17

Halisstra saß auf einer Fensterbank in dem Quartier, das man ihr zur Verfügung gestellt hatte, und zupfte gedankenverloren an den Saiten ihrer Leier aus Drachenknochen. Seit zwei Tagen wurde sie nun hier festgehalten, und sie mußte feststellen, daß sie es allmählich leid war, eingesperrt zu werden.

Wenn ich eines aus diesem Abenteuer lerne, versprach sie sich, dann ist es, daß ich mich nie wieder einsperren lassen werde.

Sie hatte erwartet, man werde sie während des Verhörs mit Foltermethoden oder magischen Techniken zum Reden bringen, doch Tzirik schien sie beim Wort genommen zu haben. Mehr als ein Drow hätte mit Vergnügen die Gelegenheit genutzt, einen Gefangenen zu foltern, egal, ob er die Wahrheit sprach oder nicht. Halisstra fragte sich, ob Tzirik wohl wartete, bis er von Quenthel und den anderen hörte, ehe er etwas tat, was sie hätte erzürnen können. Halisstra glaubte nicht, daß die Herrin Arach-Tiniliths und ihre Kameraden es geschafft hatten, das gesamte Haus zu unterwerfen, doch es war durchaus denkbar, daß Tzirik zu der Ansicht gelangt war, sich ohne guten Grund besser nicht mit ihnen anzulegen.

Sie sah aus dem vergitterten Fenster. Das Morgenrot rückte rasch näher. Schon jetzt war der Himmel im Osten schmerzhaft hell, obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen war. Halisstra konnte die endlosen grünen Wälder Cormanthors erkennen, die sich Kilometer um Kilometer bis zum Horizont erstreckten.

Als jemand an der Tür klopfte, erschrak sie. Sie drehte sich um, während aufgeschlossen wurde, dann stand sie auf, als Tzirik in einem prachtvollen rot-schwarzen Mantel mit hohem Kragen eintrat.

»Herrin Melarn«, sagte er und verbeugte sich nachsichtig, »Eure Kameraden sind zurück. Wenn Ihr mich begleitet, werden wir sehen, ob es einen Grund für sie gab, Euch in der Wildnis dieser Welt zurückzulassen.«

Halisstra stellte ihre Leier weg und fragte: »Waren sie erfolgreich?«

»Das waren sie, weshalb ich auch beabsichtige, Euch in die Freiheit zu entlassen. Wären sie gescheitert, hätte ich Euch als Geisel benutzt, um sie zu einem zweiten Versuch zu bewegen.«

Sie schnaubte, während der Priester sie aus dem Raum führte. Er ging mit ihr durch die eleganten hellen Säle und Korridore der Minauth-Feste. Ein Paar Jaelre-Krieger, die Harnische trugen, die in Grün und Braun gesprenkelt waren, hielt sich dicht hinter ihnen. An der Hüfte trugen sie Kurzschwerter. Sie erreichten eine kleine Kapelle, die in den Farben Vhaerauns geschmückt war, und dort warteten Quenthel, Danifae und der Rest der Truppe.

»Wie ich sehe, habt Ihr die Widrigkeiten Myth Drannors überwinden können und seid zurückgekehrt«, begrüßte Tzirik sie. »Wie Ihr sehen könnt, habe ich auch etwas gefunden, das Euch gehört.«

Halisstra betrachtete die Gesichter ihrer vormaligen Gefährten, die überrascht reagierten. Ryld lächelte herzlich, senkte dann aber den Blick und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Danifae kam und gab ihr die Hand.

»Herrin Melarn«, sagte sie. »Wir dachten, Ihr seid verloren.«

»Das war ich«, erwiderte Halisstra.

Sie stellte überrascht fest, wie erleichtert sie war, wieder unter ihren früheren Gefährten – auch wenn sie Eindringlinge aus einer rivalisierenden Stadt waren – zu sein und auch ihre Kriegsgefangene wiederzusehen. Danifae war vielleicht nicht mehr Halisstras Anhängsel, doch der Zauber band sie immer noch an sie und machte sie damit zur einzigen echten Verbündeten, die Halisstra noch hatte.

»Wo wart Ihr?« fragte Quenthel.

»Man versuchte mehrere Tage lang, mich zu Eilistraee zu bekehren, wenn man so etwas glauben kann«, antwortete Halisstra. »Lolth gab mir Gelegenheit, zwei von Eilistraees Klerikerinnen zu töten und zu entkommen.«

Auch wenn ihr Herz von finsterem Stolz über ihre Leistungen erfüllt war, empfand Halisstra eine gewisse Enttäuschung, was das Ergebnis ihres Verrats anging. Sie war mit der Kunst des Verrats bestens vertraut, doch es kam ihr so vor, als hätte sie nur getan, was von ihr erwartet wurde.

»Zweifellos haben die Oberflächenbewohner Euch nur freigelassen, um Eure wahren Absichten in Erfahrung zu bringen«, sagte Quenthel. »Das ist ein alter Trick.«

»Das dachten wir auch«, sagte Tzirik. »Wir haben jedoch Herrin Melarns Geschichte überprüft, und sie hat sich als wahr herausgestellt. Es ist fast erheiternd, wie naiv unsere Schwestern sind, die Eilistraee anbeten.« Er hielt inne und rieb sich die Hände. »Doch sei dem, wie es sei. Jezz ließ mich wissen, daß Ihr ihm helfen konntet, das Buch zu bergen, das wir benötigen.«

»Wir halfen ihm?« knurrte Jeggred.

»Seine Aufgabe war es, das Buch zurückzubringen«, erwiderte Tzirik. »Nicht, sich einen Kampf mit den Bewohnern Myth Drannors zu liefern.«

»Ihr habt Euer Buch«, sagte Quenthel und ging über Jeggreds Knurren hinweg, während sie die Arme verschränkte und ihren Blick auf Tzirik richtete. »Seid Ihr bereit, Euren Teil der Abmachung zu halten?«

»Es ist bereits geschehen«, entgegnete der Priester. Er sah zum bronzenen Abbild hoch oben an der Wand und beschrieb eine knappe Verbeugung. »Unabhängig davon, ob Ihr lebend zurückgekehrt wärt oder nicht, wollte ich mich mit dem Maskierten Gott besprechen und für mich selbst in Erfahrung bringen, warum sich Lolth von Euch abschottet. Eure Geschichte hatte mich neugierig gemacht.«

Quenthel knirschte mit den Zähnen. »Was habt Ihr herausgefunden?« brachte sie heraus.

Tzirik genoß sein Wissen und reagierte mit einem bewußt überheblichen Lächeln, während er sich von der Gruppe entfernte und auf einem kleinen Podest an einer Seite der Kapelle Platz nahm.

Er faltete die Hände und erklärte: »Insgesamt entspricht Eure Geschichte der Wahrheit. Lolth gewährt ihren Priesterinnen keine Zauber mehr, und sie reagiert auch nicht auf Gesuche.«

»Das wußten wir schon«, stellte Pharaun fest.

