Bei Anbruch der Nacht kam Seyll in Begleitung einer jungen Drow und einer blassen jungen Elfe zu Halisstra. Die Priesterin Eilistraees war unter ihrem grünen Mantel gerüstet und mit einem Langschwert an der Hüfte bewaffnet. Sie trug hohe Lederstiefel und hatte ein kleines Päckchen unter einem Arm.
»Es regnet«, sagte sie, als sie die Zelle betrat, »aber unsere älteren Priesterinnen sagen, es wird später aufklaren, wenn der Mond aufgegangen ist. Heute nacht werden wir der Göttin huldigen.«
Halisstra stand auf, soweit ihre Ketten das zuließen.
»Ich werde Eilistraee nicht huldigen«, erklärte sie.
»Ihr müßt Euch nicht beteiligen. Ich biete Euch lediglich Gelegenheit, uns zuzusehen und Euch ein Urteil zu bilden. Ihr habt mich herausgefordert, Euch zu demonstrieren, daß meine Göttin weder grausam noch eifersüchtig ist, und ich bin bereit, es Euch zu beweisen.«
»Zweifellos werdet Ihr mich mit einem Zauber belegen, um mich zu überzeugen«, erwiderte Halisstra. »Glaubt ja nicht, ich ließe mich so einfach täuschen.«
»Niemand wird versuchen, Magie auf Euch zu wirken«, erwiderte Seyll. Sie legte ihr Bündel ab und packte es aus. Darin befanden sich eine große, lederbezogene Kiste, Stiefel sowie ein Mantel, der ihrem recht ähnlich war. »Ich habe Euch Eure Leier mitgebracht, da ich hoffe, Ihr würdet uns mit einem Lied beehren, wenn Euch danach ist.«
»Ich hege Zweifel daran, daß Euch Bae’qeshel-Lieder wirklich gefallen werden«, meinte Halisstra.
»Das werden wir schon sehen. Ihr seid nun seit drei Tagen hier gefangen, und ich biete Euch eine Gelegenheit, Eure Zelle zu verlassen.«
»In die ich sofort zurückgebracht werde, wenn Ihr damit fertig seid, mich wegen Eurer Göttin zu tyrannisieren.«
»Wie wir bereits besprochen haben, müßt Ihr Fürst Dessaer nur Eure Anwesenheit erklären, um freigelassen zu werden«, erklärte Seyll geduldig. Sie holte einen Schlüsselbund hervor und hielt ihn Halisstra vors Gesicht. »Xarra und Feliane hier sollen mir helfen, Euch heute sicher zur Zeremonie und zurück zu eskortieren. Aber ich fürchte, ich muß darauf bestehen, daß Eure Hände gefesselt bleiben.«
Halisstra sah zu den beiden anderen Frauen, die unter ihren Mänteln ebenfalls ein Kettenhemd sowie ein Schwert trugen. Sie hatte keine große Lust, sich ein sinnloses Ritual zu Ehren Eilistraees anzusehen, doch Seyll bot ihr tatsächlich Gelegenheit, ihre Zelle zu verlassen. Schlimmstenfalls würde Seylls Aufmerksamkeit keine Sekunde nachlassen, und es würde sich keine Gelegenheit für einen Fluchtversuch ergeben. Im besten Fall würden Seyll oder die anderen Klerikerinnen einen Fehler machen, aus dem Halisstra Kapital schlagen konnte.
So oder so würde sich für sie die Gelegenheit ergeben, die Stadt und den sie umgebenden Wald etwas genauer auszukundschaften, was wichtig sein konnte, wenn sie irgendwann später einen Fluchtversuch unternehmen würde, und diese Chance konnte sich jederzeit ergeben.
»Nun gut«, lenkte sie ein.
Seyll nahm Halisstra die Fesseln ab und half der Melarn-Priesterin in die Winterkleidung und den Mantel, den sie ihr mitgebracht hatte. Dann band sie eine feste silberne Schnur um Halisstras Hände, anschließend machte sich die kleine Gruppe durch die Verliese des Palastes auf in eine kalte, regnerische Nacht.
Elfenbaum war weder eine richtige Stadt noch ein Außenposten oder ein Lager, sondern etwas, das sich zwischen all diesen Kategorien bewegte. Eingestürzte Mauern aus weißem Stein durchzogen die Siedlung und ließen erkennen, wo sich die alten Wälle und ausladenden Plätze einer recht großen Stadt an der Oberfläche befunden hatten, doch das meiste war im Laufe vieler Jahre völlig zerfallen. Viele der ursprünglichen Gebäude waren nur noch leere Hüllen, andere dagegen schienen von den gegenwärtigen Bewohnern der Stadt übernommen worden zu sein. Sie hatten die Außenmauern mit Holz oder Zeltplanen überzogen und aus den einst stolzen alten Bauwerken bescheidene und vorübergehende Behausungen für die Waldbewohner gemacht. Große, knorrige Bäume erhoben sich aus dem aufgerissenen Pflaster uralter Burghöfe, viele Gebäude hatten ihren Platz ein deutliches Stück über dem Boden in den gewaltigen Ästen und waren durch leicht schwankende Stege aus silbernem Seil und weißen Planken miteinander verbunden. Eine Handvoll Gebäude der Stadt befand sich noch weitestgehend im Originalzustand.
Halisstra erkannte, daß man sie unter einem alten Wachturm gefangengehalten hatte. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes erhob sich zwischen den Bäumen ein eleganter Palast, der vom schwachen Schein hunderter Laternen beleuchtet wurde. Sie vermutete, daß es sich um Fürst Dessaers Palast handelte. Aus der Ferne erklangen Gesänge und Gelächter.
Die Priesterinnen Eilistraees führten Halisstra über einen alten Boulevard, auf dem sie bald die Stadt verlassen hatten und in den dunklen, verregneten Wald gelangten. Eine Zeitlang marschierten sie schweigend durch die Nacht, die einzigen Geräusche waren ihre leisen Schritte auf dem Waldboden und das ständige Prasseln des Regens, das nach einer Weile tatsächlich nachzulassen begann. Die Wolkendecke riß stellenweise auf und ließ hin und wieder einen Stern am Nachthimmel blinken.
Halisstra hatte die Oberflächenwelt bislang ausgehalten, auch wenn sie allzugern auf vieles davon verzichtet hätte. Doch sie lenkte sich ab, indem sie heimlich an den Knoten des Seils nestelte, das ihre Hände band, während sie gleichzeitig ihre Begleiterinnen im Auge behielt und hoffte, sie würden in ihrer Wachsamkeit endlich ein wenig nachlassen. Xarra, die Drow, ging voran, Feliane bildete die Nachhut, während Seyll dicht bei Halisstra blieb, auch wenn sie manchmal ein paar Schritte schneller war oder sich zurückfallen ließ.
