, Shelby. Sag nichts. Ich weiß hundertprozentig, was da draußen mit mir passiert ist und was nicht.«

Seine Stimme klang jetzt schrill, seine Augen blickten wild. »Ross«, sagte sie sanft, »es gibt keine Geister.«

Er sah sie an. »Woher willst du das wissen?«

Shelby wollte etwas entgegnen, aber dann begriff sie, dass sie dieses Gefühl, das ihn quälte, nur zu gut kannte: Sie hoffte auf das Unmögliche, darauf, dass die Forschung in absehbarer Zukunft vielleicht doch noch ein Mittel gegen XP fand. Plötzlich verstand sie, dass Ross, ob sein Geist nun real war oder nicht, im Augenblick einfach fest daran glauben musste. Und es war wichtig für ihn, dass auch sie daran glaubte.

Ross presste sich die Handballen gegen die Augen. »Gott, vielleicht bin ich ja tatsächlich verrückt.«

»Du bist nicht verrückter als alle anderen.« Shelby strich ihm durchs Haar. »Verliebtheit ist bloß ein anderes Wort für nicht klar sehen können. Wenn man einen Menschen liebt – erst dann wird er real.«

»Sie ist fort«, sagte Ross mit erstickter Stimme. »Sie hat mich verlassen.«

Shelby beugte sich hinab und gab ihm einen Kuss oben auf den Kopf. »Dann such sie.«


»Verdammt«, sagte Eli, als er den Krach hörte. Er lief aus dem Badezimmer nach unten, das Gesicht noch halb mit Rasierschaum bedeckt, und stellte Watson unter dem Couchtisch, unter den er sich verkrochen hatte. Ein kurzer Rundblick durchs Wohnzimmer verriet ihm, dass entweder bei ihm eingebrochen worden war oder dass ein schwerer Hund irgendetwas gejagt hatte. Der Fernseher war heruntergefallen, die Sofakissen lagen auf dem Boden verteilt, und ein Stuhl war gegen das Fenster gekippt und hatte die Scheibe zerschlagen. Eli ging vor dem Hund in die Hocke. »Gib sie mir.« Er hielt ihm eine Hand hin, und Watson öffnete verlegen den Mund, um die Maus herausfallen zu lassen.

Eli warf sie durch das kaputte Fenster nach draußen. »Na prima, Watson.« Der Hund winselte und drückte die Nase in den Teppich. Eli ging seufzend zum Fenster und stellte den Stuhl gerade. Da die Scheibe von innen zerschlagen worden war, lagen die meisten Scherben irgendwo zwischen den Azaleensträuchern.

Plötzlich fuhr Eli herum und lief ins Schlafzimmer, um den Umschlag mit den Tatortfotos von dem Pike-Fall herauszusuchen. Die Bilder waren siebzig Jahre alt, aber er sah, was ihn interessierte: Cissy Pikes Schlafzimmer. In der Mitte des Fotos war das Bett, aber direkt dahinter befand sich das Fenster. Und außen auf der Fensterbank lag etwas Glänzendes. Was war mit dem Fußboden?

Eli kratzte sich die Wange, bemerkte, dass er noch immer Rasierschaum im Gesicht hatte. »Wenn ich fertig bin, Watson«, sagte er, »machen wir eine kleine Spritztour.«


Rod van Vleet schob sein Gesicht bis fast an Ross’ Nasenspitze. »Hab ich richtig gehört?«, sagte er. »Sie haben tatsächlich einen Geist gefunden?«

Ross nickte. »Das sollte ich doch, oder?«

»Nein!« Rod warf die Hände in die Luft. »Sie sollten Haus und Grundstück überprüfen. Ich hab doch nicht damit gerechnet, dass Sie was finden.« Er setzte sich in dem engen Baucontainer Ross gegenüber. »Was soll ich denn jetzt machen? Weihwasser verspritzen?«

»Es geht nicht um einen Dämon. Bloß um einen Geist.«

»Ach so, hervorragend«, sagte Rod. »Und was mache ich, bitte schön, wenn der Geist meinen Mitarbeitern auf die Pelle rückt?«

»Das ist unwahrscheinlich. Curtis Warburton hat immer gesagt, dass Geister sich meistens nur um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.«

»Dann wird es ihm ja bestimmt nichts ausmachen, woanders rumzuspuken.«

Ross schüttelte den Kopf. »Menschliche Geister gehen nur dann woandershin, wenn sie es wollen. Wenn sie einem Ort emotional verbunden sind, dann bleiben sie, wo sie sind.«

Rod schwieg eine Weile. »Wenn ein Richter diesen Schwachsinn glaubt und denkt, dass hier ein Geist sein Unwesen treibt, verliere ich meine Baugenehmigung«, sagte er schließlich. »Das heißt, einer von uns muss hier verschwinden … und ich bin sicher, für ein entsprechendes Honorar können Sie den Pike-Besitz zur geistfreien Zone machen.«

Die Farbe wich aus Ross’ Gesicht. »Ich kann sie nicht dazu bringen zu gehen.«

»Dann such ich mir eben jemanden, der das kann.«

Sie starrten einander an, bis Ross ohne ein weiteres Wort aus dem Baucontainer stürmte. Rod sah ihm nach. Die Arbeiter, an denen er vorbeiging, verzogen keine Miene. Aber schließlich wurden sie auch dafür bezahlt, ihre Arbeit zu machen – und kleinere Erschwernisse wie gefrorener Boden im August wurden zumindest mit gut bezahlten Überstunden entschädigt. Er hatte es auf seiner Baustelle also mit einem Geist zu tun. Na und? Vielleicht konnte er sogar Profit daraus schlagen. Ein Restaurant »Spuknapf« aufmachen oder ein Café »Geist-Reich«.

Oder vielleicht sollte er hier gar kein Einkaufszentrum bauen, sondern eine gruselige alte Pension, wenn er schon einen Geist hier hatte.


Das forensische Labor in Montpelier behandelte Fälle in der Reihenfolge ihrer Dringlichkeit. Es konnte also durchaus passieren, dass Beweismittel in einem Mordfall binnen eines einzigen Tages untersucht wurden, bei einem einfachen Einbruch dagegen erst nach Wochen. Eli wusste das natürlich, und genau das war der Grund, warum er jetzt mit Tuck Boorhies, einem Labortechniker, mit dem er bereits früher zusammengearbeitet hatte, sprach. »Ein Mord?«, sagte Tuck. »In Comtosook?«

»Richtig«, sagte Eli. Er erwähnte nicht, dass die Tat siebzig Jahre zurücklag.

Tuck nahm das Foto, das Eli dabeihatte. »Du liebe Güte. Wieso denn schwarz-weiß?«

»Wie lange brauchst du?«

»Wie lange willst du mir hier noch auf die Finger gucken?«, erwiderte Tuck, während er bereits den Ausdruck in den Computer einscannte. »Also, welchen Teil soll ich vergrößern?«

Eli zeigte es ihm auf dem Bildschirm, und der Computer zoomte das Schlafzimmerfenster mit dem Holzboden davor heran. Der Techniker drückte Knöpfe, manipulierte den Kontrast. »Was siehst du?«, fragte Eli.

»Einen Fußboden.«

»Was siehst du auf dem Fußboden?«

»Nichts«, sagte Tuck.

Eli grinste. »Genau.«

Zehn Minuten später hatte er einen Ausdruck von dieser und einigen anderen Vergrößerungen, darunter eine von einer Zoomaufnahme, die draußen vor dem Haus unter dem Fenster von Cecelia Pike gemacht worden war. Dort lagen neben dem Fuß der Leiter, die noch immer am Haus lehnte, kleine blinkende Stückchen im Gras, die aussahen wie Glasscherben. »Im Zimmer ist kein Glas«, sagte Eli eine halbe Stunde später auf der Heimfahrt zu Watson, der hechelnd neben ihm im Pick-up saß. »Aber draußen ist Glas. Das bedeutet, dass niemand sie rausgeholt hat. Sie ist ausgebrochen. Aber wenn sie entführt wurde, warum hätte sie dann ausbrechen sollen?«

Eli verlangsamte das Tempo, als ein Wagen ihn überholte. »Weil sie gar nicht entführt wurde, ganz einfach. Sie ist weggelaufen. Wieso klettert jemand aus dem Fenster, statt die Tür zu benutzen? Weil er nicht gesehen werden will. Oder weil die Tür von jemand anderem abgeschlossen wurde. Und warum zerschlägt er die Scheibe? Weil das Fenster ebenfalls verriegelt wurde.«

Er sah seinen Hund an. »Nächste Frage: Warum war unten im Haus alles durchwühlt? Pike sagt im Polizeibericht aus, Gray Wolf sei durch das kaputte Schlafzimmerfenster eingestiegen. Wenn das wahr wäre, dann wäre er nicht mit dem Opfer die Treppe heruntergegangen – er hätte denselben Weg genommen, auf dem er gekommen war. Das heißt, jemand anders muss das Chaos im Haus angerichtet haben.« Er überlegte, wer etwas davon gehabt hätte, die Tat zu inszenieren. Dann setzte Eli den Blinker und nahm die Ausfahrt. »Alle Wege«, sagte er, »führen zu Spencer Pike.«


GERICHTSMEDIZINISCHER BERICHT

TODESURSACHE: ERHÄNGEN

TODESART: SELBSTMORD

Weitere Feststellungen:

Das Opfer hat nicht lange vor der Tat entbunden; Entbindung termingerecht oder ein wenig früher.


