16

Schon am ersten Tag nach dem Mord an Seyll begann Halisstra sich zu fragen, ob sie vielleicht besser bedient gewesen wäre, wenn sie sich den Eilistraee-Priesterinnen angeschlossen und einen Übertritt zu deren Glauben vorgetäuscht hätte. Diese Strategie hätte sie zwar nicht wieder mit ihren Kameraden zusammengebracht, doch dann hätte sie zumindest eine Unterkunft und etwas zu essen gehabt, und ihr wäre die Möglichkeit auf eine Gelegenheit geblieben, ihre Ausrüstung wieder an sich zu nehmen. So aber befand sie sich auf einem schier endlosen Marsch durch die eiskalten Wälder. Als die Morgendämmerung anbrach, war der einzige Schutz, den sie finden konnte, eine kleine, feuchte Höhle, die von Findlingen von der Größe eines Drow und kahlen Bäumen umgeben war. Zitternd legte sie den gestohlenen Rucksack ab und durchsuchte ihn in der Hoffnung, daß sie irgendeinen wichtigen Gegenstand oder etwas zu essen übersehen hatte.

Seyll und ihre Anhänger hatten eine Reise durch die Wildnis geplant, die kaum mehr als ein paar Stunden gedauert hätte. Also führten sie nur so viel Ausrüstung mit sich, wie Halisstra selbst eingepackt hätte, wäre es ihre Absicht gewesen, zu einer bekannten Höhle zu gehen, die allenfalls ein paar Kilometer von Ched Nasad entfernt war, und erst recht hatten sie nichts ausgewählt, was der Flucht ihrer Gefangenen hätte behilflich sein können.

Mit der Armbrust, die sie Xarra abgenommen hatte, und ihren Bae’qeshel-Liedern hatte sie gute Chancen, jedes Wild zu erlegen, das ihr über den Weg lief, doch während ihrer stundenlangen Wanderung waren ein paar Vögel das einzige, was sie entdeckt hatte. Aber selbst wenn es ihr gelang, Beute zu machen, hatte sie keine Möglichkeiten, das Fleisch zu garen. Es war, als hätte sich der Wald gegen sie verschworen.

Sie war einigermaßen sicher, daß sie nach der Flucht vor den Ketzern in westliche Richtung gegangen war. Wenn Seyll nicht gelogen hatte, als sie sagte, sie befänden sich nahe der Stelle, an der man Halisstra gefangengenommen hatte, konnte die Melarn-Priesterin höchstens ein bis zwei Nachtmärsche von dem kleinen Fluß entfernt sein, den Pharaun in seiner Vision beschrieben hatte. Da der Fluß vor ihr von Süden nach Norden verlief, konnte sie ihn nicht verfehlen, wenn sie sich weiter in westlicher Richtung bewegte.

Halisstra versuchte, sich an der Richtung zu orientieren, in der Sonne und Mond untergingen, wich davon aber ein wenig nach links ab, da sich beide zu dieser Jahreszeit etwas weiter südlich über den Himmel bewegten. Allerdings wußte sie nicht, ob sie flußauf- oder flußabwärts weiterziehen sollte, wenn sie den Strom erreichte, da sie nicht zu sagen vermochte, an welchem Punkt Pharaun und die anderen angekommen waren. Wenn sie es genau überlegte, konnte sie nicht einmal sicher sein, ob sie den richtigen Fluß vor sich hatte, wenn sie ihn erreichte. In den letzten eineinhalb Tagen hatte sie ein gutes Dutzend kleiner Bäche überquert, und auch wenn sie bei keinem davon der Ansicht gewesen war, man dürfe ihn als richtigen Fluß bezeichnen, fehlte ihr die Erfahrung mit der Oberflächenwelt, um sich dessen gewiß zu sein.

»Immer vorausgesetzt, ich laufe nicht seit Stunden im Kreis«, murmelte Halisstra.

Vielleicht war es sinnvoller, den Gedanken aufzugeben, die Jaelre zu finden, und statt dessen den kürzesten Weg aus dem Wald zu suchen. Früher oder später würde sie bestimmt wieder auf irgendeine Zivilisation stoßen, und dort würde sie sich Essen und Vorräte beschaffen – ganz gleich, ob sie darum betteln mußte oder es sich einfach aneignete – und einen Führer überreden, sie zu den Jaelre zu bringen.

Sie schloß die Augen und stellte sich im Geiste die Karte Cormanthors und der umliegenden Länder vor. Sie befand sich im östlichen Teil des Waldes, das wußte sie sicher. War es also am besten, nach Osten zu gehen, der aufgehenden Sonne entgegen? Dort gab es jedoch kaum etwas außer der Menschensiedlung Eggental, wenn ihr geographisches Wissen sie nicht täuschte. Oder war es besser, nach Süden zu wandern? In dieser Richtung gab es einige Täler mehr, womit die Chancen besser standen, auf Zivilisation zu stoßen, auch wenn sie dafür länger wandern mußte, ehe sie den Wald verlassen konnte. Den Norden schloß sie von vornherein aus, da sie sicher war, daß dort Elfenbaum lag. Es war jedoch egal, für welchen Weg sie sich entschied – sie würde zumindest vorübergehend den Jaelre und damit ihrer Mission den Rücken kehren.

»Das wäre alles viel einfacher, wenn Lolth sich bequemen würde, auf meine Gebete zu reagieren«, grollte sie.

Als ihr klar wurde, was sie gesagt hatte, sah sie sich unwillkürlich erschrocken um und hielt die Hand vor den Mund. Lolth sah es nicht gern, wenn ihre Anhänger über sie klagten.

Sie verbrachte einen naßkalten und elenden Tag zusammengekauert zwischen den Felsblöcken in ihrem kleinen Versteck, wo sie immer wieder mal für kurze Zeit in Trance abglitt. Mehr als einmal wünschte sie sich, sie wäre geistesgegenwärtig genug gewesen, um Feliane zu befehlen, sie zu den Jaelre zu führen. Wenigstens hätte sie von ihr Mantel und Ausrüstung fordern sollen, ehe sie sie in den Wald schickte. Fürst Dessaers Männer waren sicher längst auf der Suche nach ihr, und wenn sie sie diesmal zu fassen bekamen, würden sie nicht noch einmal so gnädig mit ihr verfahren. Doch Halisstra neigte ohnehin allmählich zu der Ansicht, eine schnelle Hinrichtung durch die Oberflächen-Elfen sei einem langsamen und einsamen Hungertod in diesem nicht enden wollenden Wald vorzuziehen.

Bei Anbruch der Nacht packte sie ihre Habseligkeiten zusammen und verließ ihr Versteck. Sie stand im Wald, sah in die Richtung, die sie für Westen hielt, dann nach Süden und wieder gen Westen. Im Süden würde sie zwar leichter eine Siedlung von Menschen oder Oberflächenelfen finden, doch sie brachte es nicht übers Herz, alle Hoffnung aufzugeben, je wieder mit ihren Kameraden zusammenzukommen. Es war besser, noch eine Weile in westlicher Richtung zu gehen, und wenn sie bei Tagesanbruch noch immer nicht den Fluß aus Pharauns Vision gefunden hatte, dann würde sie in Ruhe darüber nachdenken, ob sie es wirklich aufgeben sollte.

»Also nach Westen«, sagte sie zu sich selbst.

Ein paar Stunden ging sie durch den Wald und versuchte, den Mond zu ihrer Linken zu halten, auch wenn sie ihn mehr spürte als sah. Die Nacht war kalt, und am Himmel zogen dünne Wolken vorüber, die von einem heftigen Wind vorangetrieben wurden. Von diesem war aber am Waldboden nichts mehr zu spüren, da er es offenbar nicht schaffte, den Schutz durch die Bäume zu überwinden. Im Wald selbst war es kalt und still, und nach den Maßstäben eines Bewohners der Oberfläche war es stockfinster. Halisstra dagegen empfand das diffuse Mondlicht, das seinen Weg in die unteren Regionen des Waldes fand, als See auf leuchtenden silbernen Schatten. Sie blieb stehen, um den Himmel zu betrachten und festzustellen, ob sie sich von der Bahn des Mondes zu sehr vom Kurs abbringen ließ, als sie in der Ferne Wasserrauschen hörte.

Leise ging sie weiter durch die Nacht, bis sie schließlich am Ufer eines breiten, flachen Stromes ankam, der sich seinen Weg über ein Flußbett aus Kieseln bahnte.

»Ob er das ist?« flüsterte sie.

Er erschien ihr breit genug, und er befand sich in etwa dort, wo sie ihn vermutet hatte – anderthalb Nachtmärsche von dem Punkt, an dem man sie gefangengenommen hatte. Halisstra hockte sich hin und betrachtete das Gewässer. Wenn sie die falsche Entscheidung traf, konnte sie dem Strom in irgendeine abgelegene, unbewohnte Region des Waldes folgen, wo sie vor Hunger und Kälte sterben würde. Auf der anderen Seite waren ihre Aussichten ohnehin nicht eben erfreulich, ganz gleich, wie sie sich entschied. Halisstra schnaubte, dann folgte sie dem Fluß zu ihrer Linken. Was hatte sie zu verlieren?

