13

Die Häuser Menzoberranzans machten mobil. Aus einem Dutzend Burgen, Palästen, Höhlen und Festen marschierten drahtige Männer in eleganten schwarzen Kettenhemden stolz in Kolonnen oder thronten hoch auf einer Flugechse, Wimpel flatterten an Lanzen. Unter normalen Umständen hätte jedes Haus Hunderte von Sklavenkriegern mehr losgeschickt, bei denen es sich um einen wilden Haufen aus Kobolden, Orks, Goblins und Ogern gehandelt hätte. Die wären in die Schlacht gezogen, ehe die kostbaren Drow-Truppen ihnen gefolgt wären, doch nach dem Aufstand der Alhoons waren bewaffnete Sklaven eher die Ausnahme. Tausende niederer Humanoiden hatten die fehlgeschlagene Revolte ebenso überlebt wie die verheerenden Gegenmaßnahmen, die sich angeschlossen hatten. Dennoch waren die Verluste unter den Kriegern der Sklavenrassen massiv gewesen. Selbst die, denen man erlaubte, sich zu ergeben, waren nicht mehr vertrauenswürdig genug, um Waffen zu tragen.

Nimor saß im Sattel einer Streitechse Agrach Dyrrs und lächelte zufrieden, als die Streitmacht des Hauses Dyrr an ihm vorbeimarschierte. Die Kompanien sammelten sich auf einem kleinen, beengten Platz nahe der Grenze zwischen der Westmauer und Narbondellyn, der ironischerweise gar nicht einmal so weit vom Haus Faen Tlabbar entfernt gelegen war. Jeder Schwertkämpfer der Drow trug neben seinen Waffen und seiner Rüstung auch leichtes Gepäck, und eine Art Versorgungszug bildete sich, da jeder Trupp seine eigenen Packechsen und sein Gefolge mitbrachte. Viele Gemeine der Stadt waren gekommen, um zuzusehen, wie sich die Armee aufstellte, die bei weitem den größten Aufmarsch an Soldaten darstellte, den die Muttermatronen seit dem fehlgeschlagenen Angriff auf Mithralhalle vor vielen Jahren befehligt hatten.

»Ich darf annehmen, die Ratssitzung ist gut gelaufen«, sagte Dyrr, der bei Nimors Steigbügel stand.

Der untote Hexenmeister erschien natürlich nicht in seiner eigenen Gestalt, nicht einmal als der alte Mann, als der er sich in seinem Haus zeigte. Sein gegenwärtiges Erscheinungsbild war das eines unscheinbaren, jungen Magiers von Agrach Dyrr, der die feinen Gewänder seines Hauses trug.

»Deine Muttermatrone war gut vorbereitet«, erwiderte Nimor. Er sprach leise, auch wenn niemand in der Nähe war, der sie hätte belauschen können. »Wir haben die Hälfte aller Soldaten der Stadt für die Schlacht aufgestellt.«

»Yasraena hat sich als nützliches Aushängeschild erwiesen«, stellte der Leichnam fest. »Ich habe ein Dutzend oder mehr Muttermatronen Dyrr miterlebt, und von Zeit zu Zeit stelle ich fest, daß eine Frau gegen meine ... sagen wir ... ungewöhnliche Position innerhalb des Hauses ist. Yasraena würde mich töten, wenn sie könnte, aber selbstverständlich weiß sie, daß Agrach Dyrr zwangsläufig vernichtet würde, sollte mir etwas Unerfreuliches widerfahren. Ich habe sie von den seit langem bestehenden Vereinbarungen in Kenntnis gesetzt, um sie davon abzuhalten, mir eine Überraschung zu bereiten.«

Nimor lachte ironisch und entgegnete: »Ich glaube, Ihr seid höchst selten einmal überrascht, Meister Dyrr.«

»Erfolg erwächst aus Vorbereitung, junger Nimor. Betrachte dies als deine Lektion für heute.« Der Leichnam verzog seinen illusionären Mund zu einem Lächeln, dann entfernte er sich. »Viel Glück bei Eurem Unterfangen, Hauptmann.«

Nimor wendete seine Streitechse auf der Stelle, als die letzte Kolonne ihn passiert hatte.