»Wohin bringt Ihr mich?« fragte Halisstra nach einiger Zeit, da der Marsch noch immer kein Ende nahm.
»An einen Ort, den wir den tanzenden Stein nennen«, antwortete Seyll. »Es ist für Eilistraee ein heiliger Ort.«
»Der Wald sieht für mich immer gleich aus«, sagte Halisstra. »Wie könnt Ihr einen Teil vom anderen unterscheiden?«
»Wir kennen diesen Weg gut«, erwiderte Seyll. »Übrigens sind wir nicht allzuweit von der Stelle entfernt, an der wir Euch und Euren Gefährten zum ersten Mal begegneten. Sie haben Euch im Stich gelassen, und seit jener Nacht sahen wir sie auch nicht wieder.«
Halisstra trank einen Schluck, um das Lächeln zu verbergen, das über ihre Miene huschte. Die abtrünnige Priesterin hatte einen Fehler gemacht und es nicht einmal gemerkt. Wenn sie nicht weit von dem Gebiet entfernt war, in dem man sie gefaßt hatte, dann sprach einiges dafür, daß sie von dort aus den Anweisungen aus Pharauns Vision folgen konnte und Chancen hatte, die Jaelre-Drow ausfindig zu machen. Egal, was sie in dieser Nacht noch bewerkstelligte – es war schon jetzt lohnenswert gewesen, sich auf diesen Ausflug einzulassen.
Sie erreichten einen tosenden Fluß, in dessen Bett zahlreiche große Findlinge verstreut lagen. Xarra überquerte ihn zuerst, wobei sie leichtfüßig von Stein zu Stein sprang und am anderen Ufer weiter durch den Wald ging. Seyll folgte ihr, da sie einige Schritte vor Halisstra ging, den Blick auf den trügerischen Pfad gerichtet. Halisstra wollte ihr folgen. Das Wasserrauschen war laut, obwohl der Fluß recht seicht und schmal war. Der Mond verschwand hinter den Wolken und tauchte den Wald in Finsternis.
Halisstra witterte ihre Gelegenheit.
Sie sprang auf den ersten, dann auf den zweiten Stein im Wasser und blieb abrupt stehen, als wäge sie den nächsten Schritt ab. Anstatt aber schließlich weiterzugehen, stimmte sie mit tiefer Stimme ein Bae’qeshel-Lied an, das vom Rauschen des Stroms übertönt wurde. Seyll ging ungerührt weiter, die Elfe Feliane hinter Halisstra blieb stehen und wartete, daß sie den Fluß überquerte.
Es war schwierig, da ihre Hände gefesselt waren – wenngleich auch nur locker –, doch die Macht des Zaubers lag in Halisstras Stimme, nicht in ihren Händen. Just als Feliane die Geduld verlor und herzusprang, um ihr zu helfen, wandte sich Halisstra um und richtete ihre roten Augen auf das blasse Gesicht des Mädchens.
»Angardh xorr – feleal«, zischte sie. »Feliane, würdet Ihr Euer Schwert ziehen und mich von diesen lästigen Fesseln befreien? Ich fürchte, ich könnte sonst falsch auftreten und fallen.«
Der Zauber hatte die junge Priesterin mühelos in seinen Bann geschlagen. Mit ausdrucksloser Miene zog sie blank.
»Natürlich«, murmelte die Elfe geistesabwesend.
Vorsichtig zog sie den Stahl über die Schnur um Halisstras Handgelenke und durchtrennte sie. Halisstra sah über die Schulter zu Seyll und achtete darauf, daß sie mit ihrem Körper verdeckte, was Feliane tat.
»Stimmt etwas nicht?« rief Seyll.
»Antwortet nicht«, flüsterte Halisstra. Sie hielt die Hände so zusammen, als sei sie noch immer gefesselt, und drehte sich zu der Priesterin um. »Augenblick!« rief sie. »Ich bin mit gefesselten Händen nicht so sicher auf den Beinen. Der nächste Fels wirkt etwas rutschig.«
Seyll sah auf den Strom, dann kam sie zurück und sprang von einem Stein zum anderen, bis sie bei Halisstra und Feliane war. Halisstra drehte sich um und sah zu Feliane, die hinter ihr stand und ihr Schwert gezückt hielt.
»Feliane«, säuselte sie. »Darf ich mir einen Augenblick Euer Schwert ausleihen?«
Die Frau runzelte kurz die Stirn, da sie womöglich tief in ihrem von dem Zauber umnebelten Verstand erkannte, daß etwas nicht stimmte, dennoch übergab sie das Heft ihres Schwerts an Halisstra. Die nahm die Klinge, wobei sie wieder so stand, daß Seyll nichts sehen konnte.
»Hier«, sagte Seyll. Die Priesterin Eilistraees war auf dem nächsten Findling angekommen und streckte eine Hand aus. »Faßt meinen Arm, dann kann ich Euch stützen.«
Halisstra wirbelte mit der Schnelligkeit einer Katze herum und bohrte Felianes Schwert unterhalb Seylls ausgestrecktem Arm tief in deren Körper. Die Priesterin schnappte entsetzt nach Luft und brach sofort zusammen. Sie verlor den Halt und fiel von dem moosbedeckten Felsblock in den kalten Strom, bis sie an den Stein gelehnt bis zur Hüfte im strömenden Wasser saß.
Halisstra zog das Schwert zurück und wandte sich wieder Feliane zu, die sie einfach fassungslos anstarrte.
»Seyll ist verletzt«, fuhr Halisstra sie an. »Lauft nach Elfenbaum, um Hilfe zu holen! Los!«
Die blasse Elfe brachte nur ein hastiges Nicken zustande, dann machte sie kehrt und rannte los. Halisstra sprang weiter von Stein zu Stein ans andere Ufer und eilte den Pfad entlang. Xarra, die jüngere Drow-Priesterin, tauchte aus dem Wald am Flußufer auf, um nachzusehen, wodurch die anderen aufgehalten wurden. Es war bemerkenswert, wie schnell Xarra die Lage erfaßte, da sie nur einen Blick brauchte, um die Armbrust zu heben und zu zielen.
Halisstra machte einen Satz zur Seite und drehte sich gleichzeitig, so daß Xarras Geschoß sie verfehlte, wenn auch so knapp, daß sie spürte, wie der Pfeil über ihren Mantel glitt.