»Aber ich nicht«, antwortete der Priester. »Es scheint so, als habe sich Lolth auf irgendeine Weise in ihrem Höllenreich verbarrikadiert. Sie verweigert den Kontakt, nicht nur zu ihren Priesterinnen, sondern zu allen Wesen. Das dürfte auch erklären, warum die Dämonen, die Ihr beschworen hattet, um von ihnen Antworten über den Verbleib Lolths zu erhalten, Euch nicht helfen konnten.«

Die Menzoberranzanyr standen schweigend da und dachten über Tziriks Antwort nach. Halisstra war verwirrt.

»Warum sollte Lolth das tun?« überlegte sie laut.

»Im Geiste der Offenheit möchte ich einräumen, daß Vhae-raun das auch nicht weiß oder zumindest nicht will, daß ich es weiß«, sagte Tzirik. Sein kühler Blick blieb auf Halisstra haften.

»Im Augenblick ist eine göttliche Laune eine mögliche Erklärung, aber möglich ist auch alles andere.«

»Ist sie ... lebt sie?« flüsterte Ryld. Quenthel und die anderen Priesterinnen warfen dem Waffenmeister wütende Blicke zu, doch er ignorierte sie und fuhr fort: »Was ich damit sagen will, ist: Wüßten wir, wenn sie von einem anderen Gott getötet worden wäre? Oder wenn sie krank oder in Gefangenschaft geraten ist?«

»Wenn wir uns nur so glücklich schätzen könnten«, lachte Tzirik. »Nein, Lolth lebt, auch wenn die Frage sich stellt, wie man diesen Zustand bei einer Göttin definiert. Ob sie sich selbst im Abgrund der Dämonennetze eingeschlossen hat oder ob eine andere Macht sie einschloß, hat Vhaeraun nicht gesagt.«

»Wie lange wird dieser Zustand anhalten?« fragte Halisstra.

»Auch das weiß Vhaeraun nicht, oder aber er will nicht, daß ich es weiß«, sagte Tzirik. »Die Frage sollte aber eher lauten: Wird dieser Zustand ein Ende nehmen? Die Antwort darauf ist ja. Er wird ein Ende haben, doch ehe Ihr Euch von dieser Aussage zu schnell trösten laßt, möchte ich Euch daran erinnern, daß eine Göttin eine deutlich andere Vorstellung haben kann, was wir als eine vertretbare Zeitspanne erachten. Der Maskierte Gott kann sich auf etwas bezogen haben, was morgen, nächsten Monat, nächstes Jahr oder vielleicht erst in hundert Jahren eintritt.«

»So lange können wir nicht warten«, murmelte Quenthel. Ihr Ausdruck war von den Gedanken an das ferne Menzoberranzan geprägt. »Wir müssen bald eine Lösung finden.«

»Dann verehrt eine Gottheit, die mehr um Euer Wohl besorgt ist«, meinte Tzirik. »Wenn es Euch interessiert, kann ich Euch umfassend über die Tugenden des Maskierten Gottes Auskunft geben.«

Quenthel versteifte sich, hielt aber ihre Zunge im Zaum, was für die Baenre eine bemerkenswerte Leistung war.

»Das muß ich ablehnen«, sagte sie. »Hat der Maskierte Gott noch irgendeinen anderen Vorschlag für uns, Priester?«

»Den hat er«, erwiderte Tzirik und lehnte sich, an Quenthel gewandt, auf seinem Stuhl nach vorne. »Das waren seine Worte, die er zu mir sprach, also hört sie Euch gut an: ›Die Kinder der Spinnenkönigin sollten sie für Antworten aufsuchen.‹«

»Das haben wir«, rief Halisstra. »Wir alle, doch sie hört uns nicht.«

»Ich glaube, das hat er nicht gemeint«, sagte Danifae. »Ich glaube, Vhaeraun will damit sagen, daß wir nichts herausfinden werden, wenn wir uns nicht selbst in den Abgrund der Dämonennetze begeben, um die Göttin persönlich anzuflehen.«

Tzirik schwieg und sah die Menzoberranzanyr an. Quenthel ging im Kreis und dachte über diese Idee nach.

»Lolth erwartet von ihren Priesterinnen ein gewisses Maß an Initiative und Eigenverantwortung«, erklärte die Herrin Arach-Tiniliths. »Aber sie erwartet auch Gehorsam. Sich zu ihr in ihr göttliches Heim zu begeben, um Antworten zu erhalten ... Lolth wird einen solchen Affront nicht amüsant finden.«

Halisstra schwieg und dachte über das nach, was Tzirik gesagt hatte. Reisen auf andere Ebenen waren ihr nicht fremd. Pharauns Zauber hatte die Gruppe durch die Ebene der Schatten reisen lassen, und es gab viele Universen, viele Himmel und Höllen, in die sich Sterbliche begeben konnten, wenn sie mit der richtigen Magie ausgestattet waren. Es gab Wunder und Schrecken, die die Grenzen der stofflichen Welt überstiegen, doch die Vorstellung, eine solche Reise ohne Lolths ausdrückliche Einladung zu unternehmen ängstigte Halisstra.

»Die Strafen, die uns erwarten, wenn wir in dieser Angelegenheit nicht Lolths Willen befolgen, werden gravierend sein«, gab Halisstra zu bedenken.

»Haben wir denn nicht soeben Lolths Willen gehört?« fragte Danifae. »Sie hat uns hierher geführt, damit wir diese Frage stellen. Das ist, als hätte sie uns ihren Befehl direkt erteilt. Sie könnte verärgert sein, wenn wir das nicht erkennen.«

Halisstra war es gewöhnt, sich sicher zu fühlen, wenn es darum ging, die Wünsche Lolths zu interpretieren. Bevor das göttliche Schweigen die Priesterinnen Lolths befallen hatte, war ihr die seltene Berührung durch das Flüstern Lolths in ihrem Geist vertraut gewesen. Es geschah nicht oft – schließlich war sie nur eine von Tausenden von Priesterinnen –, doch sie wußte, wie es sich anfühlte, bis ins Tiefste ihrer Seele zu verstehen, welchen Wunsch Lolth hatte und wie er zu erfüllen war. Doch jetzt fühlte Halisstra nichts. Offenbar wollte Lolth, daß sie es selbst herausfand.

Halisstra sah dorthin, wo die bronzene Maske Vhaerauns über einem schwarzen Altar hing. Die Fremdheit dieses Ortes war fast greifbar, ein Ausdruck für alles, was sie verloren hatte. Statt vor einem alten Altar im stolzen Tempel des Hauses Melarn zu stehen und von Lolths göttlicher Gewißheit erfüllt zu sein, während sie die Opferrituale und Demütigungen über sich ergehen ließ, die die Spinnenkönigin von ihr verlangte, stand sie allein und verloren da, ein Eindringling im Tempel eines vorgeblichen Gottes, während sie blindlings nach einem Hinweis suchte, was Lolth von ihr erwartete.

