Nunc Dimittis

Es ist fast Mitternacht, und wenn ich jetzt nicht darangehe, diese Geschichte niederzuschreiben, werde ich es nie tun. Stunden und Stunden habe ich hier gesessen und versucht, einen Anfang zu finden; aber je länger ich über die ganze Sache nachdachte, desto größer wurden mein Entsetzen, meine Scham, meine Verzweiflung.

Ich habe mir vorgenommen – und ich glaube, das war eine gute Idee –, in Form einer schriftlichen Beichte eine selbstkritische Betrachtung anzustellen, um auf diese Weise einen Grund oder zumindest eine Rechtfertigung für mein empörendes Verhalten gegenüber Janet de Pelagia zu finden. Ich möchte mich dabei an einen imaginären mitfühlenden Leser wenden, gewissermaßen an ein mythisches Du, an einen gütigen und verständnisvollen Menschen, dem ich rückhaltlos jede Einzelheit dieser unglückseligen Episode offenbaren kann. Ich hoffe nur, dass es mir trotz meiner Erregung gelingt, einen wahrheitsgetreuen Bericht zu geben.

Wenn ich ganz ehrlich sein soll, muss ich gestehen, dass es nicht sosehr das Gefühl meiner Schuld ist, das mich bedrückt, auch nicht die Kränkung, die ich der armen Janet zugefügt habe, sondern vielmehr das Bewusstsein, dass ich mich wie ein ausgemachter Idiot benommen habe und dass meine Freunde – sofern ich sie noch so nennen darf –, alle diese warmherzigen und liebenswerten Menschen, die so oft in mein Haus kamen, mich jetzt für einen boshaften, rachsüchtigen alten Mann halten müssen. Ja, das schmerzt mich tief. Wenn ich Ihnen sage, dass meine Freunde der Inhalt meines Lebens waren, dass sie mir alles, einfach alles bedeuteten, so werden Sie vielleicht anfangen, mich zu verstehen.

Tatsächlich? Ich bezweifle es, denn Sie wissen ja nichts von mir. Gestatten Sie also, dass ich einen Augenblick abschweife und Ihnen in groben Zügen schildere, was für ein Mensch ich bin.

Nun … lassen Sie mich nachdenken. Bei näherer Überlegung scheint mir, dass ich einen Typ verkörpere, einen ganz bestimmten, wenn auch recht seltenen Typ – den des reichen, müßiggängerischen, kultivierten Mannes in mittleren Jahren, der viele Freunde hat und von ihnen wegen seines Charmes, seines Geldes, seiner Bildung, seiner Freigebigkeit und – wie ich aufrichtig hoffe – auch um seiner selbst willen bewundert wird (ich wähle das Wort mit Bedacht). Man findet diesen Typ nur in den großen Weltstädten – London, Paris, New York –, daran ist nicht zu zweifeln. Das Geld, das er besitzt, hat er von seinem Vater geerbt, den er insgeheim ein wenig verachtet. Daraus kann man ihm keinen Vorwurf machen, denn es liegt in seiner Natur, auf Menschen herabzusehen, die so ungebildet sind, dass sie nicht wissen, wodurch sich Rockingham- und Spode-Porzellan, Waterford- und Venezianisches Glas, Sheraton und Chippendale, Monet und Manet oder gar Pommard und Montrachet voneinander unterscheiden.

Er ist also ein Kenner und zeichnet sich vor allem durch einen exquisiten Geschmack aus. Seine Constables, Boningtons, Lautrecs, Redons, Veuillards und Matthew Smiths brauchen einen Vergleich mit den Gemälden der Tate Gallery nicht zu scheuen. Und weil sie so sagenhaft schön sind, schaffen sie um ihn herum eine besondere Atmosphäre, die aufreizend, atemberaubend und ein wenig beängstigend ist – beängstigend, wenn man daran denkt, dass er ohne weiteres die Macht und das Recht hat, ein prachtvolles Tal von Dedham, einen Mont Saint-Victoire, ein Kornfeld bei Arles, ein Mädchen aus Tahiti, ein Porträt von Madame Cézanne zu zerschlitzen, zu zerreißen oder mit der Faust zu durchlöchern. Und die Wände, an denen diese Wunderwerke hängen, strahlen wie einen zarten goldenen Glanz jene Erhabenheit aus, in der er lebt, sich bewegt und mit einer Nonchalance, die nicht ohne Übung erworben wurde, seine Gäste empfängt.