»Du hast mich verfehlt«, knurrte Halisstra.
Xarra warf die Armbrust weg und griff nach dem Schwert, doch noch bevor sie die Klinge überhaupt aus der Scheide hatte ziehen können, war sie bereits tot, da Halisstra ihr die Kehle zerfetzt hatte. Die richtete sich auf und betrachtete mit rasendem Herz die Leiche. Neben ihr rauschte der Strom unverändert laut, die Luft roch nach Regen und nassem Laub.
Was nun? überlegte sie.
Ihr geliebtes Kettenhemd, der Streitkolben und die Armbrust waren allesamt in Elfenbaum in Fürst Dessaers Hand, und so sehr sie ihr Hab und Gut auch wieder an sich nehmen wollte, war es unwahrscheinlich, daß ihr das ohne die Unterstützung der Menzoberranzanyr gelingen würde. Das beste würde sein, sich so gut wie möglich zu bewaffnen, Seylls und Xarras Proviant an sich zu nehmen und sich dann auf die Suche nach den Jaelre zu machen. Mit ein wenig Glück würde sie sie finden, ehe Dessaers Leute sie eingeholt hatten.
Halisstra schob sich das Schwert unter den Gürtel und wagte sich wieder in den Fluß hinaus, um nachzusehen, ob Seyll etwas Nützliches bei sich trug. Sie sprang in den kalten Fluß und trat neben die Priesterin Eilistraees, hob sie hoch und legte sie zurück auf den Findling, um sich ihre Ausrüstung besser ansehen zu können. Die Rüstung war eindeutig magisch, und das galt auch für den Schild über ihrer Schulter und das Schwert an ihrem Gürtel. Halisstra öffnete das Kettenhemd, entschlossen, es Seyll auszuziehen.
Seylls Augen flackerten, sie stöhnte leise: »Halisstra ...«
Halisstra wich erschrocken zurück und kam sich schäbig vor, jemanden seiner Habseligkeiten zu berauben, der noch gar nicht wirklich tot war. Sie sah nach unten und betrachtete ein Blutrinnsal, das aus Seylls Wunde ins schäumende Wasser des Flusses lief. Der Atem der Priesterin klang feucht und flach, helle Blutspritzer waren auf ihren Lippen zu sehen.
»Ich hoffe, Ihr werdet mir vergeben, aber ich brauche Eure Waffen und Eure Rüstung. Ihr werdet bald tot sein«, fügte Halisstra an. »Ich habe mich entschlossen, Eure großzügige Einladung auszuschlagen, heute nacht Eure Beobachterin zu sein, da ich anderswo etwas Wichtigeres zu tun habe.«
»Die ... anderen?« keuchte Seyll.
»Xarra war so nett, schnell und ohne sperrige Konversation zu sterben. Das Mädchen von der Oberfläche habe ich bezaubert und in den Wald geschickt.«
Halisstra öffnete Seylls Schwertgurt und zog ihn ihr ab, dann legte sie ihn weit außerhalb der Reichweite der sterbenden Drow. Anschließend widmete sie sich den Verschlüssen der Rüstung.
»Ich bewundere zwar Eure Entschlossenheit, mich vor mir selbst zu retten, Seyll, doch ich kann nicht glauben, daß Ihr dies nicht als einen wahrscheinlichen Ausgang Eurer Bekehrungsversuche erkannt habt.«
»Ein Risiko, ... das einzugehen ... wir alle bereit sind«, brachte Seyll heraus. »Niemand ist unrettbar.« Sie murmelte noch etwas und versuchte, Halisstra zu stoppen, doch die Melarn-Priesterin schlug einfach ihre Hände weg.
»Ein unnötiges Risiko. Lolth hat Euch durch meine Hand für Eure Untreue bestraft«, sagte Halisstra. Sie zog Seyll die Stiefel aus und öffnete die Verschlüsse ihrer Beinkleider. »Sagt, war es das wert, den Weg zu gehen, den Ihr gingt, um nun eines kalten und sinnlosen Todes in diesem schrecklichen Wald zu sterben?«
Zu Halisstras Überraschung fand Seyll tatsächlich noch die Kraft zu lächeln.
»Ob es das wert war? Bei ... bei meiner Seele, ja.« Sie ließ den Kopf in den Nacken sinken und sah Halisstra ins Gesicht. »Ich ... habe noch Hoffnung für Euch«, flüsterte sie. »Sorgt Euch ... nicht ... um mich. Mir ... wird ... vergeben.«
Ihre Augen schlossen sich ein letztes Mal, und der rasselnde Atem stoppte.
Halisstra hielt einen Moment inne. Sie hatte Zorn und Ablehnung, vielleicht sogar Angst oder Schmähung erwartet ... aber Vergebung? Welche Macht besaß die Dunkle Maid über die, die sie anbeteten, daß die selbst im Tod noch einen Segen für ihren Feind hatten?
Seyll hat sich von Lolth abgewandt, sagte sie sich, und durch mich hat die Spinnenkönigin Rache geübt. Dennoch starb Seyll ruhig und gelassen, als sei sie mit dem Ende Ihres Lebens für immer Lolth entkommen.
»Möge die Spinnenkönigin sich Eurer Seele annehmen«, sprach sie zu der toten Priesterin, doch sie zweifelte daran, daß Lolth das tun würde.
»Ein rascher Vorstoß ist für uns der sicherste Weg zum Sieg«, sagte Andzrel Baenre, der zu den versammelten Priesterinnen sprach.
Nimor stand ein Stück neben ihm und beobachtete den Waffenmeister der Baenre, einer von einer Handvoll Männer, die eingeladen worden waren, um sich mit den versammelten Frauen zu beraten. Alle großen sowie stolze sechzehn kleinere Häuser waren in der überhastet zusammengestellten Armee der Schwarzen Spinne vertreten, die ihren Namen dem Banner verdankte, unter dem sie marschierte. Fast dreißig Hohepriesterinnen – mindestens eine von fast jedem Haus, dazu mehrere von ein und demselben Haus – waren im großen Kommandopavillon versammelt, den die Baenre zur Verfügung gestellt hatte. Jede von ihnen belauerte Andzrel wie eine Wildkatze, während sie je nach Rang lagen, saßen oder standen. Solange auch nur eine Hohepriesterin stehen mußte, war es einem Mann verboten, sich zu setzen.