ÄUSSERLICHE UNTERSUCHUNG

Es handelt sich um den Körper einer voll entwickelten, gut genährten weißen Frau, deren Aussehen dem festgestellten Alter entspricht. Das Haar ist blond. Die Augen sind braun. Die Pupillen sind gleich groß und haben je einen Durchmesser von sechs Millimetern. Die Körperlänge beträgt 158 cm, das Körpergewicht 56 kg. Keine sichtbaren Narben. Die Totenstarre ist gering. Geringe Totenflecke an Händen, Unterarmen, Füßen und Beinen. Die Rückseite des Rumpfes weist ebenfalls eine leichte Verfärbung auf.

Die Augen stehen vor. Am Hals ist eine zwei Zentimeter breite, rote Furche erkennbar, die vorn ausgeprägter ist als hinten. Sie erstreckt sich von knapp oberhalb des Schildknorpels bis zur Höhe der Ohren. In der Haut oberhalb der Furche sind Petechien erkennbar. Aus Mund und Nasenlöchern ist blutiger Schleim ausgetreten. Die Zunge ragt heraus, und die Zungenspitze ist schwärzlich und trocken. In der Haut des Halses sind parallele Kratzspuren festzustellen.

Thorax: Die Brüste sind vergrößert. Keine Ekchymosen erkennbar.

Unterleib: Der Unterleib ist gewölbt und weist Schwangerschaftsstreifen auf. Der Uterus ist zehn Zentimeter oberhalb des Schambeins tastbar.

Extremitäten: Zahlreiche Ekchymosen an Schienbeinen und Handgelenken.


INNERE UNTERSUCHUNG

Die Öffnung des Körpers erfolgt über den üblichen Y-Schnitt. Die Thorax- und Unterleibsviszera sind normal positioniert. Es ist keine Pleural- oder Peritonealflüssigkeit nachweisbar. Die Untersuchung des Halses ergibt keinerlei Anzeichen für eine Fraktur des Schildknorpels oder des Zungenbeins. Ekchymosen befinden sich nur unterhalb der äußerlich erkennbaren Furche.

Die rechte Lunge wiegt 300 Gramm, die linke Lunge wiegt 280 Gramm. Geringe Kongestion in beiden unteren Lungenlappen im hinteren Bereich. Das Herz wiegt 350 Gramm. Keine Anomalitäten erkennbar.

Die Leber wiegt 1200 Gramm, und die Sektion ergibt einen Inhalt von 600 ccm flüssigem Blut. Die Leber hat eine leichte Muskatnussfärbung. Bauchspeicheldrüse und Gallenblase sind unauffällig. Die Milz wiegt 100 Gramm. Sie ist äußerlich und, wie die Sektion ergibt, auch innen unauffällig. Der Magen enthält eine kleine Menge teilweise verdauter Speisen. Tabletten sind nicht erkennbar. Die Gedärme weisen keinerlei Anomalitäten auf.

Nieren, Harnleiter und Blase sind normal angeordnet und abgegrenzt.

Der Uterus wiegt 450 Gramm. Die Gebärmutterwand ist zwei Zentimeter dick und hämorrhagisch. Der rechte Eierstock weist ein zwei Zentimeter großes Corpus luteum auf, der linke Eierstock ist unauffällig.

Bauchaorta und Hohlvene sind unauffällig. Es liegen geringfügige postmortale Blutungen vor. Gehirn und Rückenmark weisen keine signifikanten Anomalitäten auf.


MIKROSKOPISCHE UNTERSUCHUNG

Sektionen des blutunterlaufenen Bereichs an der rechten Körperseite zeigen eine geringe Anzahl von segmentierten Neutrophilen um die ausgetretenen roten Blutkörperchen herum. Sektionen der Lunge zeigen leichte Kongestion und Ödeme. Anzeichen für eine Lungenentzündung liegen nicht vor. Sektionen des Leberhämatoms bestätigen den Eindruck, dass keine erkennbare Blutverteilung vorliegt. Sektionen der übrigen Eingeweide ergeben keine Auffälligkeiten.


»Übersetz mir das, Wesley«, sagte Eli. Er saß auf der Veranda des alten Mannes, ein Glas Limonade in der Hand.

Wesley Sneap war der einzige Arzt des Ortes gewesen – und bis 1985 auch als Coroner eingesprungen. Jetzt lebte Wesley zwar im Ruhestand, hatte aber noch immer ein Mikroskop und ein provisorisches Labor im Keller.

»Tja«, seufzte er, »sie wurde erhängt, eindeutig. Das sieht man in ihrem Gesicht und daran, wie sie sich den Hals zerkratzt hat.«

Eli beugte sich vor, die Hände gefaltet. »Was noch?«

Der Doktor überflog den Bericht ein zweites Mal. »Einiges, was hier steht, bestätigt, dass sie kurz zuvor entbunden hat … die Dicke des Uterus, die Kolostralmilch, die Größe des Herzens. Ach, und einige Stunden vor ihrem Tod hatte sie einen Kampf mit jemandem. Sie hat Blutergüsse an Schienbeinen und Handgelenken, aber nur die Handgelenke sind als Reaktion auf die Verletzung geschwollen. Die Blutergüsse an den Schienbeinen nicht, weil sie schon tot war, bevor eine Zellreaktion erfolgen konnte. Hat wahrscheinlich wie verrückt um sich getreten, um sich zu befreien.«

»Wann ist der Tod eingetreten?«

»Mal sehen.« Wesley legte die Stirn in Falten. »Nichts im Magen, aber sie war ja schließlich mit der Geburt beschäftigt. Aber es lässt sich einigermaßen bestimmen, wie lange sie gehangen hat … sie hatte schon Totenflecke – also Hautverfärbungen durch Blutansammlungen, an Beinen und Unterarmen … sie hat mindesten vier oder fünf Stunden gehangen. Aber nicht viel länger, denn dann hätte sich nichts mehr verändert. Es hat aber eine Umverteilung des Blutes auf die Rückseite des Rumpfes gegeben, nachdem sie abgeschnitten wurde.«

»Der Ehemann hat ausgesagt, dass er die Leiche am Vormittag gegen halb elf abgeschnitten hat … aber der Mörder ist mitten in der Nacht ins Haus gekommen.«

Wesley schüttelte den Kopf. »Das haut nicht hin. Laut Obduktionsbefund muss sie gegen sechs Uhr morgens erhängt worden sein, wenn sie um halb elf abgeschnitten wurde.«

»Und wenn sie mitten in der Nacht aufgehängt wurde?«, fragte Eli.

»Dann hat man sie gegen sechs oder sieben Uhr morgens abgeschnitten. Sonst wären die Totenflecke unveränderlich gewesen und hätten sich nicht mehr auf die Rückseite des Rumpfes verteilt.«

Er nahm einen von den Objektträgern, die an den Obduktionsbericht gesteckt waren, und hielt ihn gegen das Licht. »Ha.«

»Was siehst du da?«

»Tja, mein Kollege von damals erwähnt einen Bluterguss an der rechten Körperseite, und dann spricht er von einem Leberhämatom. Offenbar ist er von einem physischen Trauma ausgegangen. Er hat gedacht, das Hämatom bestünde aus vergrößerten Blutgefäßen, als Folge eines rechtsseitigen Herzfehlers.«

»Wie bitte?«

»Man muss sich das wie ein verstopftes Rohr vorstellen: Wenn das Herz nicht gut funktioniert, staut sich alles in der Leber. Aber die Frau war auf der Stelle tot … für so eine Reaktion wäre keine Zeit gewesen.« Er blickte mit zusammengekniffenen Augen auf das Dia. »Komm mal mit nach unten. Ich will mir das genauer ansehen.«

Eli folgte Wesley hinunter in den Keller zu einem Untersuchungstisch aus Chrom und einer Arbeitsplatte voller Instrumente und Mikroskope. »Ich erinnere mich an den Fall«, sagte er. »Als ich 1943 nach Comtosook zog, sprachen die Leute noch darüber. Ja, die Jungs damals haben sich am Halloween-Abend im Wald auf dem Pike-Grundstück versteckt, damit sie am nächsten Tag in der Schule damit prahlen konnten.«

»Tatsächlich? Was haben sie denn so erzählt?«

»Eigentlich nicht viel. Das war eine Mutprobe für sie, und wenn sie wiederkamen, waren sie alle ziemlich kleinlaut. Einer von ihnen, ein richtiges Football-Ass, war mein Patient, weil er den ganzen November lang kein Wort mehr rauskriegte. Ich hab ihn nach Boston schicken müssen, zur Kehlkopfuntersuchung bei einem teuren Spezialisten.«

»Und was fehlte ihm?«

»Nicht das Geringste, körperlich. Irgendwann hat er wieder sprechen können, als wäre nie was gewesen.«

»Glaubst du, dem ist auf dem Pike-Grundstück irgendwas passiert?«

Wesley zuckte die Achseln. »Einem Körper kann so manches passieren, das nie in irgendwelchen Medizinbüchern auftaucht. Zum Beispiel, dass man an Trauer sterben kann, oder das Schwindelgefühl, wenn man verliebt ist. Ich hab keine Sekunde lang geglaubt, dass der Junge irgendwas an den Stimmbändern hatte, egal, was für neumodische Tests die Ärzte in der Stadt mit ihm anstellten. Und ich hab recht behalten.« Er schob den Objektträger unter das Mikroskop und spähte hinein. »Aha.«