Sie legte gut anderthalb weitere Kilometer zurück, als das Marschieren und die kalte Luft ihren Hunger unerträglich werden ließen, so daß sie beschloß, Halt zu machen und sich ein mitternächtliches Mahl aus den spärlichen Vorräten zuzubereiten, die ihr noch verblieben waren. Sie nahm den Rucksack von den Schultern und sah sich um, als sie ein sonderbar schneidendes Geräusch hörte, das sich rasch näherte. Ohne nachzudenken, warf sich Halisstra zu Boden, denn instinktiv hatte sie das Geräusch längst erkannt.

Zwei kleine Pfeile flogen an ihr vorüber, einer bohrte sich in einen Baumstamm gleich hinter ihr, der andere verschwand in der Finsternis, nachdem er von ihrem gepanzerten Ärmel abgeprallt war. Sofort rollte sie sich in den Schutz eines Baums und sang rasch einen Unsichtbarkeitszauber, da sie hoffte, so den Angreifern kein Ziel zu bieten. Dabei warf sie zufällig einen Blick auf den Pfeil, der im Stamm steckte. Er war klein, schwarz und mit roten Federn besetzt: ein Bolzen aus der Armbrust eines Drow!

Mehrere Angreifer pirschten heimlich näher, den einzigen Hinweis auf ihre Anwesenheit lieferte das Rascheln der Blätter auf dem Waldboden oder ein gelegentliches leises Pfeifsignal. Halisstra erhob sich langsam, hielt sich aber im Schutz des Baumes.

Mit leiser Stimme rief sie: »Feuer einstellen. Ich trage die Waffen einer Eilistraee-Priesterin, die ich tötete. Ich diene Lolth.«

In ihrer Stimme war eine Spur eines Bae’qeshel-Lieds zu hören, das ihren Worten eine unbestreitbare Ernsthaftigkeit verlieh.

Mehrere Drow näherten sich ihr weiter, was sie am Rascheln im Unterholz erkannte. Dann sah Halisstra die Männer in Grün und Schwarz, die sich wie Panther durch den im Mondschein liegenden Wald bewegten. Sie spähten in die Finsternis und suchten sie, doch ihr Zauber verbarg sie ausreichend vor ihren Blicken.

Sie legte die Hand auf das Heft von Seylls Schwert und veränderte leicht ihre Position, um ihren Schild zu heben, für den Fall, daß es ihnen gelingen sollte, die Unsichtbarkeit zu durchschauen.

Einer der Drow blieb vor ihr stehen und erwiderte: »Wir haben Euch gesucht.«

»Mich?« fragte Halisstra. »Ich ersuche um eine Audienz bei Tzirik, könnt Ihr mich zu ihm bringen?«

Die Jaelre-Krieger hielten inne. Mit den Fingern tauschten sie sich rasch aus, dann ließ der Krieger, der sie angesprochen hatte, die Armbrust sinken.

»Eure Truppe von Spinnenküssem kam vor drei Tagen in die Minauth-Feste«, sagte er. »Wurdet Ihr von den anderen getrennt?«

In der Hoffnung, Quenthel und die anderen hätten nichts getan, um sich die Jaelre zu Feinden zu machen, entschied sich Halisstra für eine ehrliche Antwort.

»Ja«, sagte sie.

»Gut«, erwiderte der Fremde. »Hohepriester Tzirik befahl uns, Euch zu suchen. Wir können Euch jetzt zu ihm bringen. Was aus Euch wird, ist seine Sache.«

Halisstra hob ihre Unsichtbarkeit auf und nickte. Die Jaelre scharten sich um sie und machten sich in schnellem Tempo auf nach Süden. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befinden mochte, während sich die Jaelre in den Wäldern bestens auszu-kennen schienen. Nach weniger als einer Stunde hatten sie die Ruine einer Feste erreicht, deren weiße Mauern im Mondschein leuchteten. Der Strom verlief nur einen Steinwurf weit von der Feste entfernt.

Ich hatte tatsächlich den richtigen Fluß gefunden, dachte Halisstra etwas überrascht.

Wie es schien, war sie zwei Nächte lang auf dem richtigen Weg gewesen, sie war nur ein paar Meilen zu weit nach rechts geraten. Der Gedanke, was geschehen wäre, wenn sie den Strom überquert hätte und weitergegangen wäre, ließ sie erschaudern.

Die Jaelre-Späher führten Halisstra in die Feste, vorbei an aufmerksamen Wachen, die in Verstecken kauerten und ein Auge auf den Wald ringsum hatten. Sie stellte fest, daß die Anlage längst nicht so heruntergekommen war, wie es von außen schien. Die Wachen brachten sie in einen bescheidenen Saal, in dem ein Feuer im Kamin brannte und dessen Wände mit Jagdtrophäen behängt waren, die überwiegend Kreaturen von der Oberfläche zeigten, da sie Halisstra nicht vertraut waren. Sie wartete eine Weile, während Hunger und Durst immer schlimmer wurden, doch schließlich kam ein kleiner, kräftig gebauter Mann mittleren Alters herein, der sein Gesicht hinter einem zeremoniellen schwarzen Schleier verborgen hatte.

»Habe ich aber Glück«, sagte er mit sonorer Stimme. »Zweimal in drei Tagen sind Diener Lolths in mein Zuhause gekommen und haben darum gebeten, mich persönlich zu sprechen. Allmählich frage ich mich, ob Lolth mich von meiner Ergebenheit gegenüber dem Maskierten Gott abbringen will.«

»Ihr seid Tzirik?« fragte Halisstra.

»Ja«, sagte der Priester, verschränkte die Arme und betrach’ tete sie. »Ihr müßt Halisstra sein.«

»Ich bin Halisstra Melarn, erste Tochter des Hauses Melarn, des zweiten Hauses von Ched Nasad. Soweit ich weiß, sind meine Gefährten hier.«

»Das sind sie«, entgegnete Tzirik. Er lächelte kühl. »Doch alles zu seiner Zeit. Wie ich sehe, tragt Ihr die Waffen einer Priesterin Eilistraees. Wie das?«

»Wie ich schon Euren Kriegern sagte, wurde meine Gruppe vor fünf Tagen ein Stück entfernt von hier von Oberflächen-Elfen angegriffen. Meine Gefährten konnten fliehen, doch mich nahm man gefangen und brachte mich an einen Ort namens Elfenbaum. Dort besuchte mich eine Frau namens Seyll Auzkovyn und versuchte, mich zu Eilistraee zu bekehren.«

»Eine einfältige Idee«, kommentierte Tzirik. »Aber fahrt fort.«

»Ich ließ sie glauben, ich könne bekehrt werden«, fuhr Halisstra fort. »Sie bot mir an, sie zu einem Ritual zu begleiten, das vor zwei Nächten stattfinden sollte. Auf dem Weg zu dieser Zeremonie gelang mir die Flucht.«

Sie blickte auf Kettenhemd und Waffen. Daß die Frau so naiv gewesen war, versetzte Halisstra immer noch in Erstaunen. Seyll war ihr nie wie eine dumme Drow vorgekommen, und doch hatte sie Halisstra völlig falsch eingeschätzt.

»Jedenfalls«, endete sie, »nahm ich mir die Freiheit, Dinge auszuleihen, für die Seyll keine Verwendung mehr hatte. Immerhin hatten die Leute von Elfenbaum zuvor meine Waffen und die Rüstung beschlagnahmt.«

»Wollt Ihr nun zu Euren Kameraden?«

»Vorausgesetzt, sie sind weder tot noch gefangen«, erwiderte sie.

»Nichts dergleichen«, sagte Tzirik. »Sie baten mich, ihnen einen ungewöhnlichen Dienst zu erweisen. Also überlegte ich mir etwas, das sie für mich tun konnten, um mich für meine Zeit und Mühe zu entschädigen. Wenn sie erfolgreich sind, sollten sie in ein bis zwei Tagen wieder da sein. Die Frage lautet: Werdet Ihr hier sein, um sie zu begrüßen?«

Halisstra kniff die Augen zusammen, schwieg aber. Der Hohepriester ging zum Feuer, nahm einen Schürhaken und schob die knisternden Scheite im Kamin hin und her.

»Die Kameraden, die euch der Gefangenschaft durch dieses Oberflächen-Volk anheimfallen ließen, erzählten mir eine sehr ungewöhnliche Geschichte«, erklärte der Priester. »Zweifellos denkt Ihr nun: ›Woher soll ich wissen, was sie Tzirik alles gesagt haben?‹ Das könnt Ihr natürlich nicht wissen. Daher ist es empfehlenswert, daß Ihr mir einfach alles erzählt.«

»Das könnte meinen Kameraden mißfallen, wenn sie zurückkehren«, wandte Halisstra ein.