»Wir führen rund viertausend Drow-Soldaten und zweitausendfünfhundert Sklaven-Soldaten in die Schlacht. Allen Berichten zufolge dürften wir es daher in der Stärke mit der Duergar-Armee aufnehmen können, die sich von Süden nähert, aber es ist natürlich nicht unsere Absicht, den Duergar in einem fairen Kampf zu begegnen.« Das Wort »fair« sorgte für herzhafte Lacher. Andzrel bediente sich eines schmalen Stocks, um die Aufmerksamkeit auf eine Karte zu lenken, die mit Tinte auf Rothé-Fell gezeichnet worden war. »Wir können eine Armee aufhalten, die deutlich größer ist als unsere, indem wir den Ort auswählen, an dem wir uns ihr entgegenstellen werden. Der Punkt, an dem wir den Duergar-Vormarsch stoppen werden, sind die Säulen des Leids.«
»Vorausgesetzt, ich entscheide, daß Euer Plan aussichtsreich ist, meint Ihr«, sagte Mez’Barris Armgo vom Haus Barrison Del’Armgo gedehnt. »Triel Baenre mag Eurem Urteil trauen, aber ich denke lieber für mich selbst.«
Die Muttermatrone des Zweiten Hauses war eine große, starke Frau, und als hochrangigste Priesterin hatte sie damit praktisch das Kommando über die gesamte Truppe. Jedes Haus hatte einige Priesterinnen beigesteuert, die im Kampf den Befehl über ihre Kontingente führten und die von nicht reinblütigen Akolyten über Erste Töchter bis hin zu Muttermatronen reichten. Waffenmeister wie Andzrel und andere Männer – darunter Nimor in seiner Rolle als Zhayemd Dyrr – befehligten Trupps, Kompanien und Schwadronen und nahmen sich der unendlich zahlreichen kleinen Dinge an, die notwendig waren, um die Armee von Menzoberranzan zu organisieren.
»Mein Vetter vertritt die Ansichten des Hauses Baenre, Matrone Mez’Barris«, krächzte Zal’therra Baenre. »Matrone Triel unterstützt den Schlachtplan des Waffenmeisters.«
Als oberste von Triel Baenres Basen sah Zal’therra der zierlichen Muttermatrone des Hauses Baenre nicht ähnlich. Sie war groß und breitschultrig, eine stämmige Frau mit einem bemerkenswerten Maß an körperlicher Kraft und einem schroffen, einschüchternden Auftreten. Sie und Mez’Barris waren einander körperlich durchaus ähnlich, doch die Muttermatrone des Hauses Del’Armgo verfügte über eine brillante, gehässige Verschlagenheit, die in der Baenre-Priesterin kein Pendant fand. Mez’Barris hatte ihre roten Augen auf die jüngere Frau gerichtet, erwiderte aber nichts.
Andzrel wußte, daß er den Mund zu halten hatten, wenn zwei Frauen stritten. Er wartete ab, bis einen Moment lang Stille herrschte, dann fuhr er fort.
»Hier liegt Rhazzts Dilemma«, sagte er, »von wo Hauptmann Zhayemd von Agrach Dyrr gestern morgen die Duergar-Vorhut meldete. Es liegt etwa vierzig Kilometer südlich der Säulen des Leids, am unteren Ende der Schlucht. Im schlimmsten Fall müssen wir damit rechnen, daß die Duergar den Außenposten stürmen und sich später am heutigen Tag dort Zutritt zu verschaffen versuchen. Mit etwas Glück wird es morgen dazu kommen. Duergar sind ausdauernde Soldaten, die den ganzen Tag marschieren können. Allerdings sind sie langsam, außerdem wird ihre Armee durch einen langen Versorgungszug und schwere Belagerungsmaschinen zu einem noch langsameren Tempo gezwungen. Der Aufstieg aus der Schlucht wird schwierig. Es scheint, als könnten sie schlimmstenfalls in fünf Tagen die Säulen erreichen, vermutlich aber erst in sieben oder acht Tagen.«
»Woher wissen wir, daß die Duergar den Außenposten nicht schon überrannt haben?« warf eine Priesterin von Tuin’Tarl ein.
»Das wissen wir nicht, Herrin. Die Magier und Kleriker der Duergar stören unsere Versuche, die nähere Umgebung auszuspähen, was bei einer solchen Kriegsführung eine übliche Taktik darstellt.« Andzrel nickte Nimor zu und fügte an: »Darum ist es so wichtig, einen Trupp guter Späher zusammenzustellen, damit wir mit weltlichen Mitteln herausfinden können, was unseren Magiern versagt bleibt. Zhayemd von Agrach Dyrr hat den Befehl über die Aufklärer.«
Andzrel wartete einen Moment, um zu sehen, ob eine der Priesterinnen noch etwas wissen wollte, dann fuhr er fort: »Auf jeden Fall reist unsere Armee schneller als die der Grauzwerge, außerdem ist unser Weg viel leichter zu bewältigen. Ich gehe davon aus, daß wir die Säulen des Leids in drei bis vier Tagen erreicht haben werden. Wenn wir den oberen Ausgang aus der Schlucht kontrollieren, werden die Duergar nie unsere Verteidigung durchbrechen können. Wie Ihr seht, ist das ganze eine Art Wettlauf, darum sollten wir so schnell wie möglich vorrücken.«
»Welchen Plan habt Ihr für die Schlacht, Zal’therra?« fragte eine andere Priesterin, bei der es sich um die Herrin des Hauses Xorlarrin handelte.
Nimor lächelte angesichts der Bemerkung. Zal’therra war eindeutig von Triel instruiert worden, sich auf die Ratschläge des Waffenmeisters ihres Hauses zu verlassen, was die Planung der Schlacht betraf, doch die Hohepriesterin redete natürlich, als sei Andzrel gar nicht anwesend.
»Andzrel wird den Plan vorstellen«, erwiderte die Baenre-Priesterin, als hätte sie soeben jede Einzelheit erklärt und überlasse es nun ihm, den anderen ihre Genialität zu beweisen.
Wenn der Waffenmeister das bemerkt hatte, ließ er es sich zumindest nicht anmerken.
»Wir richten eine starke und gut verankerte Linie quer über die Öffnung der Schlucht ein. Ein paar hundert Mann sollten dafür ausreichen, doch wir stellen tausend auf. Die übrigen Soldaten bleiben als Reserve zurück, um zudem in der näheren Umgebung kleinere Gänge und umliegende Höhlen zu sichern.« Andzrel legte seinen Stock weg und wandte sich den Priesterinnen zu. Sein Gesicht war ausdruckslos, doch in seinen Augen funkelte es entschlossen. »Mein Plan ist es, die Duergar bis zu uns vorrücken zu lassen, um sie dann zwischen den Säulen des Leids zu zerschlagen. Wenn sie sich an uns aufgerieben haben, werden wir sie in die Schlucht zurückjagen und sie und ihre Helfer in Stücke hauen.«
»Was, wenn die Duergar gar nicht bei den Säulen den Kampf suchen?« fragte Mez’Barris direkt an Andzrel gerichtet.
