Wogen von Staub und Sand fegten über den alten roten Stein. Halisstra Melarn zog ihren Piwafwi eng um sich, da der eisige Wind sie zittern ließ. Die Nacht war kalt, um einiges kälter als die Tiefe mit ihren Höhlen weit unter der Oberfläche der Welt. Der Wind fegte klagend durch die verwitterten Ruinen, die sich tot und schweigend in die karge Hügellandschaft duckten. Einst hatte dort eine prachtvolle Stadt gestanden, doch das war lange her. Zertrümmerte Kuppeln und wacklige Säulengänge waren stumme Zeugen einer stolzen, handwerklich hochentwickelten, aber vor langer Zeit untergegangenen Rasse. Gewaltige Festungswälle trotzten noch immer beharrlich dem Wüstenwind, und die Stümpfe zerschlagener Türme reckten sich dem Himmel entgegen.
Unter anderen Umständen hätte Halisstra vielleicht Tage damit zugebracht, durch die immensen Ruinen zu spazieren und über deren längst vergessene Geschichte nachzudenken. Doch im Augenblick hielt ein größeres, weit erschreckenderes Mysterium sie in seinem Bann und erfüllte sie mit Ehrfurcht und Entsetzen. Über den schwarzen Silhouetten verfallender Türme und schiefer Mauern glitzerte ein Sternenmeer wie kaltes, unerbittliches Eis an einem grenzenlosen, schwarzen Himmel.
Natürlich hatte sie davon gehört. Rein verstandesmäßig begriff sie das Konzept eines freien Himmels anstelle einer Höhlendecke, und sie wußte auch von diesen unglaublich weit entfernten Lichtpunkten hoch über ihr. Doch unter einem freien Himmel zu sitzen und dieses Schauspiel mit eigenen Augen zu sehen ... das war eine völlig andere Angelegenheit. In den zweihundert Jahren ihres Lebens hatte sie sich noch nie mehr als ein paar Dutzend Kilometer von Ched Nasad entfernt, und selbst wenn, war sie immer noch viele Meilen von der Oberfläche weg gewesen. Nur wenige Drow aus der Stadt der schimmernden Netze waren jemals bis ganz nach oben vorgedrungen. Wie die meisten anderen Drow ignorierte auch sie die Dinge, die sich außerhalb der endlosen Intrigen, des Ränkeschmiedens und dem unerbittlich auf die eigenen Interessen ausgerichteten Leben in Ched Nasad abspielten.
Sie starrte hinauf zu den funkelnden Lichtern und war sich der bitteren Ironie bewußt. Die winzigen funkelnden Diamanten und der immense Nachthimmel waren real. Sie hatten bereits vor einer unvorstellbar langen Zeit existiert, ehe sie von ihrem Platz in der verlassenen, eisigen Wüste aus nach oben gesehen und sie entdeckt hatte, und würden zweifellos weiterhin existieren, lange nachdem sie selbst tot war. Was es dagegen nicht mehr gab, war Ched Nasad – ihre Geburtsstadt, die Stadt, deren Rivalitäten und Loyalitäten und Erfolge ihr Leben lang all ihren Intellekt und ihre Aufmerksamkeit für sich beansprucht hatten. Es war noch keinen Tag her, da hatte sie auf einem Balkon des Hauses Nasadra gestanden und voller Entsetzen mit ansehen müssen, wie der Stein brannte, wie ein Haus nach dem anderen fiel und ihre Stadt auf eine verheerende Weise zerstört wurde. Ched Nasad mit den wunderbaren steinernen Netzen und düster-schönen Märchenschlössern, die sich an die Wände der Felsspalte klammerten. Ched Nasad mit seiner unglaublichen Arroganz und seinem Trotz, mit den finsteren Adelshäusern und der unablässigen Verehrung der Spinnenkönigin selbst. Ched Nasad, der Mittelpunkt von Halisstras Existenz, war nicht mehr.
Seufzend riß sich Halisstra vom Anblick des Himmels los und stand auf. Für eine Drow war sie mit ihren fast einem Meter fünfundsechzig verhältnismäßig groß, und zugleich war sie so schlank wie ein Rapier. Auch wenn ihren Zügen die vielen hochgeborenen Drow-Frauen eigene, verlockende, fast habsüchtige Sinnlichkeit fehlte, war sie auf ihre ernste und erhabene Art dennoch hübsch. Trotz stundenlanger, heftiger Kämpfe und eines verzweifelten Ringens darum, dem Feuer zu entkommen und trotz der unglaublichen Katastrophe bewegte sich Halisstra mit einer kühlen, gedankenverlorenen Eleganz, mit der ruhigen Selbstbeherrschung einer Frau, die zur Königin geboren war.
Sandkörner prasselten gegen den pechschwarzen Stahl ihrer Rüstung, während der Wind ihr den Mantel wegzureißen versuchte. Halisstra kannte die feuchten, kalten Luftbewegungen in den gewaltigen Hohlräumen unter der Erde gut, doch dieser Wüstensand wurde von einem unablässigen, stechenden Wind gepeitscht, der sie ständig aus einer anderen Richtung traf. Sie verdrängte den Wind, die Sterne und die Ruinen aus ihren Gedanken und schlich zurück zu den anderen. Die hatten sich an der windabgewandten Seite einer hohen Mauer in einem kleinen Hof zusammengekauert, der mit zerbrochenen Säulen gesäumt war. An einem Ende des Platzes standen die verlassenen Überreste eines einst herrschaftlichen Palastes. Von den Möbeln hatte nichts die jahrhundertelange Einwirkung des Sandes und des Wetters überdauert, die gemeinsam die Stadt bestürmt hatten, doch die Säulengänge und die Höfe, die hohen Säle und die immer noch stolzen Flure deuteten darauf hin, daß dieses Gebäude früher einmal die Residenz einer Familie gewesen war, die in der Stadt eine gewisse Macht besessen, vielleicht sogar über sie geherrscht hatte. Nicht weit von ihnen entfernt stand inmitten der vom Sand geglätteten Mauern ein schmuckloses Steinportal, ein Torbogen aus einem fremden schwarzen Stein, der ein magisches Portal beherbergte, durch das man zurück nach Ched Nasad gelangen konnte. Durch dieses Portal waren Halisstra und die anderen aus der untergehenden Dunkelelfen-Stadt entkommen.
Sie blieb stehen und betrachtete ihre Begleiter. Danifae, ihre Hofdame, kniete elegant am Boden, ihr perfekt geschnittenes Gesicht gefaßt, die Augen geschlossen. Es war möglich, daß sie döste, ebensogut konnte sie auch gleichmütig warten, was als nächstes geschehen würde. Vor fünfzehn Jahren war Danifae, eine gefangengenommene Priesterin aus der Stadt Eryndlyn, Halisstra als Dienerin geschenkt worden. Die junge, hübsche, kluge Danifae hatte sich mit erstaunlicher Würde dieser Gefangenschaft unterworfen, auch wenn sie genaugenommen ohnehin keine andere Wahl gehabt hätte, denn das silberne Medaillon, das auf Danifaes Herzen ruhte, erlegte ihr einen starken Zauber auf. Was hinter diesen leuchtenden Augen und dem perfekten Gesicht vor sich ging, wußte Halisstra nicht, doch Danifae hatte ihr so treu und gut gedient, wie es der sie bindende Zauber von ihr verlangte, aber vielleicht hatte sie sogar noch etwas mehr als das zwingend Notwendige gegeben; daß Danifae noch immer bei ihr war, stellte für Halisstra einen großen Trost dar.