»Eure Gefährten werden nie erfahren, daß Ihr hier wart, wenn es Euch nicht gefällt, meine Neugier zu stillen, Herrin Melarn«, sagte Tzirik. Er legte den Schürhaken weg und ließ sich beim Feuer nieder. »Warum fangt Ihr nicht einfach ganz am Anfang an?«


Ryld kauerte in einem dichten, tödlichen und ätzenden Nebel und versuchte mit allen Mitteln, nicht einzuatmen, obwohl ihm die Luft ausging. Seine Haut brannte, als hätte man flüssiges Feuer über seinen Leib gegossen, und häßliche Beulen bildeten sich an den Stellen, an denen seine Haut nicht vor der Luft geschützt war. Wenn er blieb, wo er war, war das eine Einladung zu einem langsamen, qualvollen Tod, doch die Dämpfe hatten sich wie sanfte weiße Hände um seine Glieder gelegt und hinderten ihn daran, sich zu bewegen. Der verfluchte Betrachter befand sich irgendwo in diesem Raum, nur wo?

Ein greller Blitz erhellte den weißen Nebel, Dutzende zuckender Verästelungen schossen in alle Richtungen davon, während er durch die Dunstschleier jagte. Der Waffenmeister sprang zur Seite und sank langsam zu Boden, da der Nebel seinen Fall abfederte. Ein gewaltiger Donnerschlag erschütterte die Steine im Raum und ließ seine Zähne im Kiefer vibrieren.

»Pharaun!« schrie er. »Wo ist der verdammte ...«

Sofort bereute er, ein Wort gesagt zu haben, da Schmerzen seine Nase und Kehle attackierten, als würden sich heiße Nadeln in sein Innerstes bohren.

»An der östlichen Mauer!« erwiderte der Magier aus einiger Entfernung.

Der Meister Sorceres ging sofort zum nächsten Zauber über, den er so schnell wie möglich zu wirken versuchte. Unterdessen ließ der Betrachter-Magus seinen entsetzlichen Zaubergesang ertönen und murmelte finstere Worte für ein halbes Dutzend Beschwörungen gleichzeitig. Wieder zuckten Blitze, gefolgt vom Heulen und Kreischen beschworener Geschosse, die auf ihre Ziele zujagten und den Schreien, Rufen und Flüchen seiner Gefährten.

Ryld hatte endlich den Boden erreicht und stellte fest, daß er sich dicht an einer geschwungenen Wand befand – das einzige, was er in dem entsetzlichen Nebel sehen konnte. Ohne nachzudenken kroch er so schnell wie möglich vorwärts, da er hoffte, dem ätzenden Nebel zu entkommen, bevor der ihm das Fleisch vom Schädel brannte.

Bei Lolth, was für ein Elend! dachte er, während er mit Splitter nach den dicken Nebelschwaden schlug und stach.

»Die Teufel sind dicht hinter uns!« schrie Jezz, der sich irgendwo jenseits des brennenden Nebels aufhielt. »Erledigt dieses Ding so schnell wie möglich, damit wir uns nehmen können, weshalb wir herkamen, und den Rückzug antreten können!«

Es schnell erledigen, dachte Ryld und schnitt eine Grimasse. Das ist ja eine ganz neue Idee.

Er bewegte sich weiter nach vorn, und plötzlich war er dem tödlichen Nebel entronnen. Niemand war in seiner Nähe, aber aus der Nebelwand hinter ihm hörte er, wie seine Gefährten kämpften.

»Verdammt«, murmelte er.

Nachdem er dem Nebel entronnen war, wurde offensichtlich, daß das gesamte Stockwerk des Turms einst aus fürstlich ausgestatteten Räumen bestanden hatte. Ein dicker roter Schleier auf dem Boden war womöglich früher ein dicker Teppich gewesen, die Wände waren mit orangefarbenen und goldenen Kacheln geschmückt, die einen Wald an der Oberfläche der Welt zeigten, dessen normalerweise grünen Blätter aus einem unerklärlichen Grund in Rot-, Orange- und Gelbtönen dargestellt wurden. Ryld hustete, seine Augen tränten vom Kontakt mit den giftigen Dämpfen. Offenbar war er durch einen Torbogen in einen anderen Raum gelangt, an dessen gegenüberliegender Seite eine Tür wegführte.

»Wo bei allen schreienden Höllen bin ich?«

Etwas vor ihm kreischte vor Wut, und im Raum jenseits des Türbogens flammte magisches Feuer gleißend hell auf. Ryld hob Splitter und stürmte in den nächsten Raum, wo er sich inmitten eines heftigen Gefechts wiederfand.

Danifae und Jezz kämpften mit zwei schlanken, schuppigen Teufeln, die fast drei Meter groß waren. Es handelte sich um gräßliche Scheusale, die große Flügel besaßen und mit rasiermesserscharfen Geißeln und stacheligen Schwänzen um sich schlugen, von denen grünes Gift tropfte. Einige kleinere Teufel zischten und strömten hinter den beiden großen Ungeheuern in den Raum, drängten nach vorn und suchten nach einer Möglichkeit, sich in den Kampf einzumischen.

»Die Teufel greifen an!« schrie Jezz.

Der Jaelre kämpfte mit einem geschwungenen Messer in der einen Hand und einer tödlichen weißen Zauberflamme in der anderen. Einer der großen Teufel sprang Jezz an und umging mit seinen Eisenketten die Paraden des Jaelre, so daß der Oberflächen-Elf zu Boden ging. Die Kreatur baute sich über dem benommenen Jezz auf und griff nach dessen Kehle.

Ryld ließ sich nach vorn gleiten, täuschte hoch an, damit der Teufel die Waffe hob, um sein Gesicht zu schützen, doch dann ging er abrupt in die Hocke und schlug nach dessen Bein, um es am Knie abzutrennen. Das riesige Scheusal brüllte vor Schmerz und verlor den Halt, seine Flügel flatterten wild, während schwarzes Blut aus der schrecklichen Wunde spritzte. Ryld kam näher und veränderte seinen Griff, um Splitter so zu halten, daß er das am Boden liegende Monster töten konnte. Aber der Teufel reagierte mit einem Wirbel aus reißenden Klauen und schnappenden Zähnen, während er mit seinem gefährlichen Schwanz so schnell ausholte, daß allein die Stabilität seines von Zwergen geschaffenen Brustpanzers ihn davor bewahrte, von dem Stachel des verwundeten Teufels durchbohrt zu werden.

Ryld parierte wie wahnsinnig, da er um sein Leben kämpfte, während immer mehr Teufel – eine Gruppe von mannshohen Kreaturen, aus deren schuppiger Haut messerscharfe Stacheln herausragten – sich näherten und ihre Mäuler mit den Reißzähnen zu einem höllischen Grinsen verzogen hatten.

»Drow als Mahlzeit!« höhnten sie. »Drow-Herzen zum Nachtisch!«

»Wir müssen hier raus!« schrie Danifae. »Wir können sie nicht aufhalten!«

Sie ließ ihren Morgenstern geschickt und mit viel Kraft wirbeln, um gegen den anderen großen Teufel sowie zwei der kleineren zu kämpfen, die von den Seiten her sich zu nähern versuchten.

»Wir können nirgends hin«, gab Ryld zurück. »Hinter uns befindet sich der Betrachter!«

Er spürte die todbringenden Zauber, die im Raum hinter ihm zum Einsatz kamen, er fühlte die Erschütterungen der Blitze und den Schauder mörderischer Zauber, die seine Seele versengten und ihm eine Gänsehaut bescherten.

So geht es nicht, dachte er. Wir sind in zwei Gruppen aufgeteilt und müssen gegen zwei gefährliche Gegner kämpfen.

Sie mußten sich neu formieren und sich auf einen der beiden Widersacher konzentrieren oder sich zurückziehen und es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal versuchen. Vorausgesetzt, die Bewohner Myth Drannors erlaubten ihnen überhaupt, sich zurückzuziehen. Wahrscheinlicher war, daß sie alle hier sterben würden, umgeben und überrannt von endlosen Heerscharen blutrünstiger Dämonen. Quenthel und Valas waren vermutlich bereits tot.

Genug, ermahnte sich Ryld. Wir sind nicht so weit gereist, um hier geschlagen zu werden!

Er verdoppelte seine Angriffe, begab sich in Reichweite des großen Teufels und jagte Splitters Spitze in den schuppigen Hals der Kreatur. Diese schlug wild nach ihm, lag aber bereits im Sterben, und ihre Zuckungen brachen kleine Stücke Stein heraus, während die Krallen in die Luft schnappten, anstatt Ryld zu zermalmen. Der Waffenmeister machte einen Satz über den Leichnam und stellte sich den kleineren Teufeln, die bereits näherkamen.