»Was ist?«

»Fibrinablagerung innerhalb der periportalen Sinusoide und mikrosokopische Einblutungen. Und koagulative Nekrose in den periportalen Hepatozyten.«

»Meine Güte, Wesley. Was heißt das?«

Wesley nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. »Präeklampsie ist eine ernste Komplikation während der Schwangerschaft. Noch ernster wird sie, wenn sie das HELLP-Syndrom verursacht – das ist die Kurzform für Hämolyse, erhöhte Leberwerte, niedrige Thrombozytenzahl. Es ist erst seit gut zwanzig Jahren diagnostizierbar – und es ist heilbar, jetzt, wo man weiß, was es ist. Aber früher sah die Sache anders aus … der Zustand konnte sich rasch verschlimmern. Ich habe den Eindruck, dass das Leberhämatom eine Folge des HELLP-Syndroms ist und nichts mit irgendwelchen Schlägen zu tun hat, wie dein alter Mediziner offenbar meinte.«

»Wirkt sich das irgendwie auf meine Ermittlungen aus?«

Der Doktor schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Es bedeutet bloß, dass Cissy Pike, wenn sie nicht erhängt worden wäre, wahrscheinlich innerhalb von ein paar Tagen eines natürlichen Todes gestorben wäre.«


Spencer Pikes Haut hatte eine stumpfe, gelbe Färbung angenommen, wie faulendes Pergament. Schläuche leiteten Sauerstoff in seine Nase. In dem Blick, mit dem er zusah, wie Eli sein Tonbandgerät einschaltete, lag die Enttäuschung eines Mannes, der wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit auf dieser Erde blieb, und der nicht bereit war, sie mit einem Fremden zu teilen. »Wenn ich mich nicht irre, ist es kein Verbrechen, ein Stück Land zu verkaufen, das einem gehört.«

»Stimmt«, erwiderte Eli. Er sah kurz zu den anderen Heimbewohnern hinüber, die hier in der Cafeteria saßen und ein breiiges Mittagessen zu sich nahmen. »Ich frage mich nur, warum Sie es verkaufen wollten.«

Pike lachte. »Ich will nun mal das Luxusleben fortführen können, an das ich mich hier gewöhnt habe. Sagen Sie den Zigeunern, dass es mir gehört, Detective. Wenn ich dort eine Kirmes veranstalten will, dann ist das mein gutes Recht. Wenn ich es an weiße Rassisten verschenken will, dann ist das meine Sache. Und wenn ich es lieber an einen trotteligen Bauunternehmer verhökere, statt zu warten, bis der Staat Vermont es nach meinem Tod einsackt, dann ist auch das einzig und allein meine Entscheidung.«

Eli wurde zweierlei klar: Spencer Pike dachte, er wäre gekommen, um den Streit mit den Abenaki zu schlichten, und Spencer Pike hatte keine Ahnung, dass in Elis Adern indianisches Blut floss. Das machte er sich zunutze. »Hört sich an, als hätten Sie schon mal Ärger mit den Abenaki gehabt.«

»Das kann mal wohl sagen! Einer von denen hat meine Frau umgebracht.«

»Ja, das steht im Polizeibericht. Das muss hart für Sie gewesen sein.«

»Sie war meine große Liebe. Niemand sollte seine Frau und sein Baby am selben Tag beerdigen müssen.«

»Die Gräber sind auf Ihrem Grund und Boden, nicht wahr?«

»Ja.«

Eli neigte den Kopf. »Warum eigentlich nicht auf dem Friedhof der Kirche? Sie waren doch ein aktives Gemeindemitglied.«

»Meine Tochter wurde tot geboren«, sagte Pike. »Und meine Frau war tot. Ich … wollte sie beide nicht gehen lassen. Sie sollten an einem Ort sein, an dem sie mich finden konnten – und an dem ich sie finden konnte.« Er wandte sich ab, aber Eli sah, dass er weinte.

In dem ursprünglichen Polizeibericht war der Leichnam des Kindes mit keinem Wort erwähnt worden. Eli hatte das gemerkt und auf schlampige Arbeit zurückgeführt – jeder Gerichtsmediziner, der etwas auf sich hielt, hätte eine Obduktion an dem Kind vorgenommen. Andererseits, wenn ein einflussreicher, wohlhabender Mann anrief und den Mord an seiner Frau meldete, würde die Polizei es ihm bestimmt nicht noch schwerer machen wollen. Wenn Pike gesagt hatte, dass das Baby tot zur Welt gekommen war, dann hätten sie das nicht in Zweifel gezogen.

Die Leute sehen, was sie sehen wollen, das wusste Eli, und Polizisten waren da nicht anders. »Sie haben sie gefunden«, sagte er.

»Ich habe sie selbst abgeschnitten. Natürlich wusste ich, dass ihr von der Polizei immer genau sehen wollt … wie alles gewesen ist. Aber ich konnte ihren Anblick nicht ertragen. Sie sah aus …« Seine Stimme verlor sich. »Sie sah aus, als hätte sie Schmerzen.«

»Was war mit ihrem Vater?«

»Harry? Der war in Boston auf einem Kongress und ist auf der Stelle zurückgekommen. Er war nie mehr der Alte nach dem Mord an Cissy … hat sich zwei Jahre später zu Tode getrunken.«

Boston. Damit war er als Verdächtiger auszuschließen. »Haben Sie damals irgendwo einen Stuhl oder Hocker gesehen?«, fragte Eli. »Irgendwas, auf das Ihre Frau geklettert sein könnte?«

»Meine Frau wurde ermordet«, stellte Pike klar, die Stimme trocken wie Feuerstein. »Wenn sie Selbstmord begangen hätte, dann hätte sie zu dem Dachbalken hochfliegen müssen – der war drei Meter über dem Boden, und es war nichts da, auf das sie sich hätte stellen können.«

Eli blickte dem alten Mann unverwandt in die Augen. »Mr. Pike, ich möchte nur verstehen, was passiert ist. Durch den ganzen Wirbel, den der Verkauf Ihres Besitzes ausgelöst hat, sind wir auf ein paar Spuren bezüglich Gray Wolf gestoßen. In meinen Augen wurde der Fall damals nicht befriedigend abgeschlossen.«

»Seh ich auch so.«

Eli wartete, wusste er doch, dass Schweigen den größten Druck ausüben konnte, aber Pike gestand nichts. Eine Krankenschwester kam und sagte mit einem Lächeln: »Zeit für Ihre Physiotherapie.«

Eli legte eine Hand auf den Rollstuhl. »Haben Sie eine Ahnung, wohin Gray Wolf nach der Nacht gegangen sein könnte?«

Pike schüttelte den Kopf. »Aber wenn Sie ihn unbedingt finden wollen, Detective, dann sollten Sie als Erstes in der Hölle nach ihm suchen.«

Eli sah dem alten Mann nach, den die Krankenschwester in seinem Rollstuhl davonschob. Er wartete, bis er um die Ecke gebogen war. Dann zog er ein Paar Gummihandschuhe aus der Tasche, öffnete einen Plastikbeutel und nahm das Wasserglas des alten Mannes vom Tablett.


In Comtosook kehrte allmählich alles wieder zur Normalität zurück. Die Uhren, die vor einigen Wochen um Punkt Mitternacht stehen geblieben waren, tickten wieder. Schmetterlinge, die grau geworden waren, schimmerten in frischen Farben. Die Leuchtkäfer, die die Birken vor der Stadtverwaltung befallen hatten, waren verschwunden.

Nicht wenige Bewohner des Ortes fragten sich, warum sie sich so leer fühlten. Es fehlte ihnen etwas, das sie nie beim Namen hätten nennen können.


Shelby schaffte es mit knapper Not aus der Anwaltskanzlei ins Freie, wo sie sich übergab. Anschließend ließ sie sich auf den Bordstein sinken und begann, mit sich zu hadern. Schließlich war es ganz normal, zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben ein Testament aufzusetzen, erst recht, wenn man einen Sohn hatte.

Doch Shelby wusste nun einmal mit Sicherheit, dass ihr Hab und Gut, das sie soeben an Ethan vermacht hatte, nie ihm gehören würde.

Shelbys Wehen hatten während eines Gewitters eingesetzt. Thomas hatte sie in ihr altes Cabrio verfrachtet, dessen Dach immerzu klemmte, wenn man es schließen wollte. Auf dem Weg ins Krankenhaus wurde sie vom Regen klatschnass. Als man ihr den Kleinen auf die Brust legte, weich und klebrig wie ein Frosch, konnte Shelby den Blick nicht von ihm reißen. »Sieh doch«, hatte sie immer wieder zu Thomas gesagt, »hast du schon mal so was Schönes gesehen?«

Ethan war kräftig, mit dunklen Haaren, entschlossenen Fäustchen und blass-türkisblauen Augen. Alle waren ganz vernarrt in ihn, und auf der Straße sprachen die Menschen sie an und sagten: »Was für ein süßes Baby.« Ethans Schwächen waren, wie sich herausstellte, nicht sichtbar.