Für die übrigen fünf galt das dagegen in keiner Weise. Die Ereignisse der letzten Tage Ched Nasads hatten Halisstra an eine Gruppe von Reisenden aus dem fernen Menzoberranzan geraten lassen, einer Stadt, die sich im Lauf der Zeit von einem Feind Ched Nasads zu einem Rivalen, Handelspartner und schließlich Beherrscher entwickelt hatte. Quenthel Baenre saß in Gedanken versunken da, ihren Mantel eng um sich geschlungen, damit sie gegen die Kälte gewappnet war. Als Priesterin der Spinnenkönigin war Quenthel eine Tochter des Hauses Baenre, des führenden Clans Menzoberranzans. Quenthel aber als potentielle Freundin Halisstras zu sehen, nur weil sie beide Lolth dienten, war weit gefehlt. Die meisten adligen Drow-Frauen dienten Lolth und verbrachten ihr Leben damit, um Macht und Vorherrschaft bei der Anbetung zu ringen. So liefen die Dinge bei den Drow – wie Lolth es ihnen vorschrieb. Wenn es die Spinnenkönigin bevorzugte, jene zu belohnen, die sich als die Ruchlosesten und Ehrgeizigsten beim Werben um ihre Gunst erwiesen, was sollte eine Drow dann anderes tun, wenn sie nicht das Nachsehen haben wollte?
Quenthel war in vieler Hinsicht das Sinnbild der Drow, eine angehende Matriarchin, die Frömmigkeit im Dienst an Lolth mit körperlicher Schönheit, Charakterstärke und absoluter Rücksichtslosigkeit vereinte. Von den Reisenden aus Menzoberranzan stellte sie für Halisstra die größte Bedrohung dar. Halisstra war selbst Tochter einer Muttermatrone und eine Priesterin Lolths, daher wußte sie genau, daß sie Quenthel im Auge behalten mußte. Im Augenblick waren sie Verbündete, doch es war nicht viel nötig, um Quenthel zu der Ansicht gelangen zu lassen, Halisstra sei als Gefolgsfrau oder als Gefangene nützlicher – oder es sei sogar besser, sie zu töten.
Quenthel konnte sich der Loyalität des massigen Jeggred sicher sein, eines Draegloth aus ihrem eigenen Haus. Diese Kreatur war je zur Hälfte Dämon und Drow, Sohn von Quenthels älterer Schwester und eines unbekannten Bewohners des Abgrunds. Jeggred, der die anderen Drow deutlich überragte, war eine vierarmige Kreatur mit bestialischer Natur, die ihre Neigung zu mörderischer Gewaltanwendung ständig in Schach halten mußte. Sein Gesicht ähnelte dem eines Drow, und er ging aufrecht, doch ein glänzender silberner Pelz bedeckte an Brust, Schultern und Lenden seine dunkle Haut, und seine Krallen waren so lang und scharf wie Dolche. Halisstra fürchtete Jeggred nicht, denn der Draegloth war Quenthels Kreatur und würde ihr ohne die ausdrückliche Erlaubnis seiner Herrin kein Haar krümmen. Er mochte das Instrument sein, das Halisstra tötete, wenn Quenthel den Befehl erteilte, doch es wäre unsinnig gewesen, in ihm irgend etwas anderes als Quenthels Waffe zu sehen.
Von Pharaun war Halisstra zutiefst beeindruckt. Das Studium des arkanen Wissens war eine Sache, die genau wie der Umgang mit dem Schwert den Männern überlassen blieb. Ein mächtiger Magier verdiente Respekt, ungeachtet der Tatsache, daß er ein Mann war. Halisstra wußte sogar von mehr als einem Fall, in denen die Muttermatrone eines bedeutenden Hauses nur mit dem Einverständnis der mächtigen männlichen Magier der Familie hatte herrschen können – eine Situation, die ihr immer als pervers und gefährlich erschienen war. Pharaun verhielt sich, als besitze er solche Macht und solchen Einfluß. Zwar ordnete er sich immer wieder Quenthel unter, doch eine solche Reaktion war immer von einem höhnischen Lächeln oder einer heuchlerischen Bemerkung begleitet, und gelegentlich grenzte sein respektloses Auftreten gar an ein unverhohlenes Rebellieren. Das bedeutete, daß er entweder ein völliger Narr war – was jedoch unwahrscheinlich war, da man ihn in Menzoberranzan speziell ausgewählt hatte, um die gefährliche Reise nach Ched Nasad zu unternehmen – oder daß er über genug Macht verfügte, um sich gegen die natürliche Tyrannei einer Adligen wie Quenthel zu behaupten. In Pharaun sah Halisstra einen möglicherweise wichtigen Verbündeten gegen Quenthel, wenn sich herausstellen sollte, daß sie und Quenthel sich nicht einigen konnten.
Halisstra kam es vor, als sei Ryld Argith für Pharaun das, was Jeggred für dessen Herrin war. Ryld, ein kräftig gebauter Waffenmeister, dessen Statur es mit der Halisstras aufnehmen konnte, war ein immens geschickter Kämpfer. Sie hatte das bei der Flucht aus Ched Nasad mit eigenen Augen gesehen. Wie die meisten Männer wahrte er eine angemessen unterwürfige Haltung, sobald Quenthel zugegen war, was Halisstra als gutes Zeichen wertete. Ryld würde vermutlich im Handumdrehen seine Ergebenheit einer anderen Frau von hoher Abstammung erklären. Sie konnte nicht darauf zählen, daß sich Ryld gegen Pharaun oder Quenthel stellen würde, doch ein reinrassiger Drow war in seiner Loyalität nicht so unerschütterlich wie ein durchschnittlicher Draegloth ...
Der letzte und zugleich Unbedeutendste der Gruppe aus Menzoberranzan war Valas Hune. Der kleine Mann sagte wenig, dafür beobachtete er unablässig die Umgebung. Halisstra hatte Leute wie ihn schon früher zu sehen bekommen. Männer wie er waren nützlich, aber sie wollten nichts mit den Machenschaften der Priesterinnen und Matriarchinnen zu tun haben, also hielten sie sich von der Politik der großen Häuser fern. Im Moment kauerte Valas vor einem kleinen Haufen trockenen Buschwerks und versuchte, ein Feuer zu entfachen.
»Besteht eine Chance, daß uns jemand verfolgt?« fragte Ryld in den eisigen Wind.