Jezz mischte sich wieder in den Kampf ein, zog eine Schriftrolle aus seinem Gürtel und las hastig einen Bannzauber, der mehrere der kleineren Teufel in das infernalische Reich zurückschleuderte, aus dem sie gekrochen waren.

Zwei andere nahmen sofort den Platz ein, der durch ihr Verschwinden entstanden war.

»Wir müssen weg von hier!« rief Jezz. »Der Betrachter ist unser Feind. Diese Teufel sollen uns ablenken!«

Ryld verzog das Gesicht. Wenn sie flohen, dann würde man sie von hinten niederringen. Dennoch wich er zurück zu der Tür, die hinüber zum Betrachter führte. Er betete, daß sich die Kreatur nicht an einer Stelle befand, von der aus sie sie sehen konnte. Widerstrebend zog er sich Schritt für Schritt zurück, da er ungern in einen anderen Kampf eingreifen wollte, solange der eine noch tobte.

Zu seiner Überraschung verschwand plötzlich einer der Teufel auf der anderen Seite aus dem Blickfeld, ein weiterer begann zu kreischen, als eine Peitsche mit Schlangenköpfen ihre Giftzähne in dessen Nacken bohrte. Valas und Quenthel, die sich durch die Reihen der Teufel kämpften, humpelten in sein Blickfeld. Der Späher trug die schwerverletzte Priesterin, deren Flanke er mit einem Kukri vor Angriffen schützte, während sie mit ihrer todbringenden Peitsche ausholte.

Danifae und Ryld nutzten den momentanen Nachteil der Teufel, um Angriffe gegen die ihnen am nächsten stehenden Gegner zu führen. Quenthel ließ sich gegen eine Wand sinken und hielt Halisstras heilenden Stab in der Hand, während Valas Hune seine zweite Klinge zog und sich in den Kampf stürzte, indem er die Teufel von hinten mit seinen Messern angriff.

»Schnell!« keuchte Quenthel. »Ein Höllenschlundteufel und ein Dutzend weiterer Teufel sind gleich hinter uns!«

Ryld besiegte einen weiteren Teufel, während Danifae mit einem beidhändigen Schlag ihres Morgensterns das Gehirn eines weiteren Geschöpfes an der Wand verteilte. Innerhalb weniger Augenblicke entledigten sich die Drow aller Teufel in ihrem Raum. Jezz zog eine weitere Schriftrolle und las rasch den Zauber vor, mit dem er die Tür hinter Quenthel und Valas Hune mit einer knisternden Schicht aus funkelnder gelber Energie versiegelte.

»Das wird die Kreaturen nur für einen Moment aufhalten«, warnte er.

Die Baenre sah sich um. Der Sturz in den Schacht mußte sie schwer verletzt haben. Getrocknetes Blut bedeckte eine Seite ihres Gesichts, und ihre Augen schienen sich nicht fokussieren zu können. Ein Arm hing schlaff herab, aber sie blieb auf den Beinen.

»Wo ist der Betrachter?« fragte sie. »Wo sind Pharaun und Jeggred?«

Ryld sah zum Türbogen, ein weiterer Zauber dröhnte durch die Luft.

»Irgendwo da hinten«, sagte er. »Der Betrachter –«

Er verstummte, als er eine überwältigende Präsenz spürte, die sich Jezz’ Barriere näherte, etwas Unsichtbares, das mit seinen Schritten die Mauersteine des Turms zu erschüttern schien.

»Der Höllenschlundteufel kommt«, meldete Danifae, die nach Luft schnappte und die ihre Augen vor Schreck weit aufgerissen hatte.

»Geht!« sagte Quenthel und winkte sie mit ihrem unversehrten Arm weiter.

Ohne ein Wort zu erwidern, hasteten die Dunkelelfen zum anderen Ausgang, rannten in den nächsten Raum und nahmen keine Rücksicht auf die donnernden Zauber, die dort umherzuckten.


Triel Baenre stand auf einer hohen Brücke des Hauses Baenre und sah in Richtung Narbondel. Der schleichende Ring aus Strahlung, der sich langsam an der gewaltigen Steinsäule nach oben bewegte, zeigte, wie die Zeit verging. Das Leuchten war fast am oberen Ende der Säule angelangt, was hieß, daß der Tag bald vorüber sein würde. Es war nicht das erste Mal, daß ihr die Ironie bewußt wurde, die darin lag, daß ein Volk, das vor fast zehntausend Jahren aus der Welt des Lichts vertrieben worden war, ein Interesse daran hatte, den Wechsel von Tag und Nacht so wie die Bewohner der Oberfläche nachzuvollziehen. Dabei war hier im Unterreich doch immer Nacht. Dennoch hatte es sich über die Jahre als einigermaßen nützlich erwiesen, sich an das nie endende Verstreichen der Tage in der Welt dort oben zu erinnern. Es half, mit denen umzugehen, für die diese Gewohnheit üblich war, so zum Beispiel Kaufleute, die die exotischeren und begehrteren Waren von der Oberfläche in die Stadt Lolths brachten.

Nicht, daß viele von ihnen in der letzten Zeit Menzoberran-zan besucht hätten. Ein Krieg war immer ein Hemmnis für den Handel.

Die andere Frage, die Triel in den Sinn kam, als sie zu Narbondel blickte, war nicht ganz so abstrakt: Wer sollte in ein oder zwei Stunden den feurigen Ring Narbondels neu entfachen?

Das Amt des Erzmagiers gehörte noch immer ihrem Bruder Gromph, der seit mehr als einem Zehntag als verschwunden galt. Doch die Meister Sorceres würden nicht zulassen, daß eine so hohe Position allzulange unbesetzt blieb. Sie hatte erfahren, daß mehrere ehrgeizige Meister bereits um den Posten wetteiferten. Zweifellos hätte auch Pharaun zu ihnen gehört, wäre er noch in der Stadt gewesen. Doch der Auftrag, sich nach Ched Nasad zu begeben, machte es dem Helden der Stunde unmöglich, in Menzoberranzan zu sein und seinen Ruhm zum besten persönlichen Nutzen einzusetzen. Sie drehte den Kopf und sprach über die Schulter zu den treuen Baenre-Wachen, die respektvollen Abstand zu ihr wahrten.

»Schickt nach Nauzhror«, sagte sie. »Sagt ihm, ich brauche seinen Rat in einer wichtigen Angelegenheit. Er kann mich in der Kapelle aufsuchen.«

Triel machte sich auf den Weg zum großen Lolth-Tempel, der sich im Mittelpunkt des großen Hügels des Hauses Baenre befand. Ihre Aufmerksamkeit war nicht auf ihre Umgebung gerichtet, da sie über die vielen Probleme nachdenken mußte, von denen die Stadt in den letzten Monaten heimgesucht wurde. Sie war den Duergar fast dankbar, weil sie ihr Grund gaben, den Rat einzuberufen – und damit die Dutzende niederer Häuser, die die Stärke Menzoberranzans ausmachten. Ein Sieg in den Tunneln südlich der Stadt würde viel dazu beitragen, die Vorherrschaft des Hauses Baenre wieder herzustellen.

Andererseits konnte ein weiterer Rückschlag verheerende Folgen haben. Auch wenn die Baenre das wohlhabendste mächtigste Haus waren, könnte der Rat auf die Idee kommen, den Baenre den Namen erstes Haus zu entziehen. Kein einzelnes Haus konnte darauf hoffen, Haus Baenre zu schlagen, nicht einmal zwei, wenn sie sich zusammenschlossen. Aber was, wenn alle anderen Häuser des Rates der einhelligen Meinung waren, die Zeit sei gekommen, das stärkste aller Häuser abzusetzen?

»Da sei Lolth vor«, murmelte Triel und schauderte ängstlich.

Was die Truppen, die magische Macht und den bloßen Reichtum anging, waren die anderen Häuser schon immer in der Lage gewesen, Haus Baenre zu vernichten, wenn sie sich zusammenschlossen, um gemeinsam gegen das Erste Haus vorzugehen. Was sie aber nie besessen hatten, war der Segen Lolths, die einen solchen Akt des Ungehorsams nie gutgeheißen hätte. Wenn Lolth ihre Aufmerksamkeit wieder auf Menzoberranzan richtete und das zweite bis achte Haus für das anmaßende Verhalten vernichtete, weil sie das Haus Baenre ausgelöscht hatten, dann würde das den Baenre auch nicht mehr helfen. Ohne Lolths Zorn, der den Ehrgeiz der anderen großen Häuser zügeln konnte, erschien ein vereinter Angriff auf das Haus Baenre weniger wie eine Möglichkeit, sondern vielmehr wie etwas Unausweichliches.

Der Trick, überlegte Triel, besteht darin, die anderen Häuser von gefährlichen Themen abzulenken, beispielsweise von der Frage, wer nach dem Fall der Baenre das nächste erste Haus werden sollte, und einige kleinere Häuser mit den Stellungen der größeren zu locken.