Natürlich ist er Junggeselle, und er scheint nie in die Netze der Frauen zu geraten, die sich um ihn bemühen und ihn innig lieben. Es ist allerdings möglich – vielleicht werden Sie es in meinem Fall bemerken –, dass irgendwo in ihm eine Leere ist, eine Unzufriedenheit, ein Bedauern. Unter Umständen sogar eine leichte Perversion.

Ich glaube, mehr brauche ich nicht zu sagen. Ich bin sehr offen gewesen. Sie müssten mich jetzt gut genug kennen, um mir, wenn Sie meine Geschichte hören, Gerechtigkeit und – darf ich es hoffen? – Mitgefühl zuteil werden zu lassen. Und wer weiß, ob Sie nicht sogar zu dem Schluss kommen, dass die Schuld an dem, was geschehen ist, nicht nur mich trifft, sondern in erheblichem Maße auch eine Dame namens Gladys Ponsonby. Schließlich war sie es, die den Stein ins Rollen brachte. Hätte ich Gladys Ponsonby an jenem Abend vor etwa sechs Monaten nicht nach Hause begleitet und hätte sie nicht so offen über gewisse Leute und gewisse Dinge gesprochen, dann wäre diese tragische Geschichte nie passiert.

Es war im letzten Dezember, wenn ich mich recht erinnere. Ich hatte bei den Ashendens in ihrem bezaubernden Haus am Südrand des Regent’s Park diniert. Bis auf Gladys Ponsonby und mich waren alle Gäste – eine stattliche Anzahl – paarweise erschienen. Als wir aufbrachen, fühlte ich mich natürlich verpflichtet, Gladys meine Begleitung anzubieten. Sie nahm an, und wir fuhren zusammen in meinem Wagen fort. Vor ihrem Haus machte ich Miene, mich zu verabschieden, doch sie bestand unglücklicherweise darauf, dass ich hereinkäme und ‹noch einen auf den Weg› nähme, wie sie sich ausdrückte. Ich wollte kein Spielverderber sein, befahl also dem Chauffeur zu warten und folgte ihr.

Gladys Ponsonby ist ungewöhnlich klein – sie misst allenfalls ein Meter vierundvierzig, vielleicht sogar noch weniger. Neben solchen winzigen Leuten habe ich immer das komische, fast schwindelerregende Gefühl, auf einem Stuhl zu stehen. Gladys ist Witwe und ein bisschen jünger als ich – schätzungsweise drei- oder vierundfünfzig. Vor dreißig Jahren dürfte sie ein recht nettes Persönchen gewesen sein. Jetzt aber ist ihr Gesicht schlaff, runzlig und ohne jeglichen Reiz. Die individuellen Züge dieses Gesichts, die Augen, die Nase, der Mund, das Kinn, sind unter Fettfalten begraben, sodass man sie überhaupt nicht wahrnimmt. Bis auf den Mund vielleicht, der mich – ich kann mir nicht helfen – an ein Karpfenmaul erinnert.

Als sie mir im Wohnzimmer einen Cognac einschenkte, fiel mir auf, dass ihre Hand etwas unsicher war. Die Dame ist müde, sagte ich mir, du darfst also nicht lange bleiben. Wir setzten uns auf das Sofa und sprachen eine Weile über die Party bei den Ashendens und die Leute, die da gewesen waren. Schließlich stand ich auf.

«Setz dich wieder hin, Lionel», sagte sie. «Trink noch einen Cognac.»

«Nein, ich muss gehen. Wirklich.»

«Setz dich hin und rede kein dummes Zeug. Ich jedenfalls trinke noch einen, und du kannst mir wenigstens Gesellschaft dabei leisten.»

Ich beobachtete Gladys, diese winzige Frau, die leicht schwankend auf die Anrichte zusteuerte. Sie trug das Glas in beiden Händen vor sich her, als wollte sie ein Opfer darbringen, und ihr Anblick, wie sie da ging, so unglaublich klein und gedrungen und steif, rief in mir plötzlich die alberne Vorstellung wach, ihre Beine seien oberhalb der Knie zusammengewachsen.

«Lionel, worüber amüsierst du dich so?» Sie drehte sich halb nach mir um, während sie ihr Glas füllte, und dabei verschüttete sie ein wenig Cognac.

«Über nichts, meine Liebe. Über gar nichts.»