Er wandte sich noch einmal dem Leichnam zu und sagte: »Ein letztes Wort. Narbondel wurde vor Zehntagen einmal mit Verspätung mit Licht erfüllt, seitdem geschah es aber jeden Tag pünktlich. Es heißt überall in der Stadt, die Meister Sorceres hätten ihren Erzmagier ersetzt.«

Dyrr spreizte lächelnd die Hände.

»Da Erzmagus Baenre für einige Zeit nicht zur Verfügung stehen könnte«, entgegnete der Leichnam, »würde es mir gefallen, wenn die Meister Sorceres aus eigenem Antrieb bestimmten, wer Gromphs Platz einnehmen soll.«

»Hätten Muttermatrone Baenre und der Rat dabei nicht ein Wörtchen mitzureden?«

»Nicht, wenn den versammelten Meistern bewußt wird, welche Macht sie innehaben«, sagte Dyrr. »Ich bin natürlich kein Mitglied der Akademie, dafür aber einige junge Hündchen meines Hauses, die mich gut auf dem laufenden halten. Die Meister diskutieren, ob es wohl an der Zeit sei, mit der Tradition zu brechen und selbst einen Erzmagier zu benennen. Aber die Hälfte von ihnen sinnt darüber nach, wie sie jeden Konkurrenten eliminieren können, der klug und mutig genug ist, um den Posten anzunehmen, während die andere Hälfte überlegt, ob sie lieber in ihr eigenes Haus zurückkehren und dort herrschen sollen. Ein solcher Bruch mit dem Rat zöge einen Bürgerkrieg nach sich, und die wenigen Meister, denen noch immer nicht klar ist, daß der Bürgerkrieg bereits tobt, beharren darauf, den Status Quo beizubehalten, da man sich vor Lolths Rückkehr fürchtet. Ungeachtet dessen ist Sorcere seit Gromph Baenres Verschwinden praktisch gelähmt.«

Der Leichnam wandte sich ab und ging auf seinen großen Stab gestützt weg, wobei er ein trockenes, rauhes Gelächter ausstieß.

Nimor hob eine Braue und sah dem Leichnam nach, wobei er über die Worte seines Verbündeten nachdachte. Dann folgte er der Kolonne.

»Leutnant Jazzt!« rief er.

Aus der marschierenden Truppe des Hauses Agrach Dyrr löste sich ein kleiner, narbiger Mann und kam zu Nimor. Die Soldaten, die in der Kolonne vorrückten, wußten, daß »Hauptmann Zhayemd« kein Angehöriger ihres Hauses war. Doch hatte man ihnen erklärt, der Befehlshaber der Truppe genieße das völlige Vertrauen von Muttermatrone Yasraena und er sei sogar in die Führung des uralten Clans aufgenommen worden. Das war bei den höheren Häusern der Stadt gängige Praxis, an der sich niemand störte. Nimor war sicher, daß Jazzt Dyrr, der zweite Vetter der Muttermatrone persönlich, darüber sehr spezifisch instruiert worden war, was die Umstände anging, unter denen er Nimors Befehle ignorieren sollte, doch da Nimor vorhatte, seinen Teil der Abmachung mit Agrach Dyrr wortgetreu zu erfüllen, konnte er sicher sein, daß der Dyrr-Offizier ihm keine Probleme bereiten würde.

»Ja, Hauptmann?« fragte Jazzt.

Er gab sich Mühe, eine völlig neutrale Miene zu machen, als er Nimor mit der milden Neugier eines erfahrenen Veteranen betrachtete.

»Stellt die Kompanie neben dem Kontingent der Baenre auf. Sagt den Männern, sie sollen sich auf einen langen Marsch gefaßt machen. Ich hoffe, wir brechen innerhalb der nächsten Stunde auf.«

»Jawohl, Hauptmann«, erwiderte Jazzt.