Wenn Häuser wie Xorlarrin oder Agrach Dyrr davon überzeugt werden konnten, daß ein deutlich höheres Aufrücken in der Rangordnung für sie einer Gewißheit gleichkam, wenn sie sich hinter die Baenre stellten, um einer Verschwörung Barri-son Del’Armgos und Faen Tlabbars entgegenzuwirken, anstatt sich den Verschwörern anzuschließen – dann konnte das Haus Baenre fast jeder Bedrohung durch die niederen Nachbarn widerstehen.

Sie blieb an der Tür der Kapelle stehen und ließ sich den Gedanken angewidert durch den Kopf gehen. Durfte sie wirklich das Gefühl haben, Haus Baenre hätte einen Verbündeten nötig? Die alte Matrone Baenre hatte niemandes Zustimmung gebraucht, um zu regieren. Sie hatte über die Stadt geherrscht, weil sie so stark gewesen war, daß niemand auch nur in Erwägung gezogen hatte, sich ihr zu widersetzen.

Triel runzelte die Stirn und gab den Wachen der Kapelle ein Zeichen, woraufhin die die Türen aufzogen und sich tief vor ihr verbeugten.

Ihre Schwester Sos’Umptu erwartete sie in der Kapelle. Sos’Umptu war etwa so groß wie Quenthel, doch sie kam nach Triels nachdenklicher Art, nicht nach Quenthels Willenskraft, die auch ihre unbeklagte Schwester Bladen’Kerst ausgezeichnet hatte. Sos’Umptu besaß eine kalkulierte, gezielte Gehässigkeit, die sie gut unter Kontrolle hielt, da sie sich nie auf einen Streit einließ, den sie nicht gewinnen konnte. Sie senkte den Blick, eine winzige Geste des Respekts, den Triels Position verlangte, dann richtete sie sich auf.

»Schon Neuigkeiten von der Armee, älteste Schwester?« fragte sie sanft.

»Noch nicht. Zal’therra sagt mir, Mez’Barris habe eine kleine Vorhut entsandt, um vorab einen strategisch wichtigen Paß auf dem Weg der Duergar-Armee zu besetzen, was mir recht vernünftig erscheint. Der Rest der Armee der Schwarzen Spinne wird so schnell wie möglich folgen.«

»Es ist eine schwierige Situation. Ich frage mich, ob du die Armee hättest persönlich anführen sollen.«

Triel zog die Augenbrauen hoch. Sie war es nicht gewohnt, daß jemand offen ihr Handeln analysierte. Aber wenn sie keine Kritik aus den Reihen der eigenen Familie hinnehmen konnte, wie wollte sie dann hoffen, die anderen Matronen einzuschüchtern?

»Angesichts der ungewöhnlichen Situation«, erwiderte Triel, »hielt ich es für klüger, nahe der Stadt zu bleiben.«

»Vielleicht. Das Problem ist ganz simpler Natur. Wird die Armee geschlagen, wird man dir die Schuld geben. Triumphiert sie, hast du aus Mez’Barris Del’Armgo eine Heldin gemacht.«

»Ja, und aus Zal’therra und Andzrel«, betonte Triel. »Ich gebe zu, ich habe mehr zu verlieren als zu gewinnen, aber ich werde nicht mein eigenes Handeln in Frage stellen.«

Sie betrachtete die Kapelle, sah hinauf zu dem großen magischen Bild, das Lolth darstellte. Vor Sos’Umptus Augen vollzog Triel eine förmliche Verbeugung.

»Du hast dich in den letzten Zehntagen nicht so intensiv um die Riten Lolths gekümmert, wie du es hättest tun können«, sagte Sos’Umptu.

Lolth hat sich schon viel länger nicht um uns gekümmert, dachte Triel spontan.

Sofort verdrängte sie diesen blasphemischen Gedanken aus ihrem Geist, entsetzt, daß ihr etwas so ehrfurchtsloses in den Sinn kommen konnte. Äußerlich wahrte sie Ruhe, was ihr durch langes Üben keine Schwierigkeiten bereitete, und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Schwester.

»Wir stehen noch vor einer anderen Herausforderung«, sagte Triel. »Die Meister Sorceres machen sich dafür stark, daß ein Nachfolger für Gromph gefunden wird. Haus Baenre hat seit Jahrhunderten nach eigenem Gutdünken den Erzmagier auf dem Thron Sorceres bestimmt, doch diesmal überlege ich, ob es sinnvoll wäre, den Kandidaten eines anderen Hauses für diese Position zu unterstützen. Es könnte ... dienlich sein.«

Sos’Umptus Augen weiteten sich kaum merklich, als sie fragte: »Du willst meinen Rat hören?«

»Da Gromph verschwunden und Quenthel weit weg von hier ist, muß ich feststellen, daß die Kinder meiner großartigen Mutter rar gesät sind. Wenige Frauen – und noch weniger Männer – verstehen, welche Lektionen uns unsere Mutter lehrte.« Triel schnaubte. »Nicht mal alle unsere Geschwister, um es genau zu nehmen. Bladen’Kerst kannte nur Stärke und Grausamkeit, Vendes war einfach nur aufs Morden aus. Ich brauche einen scharfen Verstand, einen subtilen Geist, jemanden, der von meiner Mutter ausgebildet wurde. Mir wird klar, daß ich dir viel zu lange erlaubt habe, in dieser Kapelle zu lauern.« Triel trat einen halben Schritt vor, ihre Züge verhärteten sich. »Du mußt verstehen, daß ich deinen Rat einholen werde, wenn ich es will. Verwechsle Überlegen nicht mit Unentschlossenheit. Ich werde mein Recht zum Herrschen nicht in Frage stellen lassen.«

Sos’Umptu nickte: »Gut. Ich denke, wir sollten davon ausgehen, daß Gromph tot ist. Er hätte nicht leichtfertig seine Pflichten vernachlässigt, und es gibt mindestens zwei Gründe, die dafür sprechen, daß jemand ihn ermordet haben könnte. Entweder wollte jemand einen Schlag gegen den Erzmagier führen, oder es sollte ein Schlag gegen den höchsten Magier des Hauses Baenre sein. Im ersten Fall wird der kommende Erzmagier entweder der Sündenbock oder das nächste Ziel sein. Warum sollten wir uns anstrengen, einen Baenre-Magier einzusetzen, der schwächer ist als Gromph, wenn die Chance besteht, daß wir jeden verlieren, hinter den wir uns stellen?«

»Mir gefällt der Gedanke nicht, einen so wichtigen Posten einfach einer anderen Familie zu überlassen, aber noch weniger behagt mir die Aussicht, einen weiteren guten Magier zu verlieren«, sagte Triel nachdenklich. »Vor allem, wenn wir eine engere Bindung zu einem anderen Haus schaffen, indem wir dessen Kandidat unterstützen, der dann das Ziel jener Macht werden könnte, die stark genug war, um Gromph zu vernichten.«

»Ich verstehe nicht«, erwiderte Sos’Umptu. »Du suchst Verbündete

»Es kommt mir so vor, als seien wir vielleicht gut beraten, uns mit einem großen Haus von mittlerem Rang zu verbünden, vielleicht auch mit zweien«, erklärte Triel. »Es dürfte eine vernünftige Vorkehrung sein, gewappnet zu sein, wenn das zweite oder dritte Haus versuchen sollten, sich mit den anderen gegen uns zusammenzuschließen.«

Sos’Umptu strich sich übers Kinn und entgegnete: »Du glaubst, die Lage ist so gefährlich? Mutter hätte sich mit einer solchen Vorgehensweise nie einverstanden erklärt.«

»Mutter lebte in einer anderen Zeit«, konterte Triel. »Vergleiche mich nie wieder mit ihr.«

Triel sah ihre Schwester so lange eindringlich an, bis die den Blick senkte. Wenn sie sich mit Quenthel verbündete oder einer Kabale der fähigeren Basen wie beispielsweise Zal’therra, konnte sie für Triel zur Bedrohung werden, doch bis dahin war sie vertrauenswürdig – jedenfalls innerhalb gewisser Grenzen.