«Dann hör auf zu grinsen und sag mir, wie dir mein neues Porträt gefällt.» Sie wies auf ein riesiges Gemälde, das über dem Kamin hing. Ich hatte mich schon die ganze Zeit bemüht, es nicht anzusehen. Diesen fürchterlichen Schinken hatte, wie ich wusste, ein Mann gemalt, der zurzeit in London sehr in Mode war, ein recht mittelmäßiger Künstler namens John Royden. Es war ein lebensgroßes Porträt von Gladys, Lady Ponsonby, und der Maler hatte mit einer gewissen technischen Raffinesse den Eindruck erweckt, sie sei ein schlankes, hochgewachsenes und überaus reizvolles Geschöpf.

«Bezaubernd», sagte ich.

«Nicht wahr? Ich bin so froh, dass du es magst.»

«Wirklich entzückend.»

«Ich halte John Royden für ein Genie. Findest du nicht auch, dass er ein Genie ist, Lionel?»

«Hm – das geht vielleicht ein bisschen zu weit.»

«Du meinst, man könnte das noch nicht so genau wissen?»

«Ganz recht.»

«Nun, mein Lieber, dann höre und staune: Royden ist jetzt so gefragt, dass er nicht im Traum daran denkt, jemanden für weniger als tausend Guineas zu malen!»

«Tatsächlich?»

«O ja! Und die Leute laufen ihm das Haus ein, laufen ihm buchstäblich das Haus ein, damit er sie malt.»

«Höchst interessant.»

«Sieh dir dagegen deinen Mr. Cézanne an, oder wie er heißt. Ich wette, der hat zeit seines Lebens nicht so viel Geld verdient.»

«Nie.»

«Und der war ein Genie?»

«Könnte man sagen – ja.»

«Dann ist Royden auch eines», entschied sie und setzte sich wieder neben mich. «Das Geld beweist es.»

Wir schwiegen eine Weile. Gladys nippte an dem Cognac, und ihre Hand zitterte dabei so stark, dass der Rand des Glases mehrmals an die Unterlippe stieß. Ich beobachtete sie, und das spürte sie wohl, denn sie blickte mich, ohne den Kopf zu wenden, misstrauisch von der Seite an. «Einen Penny für deine Gedanken.»

Wenn es eine Redewendung gibt, die ich auf den Tod nicht ausstehen kann, dann ist es diese. Sie erzeugt einen physischen Schmerz in meiner Brust, und ich fange an zu husten.

«Na los, Lionel. Einen Penny …»

Ich schüttelte den Kopf, außerstande zu antworten. Sie wandte sich mit einer jähen Bewegung ab und stellte das Cognacglas auf den kleinen Tisch zu ihrer Linken. Irgendetwas in ihrem Verhalten deutete an, dass sie sich – ich weiß nicht, warum – zurückgestoßen fühlte und nun zum Angriff rüstete. Ich wartete voller Unbehagen, aber sie schwieg, und da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, machte ich viele Umstände mit meiner Zigarre, betrachtete aufmerksam die Asche und blies den Rauch langsam gegen die Decke. Gladys rührte sich nicht. Diese Dame hatte jetzt irgendetwas an sich, was mir nicht sehr gefiel, etwas Boshaftes, Lauerndes. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte mich schleunigst empfohlen. Als sie mich endlich wieder ansah, funkelte ein listiges Lächeln in ihren kleinen, in Fett gebetteten Augen, aber der Mund – ach, genau wie das Maul eines Karpfens – blieb völlig unbewegt.

«Lionel, ich möchte dir ein Geheimnis anvertrauen.»

«Wirklich, Gladys, ich muss nach Hause.»

«Hab keine Angst, Lionel, ich werde dich nicht in Verlegenheit bringen. Du siehst auf einmal so ängstlich aus.»

«Für mich haben Geheimnisse etwas Bedrückendes.»

«Ich nahm an», sagte sie, «dass es dich interessieren würde, weil du doch so ein großer Kunstkenner bist.»

Gladys saß ganz still, nur ihre Finger bewegten sich unaufhörlich. Sie drehte sie immer wieder umeinander, sodass es aussah, als ringelten sich kleine weiße Schlangen in ihrem Schoß.

«Bist du nicht neugierig auf mein Geheimnis, Lionel?»

«Doch, doch. Aber weißt du, es ist schon so schrecklich spät …»

«Dies ist wahrscheinlich das bestgehütete Geheimnis in London. Ein weibliches Geheimnis. Alles in allem ist es nur – na, sagen wir, dreißig – oder vierzig Frauen bekannt. Und keinem einzigen Mann. Außer ihm natürlich – John Royden.»

Ich wollte sie nicht noch ermutigen, deshalb hielt ich den Mund.

«Aber zuerst musst du versprechen – versprechen, dass du es keiner Menschenseele weitererzählst.»