Der Leutnant trat einen Schritt zurück, salutierte zackig, dann wandte er sich ab und begann, den Soldaten von Agrach Dyrr Befehle zuzubrüllen. Nimor wendete sein Reittier und lenkte es über den Platz zu einem kleinen Zelt, in dem hektisches Treiben herrschte. Dort hatten sich die hochwohlgeborenen Offiziere und Befehlshaber über die Kontingente der verschiedenen Häuser versammelt, die meisten von ihnen begleitet von einer Reihe von Feldwebeln und Laufburschen. Mehrere Diskussionen über die unterschiedlichsten Themen – die Marschordnung, der beste Rastplatz für das Ende dieses Tages, die schnellste Route zu den Säulen des Leids – waren gleichzeitig im Gange.

Er stieg ab, gab die Zügel seiner Kriegsechse einem Sklaven, der in der Nähe stand, und begab sich dann mitten in das Wirrwarr, bis er einen abgeschirmten Bereich erreicht hatte. Er mußte das Emblem zeigen, das angab, zu welchem Haus er gehörte und welchen Dienstgrad er innehatte, damit man ihn einließ. Im Inneren dieses Bereiches standen Hauptleute und andere Offiziere der verschiedenen Häuser zusammen und besprachen die unterschiedlichsten Themen zur gleichen Zeit. Die Gelegenheit, eine Armee auf die Beine zu stellen und in den Krieg zu ziehen, schien sie wenigstens für den Augenblick alle Rivalitäten und Vendettas vergessen zu lassen. Statt einander auf den Straßen zu bekämpfen, versuchten die Burschen nun, einander mit mutigen und ruchlosen Taten auf dem Schlachtfeld zu überbieten.

Nimor betrachtete die Befehlshaber und erkannte Embleme von sechs der acht großen Häuser, dazu ein halbes Dutzend Embleme der größten und stärksten unter den unbedeutenderen Häusern. Sein Blick fiel auf einen Mann, der das Abzeichen des Hauses Baenre trug, als er die Hände hochnahm und die Stimme hob, damit die anderen von ihm Notiz nahmen.

»Geht zurück zu Euren Kompanien und kümmert Euch um Eure Versorgungszüge«, sagte Andzrel Baenre, der Waffenmeister des Hauses Baenre. »Ich brauche von jedem von Euch eine Liste mit der Anzahl Packtiere und Wagen in Eurem Zug, außerdem eine Meldung Eurer Bestände. Kehrt in einer Stunde zu mir zurück. Unsere weiblichen Verwandten werden zweifellos viele Fragen von großer strategischer Tragweite besprechen, aber es fällt in unsere Verantwortung, die Einzelheiten der Versorgungszüge und der Schlachtsignale auszuarbeiten. Außerdem müssen wir noch einiges diskutieren.«

Andzrel war ein hochgewachsener, junger Mann, der eine Rüstung aus geschwärzten Mithral-Platten und darüber einen dunklen Mantel trug. Sein Wappenrock trug stolz das Emblem des Hauses Baenre, sein Blick zeugte von eiserner Disziplin, und er demonstrierte eine direkte und zielgerichtete Haltung, die für einen Drow von seinem hohen Rang eher ungewöhnlich war, egal ob Mann oder Frau.

Die Befehlshaber befolgten seinen Befehl und verließen das Zelt, um zu ihren Truppen zurückzukehren. Nimor ließ sie an sich vorbeigehen, dann näherte er sich dem Waffenmeister der Baenre und murmelte einen Zauber, den er unter der Anrede »Meister Baenre« versteckte.

»Ja«, erwiderte Andzrel, sah auf und kniff die Augen zusammen, ehe er sein Gegenüber ansah. »Ich ... ich ...«

Nimor lächelte, als er sah, wie sein Zauber bei dem Drow wirkte und als ihm klar wurde, daß Andzrel Baenre und er sehr gute Freunde werden würden.

»Ihr kennt mich, doch ich glaube nicht, daß ich Euch kenne«, sagte Andzrel. »Ihr tragt das Wappen des Hauses Agrach Dyrr.«

»Ich bin Zhayemd Dyrr, und ich befehlige die Truppe meines Hauses«, erwiderte Nimor. »Wißt Ihr etwas darüber, wann die Priesterinnen die Gnade haben, uns zu besuchen oder uns zumindest die Erlaubnis zum Aufbrechen zu erteilen?«

»Ich glaube, die Muttermatronen überlegen noch, wer von ihnen die Expedition anführen soll«, sagte Andzrel, der sich dem Anschein nach wieder gefangen hatte. »Keine von ihnen traut der anderen genug, um freiwillig die Stadt zu verlassen. Gleichzeitig meinen sie aber auch alle, nicht umhinzukommen, jemanden zu bestimmen, der auf die Männer achten soll.«

Nimor mußte lachen.