Den ersten schlimmen Sonnenbrand bekam er mit sechs Wochen. Thomas und Shelby lebten zu der Zeit in New Hampshire, an der Küste, und im Oktober, wenn die Strände leer waren, fuhren sie ins Vogelschutzgebiet auf Plum Island. Dort, an dem langen, einsamen Strand, wo ihnen die Möwen die Kräcker stibitzten, legten sie den schlafenden Ethan in den Sand und küssten sich, streichelten sich gegenseitig unter dem Pullover, die Haare ganz steif vom Salz in der Luft. »Wir führen uns auf wie die Teenager«, sagte Shelby, als Thomas den Reißverschluss ihrer Jeans öffnete. Und Thomas hatte lachend erwidert: »Teenager haben aber keine Kindersitze.«

Sie vergaßen alles um sich herum und bemerkten nicht, wie sich die Haut ihres Babys beunruhigend rot verfärbte. Ihnen war nicht klar, dass das, was sie für Ausschlag hielten, in Wirklichkeit Brandblasen sein könnten.

Die Ärzte hatten ihr nicht sagen können, ob ihre oder Thomas’ DNA den fatalen Defekt in sich trug, aber für Shelby hätte es ohnehin keine Rolle gespielt. Sie gab sich die Schuld für Ethans Zustand, sie würde ihr Leben lang versuchen, ihren Fehler wiedergutzumachen.

Niemand konnte vorhersagen, wie viel Zeit Ethan noch blieb. Der Dermatologe meinte, das hänge davon ab, wie stark Ethans Haut vor der Diagnose bereits geschädigt worden war – jede Minute, die er als Baby ungeschützt der Sonne ausgesetzt gewesen war, könnte ihn Tage seines Lebens kosten. Shelby fragte sich, wie um Himmels willen man den Körper seines Kindes in die Erde hinablassen und dann weiterleben konnte.

Sie vergrub das Gesicht in den Händen. Trotz dieses frisch aufgesetzten Testaments würde nicht Ethan ihr Porzellan, ihre Fotos, ihre alten Liebesbriefe durchgehen. Nein, Shelby selbst würde kleine Hemden zusammenfalten und für karitative Zwecke einpacken, die Fenster seines Zimmer öffnen und seinen Geruch freilassen, bis es irgendwem gehört haben könnte – und nicht ihrem wunderbaren Jungen.

Sie hörte ein Fahrzeug näher kommen, schaute aber nicht auf. Es ging niemanden etwas an, wie schlecht sie sich fühlte. Die Fenster des Wagens waren offen. Sie hörte den Klang einer Gitarre aus dem Radio.

»Ms. Wakeman?« Die Räder kamen vor ihr zum Stehen. Shelby hob erst den Kopf, als sie ein Hecheln hörte. Sie sah einen riesigen Hund, der den Kopf aus dem Fenster eines schwarzen Pick-up hängen ließ. Eine Hand schob den Schädel zur Seite, und der Polizist, der gestern Abend bei ihr gewesen war, kam zum Vorschein.

Eli. Genau. So hieß er.

Sie wischte sich über die Wangen. »Äh, hallo.«

Sie spürte, wie er sie anstarrte. Hatte Ethan diese Empfindung, wenn er in der Sonne war – spürte er diese unglaubliche Hitze an die Oberfläche seiner Haut strömen? Zu ihrer Überraschung sagte der Polizist: »Watson möchte einen Kaffee trinken gehen.«

»Watson?«

Eli tippte dem Hund auf den Kopf. »Watson.«

Shelby musste unwillkürlich lächeln, als sie sich erhob. »Der Hund trinkt Kaffee?«

Eli hielt dem Hund scherzhaft die Schlappohren zu und sagte verschwörerisch: »Er will nur nicht mehr weiterwachsen.«

Shelby lachte und war selbst erstaunt, dass sie so einen Laut noch hervorbringen konnte.

»Watson würde sich geehrt fühlen, wenn Sie uns Gesellschaft leisten würden.«

Shelby trat auf das geöffnete Fenster zu. »Watson sollte lernen, für sich selbst zu sprechen.«

Eli griff an dem Hund vorbei, und die Tür schwang vor Shelby auf. »Da haben Sie recht«, lächelte Eli. »Aber er ist einfach zu schüchtern.«


Ross nahm einen langen Zug von seiner Zigarette und warf die Kippe in die Büsche am Rand der Veranda. Er hatte festgestellt, dass es die Sache kein bisschen leichter machte, in dem Augenblick dabei zu sein, wenn man jemanden verlor, den man liebte. Dass man, auch wenn man äußerlich wie betäubt war, innerlich verbluten konnte.

Ross wusste nicht mehr, was er glauben sollte. Konnte er Lia lieben und trotzdem noch Aimee lieben? Hätte Aimee zurückkommen können, so wie Lia, und hatte es nicht gewollt? Und wenn dem so war … war dann die Bindung zwischen ihnen doch nicht so stark gewesen, wie er gedacht hatte?

Wenn er diesen Gedanken zuließ, machte der all seine Bemühungen der letzten zehn Jahre zunichte. Ross hatte versucht, seiner Verlobten zu folgen – erst indem er mit dem eigenen Tod geliebäugelt hatte, dann durch die Erforschung des Übersinnlichen. Aber vielleicht war ja ihre Beziehung, die er dem Schicksal zugeschrieben hatte, bloß reiner Zufall gewesen. Vielleicht hatte er Aimee kennengelernt, sie geliebt, sie verloren – nur damit er irgendwann später auf Geisterjagd gehen und Lia kennenlernen würde.

Wenn Ross schon mehrere Jahre gebraucht hatte, um überhaupt einen Geist zu finden, dann würde er bestimmt mehrere Leben brauchen, um einen ganz bestimmten zu finden, der nicht gefunden werden wollte.

Warum also nicht mit dem jetzigen Leben aufhören und mit dem nächsten anfangen?

Er blickte auf die Stelle auf seinem Arm, auf der er sich vor Wochen eine Zigarette gedrückt hatte. Nur wenige Zentimeter darunter war die Narbe, die ihn daran erinnerte, wie nahe er einmal dem Tod gewesen war. Es wäre nicht schwer, es noch einmal zu tun. In Shelbys Badezimmer waren jede Menge bunter Tabletten. In Ethans Nachttischschublade lag ein Schweizer Messer. Er hatte das Haus vor Wochen genau inspiziert, ein Reisender, der sich für den Notfall den schnellsten Fluchtweg überlegte.

Bloß: Ross wusste, dass er nicht so ohne Weiteres auf die andere Seite wechseln würde. Er würde ein Geist werden, der in dieser Welt festsaß, gehalten durch den Schmerz, den er seiner Schwester bereitet hatte, durch das, was er nicht für Lia getan hatte.

Vielleicht würde er Eli Rochert ja doch helfen. Vielleicht würde Lia, wenn sie irgendwo war, wo sie ihn sehen konnte, dann einen Grund haben zu bleiben … egal, was van Vleet auch unternehmen würde, um sie zu vertreiben.

Frustriert schob er die Hände in die Hosentaschen, und seine Fingerspitzen stießen gegen etwas Metallisches. Aus beiden Taschen zog er je einen glänzenden Kupferpenny aus dem Jahre 1932.

»Wo hast du die denn her?«

Ross schrak zusammen. »Wieso bist du auf?«

Ethan war von Kopf bis Fuß in Kleidung gehüllt, obwohl die Veranda vor der Sonne geschützt war. »Ich weiß nicht. Du schläfst doch auch nicht, oder?« Ethan kam näher und schaute auf die Pennys. »Wenn du noch einen Dollar drauflegst, kriegst du gerade mal eine Tasse Kaffee.«

»Die Kinder von heute sind richtige Zyniker geworden.«

»Sonst kann man die Welt ja auch nicht ertragen«, erwiderte Ethan. »Wir sind die Generation Z.«

Ross zog die Augenbrauen hoch. »Und was kommt danach?«

»Ich schätze, dann fängt wieder alles von vorn an.« Er setzte sich auf die Verandaschaukel und ließ sie vor- und zurückschwingen, während Ross sich wieder eine Zigarette anzündete. »Kann ich auch eine haben?«

»Von wegen.« Ross schüttelte den Kopf. Genau das, was ihn in den Augen der Welt zum Versager machte, ließ ihn für Jungen in Ethans Alter so cool wirken.

»Mom sagt, du sollst nicht rauchen, wenn ich dabei bin.«

»Dann verrat’s ihr nicht.«

»Okay.« Er grinste. »Außerdem wäre es doch echt überraschend, wenn ich an Lungenkrebs sterben würde anstatt du weißt schon.«

Ross lehnte sich gegen das Verandageländer. Er war hundemüde. »Ich hab gehört, wie du gestern Abend mit dem Cop über einen Geist gesprochen hast.«

»Lauschen gehört sich nicht.«

Ethan zuckte die Achseln. »Ich glaube, man kommt wirklich woandershin … nachher«, sagte er. »Was glaubst du, wie es dort ist?«

Ross spürte einen leisen Schmerz in der Brust, als er begriff, dass Ethan nicht aus Neugier fragte, sondern um sich vorzubereiten. Er erinnerte sich daran, wie er Ethan das erste Mal in den Armen hielt, wie er in die rätselhaften Augen des Babys geblickt und gedacht hatte: Wir kennen uns. »Keine Ahnung, Kumpel. Mit Harfen und Engeln rechne ich jedenfalls nicht.«

»Vielleicht ist es ja bei jedem anders«, sinnierte Ethan. »Vielleicht darf ich da oben ständig in der Sonne sein und Skateboard fahren.«

Ross lächelte den Jungen an.