»Die Duergar fallen in unser Land ein, Muttermatrone, also sind sie es, die handeln müssen. Wenn sie sich entschließen, sich nicht bis zu den Säulen vorzuwagen, werden wir den längeren Atem haben. Unsere Nachschubwege sind kürzer als ihre. Nach wenigen Tagen bleibt ihnen keine andere Wahl, als zwischen Vormarsch und Rückzug zu entscheiden.«
Mez’Barris betrachtete die Karte und dachte über Andzrels Antwort nach.
»Nun gut«, sagte sie. »Ich will sehen, wie schnell wir den Punkt erreichen können, der Euch vorschwebt. Marschiert pro Tag zwei Stunden länger. Wenn wir die Säulen des Leids in drei Tagen erreichen, sollte uns genug Zeit bleiben, um uns auszuruhen. Ich will, daß die schnellsten unserer Truppen zu den Säulen vorstoßen, nur um sicherzugehen. Es gibt keinen Grund, warum wir nicht in eineinhalb Tagen einige hundert Späher an dieser Schlucht haben sollten. Wenn Ihr uns nun entschuldigt, ich will mit meinen Priesterinnenschwestern diskutieren, wie wir im kommenden Konflikt unsere Talente am besten einsetzen können.«
Andzrel deutete eine Verbeugung an und zog sich zurück. Nimor ging neben dem Waffenmeister her, als sie von einer Handvoll weiterer Offiziere begleitet den schwarzen Pavillon verließen. Das Zelt stand in einem weiten, runden Tunnel, der mit Soldaten und Packechsen überfüllt war. Ein Banner stand neben dem anderen, die Truppen erstreckten sich so weit, wie man in dem Tunnel sehen konnte.
»Zhayemd«, sagte Andzrel. »Ich will, daß Ihr das Kommando über unsere Vorhut übernehmt, so wie es Muttermatrone Del’Armgo vorgeschlagen hat. Nehmt Eure Kavallerie aus Agrach Dyrr und bewegt Euch morgen und übermorgen so schnell vorwärts, wie Ihr könnt. Unser Mangel an Informationen über diese Duergar macht mich nervös. Ich lasse Euch von einigen anderen Reitern begleiten, damit Ihr über eine schlagkräftige Truppe verfügt, die notfalls den Paß verteidigen kann.«
»Ich muß mich mit unserer Hohepriesterin besprechen«, erwiderte Nimor, auch wenn er nicht die Absicht hatte, das zu tun. Der Waffenmeister, der immer noch unter dem mächtigen, dauerhaften Zauber Nitnors stand, würde ihm dennoch vertrauen. »Ich glaube allerdings, daß sie den Vorschlag mittragen wird.«
»Gut«, erwiderte Andzrel, als sie das Baenre-Lager erreichten. Er schlug Nimor auf die Schulter. »Wenn Ihr die Duergar irgendwo entdeckt, wo sie nicht hingehören, meldet es mir. Ich will nicht, daß Ihr irgendwelche Dummheiten macht. Ihr seid die Augen unserer Armee.«
Nimor lächelte und sagte: »Keine Sorge. Ich werde nichts dem Zufall überlassen.«
Jezz der Lahme kauerte ein wenig schief im Schatten einer eingestürzten Mauer und sah über einen kleinen Platz zu einem großen runden Turm, der nur einen Steinwurf weit entfernt war.
»Da«, sagte er. »Der Turm des Betrachters. Eine kurze Treppe führt hinauf zu der Tür, von der wir beim letzten Mal herausfinden konnten, daß sie nicht abgeschlossen, aber mit tödlichen magischen Fallen gesichert ist. Im oberen Teil seht ihr mehrere kleine Fenster, die möglicherweise groß genug sind, daß ein kleiner Drow sich hindurchzwängen kann. Das haben wir noch nicht versucht.«
Ryld, der hinter dem Jaelre kauerte, beugte sich vor, um sich selbst ein Bild zu machen. Der Turm sah weitestgehend so aus, wie Jezz ihn beschrieben hatte, und war von den Ruinen Myth Drannors umgeben. Nachdem sie mit Pharauns Magie die Reise zur alten Elfenhauptstadt schneller bewältigt und dann einige Stunden Rast gemacht hatten, um sich vorzubereiten, war die Gruppe den größten Teil der Nacht damit befaßt gewesen, sich durch die Ruinen zu kämpfen.
Myth Drannor war kaum mehr als ein großes Trümmerfeld weißen von Bäumen und Ranken überwucherten Steins, doch einst war es mehr gewesen. Es war wohl nie so ausladend wie Menzoberranzan oder so infernalisch pompös wie Ched Nasad gewesen, doch seine Eleganz und Schönheit konnten es mit den prachtvollsten Beispielen der Drow-Architektur aufnehmen, wenn nicht gar sie ausstechen.
Ryld warf einen behutsamen Blick zu den Hausdächern.
»Keine Anzeichen für Teufel«, sagte er. »Vielleicht haben wir genug von ihnen getötet, daß sie nun entschieden haben, uns in Ruhe zu lassen.«
»Unwahrscheinlich«, schnaubte Jezz. »Sie haben sich zurückgezogen, um den nächsten Angriff zu organisieren. Sie warten auf die Ankunft mächtigerer Scheusale, ehe sie es wieder versuchen.«
»Dann sollten wir die Pause nutzen, um das zu tun, weshalb wir hergekommen sind«, meinte Quenthel, die ebenfalls nach vorn kam, um den Turm zu betrachten. »Ich sehe nichts, was mich zu einer Änderung unseres Plans veranlassen sollte. Wirkt Euren Zauber.«
»Wie Ihr wünscht, Quenthel«, erwiderte Pharaun. »Ich muß allerdings sagen, daß ich nicht völlig seiner Meinung bin, was die Strategie der ...«
Wütende Blicke der Mitglieder der Truppe ließen Pharaun verstummen, ehe er seinen Protest ausgesprochen hatte. Er seufzte und winkte ab. »Meinetwegen.«
Er richtete sich auf und sprach sorgfältig die Worte seines Zaubers, von denen jede einzelne Silbe mit magischer Kraft erfüllt war. Eine schwer faßbare Woge schien über Ryld und die anderen hinwegzurollen. In ihrem Zug fühlte Ryld, wie Kraft und Schnelligkeit aus seinen Gliedmaßen wichen. Splitter schien in seiner Hand an Gewicht zuzunehmen, die Klinge wirkte plötzlich matt. Ryld war kein Magier, doch wie jeder fähige Drow hatte er sich über die Jahre bei verschiedenen magischen Objekten und bei Zaubern bedient, um schneller und stärker zu werden, um seine Rüstung zu härten und seine Waffen tödlicher zu machen. Pharauns Zauber ließ vorübergehend in der näheren Umgebung jede Magie verschwinden, so daß Ryld keinen Zauber wirken konnte. Den anderen Drow ging es genauso. Am seltsamsten wirkte der Zauber auf Quenthels schreckenerregende Peitsche, deren Schlangen eben noch gezischt und gezuckt hatten und die nun vom Schaft der Waffe baumelten, als seien sie tot.