»Ihr habt ein Talent dafür, ohne Umschweife zu reden, mein Herr.« Nimor sah zu den anderen Hauptmännern und Offizieren im Pavillon, dann fügte er an: »Ich darf annehmen, Ihr habt einen Überblick, welche Häuser hergekommen sind und wie viele – und welche – Truppen sie mitgebracht haben. Die Priesterinnen werden das wissen wollen, und es wird für jeden von uns nützlich sein zu wissen, wer neben wem marschiert.«

Er konnte sich zwar auch vorstellen, diese Information zu ganz anderen Zwecken einzusetzen, doch es gab keinen Grund, diesen Punkt jetzt und hier zu erwähnen.

»Selbstverständlich«, erwiderte Andzrel. Er wies auf einen Tisch am Rand des Zeltes, an dem mehrere Baenre-Offiziere damit beschäftigt waren, Karten und Berichte zu studieren. »Ihr müßt den Männern da Eure Truppenstärke mitteilen, außerdem die Zahl der Infanteristen sowie die Zahl der berittenen Soldaten. Ferner Informationen über Eure Versorgungszüge, und danach würde ich Euch gern einige Fragen stellen, was unsere Marschroute sowie den Punkt angeht, ab dem wir mit Duergar rechnen müssen. Ich ließ mir sagen, Ihr seid mit der Region hier vertraut, außerdem mit der Mannstärke und den Taktiken der Duergar-Armee.«

Nimor zupfte an seinem Küraß und nickte ernst.

»Gewiß«, erwiderte er schließlich und nickte ernst. »Ich kenne sie gut.«


Halisstra wurde aus ihren Träumen gerissen, als sie hörte, daß die Tür zu ihrer Zelle aufgeschlossen wurde. Sie sah auf und fragte sich, ob wohl der Augenblick gekommen war, da die Bewohner der Oberflächenwelt sie der Klinge anheimfallen ließen.

»Ich habe Eurem Herrn nichts weiter zu sagen«, erklärte sie, obwohl ihr der Gedanke kam, daß es vorzuziehen war, ihre Kameraden zu verraten, statt eines qualvollen Todes zu sterben, insbesondere, wenn sie sich so die Freiheit erkaufen konnte.

»Gut«, erwiderte eine Frau. »Ich hoffe, Ihr seid bereit, mit mir zu sprechen.«

Eine schlanke Gestalt glitt durch die geöffnete Tür, die gleich hinter ihr wieder verschlossen und verriegelt wurde. Die Besucherin, die einen langen, dunklen Mantel trug, blieb stehen, um Halisstra eingehend zu betrachten, dann hob sie ihre pechschwarzen Hände und schob die Kapuze zurück, so daß ein Gesicht aus glänzendem Ebenholz und Augen so rot wie Blut zum Vorschein kamen.

»Ich bin Seyll Auzkovyn«, sagte die Drow. »Ich bin gekommen, um Euch die Botschaft meiner Herrin zu überbringen: ›Ein rechtmäßiger Platz erwartet dich in den Reichen, oben im Land des mächtigen Lichts. Komme in Frieden und lebe wieder unter der Sonne, wo Bäume und Blumen wachsen.‹«