Sie stellte sich vor, wie sie vor Lolth trat, ihre Seele der Göttin entblößt, ihre Augen weit aufgerissen vom Anblick von Lolths finsterem Ruhm, ihre Ohren versengt vom Klang der zischenden Stimme der Spinnenkönigin. Vielleicht war es ein Affront zu glauben, Lolth werde ihre Zweifel auslöschen, Antworten auf ihre Fragen geben und ihr verletztes Herz heilen, doch Halisstra stellte zu ihrer Verwunderung fest, daß es sie nicht kümmerte. Wenn Lolth beschlossen hatte, sich ihrer zu entledigen und sie zu bestrafen, würde sie das auch tun. Warum hatte sie Ched Nasad und Haus Melarn vernichtet, wenn sie nicht Halisstra vor sich treten lassen und sie flehen hören wollte?

»Ich stimme mit Danifae überein«, sagte sie. »Ich wüßte nicht, welchem anderen Zweck das alles dienen soll, als uns vor den Thron Lolths zu bestellen. In ihrer Gegenwart werden wir unsere Antworten erhalten.«

Quenthel nickte und erklärte: »Ich deute ihren Willen nicht anders. Wir müssen uns in den Abgrund der Dämonennetze begeben.«

Ryld und Valas Hune tauschten besorgte Blicke aus.

»Eine Reise in die sechsundsechzigste Ebene des Abgrunds«, bemerkte Pharaun. »Ich habe von diesem Ort geträumt. Es wäre interessant, ob die Wirklichkeit mit meinem viele Jahre alten Traum einhergeht. Allerdings muß ich sagen, daß ich mich nicht freue, Lolth persönlich zu begegnen. Als ich diese Vision hatte, schlug sie meine Seele in Stücke. Ich brauchte Monate, um mich davon zu erholen.«

»Vielleicht sollten wir nach Menzoberranzan zurückkehren und berichten, was wir in Erfahrung gebracht haben, ehe wir irgend etwas überstürzen«, schlug Ryld vor. Er war beunruhigt über die Aussicht, sich in die infernalischen Reiche zu begeben.

»Nun, da ich den Willen Lolths verstanden habe, möchte ich keine Zeit verlieren, ihn zu erfüllen«, erklärte Quenthel. »Pharaun kann seinen Sendezauber verwenden, um Gromph von unseren Absichten zu unterrichten.«

»Aber«, wandte Valas Hune ein, »wie gelangt man denn eigentlich in den Abgrund der Dämonennetze?«

»Man muß sein Leben lang Lolth anbeten«, antwortete Quenthel mit einem finsteren Ausdruck in den Augen, »und dann sterben.«

Halisstra sah erst Quenthel, dann den Späher an und sagte: »Würde Lolth uns unsere Zauber gewähren, könnten wir das mit Leichtigkeit erledigen. Ohne sie wird es nicht einfach werden. Pharaun?«

»Ich werde bei der ersten Gelegenheit, die sich bietet, die erforderlichen Zauber lernen«, sagte der Magier. »Ich nehme an, ich werde einen fähigen Zauberer finden müssen, der über die notwendigen Zauber verfügt, und ihn überreden müssen, einen davon mit mir zu teilen.«

»Das wird nicht nötig sein, Pharaun«, sagte Tzirik. Er erhob sich und kam selbstsicher vom Podest herunter. »Mein Gott hat nicht entschieden, mich meiner Zauber zu berauben, außerdem bin ich daran interessiert, mit eigenen Augen zu sehen, was sich in Lolths Reich abspielt. Wir können heute abend aufbrechen, wenn Euch das recht ist.«


Kompanie um Kompanie marschierte die Armee der Schwarzen Spinne voller Stolz in die weite Höhle hinter den Säulen des Leids. Sie war nicht mit der weitläufigen Höhle Menzoberranzans vergleichbar, auch nicht mit den unvorstellbaren Weiten von Dunkelsee, doch die Ebene am Kopf der Schlucht war trotz allem beeindruckend – eine asymmetrische Ebene, die wohl einen Durchmesser von achthundert Metern hatte und deren Decke sich einige hundert Meter in die Höhe erstreckte. Unzählige Säulen trugen diese Decke, und Felsplatten ähnliche Nebenhöhlen verliefen in alle Richtungen wie Wege, die in die Finsternis zu locken schienen.

Nimor überblickte die Höhle von seiner Streitechse herab und sah zu, wie die großen Häuser Menzoberranzans einmarschierten und sich um ein Dutzend verschiedene Banner sammelten. Ihm blieben mehr als zwei Tage, um die diversen Spalten, Höhlen und Durchgänge auszukundschaften, die zu dieser freien Stelle führten. Der strategische Vorteil der Säulen des Leids war offensichtlich. Nur eine Straße verlief nach Süden und führte durch eine mühselig zu durchquerende Schlucht, während eine Reihe von Tunneln dort endeten, wohin er die Drow geführt hatte. Jeder von ihnen führte in das dunkle Reich Menzoberranzans.

»Ein guter Platz für eine Schlacht«, sagte er zu sich und nickte zufrieden.

Sein Reittier, das von Natur aus eine bösartige, aber dumme Bestie war, schien dumpf wahrzunehmen, daß ein Konflikt bevorstand. Das Tier fauchte und trat auf dem mit Kieseln übersäten Grund umher, der Schwanz zuckte aufgeregt hin und her.

Nimor wartete nahe der Mitte der Linie aus Spähern, die an der Spitze von fast hundert Reitern Agrach Dyrrs die Lücke zwischen den Säulen schlossen. Die Angehörigen seines Spähtrupps, die anderen Häusern treu waren, lagen zwischen den Felsen und Spalten in der Schlucht darunter, wo Nimor und seine Männer sie getötet hatten, kurz nachdem sie an den Säulen des Leids angelangt waren.

Nimor wäre nur zu gern hinaufgeritten, um Mez’Barris Arm-go, Andzrel Baenre und den Rest der Priesterinnen und Befehlshaber der Armee zu grüßen. Er sah den Pavillon, der soeben in der Mitte der Höhle aufgebaut wurde.

Das Problem bei einem Verrat, der sich über das gesamte Schlachtfeld erstreckte, war der, daß man einfach nicht überall sein konnte, um den Augenblick in seiner Gesamtheit zu genießen.

Er sah eine schmale Laufechse, die vom Befehlsstand auf dem Weg zu seiner Kompanie war.

»Sieht aus, als würde ich gebraucht, Jungs«, sagte er zu den Soldaten Agrach Dyrrs, die hinter ihm warteten. »Ihr wißt, was ihr zu tun habt. Wartet auf das Signal. Wenn es ertönt, legt los.«

Nimor ließ seine Streitechse lostraben und ritt dem Boten ein Stück entgegen. Der Reiter war ein junger Mann, der die Kleidung des Hauses Baenre trug – sicherlich ein besonders gut gelittener Neffe oder Vetter, dem man eine vergleichsweise sichere Aufgabe zugewiesen hatte, die kein großes Risiko für sein Leben bedeutete. Er trug keinen Helm, so daß sein Haar wie eine Mähne hinter ihm im Wind flatterte. Ein hellrotes Banner wehte an einem Harnisch, der an seinem Sattel befestigt war.