»Bleibt dicht bei mir, wenn Ihr in Reichweite des Zaubers bleiben wollt«, sagte Pharaun.
Er leckte sich nervös die Lippen. In der antimagischen Zone, die er soeben geschaffen hatte, war es nicht möglich, Magie zu wirken, und auch alle Schutzzauber und magischen Gegenstände hatten ihre Wirkung verloren. Er hob die Armbrust, mit der anderen Hand lockerte er den Sitz des Dolches in der Scheide.
»Ich komme mir vor, als würde ich mit einem Küchenmesser gegen einen Drachen antreten«, murmelte er.
Ryld klopfte ihm auf die Schulter und stand auf. Er steckte Splitter weg und griff nach seiner eigenen Armbrust.
»Mag sein, aber dein Zauber zieht dem Drachen die Zähne«, erwiderte er.
»Vorrücken«, wies Quenthel sie an.
Sie schien sich selbst nicht recht wohlzufühlen. Offenbar gefiel ihr die Reglosigkeit ihrer Waffe nicht. Ohne auf die anderen zu warten, eilte sie auf den Hof und stürmte die Stufen zur Tür des Turms hinauf. Die anderen folgten ihr, mußten aber wegen des Lichtscheins des anbrechenden Tages die Augen zusammenkneifen. Ryld blieb hinter der Gruppe und beobachtete aufmerksam die Straßen und Mauern, ob irgendwo ein Hinweis darauf zu erkennen war, daß sich die monströsen Bewohner Myth Drannors wieder auf dem Vormarsch befanden. Was sie jetzt überhaupt nicht brauchen konnten, war eine Bande blutgieriger Teufel, die sie angriffen, solange sie ihre eigene Magie unterdrückten.
An der Tür zum Turm trat Quenthel zur Seite, um Jeggred Platz zu machen. Der hünenhafte Draegloth trat vor und riß die Tür auf, Mauerwerk bröckelte und fiel auf die Stufen. Quenthel folgte ihm dichtauf, dann kamen Danifae und Valas. Ryld sah sich ein letztes Mal um und merkte, daß Jezz zurückblieb.
»Kommt Ihr nicht mit?« fragte er den Jaelre.
»Ich möchte lieber Beobachter sein«, erwiderte Jezz. »Den Betrachter zu besiegen ist Eure Aufgabe, nicht meine. Wenn Ihr überlebt, schließe ich mich Euch in wenigen Minuten an.«
Ryld warf ihm einen finsteren Blick zu, sprang dann aber in den Turm. Sie standen in einer Art Foyer, das von schwachen schrägen Lichtstrahlen erhellt wurde, die durch Öffnungen in der Mauer einfielen. Am anderen Ende des Raumes gab es eine weitere Tür. Früher mußte das Foyer ein prachtvoller und beeindruckender Saal gewesen sein, doch die Bodenkacheln waren zersprungen, dunkelgrüner Schimmel hatte sich dort festgesetzt, und von den Bannern und Gobelins an den Wänden waren kaum noch mehr als ein paar Fetzen übrig. Pharaun trat näher und betrachtete ein komplexes Symbol, das in einen Block am Fußboden geprägt war. Das Emblem war etwas größer als seine Hand und bestand aus einer verwirrenden Vielzahl geschwungener Linien und Zeichen.
»Ein Symbol der Zwietracht«, stellte der Magier fest. »Wären wir nicht von dem antimagischen Feld geschützt, wären wir längst in mörderischer Wut übereinander hergefallen ... aber dafür brauchen wir wohl nicht extra ein Symbol, nicht wahr?«
»Der nächste Raum?« fragte Ryld.
Jeggred hatte schon die Tür erreicht. Der Draegloth öffnete sie und stürmte hindurch, gefolgt von den anderen, die sich in einer runden Kammer wiederfanden, die dem Grund eines Brunnens ähnelte. Mehrere der über ihnen liegenden Stockwerke waren eingebrochen und bildeten am Grund einen Berg aus Schutt und Trümmern. Bruchstücke, die größer als ein Drow waren, schränkten die Bewegungsfreiheit der Gruppe ein.
Ryld starrte in die Leere über ihnen und suchte nach Hinweisen auf das Monster, das hier auf sie lauern sollte. Die anderen taten es ihm nach, doch niemand konnte etwas sehen.
»Ich sehe keinen Betrachter«, stellte Jeggred fest.
Ryld wollte eben etwas erwidern, als von oben eine schreckliche, krächzende Stimme ertönte: »Natürlich nicht! Ich will auch nicht gesehen werden!«
Unmittelbar darauf holte die Kreatur nach ihnen aus. Von irgendwo hoch über ihnen, nahe der Spitze der Turmruine, schossen grelle Strahlen magischer Energie – die tödlichen Strahlen, die aus den Augen des Monsters drangen, konnten den Gegner verletzen, lähmen, verzaubern oder gar auslöschen – auf die Drow herab, gefolgt von einem gewaltigen blauen Blitz, den das unsichtbare Monster beschworen hatte. Ryld konnte die Quelle der Magie nicht erkennen.
Die Strahlen und der knisternde Stromschlag lösten sich abrupt auf, als sie mit Pharauns magiefreier Zone in Berührung kamen. Die Kreatur versuchte es ein weiteres Mal und schickte verschiedene Strahlen ebenso auf sie herunter wie einen gräßlichen Zauber, den sie in ihrer tiefen, dröhnenden Stimme herausschrie, doch auch diesmal war ihr kein Erfolg beschieden.