»Eine Priesterin Eilistraees«, murmelte Halisstra. Natürlich war ihr der Kult bekannt. Die Spinnenkönigin kannte nichts anderes als Verachtung für den schwachen, idealistischen Glauben der Dunklen Maid, deren Anhänger davon träumten, Buße und Akzeptanz in der Welt an der Oberfläche zu erfahren. »Nun, ich komme in Frieden, und es scheint, als hätte ich in dieser ordentlichen kleinen Zelle meinen Platz gefunden. Ich gehe davon aus, daß jenseits der Gitterstäbe dieses Fensters wundervolle Blumen blühen, und ich bin mehr als dankbar, daß die dreimal verfluchte Sonne nicht tiefer in mein Gefängnis scheint.« Sie lachte bitter. »Irgendwie hört sich die heilige Botschaft Eurer albernen kleinen tanzenden Göttin heute ein wenig verkehrt an. Nun geht. Ich habe wichtigeres zu tun, da ich mich darauf vorbereiten muß, von dem sogenannten Herrn über diesen stinkenden Misthaufen von einem Dorf gefoltert zu werden, sobald er die Geduld mit mir verliert.«

»Ihr hört Euch an wie ich, als ich zum ersten Mal Eilistraees Botschaft vernahm«, erwiderte Seyll. Sie kam näher und setzte sich neben Halisstra. »So wie Ihr war ich eine Priesterin Lolths, die in die Gefangenschaft dieses Volkes hier an der Oberfläche geriet. Auch wenn ich nun schon einige Jahre hier lebe, empfinde ich das Licht der Sonne noch immer als grell.«

»Schmeichelt Euch nicht, Abtrünnige«, knurrte Halisstra sie an. »Ich bin in keiner Weise wie Ihr.«

»Ihr werdet Euch wundern«, fuhr Seyll fort, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. »Sind die Strafen Lolths Euch je unnötig oder überzogen vorgekommen? Habt Ihr je eine Freundschaft aufgegeben, weil Ihr gefürchtet habt, Ihr könntet verraten werden? Habt Ihr möglicherweise erlebt, wie ein Kind Eures eigenen Leibes oder Eures Herzens vernichtet wurde, weil es eine Prüfung nicht bestand, und habt Ihr Euch dann nicht eingeredet, es sei folglich ohnehin zu schwach zum Überleben gewesen? Habt Ihr Euch je gefragt, welchen Sinn die vorsätzliche und berechnende Grausamkeit hat, die unsere gesamte Rasse vergiftet?«

»Natürlich hat sie Sinn«, gab Halisstra zurück. »Wir sind zu allen Seiten von brutalen Feinden umgeben. Wenn wir nichts unternehmen, um unser Volk allzeit wachsam sein zu lassen, dann würden wir zu Sklaven werden ... nein, noch schlimmer, wir würden zu Rothé

»Haben Lolths Urteile Euch tatsächlich gestärkt?«

»Natürlich.«

»Dann beweist es. Nennt mir ein Beispiel.« Seyll beobachtete sie, dann beugte sie sich vor und sagte: »Ihr erinnert Euch selbstverständlich an zahllose Prüfungen und Kämpfe, doch Ihr könnt nicht beweisen, daß sie Euch gestärkt haben. Ihr wißt nicht, was geschehen wäre, hätte man Euch nicht diesen Qualen ausgesetzt.«

»Spekulation. Ich kann nicht beweisen, daß Dinge anders sein könnten als sie sind.«

Halisstra sah die Ketzerin verärgert an. Selbst unter angenehmeren Umständen hätte sie diese Unterhaltung als ärgerlich und überflüssig abgetan, doch da ihre Hände und Füße in Ketten lagen und sie gegen die kalte, harte Wand einer Zelle gepreßt war, in die ein schmerzlicher Sonnenstrahl fiel, ließen diese Worte unbändigen Zorn in ihr aufsteigen. Dennoch konnte sie sich mit wenig anderen Dingen beschäftigen, und außerdem bestand eine winzige Chance, daß eine Zurschaustellung von Begeisterung für Seylls Glauben ihr eine gewisse Linderung ihrer mißlichen Lage bescheren konnte. Lolth konnte Abtrünnige um keinen Preis tolerieren, doch so zu tun, als würde sie einen anderen Glauben akzeptieren, um so die Freiheit zurückzuerlangen ... das war genau die Art von Raffinesse, die die Spinnenkönigin bewunderte. Der Trick bestand natürlich darin, nicht allzu bereitwillig zu erscheinen, aber eben doch gerade zweiflerisch genug, daß Seyll und ihre Genossen die Hoffnung hatten, Halisstras Herz könne wirklich einen Wandel durchmachen.