»Wohl kaum«, murmelte Quenthel. »Das komplette Haus ist abgestürzt, nachdem wir das Portal benutzt haben. Wie sollte uns da jemand folgen?«
»Es ist nicht unmöglich, liebe Quenthel«, gab Pharaun zurück. »Ein fähiger Magier könnte herausfinden, wohin das Portal geführt hat, selbst wenn es zerstört worden ist. Er könnte das Portal sogar so weit wiederherstellen, daß er es benutzen kann. Ich vermute, es hängt davon ab, wie sehr man uns in Ched Nasad vermißt.« Er sah zu Halisstra auf und fragte: »Wie sieht es damit aus? Haltet Ihr es für wahrscheinlich, daß Euresgleichen uns die Schuld an den unglücklichen Ereignissen der letzten Stunden geben? Werden sie nicht alles daransetzen, sich zu rächen?«
Halisstra sah ihn an. Die Frage ergab keinen Sinn. Wer sollte denn überlebt haben, um den Angriff der Duergar der Gruppe aus Menzoberranzan in die Schuhe zu schieben? Haus Melarn war gefallen, und das galt auch für Haus Nasadra. Sie begann, die große Erschöpfung ihres Körpers zu spüren – ein bleiernes Gefühl in ihrem Herzen und einen Nebel, der sich um ihren Verstand gelegt hatte –, und ließ sich gegenüber der Gruppe in den Sand sinken.
»Jeder in Ched Nasad hat im Moment wichtigeres zu tun, als sich um Euren Aufenthaltsort zu kümmern«, brachte sie heraus.
»Ich glaube, die Dame hat dich gerade in deine Schranken verwiesen, Pharaun«, lachte Ryld. »Die Welt und alles in ihr dreht sich nicht um dich, weißt du?«
Pharaun nahm den Spott mit einem sardonischen Grinsen und einer sich selbst herabwürdigenden Geste.
»Meinetwegen«, sagte er leichthin. Er wandte sich an Valas Hune, der versuchte, mit Funken das Gestrüpp zu entzünden. »Hältst du das für eine gute Idee? Das Feuer wird man noch in einiger Entfernung sehen.«
»Es ist gerade erst Mitternacht, wenn ich mich nicht verschätzt habe«, erwiderte der Späher, ohne aufzublicken. »Wenn du es jetzt schon für kalt hältst, dann warte mal die Stunden vor Sonnenaufgang ab. Wir brauchen ein Feuer, ganz gleich, wie groß das Risiko auch sein mag.«
»Woher weißt du, wie spät es ist«, wollte Quenthel wissen, »oder wie kalt es noch werden wird?«
Valas schlug einen Funken und duckte sich, um ihn vor dem Wind zu schützen. Augenblicke später hatte das Buschwerk Feuer gefangen, und der Späher legte trockenes Holz nach, um die Flammen zu nähren.
»Seht Ihr die Anordnung der Sterne im Süden?« entgegnete er. »Die sechs, die aussehen wie eine kleine Krone? Das sind die Wintersterne. Sie gehen zu dieser Jahreszeit früh auf und spät wieder unter. Ihr werdet bemerken, daß sie sich nahe dem Zenit befinden.«
»Du warst schon einmal an der Oberfläche«, stellte Quenthel fest.
»Ja«, antwortete Valas, sagte aber weiter nichts dazu.
»Wenn es jetzt mitten in der Nacht ist, was ist dann das für ein Leuchten dort am Himmel?« hakte sie nach. »Das muß der Tagesanbruch sein.«
»Das ist der Mond, der aufgeht.«
»Es ist nicht die Sonne, die sich über den Horizont erhebt? Es ist so hell!«
Valas sah auf, lächelte kühl und erklärte: »Wenn das die Sonne wäre, Herrin, wären jetzt nur noch halb so viele Sterne am Himmel zu sehen. Glaubt mir, es ist der Mond. Wenn wir hierbleiben, werdet Ihr die Sonne noch früh genug zu Gesicht bekommen.«
Quenthel schwieg, möglicherweise verärgert über ihren Fehler. Halisstra konnte es ihr nicht verübeln, war sie doch dem gleichen Irrtum erlegen.
»Womit sich eine wichtige Frage ergibt«, warf Pharaun ein. »Ich nehme an, daß wir nicht allzulange hierbleiben wollen. Was werden wir dann tun?«
Er sah Quenthel unverhohlen an und forderte sie mit seiner Frage heraus.
Quenthel sprang aber nicht darauf an, sondern betrachtete eindringlich den silbernen Schein im Osten, als hätte sie die Frage nicht gehört. Mondschatten, fahl wie Geister, wuchsen aus verwitterten Mauern und zerfallenden Säulen, so schwach, daß nur ein Drow sie wahrnehmen konnte, dessen Augen an die Düsternis des Unterreiches gewöhnt waren. Quenthel griff neben sich in den Sand und ließ die Körner durch ihre Finger rieseln, während sie beobachtete, wie der Wind diesen silbernen Strom wegwehte. Zum ersten Mal kam es Halisstra in den Sinn, Quenthel und die anderen Reisenden aus Menzoberranzan könnten die gleiche Erschöpfung, die gleiche Niedergeschlagenheit empfinden, die so schwer auf ihrem eigenen Herzen lastete – nicht, weil sie ihren Verlust spürten, sondern weil sie wußten, daß sie Zeuge eines großen, schrecklichen Verlustes geworden waren.
Das Schweigen hielt lange an, bis Pharaun sich bewegte und den Mund aufmachte, als wolle er wieder zum Sprechen ansetzen. Doch Quenthel kam ihm zuvor und sprach mit kalter und wütender Stimme: »Was wir tun werden? Wir werden tun, was ich sage. Wir sind erschöpft und verletzt, und ich verfüge nicht über Magie, die unsere Wunden heilen und uns Kraft geben könnte.« Sie verzog das Gesicht und ließ den restlichen Sand zu Boden rieseln. »Für den Augenblick werden wir ruhen. Ich werde morgen über unsere weitere Vorgehensweise entscheiden.«
Hunderte von Kilometern von den Überresten der Wüstenstadt entfernt stand ein anderer Drow ebenfalls in einer Ruinenstadt.
Es handelte sich um eine Stadt der Drow, ein aus dem Fels hervorspringendes Bollwerk aus schwarzem Stein, das aus der Wand einer immensen, lichtlosen Felsspalte emporwuchs. Von der Anordnung her war die Stadt einst etwas in der Art einer gewaltigen Festung auf einem ausladenden, felsigen Hügel gewesen, die ein wenig zur Seite geneigt war, um finster über einem klaffenden Loch in die Umgebung zu starren, aus dem übelriechende Winde von dem unergründlichen Abgrund darunter hinauf in Höhlen weit darüber wehten, die sich allen Blik-ken entzogen. Auch wenn die Türme und Spitzen sich mutig über eine furchterregende Klippe hinauslehnten, schien der Ort in keiner Weise an einem gefahrvollen Punkt gelegen zu sein. Das gewaltige Felsstück war einer der tragenden Pfeiler der Welt, ein dicker Spat, der so sicher in der Felswand verwurzelt war, daß allenfalls die Vernichtung Torils ihn würde losreißen können.