Ryld hob die Armbrust und zielte auf den Punkt, von dem er meinte, er sei der Ausgangspunkt der Strahlen, dann feuerte er den Bolzen ab. Ein schmerzhaftes Kreischen weit oben verriet ihm, daß er gut gezielt hatte. Valas, Danifae und Pharaun eröffneten auch das Feuer, während Jeggred einen großen Ziegelstein nahm und ihn erstaunlich geschickt in die Finsternis über ihnen schleuderte. Natürlich traf nur ein Teil des Sperrfeuers ins Ziel. Selbst wenn der Betrachter sichtbar gewesen wäre, sorgte seine dicke chitinartige Haut dafür, daß viele Angriffe abgewehrt werden konnten. Um so schwieriger war es, die Kreatur zu treffen, wenn sie sich in Unsichtbarkeit hüllte. Dennoch landeten sie Treffer.
Der Betrachter-Magus verstand sehr schnell, welcher Art die Verteidigung der Gruppe war. Anstatt weiter direkt die Drow zu attackieren, richtete er seinen todbringenden Blick auf die Überreste der oberen Geschosse. Mit einem Augenstrahl brannte er sich durch den Fuß eines schweren Holzträgers, der aus der Steinmauer des Turms ragte, mit einem anderen nahm er das Stück in einen telekinetischen Griff, um dann das massive Objekt auf Valas Hune zu schleudern. Der Späher sprang noch gerade rechtzeitig zur Seite, damit er nicht von dem schweren Holzstück erschlagen wurde, verlor aber das Gleichgewicht und landete inmitten des Schutts. Staub erfüllte die Luft, während sich der Betrachter sofort den nächsten Holzträger vornahm und gleichzeitig zu einem anderen Zauber ansetzte.
»Wir müssen weiter hochklettern«, sagte Quenthel. »Die Kreatur hält sich oberhalb von Pharauns Zauber auf.«
»Soll ich etwa springen?« fragte Pharaun. Er wich einem Stück Mauerwerk von der Größe eines Kopfs aus, dann zielte er wieder mit der Armbrust. »Die Anti-Magie, die uns schützt, hindert uns auch daran, zu fliegen oder zu schweben, um ...«
»Um Lolths willen!« rief Ryld. Zeichensprache!
Valas eilte zur anderen Seite und versuchte, einen besseren Blick auf den Gegner zu bekommen. Der Späher zielte sorgfältig mit der Armbrust und schickte einen weiteren Pfeil empor. Der Betrachter stieß einen schrecklichen Schrei aus, dann erloschen die Augenstrahlen, und der Regen aus Trümmerstücken setzte aus.
Der Betrachter hat sich auf die nächste unbeschädigte Etage zurückgezogen, bedeutete Valas. Wir müssen uns hinaufbegeben, wenn wir ihn zu packen bekommen wollen.
Ryld studierte aufmerksam die Innenwände der Turmruine. Es fehlten vielleicht vier der unteren Stockwerke, wonach sich über der Decke, die sie von unten sehen konnten, noch zwei oder drei Geschosse befinden mußten. Grob geschätzt waren gut achtzehn Meter Höhenunterschied zu überwinden, und das Mauerwerk war alt und beschädigt. Ein erfahrener Kletterer konnte die Überreste der Pfeiler nutzen, die ursprünglich einmal die unteren Stockwerke abgestützt hatten, doch es war nichts, was er gerne versucht hätte.
Ich will nicht klettern, erwiderte er.
Ich auch nicht, fügte Danifae an. Die Kreatur weiß, daß wir von Anti-Magie geschützt werden. Erwartet sie, daß wir den Zauber auf geben, um zu ihr zu kommen?
»Vielleicht«, meinte Pharaun. Auf einen stechenden Blick Rylds hin bedeutete er: Man fragt sich, ob wir uns dieser Situation vielleicht intensiver hätten widmen sollen, ehe wir die Aufgabe annahmen, die die Jaelre uns damit gaben.
Wie die anderen bewegte sich auch Pharaun vorsichtig zwischen dem Schutt und den Trümmern hin und her, den Blick nach oben gerichtet.
Der Magier legte den Kopf in den Nacken, dann rief er: »Hallo! Betrachter! Da wir uns in einer Art Patt befinden, wärt Ihr zu einer Verhandlung bereit?«
Quenthel schäumte.
»Sprecht Ihr für uns, Magier?« raunte sie ihm zu.
Von weit oben ertönte die tiefe, rauhe Stimme. »Verhandlung? Warum? Ihr seid in mein Heim eingedrungen, ihr Narren!«
»Pharaun ...«, setzte Quenthel an.
»Ihr habt ein Buch, das wir wollen«, erwiderte der Magier und ignorierte die Hohepriesterin. »Es ist das Geildirion von Cimbar. Gebt es uns, dann lassen wir Euch in Ruhe.«
Der Betrachter verstummte und schien über das Angebot nachzudenken. Hätten Quenthels Blicke töten können, dann hätte in diesem Moment Pharauns letztes Stündlein geschlagen. Doch sie schwieg so wie die anderen und wartete darauf, was der Betrachter sagen würde.
»Dieses Buch ist äußerst wertvoll«, erwiderte das Geschöpf nach einer Weile. »Ich werde es nicht hergeben, nur weil eine Welpe von Drow das von mir verlangt. Zieht Euch zurück, dann werde ich Euch verschonen.«
Quenthel schnaubte. »Als hätten wir etwas anderes erwarten können.« Sie machte eine knappe Geste, damit die anderen ihre Aufmerksamkeit auf sie richteten. Dann bedeutete sie: Bei drei wird Pharaun den Zauber aufheben. Danifae und Ryld – Ihr werdet nur nach oben folgen. Pharaun, wenn wir die halbe Strecke zurückgelegt haben, werdet Ihr Euch und Jeggred auf die Etage darüber teleportieren und das Monster hinterrücks angreifen, da es darauf konzentriert sein wird, den Turm zu halten. Valas, Ihr bleibt hier und gebt uns mit dem Bogen Rückendeckung. Kommt so schnell wie möglich hoch, wenn wir dort sind. Quenthel machte sich nicht die Mühe, weitere Einzelheiten ihres Plans zu erläutern. Statt dessen begann sie zu zählen.
Eins ... zwei ... drei!
Pharaun machte eine Geste und hob die Wirkung der Anti-Magie auf. Sofort spürte Ryld, wie die arkane Macht seines Gürtels, seiner Handschuhe und seines Schwertes wieder in seinen Leib strömte. Er zog Splitter aus der Scheide und stieg im Schacht empor, wobei er sich des Levitationszaubers bediente, der in sein Emblem Melee-Magtheres eingebunden war. Mit ein wenig Glück würde die Fähigkeit des Schwertes, Zauber zunichte zu machen, ihn vor dem schlimmsten bewahren, was der Betrachter-Magus ihnen entgegenschleudern würde.