»Ihr seid ein Ärgernis für mich«, sagte sie zu Seyll. »Laßt mich in Ruhe.«

»Wie Ihr wollt«, antwortete Seyll und erhob sich anmutig. Dann lächelte sie. »Denkt über das nach, was ich Euch sagte, und überlegt, ob nicht doch eine gewisse Wahrheit dahinterstecken könnte. Wenn Euer Glaube an Lolth so stark ist, wie Ihr glaubt, dann wird er einer Auseinandersetzung mit ihm ganz bestimmt standhalten. Möge Eilistraee Euch segnen und wärmen.«

Sie schlug die Kapuze über den Kopf und zog sich zurück. Halisstra wandte den Blick von ihr ab, damit Seyll nicht das grausame Lächeln sehen konnte, das ihre Lippen umspielte.


Die Nachhut, überlegte Ryld, scheint die Aufgabe zu sein, die Quenthel für denjenigen vorsieht, den sie jeweils für am entbehrlichsten hält.

Er hielt inne und lauschte auf die Geräusche im Wald, immer auf der Hut, ob irgendein Laut ein Hinweis auf einen nahenden Gegner sein mochte. Das einzige, was er jedoch hörte, war das ständige Prasseln des kalten Regens. Pharauns Feuerspinnen hatten im Wald hinter ihnen für einen Großbrand gesorgt, doch vermutlich hatte der Regen verhindern können, daß sich die Feuer zu sehr ausbreiteten. Der Waffenmeister warf einen Blick zum Himmel, woraufhin ihm Tropfen ins Gesicht fielen, während er den mattsilbernen Glanz hinter den Wolken betrachtete.

Wenigstens spült der Regen unsere Spuren weg, dachte er.

Nachdem sie in der Nacht zuvor durchmarschiert waren und den langen, sonnenreichen Tag unter einem dicken Gestrüpp verbracht hatten, waren sie am Abend wieder aufgebrochen, doch nach kurzer Zeit bereits auf ein zeitraubendes Hindernis gestoßen, denn der Waldboden bestand ausschließlich aus Morast und Matsch.

Ryld zog seine Kapuze zurecht, dann ging er weiter, wobei er aufpassen mußte, daß er keine zu schnellen Schritte machte. Er würde keine gute Nachhut bilden, wenn er zu dicht hinter den anderen war, andererseits wollte er auch nicht so weit zurückfallen, daß ihm eine Biegung auf dem Weg entging und er geradewegs in die endlosen Wälder marschierte. Wenn Halisstra schon keine Umkehr rechtfertigte, dann durfte er sich keinen Illusionen hingeben, was mit ihm geschähe, wenn er von der Gruppe getrennt wurde. Eine Weile ging er einfach weiter und hielt in kurzen Abständen an, um mit Augen und Ohren nach Feinden zu suchen.

Es dauerte nicht lang, da vernahm er das lauter werdende, gleichmäßige Rauschen von Wasser – ein rascher Strom, der durch den Wald floß, ein finsteres, breites Gewässer, das sich seinen Weg bahnte entlang an morastigen Ufern, die mit Dornen und Farnen überzogen waren. Ein großer Stamm war gefällt worden, damit man den Strom überqueren konnte. Seine Oberseite war abgehobelt worden, um eine sichere Überquerung zu gewährleisten. Quenthel und die anderen warteten schon dort und beobachteten stumm ihre Umgebung. Ryld sah die Armbrüste, die in seine Richtung wiesen und erkennen ließen, wie wachsam seine Gefährten waren. Der Kampf mit den Bewohnern der Oberflächenwelt hatte seinen Kameraden eindeutig eingeschärft, im Wald Vorsicht walten zu lassen.

»Nicht schießen«, rief er. »Ich bin’s.«

»Meister Argith«, entgegnete Quenthel. »Ich hatte mich schon gefragt, ob Ihr Euch verlaufen haben könntet.«

Ryld verbeugte sich vor Quenthel und gesellte sich zu den anderen. Er ließ sich auf dem Stumpf des abgesägten Baumes nieder und durchsuchte die Taschen seines Mantels nach einer kleinen Flasche Duergar-Branntwein. Normalerweise war es nicht seine Art, sich mit Alkohol zu benebeln, doch der stundenlange Marsch durch den Regen hatte seine Kleidung bis auf die Haut durchnäßt, so daß er nun fror. Der Likör sorgte für ein heißes Strahlen aus seiner Körpermitte heraus, nachdem er einen ordentlichen Schluck getrunken hatte.