»Unglaublich.« Shelby stand auf der Veranda von Abes Laden und sah zu, wie Elis Bluthund lauwarmen Kaffee aus einer Schüssel leckte.

»Das geht ja noch. Schlimm wird es, wenn er Appetit auf Pralinen und Austern bekommt.«

Watson blickte zu Shelby hoch und drückte seine Schnauze gegen ihren Bauch. »Watson!«, wies Eli ihn zurecht.

»Schon gut.« Shelby kraulte den Hund hinter den Ohren. »Vielleicht findet er mich deliziös.«

»Hoffen wir, dass das was Gutes ist.«

»Das bedeutet köstlich.«

»Der Hund hat recht«, murmelte Eli und hob seine Tasse Kaffee an die Lippen.

Shelby spürte, wie die Röte am Hals anfing und sich nach oben hin ausbreitete. »Ich muss nach Hause. Ross passt auf Ethan auf, und Sie, ähm, haben wahrscheinlich alle Hände voll mit dem Pike-Fall zu tun …«

»Hat Ihr Bruder Ihnen das erzählt?«

Shelby nickte.

»Dann wissen Sie ja auch, dass der Fall nicht gerade dringlich ist.« Er ließ sie nicht aus den Augen.

»Was heißt das?«, fragte sie zögernd.

Eli lächelte langsam. »Dass ich jede Menge Zeit habe.«


ZEUGENAUSSAGE

Datum: 19. September 1932

Uhrzeit: 23 Uhr 36

Vernehmung von: John »Gray Wolf« Delacour

Vernehmende Beamte: Officer Duley Wiggs und

Detective F. Olivette vom Polizeirevier Comtosook

Ort: Polizeirevier Comtosook

– Bitte nennen Sie Ihren Namen und Ihr Geburtsdatum.


– Gray Wolf.

– Wie lautet Ihr offizieller Name?


– John Delacour. Mein Geburtsdatum ist der 5. Dezember 1898.

– Wo sind Sie derzeit wohnhaft?


– Mal hier, mal dort.

– Wo waren Sie gestern Abend?


– Im »Rat Hole«. Einer Kneipe in Winooski.

– Wann sind Sie dort eingetroffen?


– Gegen acht.

– Um wie viel Uhr sind Sie gegangen?


– Ich weiß nicht genau … gegen Mitternacht? Eins?

– Was denn nun? Mitternacht oder eins?


– Eins.

– Kann das jemand bestätigen?


– Der Barkeeper. Er heißt Lemuel.

– Kennen Sie eine Mrs. Spencer Pike?


– [Pause] Ja.

– Woher?


– Ich hab bei ihr zu Hause ein paar Arbeiten erledigt.

– Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?


– Gestern Nachmittag.

– Wie spät gestern Nachmittag?


– Gegen drei.

– Ist Ihnen bekannt, dass Mrs. Pike heute Morgen tot aufgefunden wurde?


– Sie … sie … oh nein. Oh Gott!

– Wieso haben Sie sie ermordet?


– Ich … Himmel, nein. Ich war das nicht.

– Wir wissen, dass Sie gestern noch einmal bei ihr waren, nach drei Uhr.


– Ich war nicht mehr bei ihr. Ich schwöre.

– John, John. Es hat doch keinen Zweck uns anzulügen.


– Ich – bitte, nein, nicht schlagen! – Ich war es nicht!

– Du bist ein dreckiger, verlogener Zigeuner.


– Das ist die Wahrheit –

– Ach ja? Das ist aber seltsam, weil wir nämlich wissen, dass du sie ermordet hast. Vermisst du seit Kurzem ein paar persönliche Sachen?


– Nein.

– Was du nicht sagst. Kommt dir das hier auf dem Foto bekannt vor?


– Meine … das ist meine Pfeife.

– Sie lag am Tatort. Weil du sie dort verloren hast. Als du mit deinen dreckigen Händen eine Lady –


– Das ist nicht wahr –

– Stoppen Sie das Band, Duley. [Band stoppt.]


– [Das Band läuft weiter.] Gott, bitte … ich sage die Wahrheit. Ich sage die Wahrheit. Sie war … ich hätte ihr nie etwas tun können, niemals.

– Genau wie bei deinem letzten Opfer, John?

Verwundert blieb Ross vor der geschlossenen Tür im ersten Stock des Polizeireviers stehen. Die Sekretärin hatte ihm den Weg zu Eli Rocherts Büro beschrieben, aber vor der Tür roch es so extrem nach Klebstoff, dass Ross beinahe übel wurde. Er klopfte einmal und trat dann ein. Eli war über einen Kasten mit Plexiglasfenstern gebeugt, aus dem er gerade mit einer behandschuhten Hand ein Trinkglas nahm. »Bleiben Sie lieber draußen. Ich stinke.«

Ross trat näher. »Wie wär’s mal mit Duschen?«

Eli stellte das Glas auf den Tisch. »Na ja, nicht ich stinke, sondern der Klebstoff. SuperGlue. Das Zeug ist gesundheitsschädlich, aber es gibt nichts Besseres, um latente Fingerabdrücke sichtbar zu machen.«

»Im Ernst?« Ross sah auf den großen Hund neben dem Detective und dann auf das Glas. »Wer hat das denn ausgeklügelt?«

»Eine Filmgesellschaft in Japan, glaube ich. Die Dämpfe, die entstehen, wenn Klebstoff erhitzt wird, machen die Stellen sichtbar, an denen Feuchtigkeit an der Oberfläche haften geblieben ist. Eine Zeit lang, bevor es nicht mehr zu bezahlen war, hat man sogar Leichen so untersucht, um an ihnen Fingerabdrücke von Tätern zu finden.« Eli deutete mit dem Kinn auf seine selbst gebaute Klebstoffkammer. »Ich muss mich natürlich mit weniger begnügen.«

Er nahm ein kleines Glas mit schwarzem Pulver und etwas, das aussah wie ein Make-up-Pinsel. Als Eli das Glas mit dem Pulver bestäubte, traten die bedampften Fingerabdrücke deutlich hervor. »Eigentlich«, sagte er beiläufig, »sollte ich das Verfahren niemandem erklären, der nichts mit dem Fall zu tun hat.« Er blickte auf und wartete ab.

Ross setzte sich auf einen Hocker.

»Spencer Pikes Wasserglas«, sagte Eli und stellte es wieder hin, um ein Foto von dem Abdruck zu machen. »Nach einem Gespräch mit ihm im Altersheim geklaut. Ich nehme den Abdruck von dem Glas, bevor ich es auf DNA untersuchen lasse.«

»Wieso ist das nötig, wenn Sie wissen, dass er das Glas benutzt hat?«

»So können wir die DNA von dem Glas mit der DNA vergleichen, die von den alten Beweismitteln gewonnen werden kann. Und das könnte den guten Professor auf eine Weise belasten, wie es vor siebzig Jahren noch nicht möglich war.«

»Was ist bloß aus den guten alten Ahnungen geworden?«, murmelte Ross.

»Die haben wir nach wie vor«, sagte Eli. »Aber heutzutage erhärten wir sie mit Beweisen.« Er schob eine Karteikarte in Ross’ Richtung. »Das ist ein Abdruck, den ich von einer Steinpfeife genommen habe, bevor ich sie zur Analyse geschickt habe. Es ist eine Abenaki-Pfeife. Mein Großvater hatte auch eine. Sie wurde unter dem Vordach des Eishauses gefunden, wo Cecelia Pike aufgehängt wurde. Nun, der gesunde Menschenverstand sagt, dass sie Gray Wolf gehört hat. Aber das hier sind Gray Wolfs Fingerabdrücke – das Staatsgefängnis hat sie netterweise zur Verfügung gestellt –, und sie stimmen nicht überein.«

Ross beäugte die zweite Karte mit den zehn kleinen Kästchen darauf, in denen jeweils ein Fingerabdruck war. »Wie können Sie da was erkennen?«

»Achten Sie auf die Form des Fingerabdrucks«, sagte Eli. »Bildet er ein Bogenmuster, eine Schleife, einen Wirbel, wie ist die Position, von welchem Finger stammt er, wie groß ist er, wie viele Rillen hat eine Schleife und so weiter. Auffällig an den Abdrücken von Gray Wolf ist, dass sie relativ einheitlich sind, was nur bei fünf Prozent der Bevölkerung der Fall ist. Der Abdruck von der Pfeife ist nicht berauschend, aber man kann erkennen, dass er ein Schleifenmuster hat. Und achten Sie auf die Gratbesonderheiten.«

»Wie bitte?«

»Als Grat bezeichnete man die erhöhten Linien. Da zum Beispiel.« Eli beugte sich über Ross’ Schulter und zeigte auf eine Stelle des Abdrucks, an der die Linien sich gabelten. »Eine Gabelung ist so eine Besonderheit. Oder ein Grat, der plötzlich einfach aufhört. Oder ein Punkt. Acht ähnliche Merkmale bei zwei verschiedenen Abdrücken zu finden kommt etwa so häufig vor, wie wenn man einen Stein in die Luft wirft, und er fällt nicht mehr runter.« Er nahm die Fingerabdruckkarte des Gefängnisses herunter und legte den neuen Abdruck hin, den er von Spencer Pikes Glas abgenommen hatte. »Die Sache ist die – obwohl die Pfeife Gray Wolf gehörte, waren die Abdrücke darauf nicht von ihm. Und mich interessiert brennend, wessen Abdrücke das waren.«