Die wenigen Gelehrten, die sich an den Ort erinnerten, kannten ihn als Chaulssin, die Stadt der Drachenschatten, und selbst von denen wußten noch die wenigsten, warum die Stadt so genannt wurde. In der lichtlosen Feste am Rande des Abgrunds waren die Schatten selbst mit Leben erfüllt. Pechschwarze Lachen aus purer Mitternacht, schwärzer als das Herz eines Drow, wanden sich und strömten von Turm zu Turm. Eine wispernde Finsternis schlängelte sich wie ein riesiger hungriger Drache um die nadelgleichen Spitzen und durch die zu einer Seite hin offenen gedeckten Gänge der toten Stadt. Von Zeit zu Zeit verschluckten die lebenden Schatten Teile der Stadt für Jahrhunderte und zogen so einen Palast oder einen Tempel hinunter an einen kalten Ort jenseits der Kreise dieser Welt.
Nimor Imphraezl schlich behutsam durch die verlassenen Gänge Chaulssins, scheinbar ohne die lebenden schwarzen Vorhänge wahrzunehmen, die an den dunklen Orten der Stadt tanzten und zuckten. Das zum Wahnsinn reizende Heulen des unablässigen Hurrikans, das sich jenseits der Stadtmauern erhob, zerrte an seinem Mantel und wirbelte sein langes Silberhaar durcheinander, doch er schenkte dem keine Beachtung. Dies war sein Ort, seine Zuflucht, und die Gefahren und der Wahnsinn stellten lediglich vertraute Akzente dar, die seine Aufmerksamkeit nicht verdienten. Nimor hatte die Statur eines schlanken, fast jungenhaften Elfen, was hieß, daß er klein und so schlank wie ein Schilfrohr war. Der höchste Punkt seines Kopfs reichte einer durchschnittlichen Frau kaum bis zur Nase, und jede Frau, die größer geraten war, überragte ihn mit Kopf und Schultern.
Trotz seiner zierlichen Statur strahlte Nimor Macht aus. Sein kleiner Wuchs schien von einer punktgenauen Stärke und tödlichen Schnelligkeit erfüllt, die in keinem Verhältnis zu seinen Proportionen stand. Sein Gesicht war schmal, aber hübsch, ja fast sogar schön anzusehen, und er trug die überlegene Arroganz eines adlig geborenen Drow zur Schau, der nichts fürchtete, was immer sich ihm auch in den Weg stellte. Es war eine Rolle, die er gut spielte, den Drow aus hohem Hause, den Prinz der Ruinenstadt. Wenn er noch etwas anderes war, wenn er mehr war ... nun, die wenigen Drow, die mit ihm dort lebten, waren nicht viel anders.
Nimor kam am Ende der Gangs an und begab sich ins Innere des Gebäudes, um eine breite Treppe hinaufzugehen, die durch das Herz des monolithischen Sporns geschnitten worden war, an den sich Chaulssin krallte. Die Kakophonie der Winde, die draußen tobten, verebbte rasch zu einem fernen, tiefen Flüstern, das zischend und durchdringend war. Nirgends in Chaulssin gab es eine Stelle, an der man diesen Geräuschen entkommen konnte. Er legte eine Hand aufs Heft seines Rapiers und folgte den spiralförmig verlaufenden schwarzen Stufen hinauf in einen dunklen Saal, eine gewölbte Kathedrale aus Schatten mitten im Herzen der Stadt. Flackernde, ewig brennende Fackeln in bronzenen Halterungen warfen schwache, scharf umrissene Lachen aus Licht entlang den gewellten Mauern, rote Streifen, die sich in der Schwärze des Gewölbes darüber verloren. Dort oben waren die Schatten wahrhaftig dicht, eine aufgewühlte Quelle aus Finsternis, die nicht einmal Nimors Augen durchdringen konnte.
»Nimor. Ihr kommt spät.«
Die sieben Vaterpatrone der Jaezred Chaulssin, die in der Mitte des Raums im Kreis standen, drehten sich gleichzeitig um, als sich Nimor näherte. Am entgegengesetzten Rand des Kreises hatte Großvaterpatron Mauzzkyl seinen Platz, ein rüstiger alter Drow mit breiten Schultern, dessen Haar deutliche Geheimratsecken aufwies.
»Die Vaterpatrone warten nicht zum Vergnügen der Gesalbten Klinge der Jaezred Chaulssin«, sagte Mauzzkyl.
»Verehrter Großvater, meine Verspätung war unvermeidbar«, erwiderte Nimor.
Er nahm den Platz im Kreis ein, der für ihn freigehalten worden war, deutete aber keine Verbeugung an, so wie er auch von den anderen keine derartige Geste erwartete. Als Gesalbte Klinge war er nur dem Großvaterpatron Rechenschaft schuldig, und tatsächlich nahm er mit Ausnahme von Mauzzkyl einen höheren Rang ein als jeder andere der Jaezred Chaulssin.
»Ich bin soeben aus Menzoberranzan zurückgekehrt«, fügte er an, »und verharrte dort, so lange ich konnte, um die Ereignisse vor meiner Abreise zu beobachten.«
»Wie sieht es dort aus?« fragte Vaterpatron Tomphael. Er war schlank, verwegen und ähnelte im Aussehen Nimor, jedoch zog er das Gewand eines Magiers dem Kettenhemd eines Kriegers vor, und er konnte so behutsam in seinem Verhalten sein, daß es manchmal an Feigheit reichte. »Wie kommt die Revolte voran?«
»Nicht so gut, wie ich es gern gesehen hätte, aber in etwa so wie erwartet«, gab Nimor zu. Tomphaels Erkenntniszauber hatten diese Einsicht zweifellos längst gezeigt. Hoffte der Vaterpatron, die Gesalbte Klinge dabei zu ertappen, wie sie einen Fehler zu verschweigen versuchte? Nimor mußte angesichts dieser Einfalt fast lächeln. »Die Sklaven wurden zermalmt. Gromph Baenre mischte sich ein, und es scheint, als hätten seine Leute unseren Illithiden-Freund vernichtet oder vertrieben. Positiv ist, daß wir den gemeinen Menzoberranzanyrn etwas von der Schwäche der Spinnenküsserinnen zeigen konnten. Das ist vielversprechend, und die Priesterinnen waren uns gefällig, indem sie einen beträchtlichen Teil ihres Vorrats an gehorteter Magie aufbrauchten, um ihre aufständischen Sklaven zu vernichten. Die Stadt ist geschwächt.«
»Ihr hättet Euch unmittelbarer in die Angelegenheit einmischen können«, sagte Patron Xorthaul, der das schwarze Kettenhemd eines Priesters trug. »Hättet Ihr die Lakaien des Erzmagiers getötet, dann ...«
»Die Revolte, die wir förderten, wäre so oder so niedergeschlagen worden, und ich hätte sie zu früh aufmerksam werden lassen«, fiel Nimor ihm ins Wort. »Vergeßt nicht, Patron Xorthaul, dies sollte nie etwas anderes sein als eine simple Finte, die leicht abzuwehren war und durch die wir einen Eindruck von der wahren Schlagkraft der Muttermatronen Menzoberranzans gewinnen konnten. Der nächste Schlag wird ihre Streitkräfte niederringen und tief in ihr Fleisch einschneiden.« Er beschloß, das Thema zu wechseln und statt dessen einen anderen in die Defensive zu drängen. »Da ich als letzter kam, weiß ich nichts darüber, welche Fortschritte in den anderen Städten gemacht werden. Was ist mit Eryndlyn? Oder Ched Nasad?«
Auf den grausamen Mienen zeichnete sich ein eisiges Lächeln ab. Nimor kniff die Augen zusammen. Es kam nicht oft vor, daß die Vaterpatrone ein Ereignis mitbekamen, an dem sie gemeinschaftlich Gefallen fanden. Mauzzkyl persönlich berichtete ihm von den neuen Entwicklungen.