»Ist das der Fluß?« fragte er Pharaun.

»Ja«, erwiderte der prompt. »Hier überqueren wir ihn und gehen dann stromaufwärts nach Süden. Das Haus Jaelre ist nur noch ein paar Kilometer entfernt.«

Mit einem Finger wies er auf Ryld, dann murmelte er eine magische Silbe. Die Flasche entglitt der Hand des Waffenmeisters und schwebte durch die Luft, bis der Magier sie greifen konnte und sich selbst auch einen guten Schluck gönnte.

»Meinen Dank«, sagte Pharaun. »Die Grauzwerge mögen zwar abscheuliche Rauhbeine sein, aber sie brennen einen wirklich guten Branntwein.«

»Trinkt nicht zuviel«, warf Quenthel ein. »Die Jaelre werden womöglich das Feuer auf uns eröffnen, sobald sie uns sehen. Ich muß mich darauf verlassen können, daß Ihr wachsam und bei klarem Verstand seid. Meister Argith, Ihr bleibt ab jetzt dicht hinter uns. Was vor uns liegt, macht mir mehr Sorgen als das, was sich hinter uns befindet.«

»Wie Ihr wollt, Herrin«, erwiderte Ryld.

Er hielt Pharaun die Hand hin, der nahm noch einen Schluck, dann warf er ihm die Flasche zu. Ryld erhob sich, nahm sein Gepäck auf und ging als erster über die Brücke. Die Oberfläche des Stammes war rutschig und uneben und hätte für einen tolpatschigen Zwerg oder einen ungeschickten Menschen ein Problem dargestellt. Die Drow dagegen überquerten ihn ohne jede Schwierigkeit.

Auf der anderen Seite des Stromes stießen sie auf die überwucherten Überreste einer alten Steinstraße, die von den gewundenen Wurzeln unzähliger Bäume und dem Frost aus Jahrhunderten aufgerissen war. Die glatten weißen Steine, die fachmännisch zusammengefügt worden waren, zeugten davon, daß es sich um eine Arbeit der alten Elfen handelte, die einst an der Oberfläche der Welt im Wald gelebt hatten. Ryld war nicht so ungebildet, nichts von Cormanthor gehört zu haben, dem großen Waldreich der Oberflächen-Elfen, und ebenso wußte er vom vergangenen Ruhm der legendären Hauptstadt Myth Drannor. Von den Namen abgesehen war ihm jedoch unbekannt, wer die Erbauer des Imperiums im Wald gewesen waren und was ihnen zugestoßen war.

Langsam und aufmerksam bewegte sich die Gruppe in einer offenen Formation vorwärts, jederzeit bereit, auf jeden Angriff zu reagieren. Über anderthalb Kilometer folgten sie der alten Straße, so wie Pharaun es ihnen gesagt hatte, dann gelangten sie zu den Überresten alter Gemäuer und Zinnen, die von einer antiken Feste zeugten. Grüne Ranken überzogen die Mauer und blühten, obwohl es Winter war. Die Mauer war an Dutzenden Stellen gerissen oder durchlöchert. Ein verrostetes Eisentor lag quer auf der Straße und stellte eine Barriere dar, die ihren Nutzen längst verloren hatte. Jenseits der Mauern erhob sich ein kleiner steiniger Hügel aus dem Waldboden, den eine große fünfeckige Feste aus weißem Stein krönte. Auf den ersten Blick kam es Ryld vor, als sei das Gebäude noch in Benutzung, doch bei genauerem Hinsehen erkannte er, daß die Turmspitzen durchlöchert waren und daß mehrere der freischwebenden Stützpfeiler, die die Türme mit der Feste selbst verbanden, vor Jahren zusammengebrochen waren. Ranken hatten ihre Wurzeln in den gespaltenen Steinen verankert und überzogen die Ruinen wie eine lebendige Decke.