»Ihr seid Hauptmann Zhayemd?« rief er und wurde langsamer, um Nimor zu begrüßen.

»Ja.«

»Eure Anwesenheit ist umgehend im Befehlspavillon erforderlich, Herr. Matrone Del’Armgo möchte wissen, wo sich die Duergar befinden und wie die Truppen am besten aufzustellen sind.«

»Verstehe«, erwiderte Nimor. »Ihr könnt zurückreiten und ihr sagen, ich werde unverzüglich hinüberreiten.«

»Bei allem Respekt, Herr, aber ich soll ...«

Drei Hornstöße – zwei kurze gefolgt von einem langen – ertönten zwischen den Säulen des Leids und erzeugten ein so lautes Echo, daß man hätte meinen können, der Fels selbst würde diese Laute ausstoßen. Der Bote verstummte und wendete sein Reittier, um an Nimor vorbeizureiten und einen Blick auf die Säulen zu werfen.

»Bei Lolths Zorn, was war das?« wunderte er sich.

»Das«, entgegnete Nimor, »dürfte das Signal für den Angriff der Duergar sein.«

Aus den Tiefen der Schlucht unterhalb der Säulen des Leids war das Donnern einer Armee auf dem Vormarsch zu hören, das den Boden erzittern ließ. Unterhalb der Linie von Nimors Spähern tauchten auf einmal zu Hunderten auf Echsen reitende Duergar auf, die sich unter sorgfältig angeordneten Tarnnetzen erhoben und in die Lücke vorstießen, die Nimors Späher halten sollten. Hinter der Duergar-Kavallerie stürmte eine immense Duergar-Infanterie los, stieß ihre rauhen Kriegsrufe aus und hielt Hämmer und Äxte hoch über den Köpfen. Die Reiter Agrach Dyrrs saßen auf, gingen in Position, um zwischen den gewaltigen Felssäulen die Angreifer in die Zange zu nehmen – und dann beschrieben sie wie verabredet eine Drehung und eilten davon, womit die vorderste Verteidigungslinie von einem Augenblick zum anderen ungeschützt war.

»Agrach Dyrr verrät uns!« schrie der Bote, dem das Entsetzen über diese Vorgehensweise anzusehen war.

Er riß sein Reittier herum, doch Nimor beugte sich im Sattel nach vorn und rammte dem Jungen seine Klinge in den Leib. Der Baenre preßte die Hände auf die Wunde, schwankte und fiel. Mit der Breitseite seiner Klinge schlug Nimor der Echse gegen den Leib, die daraufhin zurück in die Haupthöhle eilte und den toten Boten mitschleifte, dessen Füße sich in den Steigbügeln verfangen hatten.

Nimor ließ sein Reittier ein schiefes Stück Fels erklimmen, das gut viereinhalb Meter über dem Höhlenboden lag und einen Blick über die Säulen erlaubte. Von dort konnte er den größten Teil der Höhle überblicken.

»Eine schöne Aussicht auf den Kampf, mein Prinz!« rief er. »Was für ein großartiger Tag für Euren Sieg, nicht wahr?«

»In einer Viertelstunde werde ich Euch sagen, ob es einen Sieg gibt oder nicht.«

Aus dem Schatten im hinteren Teil des Felsvorsprungs trat Horgar Stahlschatten. Er und seine Leibwache wurden von einer geschickten Illusion geschützt, so daß er für jeden anderen unsichtbar war, es sei denn, man wußte genau, wo man nach ihm zu suchen hatte.

»Kommt nicht näher, Nimor«, sagte der Prinz. »Ich möchte nicht, daß Euch jemand in einer Wand verschwinden sieht und über die Maßen neugierig darauf wird, was hier wohl geschehen mag.«

»Sicher wollt Ihr doch auch in die Schlacht eingreifen, Prinz Horgar? Ich weiß, Ihr seid ein mutiger Zwerg.«

»Ich werde mich ins Getümmel stürzen, wenn ich sicher sein kann, daß ich keine weiteren Befehle erteilen muß. In einigen Momenten werdet Ihr nicht mehr hören können, ob Euch ein Kamerad direkt ins Ohr schreit.«

Nimor konzentrierte sich wieder auf die Schlacht. Die Reiter Agrach Dyrrs, die sich von den Säulen zurückgezogen hatten, ritten wie wahnsinnig auf einem kreisförmigen Weg, der entlang des Höhlenrandes verlief und auf dem sie dem größten Teil der Armee von Menzoberranzan ausweichen konnten. Ihre Aufgabe war es, zur Infanterie Agrach Dyrrs am Ende des Zuges zu gelangen und den Tunnel zu verschließen, durch den die Armee der Schwarzen Spinne gekommen war.

Duergar-Reiter strömten durch die Lücke und überrannten die Stellungen, die sie eigentlich hätten aufhalten sollen. Etliche Kontingente der Häuser, die die Vorhut der Truppen bildeten, waren in Unordnung geraten, überrascht darüber, von einem derartigen Ansturm erfaßt zu werden, anstatt hinter einer stabilen Frontlinie sich auf eine Belagerung einzurichten und das Lager aufzuschlagen.

Andere Häuser reagierten auf diesen plötzlichen Angriff gewandt und mutig. Das immense Baenre-Kontingent stieß einen wütenden Kriegsschrei aus und stürmte vor, um den Paß zu erobern, ehe noch mehr Duergar in die Höhle strömen konnten.

»Ein mutiger Zug, Andzrel«, sagte Nimor mit ehrlicher Bewunderung. »Leider dürfte es zu spät sein, um den Korken wieder auf die Flasche aufzusetzen.«

Nimor zog leicht an den Zügeln, um sich in eine Position zu bringen, von der aus er einen besseren Blick auf den Mittelpunkt der Höhle hatte. Er hatte erwartet, alles in der Höhle werde in Bewegung sein, daß die Reihen vorwärts stürmen und sich wieder zurückziehen würden wie die blutige Strömung einer See aus Eisen. Doch der Kampfeslärm war schlicht unerträglich. Der Fels zu allen Seiten warf das Gebrüll zurück, die Schreie und das Scheppern der Waffen und Schilde verschmolz zu einem einzigen Klangteppich, einer donnernden Geräuschkulisse, die sich immer weiter steigerte, je mehr Krieger sich in die Kämpfe einmischten.

»Der Lärm wird für uns arbeiten«, rief er über die Schulter Horgar zu, obwohl er sein eigenes Wort nicht verstand. »Die Befehlshaber der Armee der Schwarzen Spinne müssen entscheiden, wie die Truppen reagieren sollen, und sie müssen die entsprechenden Befehle geben.«

»Ja«, antwortete der Duergar. Nimor hatte Mühe, ihn zu verstehen. »Wenn man sich erst mal mitten in einer Schlacht befindet, ist das ein schlechter Zeitpunkt, um die Schlacht zu planen!«

Ein gleißender Lichtblitz schoß in die Reihen der Duergar, gefolgt von einem Donnerschlag, der sogar den Kampflärm übertönte. Explodierende Feuerbälle und sengende Flammenteppiche jagten übers Schlachtfeld, als die Magier auf beiden Seiten in den Kampf einzugreifen begannen.