»Was, wenn Gromphs Ermordung sich gegen das Haus Baenre richtete?« fragte Triel. »Wenn es nicht einfach nur um den Posten des Erzmagiers ging?«

»Dann wären wir gut beraten, wenn wieder ein Baenre-Ma-gier Sorcere leitet. Wenn nicht, würden wir schwach erscheinen. Wenn die anderen Häuser uns erst einmal als verwundbar ansehen, könnten sie sich versucht fühlen, genau das zu tun, was du befürchtest.«

»Dein Rat ist für mich kein Trost, Sos’Umptu«, sagte Triel. »Außerdem befürchte ich nichts, ich bin besorgt.«

»Ich wüßte noch eine Möglichkeit«, fügte Sos’Umptu an. »Schiebe es auf. Behaupte einfach weiter, Gromph sei nach wie vor der Erzmagier Menzoberranzans. Verbreite die Geschichte, du hättest ihn auf eine Mission geschickt, die ihn eine Weile in Anspruch nehmen wird. Je länger wir es hinauszögern, desto wahrscheinlicher ist es, daß die Ereignisse etwas über die Umstände seines Verschwindens ergeben. Wenn die Armee der Schwarzen Spinne in den Tunneln im Süden erfolgreich ist, könnte deine Position ausreichend gestärkt werden, um mit dem Posten des Erzmagiers nach Belieben zu verfahren.«

Triel nickte. Das klang vernünftig. Auch wenn sie es haßte zuzugeben, daß ein weiter anhaltendes Schweigen Lolths ihr eine Herausforderung um die Führung des Hauses bescheren konnte, konnte es nicht schaden, ihre Bindung zu Sos’Umptu zu verstärken. Sie würde vielleicht so viele Schwestern wie möglich auf ihrer Seite haben müssen.

Die Tür zur Kapelle öffnete sich knarrend, und ein dicker Mann in elegantem schwarzen Gewand trat ein. Er erinnerte an eine Hauskatze, die man zu gut gefüttert hatte und die mit ihrer eigenen Überlegenheit gänzlich zufrieden war. Nauzhror Baenre war Triels Vetter ersten Grades, der Sohn einer Nichte ihrer Mutter. Seine Vertraute, eine haarige Spinne, die so wohlgenährt war wie der Magier selbst, kauerte auf seiner Schulter. Er galt als ein Meister Sorceres, neben dem alten Gromph der einzige aus dem Haus Baenre, und hatte die Angewohnheit, sorglos zu lächeln, was es schwierig machte, seine Gedankengänge einzuschätzen. So sehr sie sich auch anstrengte, konnte sie sich nicht vorstellen, wie er das Gewand des Erzmagiers von Menzoberranzan trug.

»Ihr habt nach mir gerufen?«

»Ich werde verkünden«, sagte Triel, »daß mein Bruder Gromph sich auf einer wichtigen, streng geheimen Mission befindet. Er wird zu gegebener Zeit wieder seine Pflichten als Erzmagier von Menzoberranzan erfüllen. Bis dahin werde ich den Meistern Sorceres erlauben, einen Vertreter zu bestimmen, der sich um die mit dem Posten verbundenen Verantwortlichkeiten kümmert. Ihr werdet den besten Kandidaten unterstützen, der von Haus Xorlarrin oder Agrach Dyrr gestellt wird.«

Nauzhror wurde ernst. »M-muttermatrone«, stammelte er. »Ich ... ich dachte, ich würde vielleicht den ...«

»Könnt Ihr es mit Gromph aufnehmen, Nauzhror?« fragte Triel.

Der Magier mochte sanftmütig wirken, aber seine Augen verrieten einen harten, berechnenden Verstand – und einen pragmatischen dazu.

»Könnte ich das, dann hätte ich ihn schon längst herausgefordert, um ihm seinen Titel abzunehmen.« Er überlegte einen Moment und streichelte die Spinne auf seiner Schulter. »Ich gehe davon aus, daß ich mit der Zeit so geschickt sein werde wie er und daß ich ihn vielleicht sogar übertreffen werde. Doch muß ich die Kunst noch viele Jahre studieren, ehe ich mich als mit ihm gleichrangig bezeichnen kann.«

»Das hatte ich mir gedacht. Bedenkt«, gab Triel zurück, »wer immer hinter Gromphs Verschwinden steckt, würde mit Euch kurzen Prozeß machen, sobald Ihr Euch als der neue Erzmagier von Menzoberranzan vorstelltet. Der Tag mag kommen, an dem Ihr Euren Ehrgeiz verwirklichen könnt, Vetter, doch heute ist nicht dieser Tag.«

Nauzhror zögerte keine Sekunde, zu nicken und zu erwidern: »Ja, Muttermatrone. Ich werde tun, was Ihr befehlt.«

»Ihr seid bis auf weiteres Hausmagier des Hauses Baenre. Sollte sich herausstellen, daß mein Bruder tot ist, dann werdet Ihr diesen Posten behalten, doch im Moment benötige ich Eure Zauber und Euren Rat. Ordnet für den Augenblick Eure Angelegenheiten in Sorcere, ich werde Eure Habe herbringen lassen.«

Nauzhror verbeugte sich und sagte: »Ich danke Euch für Euer Vertrauen in meine Fähigkeiten, Muttermatrone.«

»Mein Vertrauen in Eure Fähigkeiten reicht nicht eben weit, Vetter: Laßt Euch nicht umbringen«, mahnte Triel. »Von diesem Augenblick an ist jeder Mann mit der geringsten Befähigung zum Magier im Haus Baenre von Euch auszubilden. Wir benötigen einen Kader geschickter Arkanisten, die es mit denen Del’Armgos oder Xorlarrins aufnehmen können.«

»Eine solche Ansammlung von Talent läßt sich nicht über Nacht zusammenstellen. Es wird Jahre dauern, um mit den Magiern Xorlarrins auch nur gleichzuziehen.«

»Dann solltet Ihr unverzüglich beginnen.«

Triel betrachtete den dicken Magier und hoffte, die Zukunft ihres Hauses möge nicht in diesen feuchten Händen liegen.

»Noch etwas«, sagte sie, als der Magier sich zum Gehen wandte. »Betrachtet es als Eure erste Aufgabe als Hausmagier.« Triel kam näher und sah ihm tief in die Augen, während sie darauf wartete, daß er ihr ins Gesicht lächelte. »Ihr werdet herausfinden, was mit meinem Bruder geschehen ist.«


Ryld jagte durch einen kurzen, kurvigen Korridor, Jezz und Valas dicht hinter ihm. Danifae half Quenthel, der Gruppe zu folgen. Der Waffenmeister lief den Korridor zu seiner Rechten entlang, durch den er in einen großen Saal oder Ballsaal gelangte. Der Betrachter-Magus trieb dort umher, eine gewaltige Monstrosität in der Form einer mit Chitin überzogenen Kugel, die einen Durchmesser von einem Meter achtzig hatte. Die zehn Augenstiele zuckten, während sie einen Zauber nach dem anderen auf Pharaun und Jeggred niederprasseln ließ. Der Magier war von einer Sphäre aus magischer Energie umgeben, einer Art Abwehrzauber, der ihn schützte, während er sich Zauber für Zauber mit dem Monster maß. Jeggred stand reglos, das Gesicht zu einer Grimasse verzogen, während er sich bemühte, die Wirkung eines schrecklichen Zaubers abzuschütteln.

»Hartnäckige Insekten«, knurrte der Betrachter, als er Ryld und die anderen sah. »Laßt mich in Ruhe!«

Die Kreatur schwebte rückwärts durch einen Torbogen und zog sich in einen anderen Teil ihrer Behausung zurück.

Pharaun wandte sich den anderen zu. Eine Seite seiner Kleidung war von qualmenden Löchern durchsetzt, an denen sie von einer Säure getroffen worden war. Er zitterte vor Ermüdung.

»Ah, wie ich sehe, haben sich meine werten Gefährten doch noch entschieden, sich mir anzuschließen«, stellte er fest. »Prima. Ich befürchtete schon, Ihr würdet Euch das Vergnügen entgehen lassen, Leib und Leben gegen einen mörderischen Widersacher zu riskieren.«

»Was ist mit Jeggred?« brachte Quenthel heraus.

»Er ist von irgendeinem Festhaltezauber getroffen worden, und ich habe bei diesem Duell all meine Zauber aufgebracht, die Magie aufheben könnten. Wenn Ihr ihn befreien könnt, bitte. Ich bin nicht so egoistisch, daß ich den Betrachter ganz für mich allein haben müßte.«

»Haltet den Mund«, krächzte Danifae. »Wir müssen den Betrachter schnell überwinden. Wir werden von einem Höllenschlundteufel und einem weiteren Dutzend Teufel verfolgt, und wir laufen Gefahr, zwischen die Fronten zu geraten.«

Pharaun schnitt eine Grimasse. In seinen Augen flackerte ein gefährliches Leuchten, als er erst Danifae und dann Jezz den Lahmenden ansah.

»Wenn Euer Zauberbuch den Aufwand wert ist, vielleicht sollten wir es dann für uns behalten«, überlegte der Meister Sorceres.

»Tzirik wird nicht die Ergebnisse seines Erkenntniszaubers mit Euch teilen, wenn Ihr uns in den Rücken fallt«, sagte der Jaelre. »Entscheidet, was Euch wichtiger ist, Spinnenküsser, und zwar schnell.«

»Hör auf, Pharaun«, sagte Ryld.