»In Eryndlyn machen wir die erwarteten Fortschritte – Tomphael brachte Ergebnisse mit, die den Euren recht ähnlich sind. Doch Ched Nasad ... aus Ched Nasad kehrte Zammzt im Triumph zurück.«
»Tatsächlich?« fragte Nimor, der wider Willen beeindruckt war.
Er widerstand einem heißen Aufwallen von Eifersucht und wandte sich Zammzt zu. Der Drow war so unscheinbar, daß er genausogut ein niederer Waffen- oder Schwertschmied hätte sein können, ein bürgerlicher Kunsthandwerker, der nur geringfügig bedeutender war als ein Sklave. Zammzt verschränkte die Arme vor der Brust und nickte in Anerkennung der Bemerkung, die Großvater Mauzzkyl gemacht hatte.
»Was geschah?« fragte Nimor. »Ched Nasad hätte nicht so leicht fallen dürfen.«
»Wie sich herausstellte, Gesalbte Klinge, hatten die Steinbrandbomben, die Eure Duergar lieferten, einen verheerenden Effekt auf die Netze, auf denen Ched Nasad errichtet worden war«, sagte Zammzt, der seine Unterwürfigkeit zweifellos nur vortäuschte. »Wie die Flamme ein Spinnennetz verzehrt, so zerfraß der Steinbrand die Grundfesten der Stadt. Da die Burgen und die Paläste wie brennende Papierfetzen auf den Höhlenboden stürzten, gelang es den Bewohnern Ched Nasads nicht, eine echte Verteidigung aufzubauen. Keine Feste, die irgendwelche Bedeutung besitzt, hat die Flammen überlebt, und nur wenige der Hausarmeen entkamen der Feuersbrunst, von der die Höhle erfaßt wurde.«
»Was ist von der Stadt übrig?«
»Sehr wenig, fürchte ich. Eine Reihe isolierter Bezirke und die Gebäude, die in Nebenhöhlen liegen, haben das Feuer überlebt. Von der Bevölkerung der Stadt kam schätzungsweise die Hälfte beim Zusammensturz ums Leben. Etwa ein Drittel trat die Flucht in die anderen Tunnel an, wo zweifellos jeden von ihnen ein unerfreuliches Ende erwartet. Die meisten Überlebenden gehören zu den unbedeutenderen Häusern, die mit uns verbündet sind oder die sehr schnell die neue Ordnung in der Stadt zu schätzen gelernt haben.«
Nimor strich sich übers Kinn und sagte: »Das heißt, von den zwanzigtausend in der Stadt sind nur noch dreitausend übrig?«
»Eher noch weniger, da die Sklaven aus der Stadt geflohen sind«, erwiderte Zammzt und erlaubte sich ein boshaftes Grinsen. »Von den Spinnenküsserinnen ist nichts mehr übrig.«
»Wahrscheinlich entkam eine Reihe von Priesterinnen mit denen, die ins Unterreich flohen«, überlegte Nimor. »Nicht alle werden in den Tunnels sterben. Trotzdem ist das eine großartige Neuigkeit. Wir haben unsere erste Stadt Lolths Herrschaft entrissen, und weitere werden ganz sicher folgen.«
Xorthaul, der Priester im Kettenhemd, schnaubte. »Welchen Sinn hat es, die Lolth-Verehrer aus einer Stadt zu jagen, wenn man die Stadt vernichten muß, um das zu erreichen?« wollte er wissen. »Wir mögen nun über Ched Nasad herrschen, aber unsere Herrschaft beschränkt sich auf einen qualmenden Felsspalt und ein paar arme Weiber.«
Mauzzkyl verlagerte sein Gewicht ein wenig und gab schneidend zurück: »Das ist egal, Xorthaul. Wir sprachen doch schon über den Preis unserer Bemühungen. Jahrzehnte, ja Jahrhunderte des Elends sind unbedeutend, wenn wir unser Ziel erreichen. Geduld ist unser Meister.« Der Großvater lächelte. »Wir haben in nur zwei Monaten etwas erreicht, für das unsere Väter in der Jaezred Chaulssin jahrhundertelang arbeiteten. Ich würde ohne zu zögern im Unterreich ein Dutzendmal das wiederholen, was Ched Nasad widerfuhr, wenn es bedeutet, daß unsere Rasse sich auf diese Weise aus dem Griff der Spinnenkönigin befreien kann. Ched Nasad mag in Ruinen liegen, doch wenn die Stadt wieder aufersteht, dann nach unseren Vorstellungen, mit einer Gesellschaft, die durch unseren Glauben geformt und die unbemerkt von uns geführt werden wird. Wir sind nicht einfach nur Mörder oder Anarchisten, Xorthaul, wir sind die kalte Hand, die die Schwachen aussortiert, die Klinge, die die Geschichte formt.«
Die versammelten Drow nickten zustimmend. Mauzzkyl wandte sich zu Nimor um.
»Nimor, meine Gesalbte Klinge. Menzoberranzan schreit nach dem Feuer, das Ched Nasad läuterte. Scheitere nicht.«
»Verehrter Großvater, ich versichere Euch, das werde ich nicht«, entgegnete Nimor. »Ich habe meinen nächsten Zug schon geplant. Ich kam zu einer Übereinkunft mit einem der großen Häuser. Dieses Haus wird hinter uns stehen, aber es braucht eine Demonstration unserer Entschlossenheit und unserer Fähigkeiten. Ich bin recht zuversichtlich, daß ich eine solche Demonstration erbringen kann. In wenigen Tagen wird in einem Haus in Menzoberranzan eine Muttermatrone verschwunden sein und eine weitere wird sich in unserem Netz verfangen haben.«
Mauzzkyl lächelte kühl und zustimmend, dann sagte er: »Ich wünsche Euch eine gute Jagd.«
Nimor verbeugte sich, dann drehte er sich um und verließ den Kreis. Er hörte, wie sich hinter ihm die Versammlung der Vaterpatrone auflöste und jeder von ihnen in sein eigenes verborgenes Haus in einer der Städte zurückkehrte, die über Tausende von Meilen im Unterreich verstreut waren. Geheime Kabale der Jaezred Chaulssin existierten in mindestens einem niederen Haus in den meisten Drow-Städten. Jeder Vaterpatron herrschte absolutistisch über diese Verschwörung, die Generationen umfaßte, ganze Jahrhunderte, und die vom brennenden Haß der Drow aufeinander lebte. Die unerfreuliche Ausnahme war Menzoberranzan. Dort herrschte seit langer Zeit die alte Matrone Baenre, die nie zugelassen hatte, daß das Haus der Assassinen Fuß fassen konnte. Während acht Vaterpatrone in Städte zurückkehrten, in denen Dutzende loyaler Auftragsmörder und Priester – deren Götter Lolth haßten – ihrem Befehl unterstanden, begab sich Nimor Imphraezl allein nach Menzoberranzan, um weiter an der Vernichtung einer Stadt zu arbeiten.