Quenthel und Danifae stiegen neben ihm auf, und gemeinsam waren sie drei schwarze, elegante Gestalten, die durch die Finsternis glitten. Pharaun trat zu Jeggred und sah der Gruppe zu, eine Hand auf dem weißen Fell der Schulter des Draegloth.
An einer Seite der Decke war eine runde Öffnung zu sehen, die zum Teil von den Resten einer alten Treppe versperrt wurde, die einst im Turm nach oben und unten geführt hatte. Ryld spähte zu der Öffnung und rechnete jeden Moment mit weißglühendem Tod.
Der Betrachter-Magus enttäuschte ihn nicht.
Ein grellgrüner Strahl zuckte auf, den er mit Hilfe von Splitter abwehren konnte. Ein Kribbeln ging durch das Heft des Zweihänders, als er den heimtückischen Strahl unschädlich machte. Neben ihm schrie Danifae auf und wich einem gewaltigen Blitz aus, der einen Bogen beschrieb, um alle drei Elfen zu versengen. Zurück blieb der Gestank von Ozon und verkohltem Holz.
Pfeile zischten von unten an Ryld vorbei, da Valas Hune wieder auf den unsichtbaren Feind feuerte. Ryld brummte trotzig und zwang sich, schneller aufzusteigen. Ein weiterer Zauber traf Quenthel, eine Art Gegenzauber, der ihren Levitationszauber wirkungslos werden ließ. Sie ruderte mit den Armen und stürzte ab. Ryld versuchte noch, sie zu packen, doch die Baenre war nicht nahe genug gewesen. Nach einem Sturz von gut zwölf Metern schlug Quenthel wie ein herabfallender Meteor in den Trümmerhaufen ein und verschwand in einer Staubwolke.
»Steigt weiter auf!« rief Danifae. »Wir haben es fast geschafft.«
Der Betrachter-Magus mußte zur gleichen Erkenntnis gelangt sein, denn einen Sekundenbruchteil später nahm eine Barriere aus dickem Eis Gestalt an und versiegelte den oberen Teil des Turms, während die Drow darunter nicht weiter aufsteigen konnten.
»Verdammt!« fluchte Ryld.
Danifae funkelte die Barriere an und überlegte: »Vielleicht können wir ...«
Da tauchte Jezz der Lahme am Fuß des Turms auf. Er wirbelte herum und schleuderte einen Zauber auf die Tür, die daraufhin zuschlug.
»Was immer Ihr da tut, kommt zum Ende!« rief der Jaelre. »Die Teufel sind mit Verstärkung zurück!«
Ryld sah nach oben zu der Eisschicht, die sie von der Turmspitze trennte, dann wieder nach unten auf den mit Trümmern übersäten Boden. Quenthel lag halb begraben zwischen den Mauerstücken und regte sich nicht. Zauber sorgten über der Eisdecke für Unruhe und waren ein gutes Zeichen dafür, daß Pharaun und Jeggred ihren Gegner gefunden hatten. Aber die von der Kreatur geschaffene Barriere sorgte dafür, daß die Gruppe geteilt worden war. Wenn sie aufgaben, würde der Betrachter-Magus Gelegenheit bekommen, seine Angreifer einen nach dem anderen auszulöschen, doch Quenthel war bereits tot oder doch wohl zumindest schwerverletzt.
»Hoch«, entschied Ryld. »Umkehren führt zu nichts. Valas, Jezz, kümmert euch um Quenthel!«
Er hatte die leuchtend weiße Decke erreicht und versuchte, mit Splitter die Eisschicht zu bearbeiten, da die Klinge die Fähigkeit besaß, Zaubern entgegenzuwirken. Rasiermesserscharfe Eissplitter platzten von der Stelle ab, die er getroffen hatte, doch es gelang Splitter nicht, die Magie des Betrachters aufzuheben. Ryld fluchte und versuchte es ein weiteres Mal, erneut ohne Erfolg.
Unter ihnen hörte man, wie von außen versucht wurde, die Tür zum Turm einzurennen. Valas Hune schulterte seinen Bogen und eilte über den Schutt zu der Stelle, an der Quenthel aufgeschlagen war.
Jezz der Lahme brummte etwas Unverständliches und wirkte einen Zauber, der dafür sorgte, daß das Foyer mit einem Gewirr aus klebrigen Spinnfäden durchzogen wurde. Er sprach stumm einen anderen Zauber, dann stieg er in die Luft und ließ Valas Hune mit Quenthel am Boden zurück.
»Vergeßt die Priesterin«, rief er Valas Hune zu. »Kommt, wenn Ihr leben wollt!«
Der Späher verzog frustriert das Gesicht.
»Ich kann nicht klettern und sie gleichzeitig tragen!« herrschte er Jezz an, während ein erneutes Anrennen gegen die Tür bewirkte, daß Holz absplitterte und sich die Eisen zu verbiegen begannen.
Einem weiteren Ansturm würde die Tür nicht standhalten können. Valas Hune sah nach oben in den Schacht, dann wieder zu Quenthel, die vor ihm lag. Er bückte sich und entfernte das Emblem des Hauses Baenre von ihrer Schulter. Die Schlangenköpfe ihrer Peitsche zuckten, und Yngoth schnappte sogar nach ihm, doch Valas war schnell genug außer Reichweite.
»Ich will eure Herrin retten«, brüllte er die Peitsche an, während er das Emblem an seiner Kleidung festmachte.
Der Späher näherte sich und packte Quenthel unter den Armen, dann nutzte er die Macht ihrer Brosche, um sie vom Boden hochzuheben.
Unterdessen begutachtete Ryld weiter die Barriere, die ihm den Weg versperrte.
»Na gut«, murmelte er schließlich.
Er bewegte sich ein Stück zurück und stieß sich an der Wand des Schachts ab, dann holte er mit Splitter für den kräftigsten Schlag aus, zu dem er fähig war. Mit einem zornigen Aufschrei schlug er zu, jagte Splitters Klinge durch das magische Eis und hörte auch dann noch nicht auf, als ihm verheerende kalte Wellen entgegenschlugen. Er ignorierte den Schmerz und holte wieder und wieder aus. Das Eis zersplitterte in Dutzende von Stücken, die zu Boden fielen. Ohne auf die anderen zu warten, schob sich Ryld durch die entstandene Öffnung und drang in die Lagerstatt des Betrachters vor.