Er ging zu dem erstarrt dastehenden Jeggred und legte Splitter neben den Draegloth, um den Zauber zu brechen, in dessen Bann er gefangen war. Der Halbdämon blinzelte und setzte eine finstere Miene auf, während er sich langsam aufrichtete und reckte.

»Ein Problem nach dem anderen«, fuhr Ryld fort. »Hast du irgendwelche Magie, die uns die Teufel lange genug vom Hals hält, bis wir den Betrachter geschlagen haben?«

»Nein«, antwortete Pharaun. »Sie werden jeden Moment hier auftauchen und uns eine Szene machen. Sie ... ich habe eine Idee. Wir halten die Teufel nicht von uns fern, wir lassen sie ein.«

Höllische Energie knisterte und zischte im Raum gleich hinter ihnen.

»Das ist der Höllenschlundteufel, der meine Mauer zerstört«, sagte Jezz. »Erklärt, was Ihr meint, Menzoberranzanyr.«

Pharaun begann, einen Zauber zu wirken und wob mit den Händen die arkanen Gesten, die erforderlich waren, um seiner Magie Form zu geben und sie zu kontrollieren.

»Setzt Euch nicht zur Wehr«, sagte er. »Jetzt habe ich es. Ich habe über uns einen Schleier der Illusion gelegt. Wir sind jetzt alle Teufel.«

Ryld sah an sich hinab, stellte aber keine Veränderung fest. Erst als er wieder aufblickte, erkannte er, daß er mitten in einer Gruppe von Teufeln stand. Unwillkürlich zuckte er zusammen, sah aber, daß die anderen genauso reagierten. Ganz schwach, so als seien sie in durchsichtigen Stoff gehüllt, konnte er unter dem schuppigen Äußeren die eigentlichen Gestalten der Drow erkennen.

»Ich kann durch den Schleier hindurchsehen«, warnte er.

»Ja, aber du erwartest das auch«, antwortete der Teufel, der dort stand, wo er eben noch Pharaun gesehen hatte. »Es dürfte für Verwirrung unter unseren Gegnern sorgen, aber wir müssen uns beeilen. Wir wollen, daß die Teufel uns einholen, wenn wir gegen den Betrachter kämpfen.«

Der Magier glitt durch den Raum und folgte dem Betrachter, der Rest der Gruppe schloß zu ihm auf und eilte mit Pharaun voran, während hinter ihnen das Geheul der Teufel lauter wurde. Sie liefen eine Wendeltreppe hinauf und holten den Betrachter ein, der in einem Thronsaal auf sie wartete. Das Monster zögerte, als die Gruppe in ihrer teuflischen Verkleidung hereinkam.

»Die Drow sind hier nicht«, polterte es. »Durchsucht den Rest des Turms, ihr müßt sie finden!«

»Ich fürchte, da irrt Ihr Euch«, gab Pharaun zurück und schleuderte der Kreatur einen Lichtblitz entgegen, der auf der Chitinhülle eine Fläche von der Größe eines Abendbrottellers verkohlte.

Gleichzeitig feuerte Valas Hune eine Salve aus Pfeilen ab, die sich in den gepanzerten Leib bohrten, während Ryld, Jeggred und Danifae losstürmten.

Die Kreatur erholte sich schnell von dem Überraschungsef-fekt und wirbelte herum, um die angreifenden Drow mit tödlichen Strahlen und Zaubern abzuwehren. Jeggred wurde von einem telekinetischen Strahl getroffen und durch den Raum geschleudert, während Danifae sich flach auf den Boden pressen mußte, um dem glühenden grünen Desintegrationsstrahl auszuweichen. Ryld kam drei Schritte weit, ehe gleich drei der dünnen Augenstiele des Monsters herumpeitschten, ihn sofort entdeckten und weitere Zauber in seine Richtung schickten. Ein Hagel aus weißglühenden Energieblitzen wurde abgefeuert und traf seinen Torso, als würde er vom Streithammer eines Zwergs getroffen. Ryld stöhnte auf und fiel auf den harten Boden.

Da kam ein Schwarm Teufel die Treppe heraufgestürmt. Innerhalb kürzester Zeit herrschte im Raum völliges Chaos, weil immer mehr Teufel hereindrängten; einige warfen dem Betrachter wütende Blicke zu, andere blieben verwirrt stehen und wunderten sich, daß schon so viele ihrer Art in dem Saal anwesend waren.

Die am Boden liegende Danifae wies auf den Betrachter und kreischte: »Der Betrachter hat sich mit den Dunkelelfen verbündet! Tötet ihn! Freßt seine Augen!«

Die Teufel hielten gerade lange genug inne, daß der Betrachter die vorderste Reihe mit todbringenden Zaubern belegen konnte, doch dann eilten sie los und warfen sich dem Monster entgegen. Steinharte Klauen zerrten und rissen an dem Betrachter, während andere Teufel in Blitzen aus weißem Feuer vergingen oder unter den Augenstrahlen des Betrachters zu leblosem Stein zerfielen.

Ryld hatte aufspringen und sich wieder auf das Monster stürzen wollen, doch er sah Pharauns warnende Geste, also täuschte er vor, verletzt zu sein. Pharauns Strategie war brillant. Sollten der Betrachter und die Teufel doch kämpfen – vielleicht löschten sich ihre Widersacher gegenseitig aus.

»Schwachsinnige Narren!« zischte der Betrachter. »Die Drow haben euch getäuscht!« Er richtete noch immer verheerende Verletzungen an, da er weiter mit Zaubern und Augenstrahlen versuchte, den Angriff der Teufel zurückzuschlagen. Der Gestank von verkohltem Fleisch und das geisterhafte Gefühl tödlicher Magie schwängerte die Luft.

Das sichere Gefühl, daß etwas nicht stimmte, machte sich in Rylds Herz breit, und in diesem Moment gelangte ein massiger Höllenschlundteufel in den Raum. Der gewaltige Teufel war zweimal so groß wie ein Drow, der Torso war muskulös, die riesigen schwarzen Flügel umhüllten ihn wie ein glänzender Mantel. Mit einem bösen, abschätzenden Blick erfaßte er die Szene, und Ryld erschrak, als ihm klar wurde, daß das mächtige Scheusal sich nicht im mindesten von Pharauns Illusion täuschen ließ.

Mit einer beiläufigen Geste ließ der riesige Teufel in seiner Klaue eine große, wallende Kugel aus schwarzem Feuer entstehen, die er auf Pharaun warf. Das finstere Etwas verging in einer gewaltigen Explosion aus düsteren Flammen, die den Turm in seinen Grundfesten erschütterte. Pharaun flog vier Meter durch die Luft und erlitt massive Verbrennungen, während die kleineren Teufel und die anderen Drow gleichermaßen umhergeschleudert wurden.

»Sie sind hier!« brüllte die Kreatur mit einer Stimme, die wie eine tosende Schmiede klang. »Vernichtet die Drow!«

Der Höllenschlundteufel wollte eine weitere seiner höllischen Feuerkugeln beschwören, als sich Jeggred – der immer noch wie ein Teufel aussah – in die Flanke des Scheusals warf und an ihm riß und zerrte. Der große Teufel brüllte vor Zorn auf, während der Angriff des Draegloth ihn ins Wanken brachte.

»Lolths süßes Chaos«, murmelte Ryld.

Wer war gefährlicher? Der Betrachter-Magus oder der Höllenschlundteufel? Der Betrachter attackierte weiter jeden Teufel, den er sah, ob es sich nun um einen echten oder einen getarnten handelte. Die meisten Untergebenen des Höllenschlundteufels waren inzwischen gefallen, und er selbst schlug auf Jeggred ein, der direkt vor dem infernalischen Geschöpf stand und mindestens so gut austeilte, wie er einstecken konnte.

Der Waffenmeister sah zwischen den beiden Feinden hin und her, zögerte nur einen kurzen Augenblick, dann hatte er sich entschieden. Leise wie in Pfeil, der durch die Dunkelheit flog, erhob sich Ryld und machte einen Satz nach vorn, während er einen immensen Hieb gegen den runden Leib des Betrachters führte. Der machte ihn aber sofort aus und schickte einen Lichtblitz in seine Richtung, doch der Waffenmeister wich zur Seite aus und stürmte weiter voran. Ein weiteres Auge richtete sich auf ihn, woraufhin das Brummen des Betrachters in einen besonders gräßlichen und tödlichen Ton überging. Statt abzuwarten, welche Art von Zauber das Monster mit diesem Auge wirken wollte, änderte Ryld seine Laufrichtung und stieg in die Luft auf, um den Tentakel mit einem gezielten Schlag mit Splitters glänzender Klinge abzutrennen.

Das Brummen des Betrachters ging in einen durchdringenden Schmerzensschrei über. Das Monster fuhr herum, um sich Ryld mit weitaufgerissenem Maul zuzuwenden, doch der Waffenmeister zielte sorgfältig und trennte ein weiteres Auge ab, ehe er sich duckte und sich unterhalb der aufgeblähten schwebenden Sphäre zurückzog, die von keinem der Augen direkt eingesehen werden konnte.