Nimor legte die Stirn in Falten. Eine Handvoll mächtiger Magier konnte die Entscheidung bringen, trotz des wütenden Angriffs der Duergar und der Verschlagenheit seiner Verbündeten in Agrach Dyrr. Doch es gab auch Magier in den Reihen der Duergar, von denen viele als Reiter und Infanteristen getarnt waren. Als die Drow-Magier ihre Angriffe auf die Duergar starteten, verrieten sie zugleich ihre eigenen Positionen. Die Duergar-Magier reagierten auf jeden Blitz und jedes Feuer, und binnen weniger Augenblicke war die gesamte Höhle von schmerzendem Licht und von rötlichem Feuer erfüllt, die Luft war heiß und ätzend, da von beiden Seiten mit mächtiger Magie rücksichtslos um sich geworfen wurde.

Sosehr er sich auch bemühte, konnte Nimor nicht sagen, wessen Magie den Sieg bringen würde, da die ganze Szene in eine Anarchie versank. Innerhalb weniger Herzschläge erfaßte die gewaltige Truppe aus Menzoberranzanyr in der Mitte der Höhle den ersten Ansturm der Duergar, und die beiden Armeen standen sich schnell in einer langen Linie gegenüber, die sich über viele Hundert Schritt durch die Höhle schlängelte. Standarten wurden geschwenkt und versanken, Streitechsen bäumten sich auf und gingen zu Boden, als der massive Ansturm in Tausende von individuellen Duellen zerfiel.

Kolonnen schwerbewaffneter Duergar drängten durch die Lücken, an denen sich die verschiedenen Häuser der Dunkelelfen begegneten, und strömten zwischen ihren Gegnern hindurch, um sie einzukreisen. Nimor lächelte. Die Drow hatten keine Ahnung, wie sie ihre Kompanien zusammenschweißen sollten, um aus der Armee eine einzige tödliche Waffe zu machen. Dennoch war das Kontingent eines jeden Hauses eine kleine Armee todbringender, erfahrener Veteranen. Der Ansturm der Duergar hatte die Armee der Schwarzen Spinne in zwanzig kleinere Streitmächte zerschlagen, die sich zur Wehr setzten wie ein Haufen Skorpione, die man in einen Korb gesetzt und dann umgestoßen hatte.

»Unser Sieg ist noch fraglich, Nimor«, rief Horgar von oben. »Die verfluchten Magier haben unseren Angriff behindert!«

»Aber Ihr habt die Säulen bezwungen, nicht?« erwiderte Nimor. »Ich hätte gedacht, der erste Ansturm würde die Menzoberranzanyr sofort niederringen, aber es scheint, die Armeen der Häuser lassen sich nicht so leicht überrennen.«

Während er den Kampf beobachtete, fand Nimor, daß die Duergar mit dem Vorteil des Überraschungselementes die Häuser von Menzoberranzan am ehesten schlagen würden, doch es würde ein langer Tag voll heftiger Gefechte werden, um die Streitmacht der Dunkelelfen zu dezimieren. Vor allem Haus Baenre war es für den Augenblick gelungen, die Säulen des Leids abzutrennen, und je länger Andzrel den Paß verteidigen konnte, um so größer wurden die Chancen für die Dunkelelfen.

Zum Glück hatte Nimor für diesen Fall Vorkehrungen getroffen. Die Menzoberranzanyr schienen an der Front vollauf mit dem Angriff der Duergar beschäftigt. Es wurde Zeit, das Messer zwischen die Rippen der Menzoberranzanyr zu jagen, während ihre Schwerter anderweitig eingesetzt wurden.

»Jetzt, Aliisza«, rief er in die Luft.

Nimor ließ sein Reittier wenden, zog sein Schwert und jagte die Streitechse in den Kampf. Mez’Barris Armgo und Andzrel befanden sich irgendwo mitten in der Schlacht, und er würde dafür sorgen, daß sie der Vernichtung ihrer Armee nicht entgingen.


Nicht ganz einen Kilometer entfernt stand Aliisza in einem schmalen Tunnel, der von Osten kommend zum vorderen Abschnitt der Säulen des Leids führte. Sie hatte die Augen geschlossen und konzentrierte sich ganz auf den Zauber, der es ihr erlaubte, Nimor zu beobachten. Dank der Magie, die sie zum Einsatz gebracht hatte, hörte sie jedes seiner Worte so, als hätte er sie in einem völlig ruhigen Raum gesprochen. Sie schüttelte sich und beendete den Zauber.

»Es ist Zeit«, sagte sie zu Kaanyr.

»Gut«, erwiderte der Kriegsherr. Das breite Grinsen, das von Vorfreude auf den bevorstehenden Kampf geprägt war, entblößte seine spitzen Zähne. Er warf dem Assassinen Zammzt, der in seiner Nähe stand, einen Blick zu. »Nun, Abtrünniger, dies ist Euer Glückstag. Ich werde meine Krieger gegen die Drow antreten lassen, nicht gegen Eure Duergar-Verbündeten.«

Zammzt nickte und erwiderte: »Ich versichere Euch, Ihr werdet es nicht bereuen. Vernichtet diese Armee, und Menzoberranzan wird ungeschützt daliegen.«

Kaanyr ging an dem Alu-Scheusal und dem Drow vorbei hinüber zu den Standartenträgern.

»Gebt das Signal zum Angriff!« rief er.

Sofort begannen ein Dutzend Grottenschrat-Trommler auf ihre Instrumente zu schlagen und ließen einen Trommelwirbel aus drei Schlägen ertönen, den sie dreimal wiederholten. Die Tanarukks, die Kaanyr Vhoks Geknechtete Legion bildeten, heulten blutrünstig auf und rückten vor, stampften dabei mit ihren Füßen und stießen gegenseitig mit ihren Äxten an, während sie durch den Tunnel strömten. Kaanyr zog sein Schwert und schloß sich seinen Truppen an, während seine Wachen und Standartenträger sich beeilen mußten, um mit ihm mitzuhalten. Aliisza hielt bei dem Anblick den Atem an und stieg in die Luft, um Kaanyrs Standarte zu folgen. Eine solche Schlacht bekam man nicht alle Tage zu sehen.

Vor den heranstürmenden Tanarukks begann eine Felswand an der Flanke der Armee der Schwarzen Spinne zu flimmern und verschwand dann völlig, so daß plötzlich ein Tunnel an einer Stelle klaffte, der bis dahin von einer Illusion getarnt worden war. Die grölende Horde Tanarukks ergoß sich aus dem verborgenen Gang und attackierte die Drow-Armee von hinten, während die großen Häuser mit den Duergar-Reitern alle Hände voll zu tun hatten, die aus Richtung der Säulen des Leids gekommen waren. Aliisza sah Kaanyrs rotes Banner, das voller Stolz an der Spitze der Streitmacht wehte, die in die Schlacht stürmte.