Langsam begriff Ross. »Wenn Spencer Pike die Pfeife in der Hand hatte, dann könnte er sie am Tatort deponiert haben.«

»Sie haben es erfasst.« Eli studierte die beiden Abdrücke mit einem Vergrößerungsglas. »Langsam fügen sich die Puzzleteilchen zusammen … Im Polizeibericht steht, Pike habe Gray Wolf gefeuert und an besagtem Nachmittag von seinem Grundstück geworfen. Er war stinksauer auf ihn – vielleicht wütend genug, um ihm einen Mord anzuhängen. Ich habe das Labor in Montpelier beauftragt, ein paar von den alten Tatortfotos zu untersuchen. Man kann deutlich erkennen, wie das Schlafzimmerfenster eingeschlagen wurde – von innen.«

Ross war ganz ruhig geworden. »Ich hab gedacht, ihr Mann würde sie schlagen«, sagte er leise. »Aber sie hat gesagt, er würde sie einfach viel zu sehr lieben.«

»Man kann jemanden zu Tode lieben«, erwiderte Eli. »Das erlebe ich andauernd.«

»Sie glauben also, sie wollte von ihm weglaufen?«

»Ich weiß nicht«, gab Eli zu. »Aber ich bin überzeugt, dass sie an dem Tag mit ihm gekämpft hat. Im Obduktionsbericht steht, sie hatte Blutergüsse an den Handgelenken, die sie wenige Stunden vor ihrem Tod bekommen haben muss.«

»Glauben Sie …« Ross schluckte. »Glauben Sie, er hat sie auf eine andere Weise umgebracht und es dann so aussehen lassen, als hätte jemand sie erhängt?«

»Nein. Die Obduktion beweist das und auch die Fotos … Außerdem, die Fotos, von denen ich Ausschnittsvergrößerungen habe machen lassen – es gibt zwei verschiedene Paar Fußabdrücke. Eine Schuhsohle ist kleiner und entspricht der Schuhgröße des Opfers. Die andere Sohle ist größer, vermutlich von einem Mann. Also, Pike gibt zu, die Leiche seiner Frau abgeschnitten zu haben. Er sagt aber auch, dass jemand anders sie erhängt hat. Wo also sind dann die Fußabdrücke von Gray Wolf?« Fluchend legte Eli das Vergrößerungsglas hin und schob die Fingerabdruckkarte weg. »Mist. Pike hatte die Pfeife nicht in der Hand.«

Ross hatte plötzlich ein derartiges Gefühl der Enge in der Brust, dass er dachte, er würde gleich ohnmächtig. »Alles in Ordnung?« Eli musterte ihn fragend. Ross nahm sich den erstbesten Gegenstand auf dem Tisch – eine weitere Karte mit Fingerabdrücken, die unter einigen Tatortfotos hervorlugte. Er beugte sich darüber, tat so, als würde er die Abdrücke studieren.

»Ich seh die Sache so«, sagte Eli. »Pike ist ein einflussreicher Mann. Er hat den Ermittlungsbeamten eine Geschichte erzählt, und die haben sie ihm abgekauft, weil es erheblich einfacher ist, einem Indianer die Schuld in die Schuhe zu schieben als einem angesehenen Bürger der Stadt. Die Frage ist natürlich, warum Pike seine Frau umgebracht hat, falls er es war.« Er zog sich Gummihandschuhe über und verpackte das Trinkglas für den Transport zum DNA-Labor. »Vielleicht Geld. Er hat das Grundstück geerbt.«

Stirnrunzelnd blickte Ross von einer der Karteikarten zu dem Abdruck von der Pfeife. »Äh, ich bin mir zwar nicht sicher … aber sind die beiden hier nicht gleich?«

Eli nahm ihm die Karten aus der Hand und wackelte mit dem Kopf. »Hm.« Er setzte sich auf den Hocker, nahm sein Vergrößerungsglas und inspizierte die Abdrücke. Nach einer ganzen Weile rieb er sich die Wange. »Mich laust der Affe. Ich sag den Experten im Labor, sie sollen noch einmal einen Blick drauf werfen, aber ja, ich würde auch sagen, die stimmen überein.«

»Wessen Abdrücke sind denn das?«

Eli blickte ihn an. »Die von Cecelia Pike. Sie wurden von ihrer Leiche genommen. Das ist Routine.«

»Wenn Gray Wolf gar nicht dort war, was wollte sie dann mit seiner Pfeife?«

»Sie behalten, wie’s aussieht«, sagte Eli. »Unter anderem.«

»Was denn noch?«

»Vielleicht Gray Wolf selbst. Mal angenommen, die Gattin hatte eine Affäre … dann hätte ihr Mann doch gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, wenn er sie loswerden und ihrem Geliebten den Mord anhängen konnte.«

»Seien Sie still«, sagte Ross mit lauter werdender Stimme. »Seien Sie still, ja? Sie hatte keinen Geliebten. Sie wissen ja nicht, wovon Sie reden.«

»Schon gut …« Eli hob beschwichtigend die Hände.

Ross zwang sich, wieder ruhig zu werden. »Ich will bloß sagen … sie hatte keine Affäre. Sie haben sie nicht gekannt.«

Eli starrte ihn an. »Sie auch nicht.«


ZEUGENAUSSAGE

Datum: 22. September 1932

Uhrzeit: 8 Uhr 15

Vernehmung von: Lemuel Tollande

Vernehmende Beamte: Officer Duley Wiggs und

Detective F. Olivette vom Polizeirevier Comtosook

Ort: Polizeirevier Comtosook

– Bitte nennen Sie Ihren Namen und Ihre Adresse fürs Protokoll.


– Lemuel Tollande, Chestnut Street 45A, Burlington.

– Wo arbeiten Sie, Mr. Tollande?


– Im »Rat Hole« in Winooski. Ich bin Barkeeper.

– Kennen Sie John Delacour alias Gray Wolf?


– Klar. Ist ein guter Bekannter, ein Stammgast.

– Haben Sie besagten Mann am Abend des 18. September gesehen?


– Ja. Er ist so gegen acht, halb neun gekommen und um eins gegangen.

– Hat er zwischendurch mal das Lokal verlassen?


– Höchstens mal, um eine zu rauchen.

– Wie lange war er weg?


– Weiß ich nicht. Die Kneipe war an dem Abend gerammelt voll.

– Na, ungefähr. Fünf Minuten? Eine Stunde?


– Ich … ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß nur, dass er weg war und dann wieder da.

– Hat er Ihnen erzählt, dass man ihn rausgeschmissen hatte? – Nein … aber Gray Wolf erzählt allgemein nicht viel von sich. Er ist ziemlich schweigsam. [Pause] Aber er ist kein Mörder. Schon bei der ersten Geschichte nicht und diesmal auch nicht.

– Mr. Tollande, haben Sie Gray Wolf in den letzten Tagen gesehen?


– Nicht mehr seit dem Abend in der Kneipe.

– Wissen Sie, wo wir ihn finden könnten?


– Er ist ziemlich viel unterwegs.

– Das seid ihr doch alle. Und ihr lügt auch alle, nicht wahr?


Als Eli die stickige, übervolle Stadtbibliothek von Comtosook betrat, war sein erster Gedanke, dass jemand, der so viel Frische ausstrahlte wie Shelby Wakeman, nicht an einen so muffigen Ort gehörte.

Shelby blickte von ihrem Computerbildschirm auf. »Na, das ist aber eine Überraschung«, sagte sie, stand auf und kam um die Theke herum. Sie sah Watson an, der so heftig mit seinem Schwanz wedelte, dass sein ganzer Kopf bebte. »Du darfst eigentlich nicht hier rein«, sagte sie tadelnd und streichelte ihn dabei. »Aber einem Polizisten kann ich ja wohl kaum Vorschriften machen.«

Als sie ihn anlächelte, fing Elis Herz an zu rasen. »Hi«, brachte er heraus. Und kam sich sehr unoriginell vor.

»Irgendeine bestimmte Lektüre vor Augen?«, fragte Shelby, und erst als Eli den Mund schon geöffnet hatte, merkte er, dass sie mit Watson sprach. »Der Hund von Baskerville könnte dir gefallen.«

»Heute begleitet er mich bloß«, grinste Eli. »Ich suche nach standesamtlichen Unterlagen aus den 1930er-Jahren.«

In Wirklichkeit war er nur gekommen, um Shelby zu sehen.

Shelby blickte ihn neugierig an, fragte sich wahrscheinlich, wieso ein Polizist nicht wusste, dass sämtliche standesamtlichen Unterlagen in der Stadtverwaltung lagerten, gleich nebenan vom Polizeirevier. »Hm … aber die sind nicht hier.«

»Können Sie sie mir zeigen?«

Shelbys Kollegin gab ihr ein Zeichen, dass sie ruhig gehen könne. Gemeinsam gingen sie die Treppe hinunter, Watson zwischen ihnen. Draußen angekommen, blinzelte Shelby in die Sonne.