Ryld kniete sich hin, packte Splitter fester und jagte den Zweihänder von unten durch die chitinartige Hülle des Monsters. Dickes schwarzes Blut lief an der Klinge entlang, das gewaltige Monster erzitterte und kreischte wieder.

»Gut!« rief Jezz.

Der Jaelre-Renegat stieß arkane Worte aus, mit den Händen beschrieb er mystische Muster. Auf diese Weise ließ er ein sengendes Geschoß aus magischer Säure entstehen, das einen weiteren Augenstiel vom Leib des Betrachters brannte, während sich das Monster vor Schmerzen wand.

Ryld riß sein Schwert zurück und rollte sich gerade noch rechtzeitig zur Seite weg, da der Betrachter gerade versuchte, ihn unter sich zu begraben, während seine Kiefer nach ihm schnappten. Als er aufsah, fand er sich genau vor der Vorderseite des Leibes wieder, wo einst das große zentrale Auge aus einem gepanzerten Rückenschild geblickt hatte. Dieses Auge war nun nur noch eine leere Höhle. Der Waffenmeister erinnerte sich an eine alte Lektion: Ein Betrachter, der Magie erlernen will, muß sich selbst blenden, um das zu bewerkstelligen.

Die kleineren Augen zuckten auf ihren Tentakeln, als sie versuchten, sich auf Ryld zu konzentrieren. Der sah seine Chance gekommen, und zur gleichen Zeit sah er sein Ziel vor sich. Mit einer flinken Bewegung trieb er Splitter wie eine Lanze in die leere Augenhöhle und damit tief in das fremdartige Gehirn der Kreatur. Wild entschlossen bewegte er seinen Zweihänder immer wieder vor und zurück, hin und her, während unablässig schwarzes Blut aus der gräßlichen Wunde spritzte.

Der Betrachter erzitterte ein letztes Mal, seine Kiefer schlugen zusammen, und die wenigen noch verbliebenen Augenstiele erschlafften. Er sank langsam zu Boden.

Ryld sah auf und bemerkte, daß sich ihm ein Teufel näherte, der erkannt hatte, was sich wirklich hinter der Illusion verbarg. Er zog rasch sein Kurzschwert, mit dem er das Scheusal ausweiden wollte, das sich auf ihn stützte. Der Teufel riß ihn zu Boden, sein übelriechendes Blut ergoß sich über ihn. Ryld würgte vor Ekel und stieß den zuckenden Leib mit einem Schulterstoß weg. Gleichzeitig zog er sein Schwert aus dem Leichnam, während er mit der linken Hand Splitter aus dem Auge des Betrachter-Magus befreite. Dann schüttelte er heftig den Kopf, um das Blut der Gegner aus seinen Augen zu bekommen.

Am Eingang zum Saal ging Jeggred unter einem neuerlichen, schrecklichen Zauber des Höllenschlundteufels zu Boden, einer brüllenden Feuersäule, die zwar das Fell des Draegloth schwärzte, die ihn aber nicht auf der Stelle verkohlte, da der Halbdämon von Geburt an gegen Feuer resistent war.

Jeggred kreischte und rollte sich über den Boden, weil er die Funken ersticken wollte. Der Höllenschlundteufel folgte ihm, um einen weiteren Angriff folgen zu lassen, doch da baute sich Danifae vor ihm auf und verpaßte dem Monster einen so gewaltigen Schlag, daß seine Kniescheibe zertrümmert wurde. Der Teufel begann zu wanken und nahm seine Flügel zu Hilfe, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, doch in dem Moment jagte Valas ihm drei Pfeile in den Rücken, die sich bis zum Federkiel zwischen den Schulterblättern in den Leib bohrten.

Ryld rückte behutsam vor, bereit, sich auf einen Kampf mit dem Teufel einzulassen, doch der von Brandblasen übersäte Pharaun erhob sich an der Stelle, an der er von dem Feuerball getroffen worden war. Er holte mit einem Regen aus weißglühenden Farben aus, der den Höllenschlundteufel erfaßte, als der sich nach dem Bogenschützen umdrehen wollte. Ein grüner Strahl schnitt eine tiefe, kochende Wunde mitten in den Torso der Kreatur, während ein gelber Strahl in einer Explosion aus knisternder Elektrizität verging, als er die Hüfte des Teufels berührte. Das Monster taumelte rückwärts und stolperte über eine rauchende Leiche. Im Saal kehrte Ruhe ein, als das Echo des donnernden Sturzes verhallt war.

Pharaun stand da, einen Arm fest an den Leib gedrückt. Eine Hand und Teile seines Gesichts waren gesprenkelt und rosafarben, da sie vom Desintegrationsstrahl des Betrachters zum Glück nur flüchtig gestreift worden waren. Das Gewand qualmte noch, während die Wirkung des dunklen Feuerballs langsam nachließ. Die anderen Drow entspannten sich ein wenig und sahen sich erstaunt um, weil es keine Gegner mehr zu besiegen gab. Zum Glück hatte niemand lebensgefährliche Verletzungen erlitten. Quenthel nestelte an ihrem Gürtel, dann zog sie Halisstra heilenden Stab hervor, den sie benutzte, um ihre eigenen Verletzungen zu heilen.

»Das«, begann Pharaun, »war kein leichtes Spiel. Für unsere Dienste hätten wir mehr verlangen sollen.«

»Ihr seid zu uns gekommen«, gab Jezz zurück.

Er humpelte durch den Raum, um sich den Leichnam des Betrachters genauer anzusehen, der auf den Stufen des alten Podestes lag. Valas und Danifae folgten ihm, behielten aber gleichzeitig die Treppe hinter ihnen im Auge.

»Verteilt Euch und sucht das Buch«, sagte Jezz. »Wir müssen das Geildirion finden und uns zurückziehen, ehe alle Teufel Myth Drannors uns angreifen.«

Jezz befolgte seine eigene Empfehlung als erster und suchte auf einer Reihe von Schreibpulten sowie in Regalen voller Schriftrollen nach dem Buch.

Ryld setzte sich auf eine Stufe und begann, Splitter von Blut zu befreien. Er war erschöpft. Jeggred dagegen machte sich sofort auf die Suche nach dem Buch, warf schwere Möbel um und riß Regale von der Wand. Es war Ryld zwar klar, daß der Draegloth wohl kaum unter den Überresten einer verstaubten, zusammengebrochenen Couch etwas finden würde, doch der Halbdämon schien auf diese Weise beschäftigt zu sein, und Ryld hatte nicht vor, dem Draegloth in die Quere zu kommen.

»Seid ruhig! Alle!« sagte Pharaun mit schneidender Stimme.

Der Magier sprach einen Zauber und begann, sich langsam zu drehen, wobei er aufmerksam den Raum betrachtete. Die anderen, auch Jezz, stoppten ihre ungestüme Plünderung und sahen ihn ungeduldig an. Pharaun passierte Jeggred und dann Valas Hune, ehe er vor einer kahlen Wand anhielt. Er begann zu lächeln, offenbar mit seiner eigenen Leistung zufrieden.

»Ich habe die Verteidigungsmaßnahmen unseres dahingeschiedenen Widersachers überwunden«, erklärte er. »Die Wand dort ist eine Illusion, die ein Vorzimmer verbirgt.«

Er beschrieb abermals eine Geste, und neben Ryld verschwand auf einmal ein Teil der Mauer und gab den Blick frei auf eine große Nische, die mit altersschwachen Regalen vollgestellt war, in denen sich alte Bücher und Schriftrollen stapelten. Jezz humpelte hastig, aber ungelenk zu den Regalen und überflog die Titel, um dann alles in eine Hüfttasche zu stecken.

»Ryld, Jeggred, paßt auf«, wies Quenthel sie an. Sie stand jetzt wieder aufrechter, und der benommene Blick war aus ihren Augen gewichen. Dennoch runzelte sie die Stirn, als sie den heilenden Stab wegsteckte. »Valas, sammelt Gold und Edelsteine des Betrachters ein. Es wäre unsinnig, solche Beute hier zurückzulassen, man weiß nie, wann sie sich noch als nützlich erweisen kann.« Sie sah zu dem Jaelre-Hexenmeister, der ein großes, in grüne Schuppen gebundenes Buch in den Händen hielt. »Nun, Meister Jezz, ist dies das Buch, das Ihr suchtet?«

Jezz blies den Staub vom Umschlag und strich mit den schlanken Fingern über das rauhe Leder. Er lächelte und verzog sein attraktives Gesicht zu einem Lächeln.

»Das Geildirion«, hauchte er. »Ja, das ist das Buch. Ich habe, wofür wir herkamen.«

»Gut«, sagte Quenthel. »Verschwinden wir von hier, solange es noch geht. Ich glaube, länger ertrage ich diesen Ort nicht.«

Загрузка...