Nur eine Handvoll kleinere Häuser standen der heranstürmenden Horde im Weg. Die Woge aus blutrünstigen Ork-Dä-monen überspülte sie, die sich einem Speer aus rotglühenden Eisen gleich in die Flanke der Armee bohrten. Aliisza jubelte vor Erregung und Entsetzen, gefesselt von dem unglaublichen Spektakel. Sie war außerstande, ihrer Begeisterung in einer anderen Weise Ausdruck zu verleihen. Die Armee der Schwarzen Spinne war hoffnungslos in einen Kampf verstrickt, den sie nicht hatte kämpfen wollen, ein wildes Gemetzel auf einem offenen Terrain gegen die vereinten Armeen Gracklstughs und Kaanyr Vhoks. Wie Inseln in einer tosenden See aus Widersachern war jedes Haus aus Menzoberranzan auf sich allein gestellt und mußte gegen eine Flut aus Stahl und Zaubern ums Überleben kämpfen.

Das Alu-Scheusal ließ sich auf einem Stalagmiten nieder und betrachtete das Schauspiel.

Oh, Nimor, dachte sie. Was hast du großartiges und schreckliches zugleich getan!


Nimor Imphraezl, die Gesalbte Klinge der Jaezred Chaulssin, bewegte sich durch eine Szenerie, wie sie sich alle Teufel in allen Höllen wohl nicht schrecklicher hätten ausmalen können. Das Blut Dutzender bedeutender Drow mischte sich an seinem Rapier und befleckte sein schwarzes Kettenhemd. Seine Streitechse war tot, verbrannt durch den Lichtblitz eines Magiers der Tuin’Tarl. Seine Gliedmaßen schmerzten vor Erschöpfung und aufgrund Dutzender kleiner Wunden, doch Nimor grinste wild, da das Ergebnis seines tödlichen Werkes ihn förmlich berauschte.

»Wer hat nun etwas erreicht, verehrter Großvater?« lachte er lauthals. »Zammzt hat dir vielleicht Ched Nasad gegeben, doch ich habe Menzoberranzan niedergerungen!«

Die Schlacht tobte seit Stunden. Statt eine undurchdringliche Linie zwischen den Säulen des Leids zu bilden, war die Armee der Schwarzen Spinne von allen Seiten von einem Feind bestürmt worden, der sich das Terrain und den Zeitpunkt der Schlacht ausgesucht hatte. Wie bei einer großen, dummen Bestie mit einer tödlichen Bauchverletzung konnte es bei einer geschlagenen Armee lange dauern, bis sie endlich unterging, da sie zuckte und um sich schlug, während sie langsam ausblutete. In den Kämpfen in der Welt an der Oberfläche hätten die besiegten Drow womöglich ihre Waffen niedergelegt und gehofft, von den Siegern gut behandelt zu werden. Doch die unerbittlichen Krieger des Unterreiches machten keine Gefangenen und konnten dies auch nicht von der anderen Seite erwarten. Die Duergar hatten nicht die Absicht, auch nur einen einzigen Dunkelelfen am Leben zu lassen, und das wußten die Krieger Menzoberranzans, daher kämpften sie auch bis zum Tod.

Einige der kleineren Häuser wurden zerschlagen und über die Höhle versprengt, so daß Drow in Zweier- und Dreiergruppen kämpfen mußten und so viele Gegner wie möglich mit in den Tod nahmen. Duergar, Grottenschrate, Oger und andere Soldaten, die dem Kronprinzen Gracklstughs treu ergeben waren, zogen durch die Höhlen, berauscht vom Gemetzel, während sie einzelne Drow jagten, deren Kompanien beim Ansturm zerschlagen worden waren. Einige Häuser hielten sich an ihrem Platz und kämpften energisch gegen immer mehr Duergar an, die von allen Seiten auf sie einstürmten. Manche Häuser rückten zusammen und versuchten, sich einen Weg durchs Getümmel zu bahnen, in der Hoffnung, einer katastrophalen Niederlage zu entgehen.

Die Soldaten Barrison Del’Armgos waren in einen schmalen, gewundenen Seitentunnel getrieben worden, der nur sechs Meter breit war. Die stolzen Krieger des Zweiten Hauses mußten sich dort wiederholter Duergar-Angriffe erwehren. Mez’Barris war eingekesselt und konnte zu keinem der anderen Häuser vordringen, während sämtliche Vorräte verbrannten, da die Infanterie der Agrach Dyrr von hinten kommend den Versorgungszug in Brand gesteckt hatte. Auf Del’Armgo wartete ein langer, entbehrungsreicher Marsch zurück nach Hause.

Die Kompanie des Hauses Xorlarrin, das mit den mächtigen Magiern bestens versorgt war, für die das Haus berühmt war, geriet in der Mitte der Höhle in Bedrängnis, wo sie alles andere als in Sicherheit war. Die Xorlarrin-Magier hielten lange Zeit die fünffache Anzahl Duergar zurück, indem sie Mauern aus Feuer und Eis entstehen ließen und zerstörerische Energie freisetzten. Doch die Magier ermüdeten mit der Zeit und konnten die verbrauchten Zauber nicht wieder auffrischen. Hunderte von Duergar mit Lanzen warteten auf ihren Streitechsen nur darauf, daß die arkane Verteidigung fiel und sie die Xorlarrin niederrennen konnten.

Die stolze, mehr als fünfhundert Krieger starke Kompanie des Hauses Baenre stand wie ein Fels in der Brandung, während ringsum kleinere Häuser zerschlagen und niedergerungen wurden. Wie Nimor vorhergesagt hatte, war Andzrel Baenre gezwungen gewesen, die Säulen des Leids aufzugeben, die er kurz zuvor noch eingenommen hatte, und seine Streitmacht hatte sich langsam den Weg quer durch die Höhle freikämpfen müssen, um sich der Tunnelöffnung zu nähern, durch die die Armee der Schwarzen Spinne noch wenige Stunden zuvor hergekommen war. Die Baenre richteten ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Agrach Dyrr, die den Fluchtweg versperrten. Armbrustbolzen, Speere und tödliche Zauber gingen in massiver Zahl auf die jeweils andere Seite nieder, während die beiden Häuser einander wie wild bekämpften. Zwar kamen auf jeden Kämpfer von Agrach Dyrr zwei Baenre-Krieger, doch die Truppen des ersten Hauses mußten sich gegen Angriffe von allen Seiten wehren und dazu noch versuchen, sich den Fluchtweg freizukämpfen.

Nimor bahnte sich vorbei an Toten und Sterbenden einen Weg durch die Schlacht. Zum Glück hatte er mehrere Unsichtbarkeitszauber vorbereitet, sonst wäre er immer wieder von rasenden Tanarukks oder grimmen Duergar aufgehalten worden, die jeden Drow töten wollten, der ihnen über den Weg lief. Hunderte von Steinwachen rannten gegen die Baenre-Infanterie an, während die Agrach Dyrr weiter die Öffnung zum Haupttunnel an der gegenüberliegenden Seite der Höhle verbarrikadierten. Nimor machte einen großen Bogen um den Kampf, bis er Andzrel und Zal’therra unter dem Banner der Baenre sah.