»Herrliches Wetter, nicht?«

Sie nickte. »Ich weiß schon nicht mehr, wie hell es wird, manchmal.«

»Sie meinen, weil Sie den ganzen Tag in der Bibliothek arbeiten?«

»Und weil ich die ganze Nacht mit Ethan aufbleibe. Er kann nur im Dunkeln zum Spielen nach draußen.« Sie gingen die Main Street hinunter.

»Und wann schlafen Sie?«

Sie lächelte tapfer. »Es geht nun mal nicht anders.«

Ein Kind auf einem Roller fuhr links an ihnen vorbei, drängte Shelby näher an Eli. Er spürte die elektrische Spannung, die ihre plötzliche Nähe auslöste. Wie würde sie sich wohl in seinen Armen anfühlen?

In der Stadtverwaltung folgte er Shelby die Steintreppe hinauf und in den ersten Raum auf der rechten Seite. »Lottie«, sagte sie zu der gewichtigen Angestellten, »hast du abgenommen?«

Die Frau strahlte übers ganze Gesicht. »Ich glaube, die Diät schlägt an«, kicherte sie und winkte sie durch, ohne Fragen zu stellen.

Der Keller war dunkel und moderig, Spinnweben schmückten die Decke. Watson jagte ein Nagetier hinter einen Stapel Kartons. Unbeirrt kletterte Shelby über ein paar Kisten in einen engen Gang mit verstaubten Aktenschränken. Sie öffnete eine Schublade und holte einen Stapel vergilbter Karteikarten heraus. »Die sind von 1932.«

Verdattert starrte Eli Shelby an. »Haben Sie auch übersinnliche Kräfte?«

»Ross hat keine übersinnlichen Kräfte«, stellte Shelby klar. »Und nein, ich auch nicht. Beim letzten Mal, als ich hier war, hab ich lange nach ihnen suchen müssen, bis ich endlich fündig wurde.«

Er trat näher und stellte sich neben sie, merkte erst jetzt, dass der Gang für zwei zu schmal war. Eli konnte ihren Atem an seiner Schulter spüren.

»Warum machen Sie das?«, fragte Shelby leise. »Es ändert doch ohnehin nichts.«

Er brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass sie den Mordfall meinte. Eli zuckte die Achseln. »Menschen machen nun mal jeden Tag die verrücktesten Sachen.« Ein Sonnenstrahl fiel von dem Kellerfenster auf ihr Gesicht, als wollte er das einzig Schöne hier unten erhellen. Eli beugte sich vor, auf das Licht zu.

Shelby wich so plötzlich zurück, dass eine kleine Wand aus Kartons umstürzte und ihr Inhalt polternd auf dem Boden landete. Sie drückte Eli den Stapel Karten in die Hand. Irgendwo nieste Watson. »Das, ähm, was Sie suchen, müsste ganz vorn sein«, murmelte sie.

Eli zwang sich zur Konzentration und richtete nun seine ganze Aufmerksamkeit auf den brüchigen Packen Totenscheine in seiner Hand. Er sah den von Cecelia Pike, der von demselben Gerichtsmediziner unterzeichnet worden war, der auch die Obduktion durchgeführt hatte. Der Arzt war von der Polizei von Comtosook hinzugezogen worden, die um 10 Uhr 58 zu einem angeblichen Mordfall gerufen worden war. Cecelia Pikes Tod war um 11 Uhr 32 bestätigt worden. An dem Totenschein klebte, wie es aussah mit Blut, ein weiterer Totenschein, der auf das Neugeborene ausgestellt war, ebenfalls um 11 Uhr 32. Eli erinnerte sich an sein Gespräch mit Wesley Sneap, der gesagt hatte, dass Cecelia Pike, wenn sie gegen Mitternacht erhängt worden war, gegen sechs oder sieben Uhr am Morgen abgeschnitten und in eine horizontale Lage gebracht worden sein musste. Aber die Polizei war erst um elf verständigt worden … Pike hätte also jede Menge Zeit gehabt, den Tatort zu manipulieren.

Er blickte auf, als er Schritte hörte, dann Lärm und das Gepolter von Watson, der jemanden begrüßte. »He, du Stromer. Ich muss dir was sagen – du bist gar kein Pekinese!«, sagte Frankie Martine. Sie trug Jogginghose und T-Shirt. Das blonde Haar hatte sie zum Pferdeschwanz gebunden, und obwohl sie ungeschminkt war, hätte sie es mit jedem Model aufnehmen können. Das war das Kreuz, das Frankie zu tragen hatte – sie war Marie Curie im Körper von Marilyn Monroe. »Eli Rochert. Gar nicht leicht, dich zu finden, wenn du dich derart verkriechst!«

Eli lächelte. »Mensch, Frankie, ich wusste gar nicht, dass du auch Hausbesuche machst. Wieso bist du hier?«

»Was ich dir zu sagen habe, kann ich dir unmöglich telefonisch mitteilen.« Sie spähte über seine Schulter, und ihm fiel ein, dass da Shelby stand.

»Frankie Martine, das ist Shelby Wakeman. Shelby ist …«

»In Eile«, murmelte Shelby. »Ich, ähm, muss jetzt los.« Und ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, befreite sie sich aus dem Haufen Kartons und floh die Treppe hinauf.


»Deine Freundin wird stink-sau-er sein«, sang Frankie, als Eli sie in sein Privatlabor geleitete. Sie nahm Platz und legte ihre Füße auf Watson.

»Sie ist nicht meine Freundin. Noch nicht.«

»›Noch nicht‹ ist gut, das vorhin hat dich um drei Monate zurückgeworfen.«

Eli blickte missmutig. »Kann ich was dafür, dass du so schön bist?«

»Sollte das etwa ein Kompliment sein?« Frankie beugte sich vor, zog ein Blatt aus einem Stapel. »Na los. Gib’s zu. Du liebst mich.«

Und das stimmte. Denn so gut Elis Ermittlungen auch waren, sie brachten nicht das Geringste, wenn Frankie mit den DNA-Spuren, die ein Täter hinterlassen hatte, nichts anfangen konnte. Sie sah seine Beweismittel durch – die Kleidung und Gegenstände, die ihr nicht zugeschickt worden waren. »Hübscher Abdruck.«

»Den hab ich von der Pfeife genommen, bevor ich sie dir gegeben habe«, sagte Eli.

»Ach ja? Von wem ist der?«

»Vom Opfer, seltsamerweise.«

»Hmm«, sagte Frankie, ohne näher darauf einzugehen. »Wieso hab ich das hier nicht gekriegt?« Sie hielt das Nachthemd des Opfers hoch. Auf einer Seite war ein kleiner brauner Fleck.

»Wie viel Blut brauchst du denn? Du hattest doch den Rest von ihrer Kleidung.«

»Die Farbe hier stimmt nicht.« Frankie spitzte die Lippen. »Ich meine, ich krieg zwar nicht gerade oft siebzig Jahre altes Blut zu sehen, aber trotzdem.« Sie knüllte das Nachthemd zusammen und stopfte es in ihre schwarze Tasche. »Nur für den Fall, dass ich mich langweile, wenn ich meine Freunde im Labor in Montpelier besuche.« Dann drückte sie ihm eine Akte in die Hand. »Wirf mal einen Blick hier drauf.«


Tabelle 1 – Ergebnisse der Amelogenin-Typisierung


SCHLÜSSEL:

Typen in Klammern () weisen geringere Intensität auf als Typen ohne Klammern.


– Keine eindeutigen Ergebnisse


** 0 Ergebnis, möglicherweise auf begrenzte Menge DNA zurückzuführen.


Frankie warf einen Blick auf Elis Gesicht und verdrehte die Augen. »Schnellkurs?«

»Ich bitte darum.«

»Okay. DNA für Anfänger – alles, was du hast, kommt entweder von deiner Mom oder von deinem Dad. Sie gibt dir ein Allel, und er gibt dir ein anderes. Das Ergebnis – ein Baby mit großen Füßen oder Grübchen oder Locken. Diese körperlichen Merkmale befinden sich auf deinem DNA-Strang, sie nützen aber bei kriminalistischen Ermittlungen wenig. Deshalb testen wir die DNA auf andere Merkmale hin – zum Beispiel vWA oder TH01. An diesen Genorten hat jeder Mensch einen Typus: eine Zahl von Mom und eine von Dad. Die DNA, die wir von Beweismitteln gewinnen – sogar richtig alten, schwierigen Beweismitteln wie die Sachen, die du mir geschickt hast –, engt den Kreis derjenigen ein, von denen die DNA stammen kann.« Sie strich die Ecken des Diagramms glatt, das sie Eli gegeben hatte. »Jede der Spalten hier mit der komischen Nummer oben drüber steht für eines dieser Merkmale. Für jedes Merkmal haben wir zwei Zahlen – die Allele –, die von beiden Eltern der Person stammen, die die DNA zurückgelassen hat. Klar?«

»So weit ja.«

»Schön. Bevor wir Beweismittel analysieren können, brauchen wir Kontrollproben – das heißt DNA-Profile, mit denen wir diejenigen vergleichen können, die wir vom Seil oder vom Medizinbeutel nehmen. Die erste Kontrollprobe stammt vom Blut des Opfers. Meine Ergebnisse habe ich Cecelia genannt. Was deinen fehlenden Täter angeht, da kannst du von Glück reden. Unter der Voraussetzung, dass der Speichel an der Pfeife von ihm ist, habe ich das DNA-Material konzentriert und für alle acht Genorte ein Ergebnis erhalten … Ich hab sie Gray Wolf genannt. Schließlich war das Glas dran, das du mir geschickt hast – der Speichel war die Grundlage für die acht Zahlen, die ein anderes Profil ergeben als das von Gray Wolf … ich habe sie in der Rubrik Spencer Pike aufgeführt.«

»Moment. Das heißt also, dass wir eindeutig die DNA von diesen drei Personen haben?«

»Bei zweien besteht nicht der geringste Zweifel. Nummer drei ist ein nicht ganz so klarer Fall. Ich kann nicht definitiv sagen, dass die bestimmte DNA Gray Wolf gehört hat, weil ich keine Kontrollprobe hatte.«

»Du kannst also lediglich sagen, dass die DNA an der Pfeife von einem Mann stammt und anders ist als die von Spencer Pike.«

»Ich kann auch noch ein wenig mehr sagen.« Frankie fuhr mit dem Finger an dem Blatt Papier herunter. »Durch die DNA-Tests haben wir mittlerweile Diagramme zu Subpopulationen, die zeigen, mit welcher Häufigkeit Allele in verschiedenen ethnischen Bevölkerungsgruppen auftreten.«

»Jetzt komm ich nicht mehr mit«, sagte Eli.