Der Sonnenaufgang war grandios und schrecklich. Eine Stunde lang oder länger war es immer heller und heller geworden, die Sterne waren am rosafarben gestreiften Himmel immer blasser geworden, und der eisige Wüstenwind hätte endlich nachgelassen. Halisstra wartete darauf, daß die Sonne aufging, und betrachtete das Schauspiel von einer zum Teil eingestürzten, zum Teil verschütteten Mauer aus. Lange bevor sich die Sonne über den Horizont hob, wunderte sich Halisstra darüber, wie weit sie sehen konnte, als sie dunkle, schroffe Berge ausmachte, die vielleicht fünfzehn, vielleicht aber auch hundertfünfzig Kilometer entfernt waren. Als endlich die Sonne aufging, kam es ihr so vor, als ergieße sich ein Brunnen aus flüssigem Gold über die karge Landschaft, der Halisstra so sehr blendete, daß sie keuchend die Handflächen auf die Augen preßte. Die schmerzten von dem kurzen Moment so sehr, als hätte ihr jemand weißglühende Dolche in den Kopf gejagt.
»Das war nicht sehr klug, Herrin«, murmelte Danifae, die dicht bei ihr stand. »Unsere Augen sind nicht für einen solchen Anblick gemacht. Ihr könntet Euch verletzen ... und ohne Lolths Gunst könnte es schwierig sein, Euch zu heilen.«
»Ich wollte den Tagesanbruch sehen«, erwiderte Halisstra.
Sie wandte sich vom Licht des Tages ab und schirmte ihre Augen ab, dann sprang sie in den Sand und damit in den Schatten der Mauer. Dort konnte sie die Helligkeit der Sonne noch aushalten, doch wie würde es erst mitten am Tag sein? Würden sie überhaupt noch etwas erkennen können, oder würden sie völlig geblendet sein?
»Früher«, sagte sie, »betrachteten unsere Ahnen am hellichten Tag diese Welt, ohne sich vor der Sonne zu schützen. Sie bewegten sich ohne Angst unter dem freien Himmel, unter den Feuern des Tages. Für sie war die Finsternis Grund, sich zu fürchten. Kannst du dir das vorstellen?«
Danifae reagierte mit einem schwachen Lächeln, das sich aber nicht in ihren Augen widerspiegelte. Halisstra kannte diesen Blick nur zu gut. Ihre Dienerin setzte diese Miene immer auf, wenn sie ihrer Herrin gefallen wollte, indem sie einer Bemerkung zustimmte, auf die sie keine Erwiderung wußte. Danifae deutete mit einer Kopfbewegung auf den zerfallenen Palast und seinen Hof.
»Baenre hat Pharaun und die anderen zu sich gerufen«, erklärte ihre Gefangene. »Ich glaube, sie will entscheiden, was als nächstes geschehen soll.«
»Hat sie mich dazugerufen?« fragte Halisstra.
»Nein.«
Halisstra riß den Kopf hoch, aber Danifae zuckte nur verlegen mit den Schultern. »Ich dachte, Ihr würdet in jedem Fall anwesend sein wollen.«
»Allerdings«, erwiderte Halisstra.
Sie strich ihren Mantel glatt und sah sich noch einmal in den zerfallenden Ruinen um, die sich erstreckten, so weit das Auge reichte. In den langen Schatten, die die Morgensonne warf, leuchteten die Oberkanten der Ruinen orangefarben auf, während sich hinter ihnen eine Lache aus völliger Schwärze erstreckte. Seit der Wind sich gelegt hatte, spürte Halisstra eine Aura der Wachsamkeit, möglicherweise ausgehend von einer alten Feindseligkeit, die irgendwo inmitten der Mauern und eingefallenen Kuppeln lauerte.
Die beiden machten sich auf den Weg zurück zum Lager der Gruppe auf dem Hof und schlossen sich wortlos der Diskussion an. Quenthel warf beiden einen Blick zu, als sie sich ihr näherten, konzentrierte sich aber weiter auf die anderen.
»Wir haben herausfinden können, daß die Priesterinnen Ched Nasads Lolths Gunst ebenso verloren haben wie wir selbst. Den Grund konnten wir nicht eruieren. Wir haben erfahren, daß Häuser, die mit uns Handelsbeziehungen unterhielten und dadurch sowie durch Blutsbande mit uns verbündet waren, sich entschlossen, jene Güter, die wir dringend benötigten, sich selbst einzuverleiben und sich gegen uns zu wenden. Es gelang uns nicht, die Transporte nach Menzoberranzan wieder auf den Weg zu bringen ...«
»Was man kaum uns zur Last legen kann«, warf Pharaun ein. »Die Stadt wurde zerstört. Der Status der Handelsinteressen der Baenre in Ched Nasad ist hinfällig.«
Quenthel fuhr fort, als hätte der Magier nichts gesagt: »Schließlich finden wir uns in einem gottverlassenen Teil der Welt an der Oberfläche wieder, wir wissen nicht, wie weit es bis nach Hause ist, wir haben praktisch keine Vorräte mehr und wir sind in einer ungastlichen Wüste gestrandet. Habe ich die Ereignisse zutreffend zusammengefaßt?«
Valas rutschte unbehaglich hin und her. »Bis auf den letzten Punkt. Ich vermute, wir befinden uns in der Wüste Anauroch, genauer gesagt, im nordwestlichen Teil. Wenn ich nicht irre, dann liegt Menzoberranzan etwa achthundert Kilometer westlich von hier ... und dann natürlich noch ein ganzes Stück in die Tiefe.«
»Du warst hier schon?«
»Nein«, erwiderte Valas, »aber es gibt in Faerûn nur wenige Wüsten, vor allem so weit im Norden, daher stehen die Chancen recht gut, daß wir uns in der Anauroch befinden. Fünfundsechzig bis siebzig Kilometer westlich von uns gibt es eine Gebirgskette mit schneebedeckten Gipfeln, die man bei Tageslicht recht deutlich sehen kann. Ich halte sie für die Graugipfelberge oder die Nesserberge. Es könnte sich auch um das Eisgebirge handeln, aber wenn wir so weit nördlich wären, daß wir sie sehen könnten, dann müßten wir uns eigentlich schon im Hocheis befinden, aber nicht in diesem sandigen, steinigen Abschnitt der Großen Wüste.«
»Ich vertraue auf deinen Orientierungssinn, aber ich kann nicht behaupten, daß mir der Gedanke gefällt, achthundert Kilometer in der Welt an der Oberfläche zurückzulegen, um nach Hause zu gelangen«, meinte Ryld und fuhr sich durch sein kurzgeschnittenes Haar. In seiner Rüstung bewegte er sich steif, denn unter dem Kettenzeug war er von der verzweifelten Flucht aus Ched Nasad übel zugerichtet. »Die Zitadelle Adbar, Sundabar und Silbrigmond lägen auf unserem Weg, und nirgends ist unsereins gern gesehen.«
»Sollen sie versuchen, uns aufzuhalten«, knurrte Jeggred. »Wir reisen nachts, wenn Menschen und Licht-Elfen blind sind. Selbst wenn uns jemand über den Weg laufen sollte – die Wesen von der Oberfläche sind schwach. Ich habe keine Angst vor ihnen, und das solltet Ihr auch nicht.«
Ryld nahm Anstoß an den Worten des Draegloth, doch Quenthel brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen.