Die Baenre-Führer führten ihre Soldaten in den Kampf gegen die Agrach Dyrr, und langsam, aber sicher bahnten sie sich ihren Weg durch die Reihen des verräterischen Hauses. Die beiden waren von einem Pulk Leibwächter umgeben.

Der Assassine grinste, da er seine Gelegenheit gekommen sah. Die Baenre-Führer waren ganz in den Kampf vertieft. Wenn er sie töten konnte, würde er praktisch das Baenre-Kontingent enthaupten, und wenn diese Streitmacht zerfiel, dann standen die Chancen gut, daß die gesamte Armee der Schwarzen Spinne an diesem Tage aufgerieben wurde.

Nimor entdeckte Jazzt Dyrr, der sich im Hintergrund hielt und den Agrach Dyrr-Soldaten Befehle erteilte. Der Adlige hielt eine Hand auf eine klaffende Wunde quer über die Rippen gedrückt. Der Assassine eilte hinüber und wurde sichtbar.

»Gute Arbeit, Verwandter«, rief er Jazzt zu. »Haltet die Baenre weiter hier fest, dann wird die Wache des Kronprinzen sie aufreiben.«

Jazzt sah auf. Müdigkeit und Schmerz wichen aus seinem Gesicht, als er den Kampf überschaute.

»Leichter gesagt als getan«, sagte er. »Die Baenre kämpfen wie Dämonen, und mehr als nur ein paar unserer eigenen Leute werden nicht heimkehren.« Er drückte den Rücken durch und gab Nimor die Hand. »Ich hatte meine Vorbehalte, Zhayemd, doch Euer Plan scheint aufzugehen. Ich würde ja gerne sagen, wir könnten Euch hier gut gebrauchen, doch nach dem Blut zu urteilen, das an Euch klebt, nehme ich an, daß Euch nicht langweilig ist.«

»Die großen Häuser halten das Zentrum der Höhle, aber hier fällt die Entscheidung«, erwiderte Nimor. Seine Augen waren auf das Baenre-Banner gerichtet. »Gebt mir so viele Männer, wie Ihr entbehren könnt. Ich will die Baenre-Befehlshaber töten.«

»Gut«, gab Jazzt zurück. Er machte einem Dutzend erfahrener Krieger eine knappe Geste. »Ihr da, geht mit Zhayemd. Bringt mir das Banner der Baenre.«

Nimor machte seinen Rapier und den Dolch bereit, während sich die ausgeruhten Kämpfer um ihn scharten. Das Gemetzel kam näher, da die Baenre sich weiter zu ihrem Fluchtweg vorarbeiteten. Er konnte die Baenre-Standarte sehen, die über dem Zentrum des Kampfes wehte. Andzrel selbst befand sich nahe der Front und war von den besten Männern umgeben, die sein Haus zu bieten hatte. Zal’therra war nur wenige Schritte hinter ihm, humpelte aber, da sie an der Hüfte verwundet war. Ihren Arm hatte sie um einen anderen Baenre gelegt.

Nimor wartete, bis die vorderen Baenre-Wachen in Reichweite eines Speerwurfs waren, dann rief er: »Auf sie!«

Mit lautem Jubel stürmten die Krieger Agrach Dyrrs aus ihrem Versteck hervor, einige feuerten Armbrüste ab, ehe sie die Waffen wegwarfen und ihre Klingen zogen. Geschosse jagten in die Tunnelöffnung, von denen manche von den Rüstungen der Baenre-Wachen abprallten, während andere trafen. Die Wachen wappneten sich gegen die heranstürmenden Agrach Dyrr, so gut sie konnten. Zal’therra sprang an die eine Tunnelwand und setzte sich mit einem schwarzen, beidhändig zu führenden Flegel. Sie war nicht bereit, ihrem verletzten Bein zu vertrauen, daher stürzte sie sich nicht ins Kampfgetümmel, doch sie war alles andere als hilflos. Das bekam ein Soldat Agrach Dyrrs zu spüren, als sie ihm ein Bein stellte und ihm dann mit einem kraftvollen Schlag den Schädel zertrümmerte. Im nächsten Moment war der schmale Gang von dem Klirren von Stahl auf Stahl erfüllt sowie von dem häßlichen Geräusch, wenn sich Stahl in Fleisch bohrte, begleitet von den Schreien und den Flüchen der Kämpfer.

Anders als Zal’therra stürzte sich Andzrel in den Kampf und hieb mit dem zweischneidigen Schwert um sich, trat brutal gegen seine Feinde, um sie zu Fall zu bringen, während die sich gegen seine zuckenden Klingen zur Wehr zu setzen versuchten. Voller Bewunderung sah Nimor zu, wie der Kampf mal in die eine, mal in die andere Richtung wogte. Als die Agrach Dyrr wieder vorrückten, näherte er sich dem Waffenmeister der Baenre.

»Seid gegrüßt, Andzrel«, rief er. »Euer Meister der Späher muß Euch melden, daß die Duergar hinter unsere Verteidigungslinie bei den Säulen des Leids gelangt zu sein scheinen. Sie stellen eine beträchtliche Bedrohung für die Armee der Schwarzen Spinne dar.«

Andzrel verharrte, während sich der Kampf von ihm entfernte. Wut kochte unter seinem gelassenen Äußeren.

»Zhayemd«, spie er. »Es war ein schwerer Fehler, Euch mir zu stellen. Es wäre klüger gewesen, die Früchte Eures Verrats aus der Ferne zu genießen.«

»Das werden wir sehen«, erwiderte Nimor.

Er sprang vor und zielte mit einem mörderischen Stoß nach dem Oberkörper des Baenre, doch Andzrel ließ sich davon nicht überraschen. Der Waffenmeister wich zur Seite aus und hob sein zweischneidiges Schwert in einer wirbelnden Abwehrhaltung, so daß Nimors Klinge pariert wurde. Dadurch kam er nahe genug heran, um seinen Ellbogen, der in einer Rüstung steckte, gegen Nimors Kopf zu rammen. Wäre Nimor der dürre Drow gewesen, als der er allen erschien, dann hätte der Treffer ihm den Schädel zerschmettern müssen. So aber wurde sein Kopf nur zur Seite geschleudert. Er wirbelte in die andere Richtung davon und holte mit seinem verborgenen Dolch aus, der Andzrel unterhalb des Brustpanzers traf. Der wich zurück und sprang dann hoch, um dem Assassinen in die Rippen zu treten, doch Nimor stieß lediglich ein Grunzen aus und schleuderte Andzrel mit Verachtung von sich.

Andzrel rollte über den Boden, stand mit erhobenem Schwert auf und sah seinen Gegner mit aufgerissenen Augen an.

»Was bei allen Höllen Lolths seid Ihr?« murmelte er.