»Wir können Statistiken aufstellen, indem wir Menschen mit einem bestimmten Hintergrund typisieren – Weiße, Schwarze, Indianer. Mal angenommen, du hast einen weißen Rolls-Royce. Nur zwei Prozent des gesamten Pkw-Bestands sind Rolls-Royce.«

»Und das weißt du … woher?«

Frankie schüttelte den Kopf. »Klappe, Eli. Zwei Prozent. Der Anteil von weißen Pkw beträgt fünfzehn Prozent. Um einschätzen zu können, wie viele weiße Rolls-Royce auf den Straßen unterwegs sind, sagen wir, es sind fünfzehn Prozent von zwei Prozent des Pkw-Bestandes … also 0,3 Prozent oder drei von tausend Pkw. Genauso gehen wir vor, wenn wir uns die Typenhäufigkeit bei verschiedenen Subpopulationen ansehen. Zum Beispiel das Seilende – das Profil, das ich da erhalten habe, findet sich bei einem von 1,7 Millionen Weißen, aber nur bei einem von 450 Millionen Indianern. Das heißt, wenn ich ein Footballstadion mit 450 Millionen Indianern und ein weiteres Stadion mit 450 Millionen Weißen füllen würde, dann würden 264 Weiße in dem Stadion ein Profil haben, das mit dem hier übereinstimmt … aber nur ein einziger Indianer.«

»Dann war die Person, die das Seilende berührt hat, also eher ein Weißer als ein Indianer?«

»Richtig. Aber jetzt sieh dir mal die Zahlen von der Pfeife an. Die Chance, am Genort D5S818 die Kombination 11;11 vorzufinden, beträgt bei der weißen Bevölkerung vierzehn Prozent, bei der afroamerikanischen Bevölkerung sieben Prozent und bei der hispanischen zwölf Prozent. Bei der indianischen Bevölkerung liegt die Chance dagegen bei fünfunddreißig Prozent. Die Kombination 11;11 ist also mehr als doppelt so häufig wie bei den Weißen. Sieht man sich das Gesamtprofil der DNA von der Pfeife an, dann stammt die DNA mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu 320 Millionen von einem Weißen, von eins zu 520 Millionen von einem Afroamerikaner, von eins zu 41 Millionen von einem Hispanier. Aber die Chance, dass sie von einem Indianer stammt, beträgt immerhin eins zu 330 000.«

»Dann hat also ein Indianer die Pfeife geraucht.«

»Das wäre meine inoffizielle Vermutung.«

Eli nickte. »Was noch?«

»Die Untersuchung der Seilschlinge mit den Hautzellen vom Hals des Opfers hat keine Überraschung ergeben – die entsprechende Reihe ist identisch mit der von Cecelias Kontrollprobe. Bei der Untersuchung der Schlinge habe ich zwar nur sieben von den acht Systemen erhalten, aber ich würde es trotzdem als Erfolg verbuchen. Dann hab ich das Ende des Seils getestet. Ich habe nicht viel erwartet, und ich habe auch keine Hautzellen gefunden. Dann habe ich mittels der PCR-Methode Milliarden Kopien einzelner DNA-Abschnitte erzeugt und sechs Genorte erhalten, was schon an ein Wunder grenzt. Und alle sechs Systeme stimmen mit der DNA überein, die ich von Spencer Pikes Glas genommen habe.«

Das bedeutete zwar nicht zwingend, dass Pike seine Frau aufgehängt hatte, aber es bedeutete zumindest, dass er das Seil in der Hand gehabt hatte. Eli blickte auf die leere Reihe in dem Diagramm. »Was ist denn mit dem Medizinbeutel passiert?«

Frankie kniff die Augen zusammen. »Das will ich dir sagen: Deine Lieblings-DNA-Expertin wäre fast hergekommen und hätte eine Straftat an dem Detective verübt, der sie um Hilfe gebeten hatte. Du kannst dir ja nicht vorstellen, wie sehr dieses Teil mich geschlaucht hat. Ich hätte den Beutel in die Tonne gehauen, wenn du nicht so knapp an Beweismitteln wärst.«

»Ich lad dich zum Essen ein.«

»Nein, du kaufst mir eine Jacht«, sagte Frankie. »Der erste Test hat überhaupt nichts ergeben. Dann hab ich eine zweite Probe von dem Riemen genommen, der mit dem Hals in Berührung gekommen war. Ich habe zwei Profile erhalten – beide ähnlich, beide stimmten mit einer Mischung überein.«

»Was heißt das?«

»Dass es in den meisten Systemen mehr als ein oder zwei Typen gegeben hat. Guck dir die Reihe in dem Diagramm an … siehst du die Stellen mit den drei statt zwei Zahlen?«

»Ja.« Eli runzelte die Stirn. »Was ist damit?«

»Wie gesagt, wir bekommen je ein Allel von Mom und von Dad. Wenn jemand nun drei oder vier hat, dann ist er entweder ein Freak – oder wir haben es mit einer DNA-Mischung von mindestens zwei Menschen zu tun. Und angesichts der genetischen Ausstattung von beiden ist nicht auszuschließen, dass entweder Cecelia Pike oder Gray Wolf zu dieser Mischung beigetragen haben.«

Eli stieß einen Pfiff aus. »Aber nicht Spencer Pike?«

»Nein. Sieh dir den Genort D7S820 an. Pike hat da 10;10. Aber der Medizinbeutel ist eine 11, (12) oder eine 11;11. Das ist nicht Pikes genetisches Profil … also kommt er nicht infrage.«

Eli atmete schwer aus. Das machte seine Theorie zunichte, weil es jetzt einen DNA-Beweis gab, dass Gray Wolf auch am Tatort war. Aber vielleicht gehörte der Medizinbeutel ja gar nicht zu Pikes Inszenierung des Tatorts. Vielleicht hatte Gray Wolf ihn aus welchem Grund auch immer eine Zeit lang getrag en und dann Cecelia als Liebespfand geschenkt. Und sie hatte sich den Beutel vom Hals gerissen, als sie am Seil hing …

»Da ist noch was, Eli.« Frankie zögerte. »Die Sache hat mich so gewurmt, dass ich mir den verdammten Beutel noch mal vorgenommen und sechs weitere Genorte getestet habe. Da.«


Tabelle 2 – Typisierungsergebnisse


SCHLÜSSEL:

Typen in Klammern () weisen geringere Intensität auf als Typen ohne Klammern.


– Keine eindeutigen Ergebnisse


** 0 Ergebnis möglicherweise auf begrenzte Menge DNA zurückzuführen.


Frankie fuhr mit einem knallroten Fingernagel an den Reihen entlang. »An keinem einzigen Genort habe ich vier Typen gefunden. Bei diesen Tests hab ich nicht mal drei Typen gefunden.«

»Das heißt?«

»Das heißt, wenn wir beide etwas anfassen und darauf unsere Hautzellen zurücklassen, dann ist davon auszugehen, dass wir an einer von fünfzehn Stellen vier unterschiedliche Typen haben würden. Soll heißen, du hast zwei von deinen Eltern, und ich habe zwei von meinen Eltern, und die Wahrscheinlichkeit, dass wir mehr als ein- oder zweimal in einem Profil die gleichen Typen haben, ist ziemlich gering.«

»Du hast gesagt, die DNA war schwierig zu gewinnen. Vielleicht ist irgendwas durcheinandergeraten.«

»Nein. Deshalb hab ich ja die zusätzlichen Tests gemacht.« Frankie strich sich die Haare hinter die Ohren. »Mischungsprofile mit nur drei Typen oder sogar zwei Typen kommen normalerweise zwischen Eltern und Kindern vor. Da der Elternteil stets ein Allel an den Nachkommen abgibt, haben Elternteil und Nachkommen in jedem Fall mindestens ein Allel gemeinsam. Eine DNA-Mischung, wie wir sie hier bei Gray Wolf und Cecelia Pike sehen, würde darauf hindeuten, dass die beiden Vater und Tochter waren.«

Eli schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Cecelia Pike war weiß.«

Frankie zog ein weiteres Blatt Papier aus ihrem Ordner. »Statistisch gesehen«, sagte sie, »bin ich da anderer Ansicht.«

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