»Wir werden tun, was nötig ist«, erklärte sie. »Wenn wir die nächsten zwei Monate damit verbringen müssen, uns im Schutze der Nacht durch die Reiche an der Oberfläche zu schleichen, dann werden wir das tun.«
Sie wandte sich elegant ab und stolzierte davon, während ihr Blick gedankenverloren über die Ruinen wanderte.
Die Gruppe verfiel in Schweigen, als die Drow Quenthel nachblickten. Pharaun erhob sich und zog seinen Piwafwi enger um seinen schlanken Leib. Der schwarze Mantel flatterte im eisigen Wind.
»Die Frage, die mich beschäftigt«, sagte Pharaun, ohne einen aus der Gruppe gezielt anzusprechen, »ist die, ob wir erreicht haben, was wir uns vorgenommen hatten. Mir gefällt der Gedanke nicht, nach Menzoberranzan zurückzukriechen und dort nach Monaten nur mit der Nachricht aufzutauchen, daß Ched Nasad gefallen ist.«
»Keine Priesterin Lolths kennt die Antworten, die wir suchen«, gab Quenthel zurück. »Wir werden nach Menzoberranzan zurückkehren. Ich kann nur darauf vertrauen, daß die Göttin den Grund für ihr Schweigen erklärt, wenn ihr danach ist.«
Pharaun verzog das Gesicht und sagte: »Blinder Glaube ist ein schwacher Ersatz für einen Plan, mit dem Ihr an die gesuchten Antworten gelangen könnt.«
»Der Glaube an Lolth ist das einzige, was wir noch haben«, fuhr Halisstra ihn an. Sie näherte sich dem Meister Sorceres um einen halben Schritt. »Ihr habt offenbar vergessen, welchen Rang Ihr einnehmt, wenn Ihr eine Hohepriesterin Lolths so ansprecht. Vergeßt es nie wieder.«
Pharaun öffnete den Mund, um zu einer Erwiderung anzusetzen, die zweifellos noch viel schärfer ausgefallen wäre, doch Ryld, der neben ihm saß, räusperte sich lautstark und kratzte sich am Kinn. Der Magier hielt einen Moment inne und fühlte, daß der Blick seines Gefährten auf ihm ruhte. Dann zuckte er die Achseln.
»Ich wollte damit nur zum Ausdruck bringen, daß es aus meiner Sicht klar ist, daß die Spinnenkönigin von uns erwartet, den Grund für ihr Schweigen herauszufinden.«
»Was schlagt Ihr vor, wie wir das bewerkstelligen sollen?« fragte Quenthel. Sie verschränkte die Arme und wirbelte herum, um Pharaun anzufunkeln. »Vielleicht habt Ihr es ja schon vergessen, aber wir haben monatelang versucht, den Grund für ihr Schweigen herauszufinden.«
»Aber wir haben nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, nicht?« erwiderte Pharaun. »In Ched Nasad sprachen wir davon, Unterstützung in Gestalt eines Priesters Vhaerauns zu erbitten, möglicherweise in der Person von Meister Hunes Bekanntem, Tzirik. Wir haben schließlich neben Lolth auch noch andere Gottheiten. Ist es so aus der Luft gegriffen, es für möglich zu halten, ein anderer Gott könnte uns Lolths Schweigen erklären?«
Wieder machte sich Schweigen breit. Worte wie die des Magiers hörte man nicht oft in Menzoberranzan. Nur wenige wagten es, in der Gegenwart des Klerus Lolths so etwas offen auszusprechen.
»Ich sehe keinen Grund, einen männlichen Ketzer um einen Gefallen anzubetteln, der einen elenden Welpen von einem Gott verehrt«, sagte Quenthel. »Ich bezweifle, daß Lolth sich dazu herabgelassen hat, ihre Absichten irgendeiner unbedeutenderen Macht zu verraten.«
»Da könntet Ihr recht haben«, konterte Pharaun. »Immerhin hat sie sich Euch ja auch nicht anvertraut.«
Jeggred fauchte den Magier an, und Pharaun hob beschwichtigend die Hände und verdrehte die Augen.
Valas benetzte nervös seine Lippen und warf ein: »Die meisten von Euch haben den größten Teil ihres Lebens in Menzoberranzan verbracht, was für Drow von Eurer Position auch angemessen ist. Ich dagegen bin weit gereist und habe Orte besucht, an denen es heimlich – und in einigen Fällen sogar völlig unverhohlen – gestattet ist, andere Götter als Lolth anzubeten.« Der Späher sah, wie sich Quenthels Miene verfinsterte und Halisstra nicht anders reagierte, erschrak darüber, redete aber dennoch weiter. »Unter der weisen Herrschaft der Muttermatronen hat sich die Anbetung anderer Drow-Götter als Lolth in Menzoberranzan kaum entwickeln können. Es mag auch sein, daß das Praktizieren dieser Verehrung bei Euch nicht sonderlich gut angesehen ist, dennoch kann ich die Tatsache bezeugen, daß die Priester der niederen Götter unserer Rasse auch Zauber und Führung von ihren Gottheiten erhalten können.«
»Wo könnten wir Tzirik finden?« fragte Ryld.
»Als ich ihm das letzte Mal begegnete, da lebte er inmitten einer Gruppe Ausgestoßener in einer entlegenen Region, die als das Labyrinth bekannt ist – gut hundertfünfzig Kilometer südwestlich des Dunkelsees. Aber das ist lange her.«
»Ausgestoßene«, schnaubte Halisstra.
Sie war nicht die einzige, die ihren Ekel kundtat. Im ewigen Spiel zwischen den großen Häusern der Drow gab es auch Verlierer. Die meisten von ihnen starben, doch manche zogen eine Flucht dem Tod vor und führten eine harte, schmähliche Existenz in den fernen Regionen des Unterreiches. Manche verließen ihre Heimatstadt auch aus anderen Gründen – darunter, so vermutete Halisstra, auch die Verehrung anderer Götter als Lolth. Sie konnte sich kaum vorstellen, daß jemand, der so schwach war, daß er sich aus seiner Heimat vertreiben ließ, ihnen helfen konnte.
»Wir lösen unsere Probleme selbst«, sagte sie.
Pharaun sah Halisstra spöttisch an.