Ehe Nimor eine passende Antwort einfiel, schoß die Hand des Waffenmeisters zu seinem Stiefel, und im nächsten Moment warf er ein Messer, dessen Spitze auf Nimors Kehle gerichtet war. Der Assassine hob einfach die Hand und ließ zu, daß die Klinge sich ins Fleisch seines linken Unterarms bohrte. Er knurrte, dann zog er das Messer heraus. Blut spritzte auf den Höhlenboden.

Natürlich wartete Andzrel nicht ab, was geschehen würde, sondern rollte unter der Deckung seines Widersachers nach vorn und versuchte, sein Schwert durch Nimors Leib zu jagen.

Der sprang einfach über den Waffenmeister, indem er seine Füße dicht an den Körper zog und auf der anderen Seite landete. Als Andzrel seine Stoßrichtung umkehrte und wieder aufsprang, bohrte Nimor sein Rapier durch den Brustpanzer des Baenre und fügte ihm eine tiefe Stichwunde in der Seite zu. Andzrel stöhnte und taumelte, verlor das Gleichgewicht und ging zu Boden. Das Schwert landete neben ihm.

»Guter Versuch«, sagte Nimor und holte aus, um den Baenre zu töten.

Ehe er jedoch zuschlagen konnte, schloß ihn eine Kugel aus bernsteinfarbener Energie ein. Eine magische Macht stoppte die Bewegung seiner Klinge so sicher, als hätte er versucht, Narbondel zu durchbohren, und widerstand auch seinem Messer.

»Was bei den neun Höllen ist das?« wollte Nimor wissen.

Der Assassine knurrte aufgebracht, als er erkannte, daß sich der Kampflärm im Tunnel im gleichen Moment mindestens verdreifacht hatte. Er spähte aus der Kugel, um festzustellen, woher der Lärm kam und was geschehen war.

Außerhalb der Sphäre stürmten Dutzende neuer Baenre-Soldaten aus dem Tunnel hinter den Agrach Dyrr und mischten sich in den Kampf ein, wobei sie Jazzt und seine Fußtruppen in die Zange nahmen. Die Agrach Dyrr, die bislang den Tunnel blockiert hatten, wurden vertrieben oder getötet, und für das Kontingent des Hauses Baenre war der Fluchtweg frei. Nimor sah wutentbrannt, wie die Baenre sein magisches Gefängnis passierten und ihren Verwandten zu Hilfe eilten. Innerhalb weniger Augenblicke verlagerte sich das Kampfgetümmel zurück in die große Höhle.

Nimor sah in den Tunnel und sah sich einem großen, dicken Magier gegenüber, der die Farben des Hauses Baenre trug. Mit einem zufriedenen Lächeln betrachtete er die bernsteinfarbene Kugel. Zal’therra und Andzrel starrten den Neuankömmling verblüfft an.

»Nauzhror«, sagte die Priesterin. Blut strömte aus ihrer Hüftwunde. »Ihr kommt genau rechtzeitig.«

»Nur ein glücklicher Zufall«, schnurrte der Magier. »Die Muttermatrone wies mich an, ihr vom Schlachtfeld zu berichten, und so spähte ich die Armee aus, sah den tobenden Kampf und bemerkte Eure Schwierigkeiten. Ich benutzte eine sehr wertvolle Schriftrolle, um ein Portal zu öffnen und Euch Hilfe zu schicken.« Er wandte sich um und betrachtete Nimor in der Energiekugel. »Ist das nicht der stürmische Hauptmann Zhayemd von Agrach Dyrr?«

»Zumindest behauptet er das«, meinte Andzrel. »Könnt Ihr ihn in dieser Sphäre vernichten?«

»Nicht sofort. Sie hält ihn für eine Weile fest und umgibt ihn mit einem undurchdringlichen Schild aus magischer Energie. Sie wird sich nach kurzer Zeit auflösen, dann könnt Ihr ihn nach Belieben töten.«

»Dann später«, sagte Andzrel und ließ den gefangenen Nimor auf sich beruhen.

Mit einer Hand griff er nach einer kleinen Phiole an seinem Gürtel und schluckte den Inhalt, den Nimor für einen Heiltrank hielt. Er sah hinüber zum Kampfgetümmel, seine Miene war ausdruckslos, als er den Schlagabtausch betrachtete.

Zal’therra humpelte zu ihm und sagte: »Bereitet einen Vormarsch vor. Mit Nauzhrors Verstärkung können wir das Blatt wenden und diese verfluchten Zwerge und Tanarukks schlagen.« Sie sah den Magier an. »Wie viele Soldaten habt Ihr mitgebracht?«

»Leider nur eine einzige Kompanie. Die Muttermatrone wollte keine weiteren Reserven in einer verlorenen Schlacht riskieren, wenn es schlecht läuft.«

Zal’therra begann zu protestieren, doch Andzrel legte ihr die Hand auf den Arm.

»Nein«, sagte er. »Die Muttermatrone hatte recht. Jetzt, da wir einen gesicherten Rückzug antreten können, müssen wir so viele Häuser wie möglich aus dem Kampf zurückziehen. Die Duergar und die Tanarukks haben gewonnen.«

Nauzhror riß die Augen auf. »Ist es so ernst?«

»Wenn wir schnell sind«, gab Andzrel zurück, »werden wir einen Großteil unserer Soldaten retten können. Wenn wir die wichtigen Häuser aus der Schlacht zurückziehen, können wir uns notfalls kämpfend bis nach Menzoberranzan zurückbewegen. Wir dürfen keine Zeit verlieren, wenn wir Xorlarrin und Tuin’Tarl retten wollen. Fey-Branche ist verloren, und ich habe keine Ahnung, was mit Barrison Del’Armgo ist. Duskryn und Kenafin wurden überrannt. Menzoberranzan darf keinen weiteren Drow mehr verlieren.«

»Euer Rückzug wird das Unvermeidliche nur hinauszögern«, sagte Nimor. »Ihr könnt es nicht aufhalten.«

Andzrel stützte sich auf sein Schwert und warf Nimor einen finsteren Blick zu.

»Wenn ich es recht überlege«, sprach der Waffenmeister, »werde ich ein paar Mann hierlassen, die darauf warten sollen, daß sich die Sphäre auflöst. Ich sehe keinen Grund, ihn auch nur einen Moment länger als nötig leben zu lassen.« Er blickte Nimor kühl in die Augen. »Euer Haus wird den Tag bereuen, an dem es unsere Stadt hinterging, Verräter.«

Nimor versuchte wieder, mit Gewalt die Sphäre zu verlassen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Andzrel, Zal’therra und Nauzhror wandten sich ab und folgten den Soldaten in den wiederaufgeflammten Kampf, während einige Wachen sich um die Sphäre herum aufstellten.

»Wir sehen uns in Menzoberranzan«, versprach Nimor den Männern.

Dann wirkte der Mann, der die Gesalbte Klinge genannt wurde, die Macht seines Rings und verschwand aus der Energiekugel in die Schatten, die ihn willkommen hießen.

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