»Ruinen«, knurrte Jeggred. »Euer Zauber war ein Fehlschlag. Oder habt Ihr uns in die Irre geführt? Steckt Ihr mit dem verlogenen Späher unter einer Decke?«

»Meine Zauber gehen nicht fehl«, erwiderte Pharaun. »Dies ist der Ort. Die Jaelre sind hier.«

»Wo sind sie denn dann?« zischte der Draegloth. »Wenn Ihr ...«

»Seid ruhig«, herrschte Valas sie an. Er entfernte sich mit kaum hörbaren Schritten ein Stück vom Tor, während er einen Pfeil schußbereit auflegte. »Dieser Ort ist nicht so verlassen, wie er wirkt.«

Ryld suchte hinter einer alten Säule aus großen Quadern Schutz, eine Hand auf Splitters Heft. Danifae und Pharaun taten es ihm auf der anderen Straßenseite nach. Quenthel dagegen rührte sich nicht.

Vielmehr stand sie selbstsicher mitten auf dem Weg und rief laut: »Ihr vom Haus Jaelre! Wir wollen mit Euren Führern sprechen!«

Aus einem Dutzend verborgener Positionen erhoben sich gut getarnte Gestalten in dunklen Mänteln, die das Auge täuschten, da sie die Umgebung des Trägers nachahmten. Bogen und Stäbe wurden auf die Menzoberranzanyr gerichtet. Eine der Gestalten, eine Frau mit einem Schwert mit zwei Klingen, schob die Kapuze zurück und betrachtete die Gruppe voller Verachtung.

»Elende Spinnenküsser«, zischte sie. »Was habt Ihr, was das Haus Jaelre von Euch wollen könnte, abgesehen von Euren Leibern, die gleich von unseren Pfeilen durchbohrt sind?«

Quenthel versteifte sich und legte eine Hand auf die Peitsche. Die Waffe wand sich ein wenig, die Schlangenköpfe schnappten.

»Ich bin Quenthel Baenre, Herrin Arach-Tiniliths, und ich streite mich nicht auf Türschwellen mit gemeinen Torwachen. Laßt Eure Herren wissen, daß wir eingetroffen sind, damit wir endlich aus diesem verdammten Regen herauskommen.«

Die Jaelre im Rang einer Hauptfrau kniff die Augen zusammen und gab ihren Soldaten ein Zeichen, die daraufhin ihre Position veränderten und sich zum Feuern bereitmachten. Valas Hune schüttelte den Kopf, ließ den Bogen sinken und trat vor, wobei er eine Hand hob

»Wartet«, rief er. »Wenn Tzirik noch bei Euch ist, dann sagt ihm, Valas ist hier. Wir wollen ihm einen Vorschlag unterbreiten.«

»Ich bezweifle, daß unsere Hohepriester mit einem Vorschlag aus Eurem Mund etwas anfangen kann«, sagte die Drow.

»Er wird zumindest erfahren wollen, warum wir tausendfünfhundert Kilometer weit von Menzoberranzan hergereist sind, um mit ihm zu sprechen«, konterte Valas.

Die Frau warf Quenthel einen finsteren Blick zu, dann sagte sie: »Senkt Eure Waffen und wartet dort. Rührt Euch nicht, sonst eröffnen meine Leute das Feuer. Es sind mehr, als Ihr glaubt.«

Valas Hune nickte, dann legte er den Bogen hin. Er sah zu den anderen, dann setzte er sich auf den Rand eines zerfallenen Brunnens. Die anderen taten es ihm nach, allerdings ließ sich Quenthel nicht dazu herab, sich zu setzen. Vielmehr verschränkte sie die Arme und wartete. Ryld sah sich auf dem Hof um, auf dem es von gegnerischen Kriegern nur so wimmelte. Seufzend rieb er sich den Kopf.

Quenthel weiß, wie man gleich beim ersten Auftritt Eindruck macht, wie? gestikulierte Pharaun.

Frauen, erwiderte Ryld auf die gleiche Weise.

Vorsichtig griff er in die Tasche seines Mantels und holte wieder den Branntwein heraus.

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