»Ich vergaß ganz, daß Ihr ja inzwischen einige Erfahrung darin gesammelt habt, welch besonderes Mißvergnügen es darstellt, seiner Heimatstadt beraubt zu werden«, kommentierte er. »Ich bewundere es, wie schnell Ihr es geschafft habt, Euch in ›unsere‹ Diskussion über ›unsere‹ Probleme einzubeziehen. Eure Selbstlosigkeit ist löblich.«
Halisstra preßte die Lippen zusammen, als sie seine bissigen Worte hörte. Es gab Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Überlebenden aus Ched Nasad, die in den zahlreichen Tunnels und Schlupfwinkeln in den schwarzen Höhlen und Gängen rings um die Stadt verstreut waren. Die meisten von ihnen würden im Maul eines geistlosen Ungeheuers enden, oder Drow aus anderen Städten würden sie fangen und zu Sklaven machen. Oder noch schrecklichere Rassen des Unterreiches wie die Gedankenschinder oder Abolethen bekamen sie zu fassen. Ein paar von ihnen durften hoffen, dank ihres Verstandes und ihres Erfindungsreichtums zu überleben. Es war nicht ungewöhnlich, daß ein Haus einen geschlagenen Feind aufnahm, wenn er seine Nützlichkeit unter Beweis hatte stellen können. Haus Melarn war tot. Ganz gleich, wohin Halisstra auch ging, sie mußte ganz von vorn anfangen. Die Vorteile, die sie dank Geburt, Reichtum und Macht in ihrer Stadt genossen hatte, waren mit einem Mal bedeutungslos.
Sie dachte gründlich nach, da sie merkte, daß die anderen Drow sie sehr aufmerksam ansahen. »Verschont mich mit Eurem Mitleid«, zischte sie Pharaun schließlich an. In ihrer Stimme war eine Willenskraft zu hören, die sie nicht fühlte. »Wenn ich mich nicht allzusehr irre, ist Menzoberranzan nicht mehr weit von dem Schicksal entfernt, das Ched Nasad ereilt hat, ansonsten wärt Ihr niemals hergekommen, um um unsere Hilfe zu ersuchen. Unsere Probleme sind auch Eure Probleme, oder?«
Ihre Worte zeigten Wirkung. Pharaun sah weg, während sich die anderen Reisenden aus Menzoberranzan unbehaglich wanden und gegenseitig ihre Reaktionen beobachteten. Quenthel zuckte unübersehbar und verzog das Gesicht.
»Es reicht, und damit meine ich Euch beide!« erklärte sie, dann wandte sie sich an Valas Hune. »Dieser ausgestoßene Vhaeraun-Priester – warum sollte er uns helfen wollen? Es ist nicht anzunehmen, daß er unserer Sache besonders aufgeschlossen gegenübersteht.«
»Das kann ich nicht sagen«, antwortete Valas. »Ich kann Euch zu ihm bringen. Was dann geschieht, hängt einzig von Euch ab.«
Schweigen machte sich auf dem trümmerübersäten Hof breit. Die Sonne stand eine doppelte Handbreit über dem Horizont, gleißende Strahlen aus reinem Licht schnitten sich durch Lücken in den hohen Mauern in die Dunkelheit dahinter. Die Ruinen waren nicht so verlassen, wie Halisstra zunächst angenommen hatte. Sie hörte leise Geräusche, die von kleinen Kreaturen stammten, die sich über den Sand und das Geröll bewegten.
»Das Labyrinth ist nur hundertfünfzig Kilometer vom Dunkelsee entfernt?« fragte Quenthel, woraufhin der Späher einmal knapp nickte. Quenthel verschränkte die Arme und dachte nach. »Dann ist das kein allzu großer Umweg von unserem Heimweg. Pharaun, beherrscht Ihr Magie, die unser Vorankommen beschleunigen könnte? Der Gedanke, uns den Weg durch die Oberflächenreiche freizukämpfen, behagt mir so wenig wie dem Waffenmeister.«
Der Magier grinste anzüglich und stand auf, während Quenthels Hilfeersuchen ihn förmlich strahlen ließ.
»Teleportation ist riskant«, erklärte er. »Zum einen macht die Faerzress des Unterreiches die Anwendung von Transportzaubern zu einer gefährlichen Angelegenheit. Darüber hinaus habe ich das Labyrinth noch nie besucht, also habe ich auch keine Ahnung, wohin ich mich begebe. Ich würde fast sicher scheitern. Ich kenne allerdings einen Zauber, der mich oder einen anderen in eine Form verwandelt, die für eine Reise geeigneter ist. Wenn wir Drachen oder Riesenfledermäuse oder etwas anderes wären, das nachts gut reisen kann ...« Der Magier tippte sich ans Kinn, während er über das Problem nachdachte. »Wen immer wir dazu veranlassen, als Reittier für die anderen herzuhalten, er würde dieses Aussehen behalten müssen, bis ich ihn zurückverwandle. Dabei reden wir immer noch von einigen Zehntagen Reise. Oder ... ich kenne einen Zauber, um durch Schatten zu gehen. Der ist aber gefährlich, und ich könnte uns nicht direkt bis ins Labyrinth bringen, da ich dort noch nie gewesen bin und der Zauber am besten nur dann benutzt wird, wenn man an Orte reist, die man gut kennt. Ich könnte Euch nach Mantol-Derith bringen, das dicht am Ufer des Dunkelsees liegt. Das würde unsere Reise beträchtlich verkürzen.«
»Warum habt Ihr das nicht schon früher gesagt, als wir darüber sprachen, daß wir monatelang über die Oberfläche wandern müßten?« fragte Jeggred und schüttelte den Kopf.
»Wenn du zurückdenkst, wirst du dich sicher erinnern, daß wir noch nicht entschieden hatten, wohin wir uns begeben«, erwiderte Pharaun. »Meine Absicht war es, zum rechten Zeitpunkt meine Dienste anzubieten.«
»Du hättest uns dann doch von Menzoberranzan nach Ched Nasad transportieren können. Warum um alles in der Welt sind wir gelaufen?«
»Weil ich Grund habe, die Ebene der Schatten zu meiden. Als junger und viel impulsiverer Magier mußte ich auf unerfreuliche Weise erfahren, daß das Schattenwandeln keinen besonderen Schutz davor bietet, von jenen Kreaturen, die im dunklen Reich leben, bemerkt zu werden. Ich wäre fast von etwas aufgefressen worden, dem ich nicht noch einmal begegnen möchte.« Der Magier grinste und fügte an: »Demzufolge betrachte ich das Schattenwandeln heutzutage als allerletzte Möglichkeit. Ich habe es jetzt nur vorgeschlagen, weil ich es für geringfügig ungefährlicher halte, als etliche Zehntage durch die Welt an der Oberfläche zu reisen.«
»Wir werden jede gebotene Vorsicht walten lassen«, sagte Quenthel. »Laßt uns aufbrechen.«
»Nicht so schnell. Ich muß den Zauber vorbereiten. Es wird eine Stunde dauern, bis ich soweit bin.«
»Dann ans Werk«, forderte Quenthel. Sie sah sich um und schirmte ihre Augen ab. »Je eher wir wieder unter der Oberfläche sind, desto besser.«