«Du meine Güte!»

«Versprichst du mir das, Lionel?»

«Na schön, Gladys, ich verspreche es.»

«Gut! Also hör zu, » Sie griff nach dem Cognacglas und lehnte sich in ihrer Sofaecke bequem zurück. «Du weißt doch, dass John Royden nur Frauen malt?»

«Das ist mir neu.»

«Und immer sind es Ganzporträts, entweder stehend oder sitzend – wie meines da. Sieh es dir einmal genau an, Lionel. Fällt dir nicht auf, wie schön das Kleid gemalt ist?»

«Hm …»

«Bitte, sieh es dir aus der Nähe an.»

Ich erhob mich widerwillig, ging hinüber und betrachtete das Bild. Die Farbschicht auf dem Kleid war, wie ich erstaunt feststellte, so dick, dass die Figur wie ein Basrelief wirkte. Ein Trick, recht eindrucksvoll auf seine Art, aber weder technisch schwierig noch besonders originell.

«Siehst du?», fragte sie. «Da, wo das Kleid ist, tritt die Farbe hervor, nicht wahr?»

«Ja.»

«Nun, das ist noch lange nicht alles, Lionel. Ich glaube, am besten beschreibe ich dir einfach, wie es war, als ich ihm zum ersten Mal Modell saß.»

Mein Gott, was für eine langweilige Person, dachte ich. Wie komme ich hier bloß weg?

«Vor etwa einem Jahr – oh, ich weiß noch, wie aufgeregt ich war – verabredete ich mit dem großen Maler eine Sitzung in seinem Atelier. Ich zog mir ein wunderbares neues Kleid an, das ich gerade von Norman Hartnell bekommen hatte, setzte ein süßes rotes Hütchen auf und machte mich auf den Weg. Mr. Royden empfing mich in einer schwarzen Samtjacke, und natürlich war ich sofort von ihm fasziniert. Er hatte einen kleinen Spitzbart und aufregend blaue Augen. Das Atelier war riesengroß, mit roten Samtsofas, Samtsesseln, Samtvorhängen – er liebt Samt – und sogar einem Samtteppich auf dem Fußboden. Mr. Royden bat mich, Platz zu nehmen, gab mir etwas zu trinken und kam sogleich zur Sache. Er erklärte mir, dass er ganz anders male als andere Künstler. Seiner Meinung nach, sagte er, gebe es nur eine Art, den Körper einer Frau wirklich vollendet zu malen, aber ich dürfe nicht schockiert sein, wenn ich hörte, was es sei.

‹Ich glaube nicht, dass ich schockiert sein werde, Mr. Royden›, erwiderte ich.

‹Sie werden mich gewiss richtig verstehen›, meinte er. Seine Zähne waren phantastisch weiß, und wenn er lächelte, schimmerten sie sozusagen durch den Bart. ‹Sehen Sie, es ist so›, fuhr er fort. ‹Bei jedem beliebigen Frauenbildnis, ganz gleich, von wem es stammt, werden Sie feststellen, dass die Figur des Modells, so gut das Kleid auch gemalt sein mag, immer etwas Künstliches, Flaches hat, als wäre das Kleid über einem Holzklotz drapiert. Und wissen Sie, warum?›

‹Nein, Mr. Royden.›

‹Weil der Maler nicht wusste, was darunter war.›»

Gladys Ponsonby hielt inne, um einen Schluck Cognac zu trinken. «Mach nicht so ein entsetztes Gesicht, Lionel», wies sie mich zurecht. «Das ist doch alles ganz harmlos. Sei still und lass mich zu Ende erzählen. Ja, und dann sagte Mr. Royden: ‹Deshalb bestehe ich darauf, meine Modelle zuerst als Akt zu malen.›

‹Du lieber Himmel, Mr. Royden!› rief ich.

‹Sollten Sie etwas dagegen haben, Lady Ponsonby, so bin ich zu einer kleinen Konzession bereit, versicherte er. ‹Aber lieber ist es mir auf die andere Art.›

‹Wirklich, Mr. Royden, ich weiß nicht …›

‹Wenn ich Sie so gemalt habe›, sprach er weiter, ‹müssen wir ein paar Wochen warten, bis die Farbe getrocknet ist. Dann sitzen Sie mir wieder Modell, diesmal in Unterwäsche. Und wenn das trocken ist, kommt das Kleid an die Reihe. Eine ganz einfache Sache, nicht wahr?›»

«Der Kerl ist ein Gauner!», rief ich empört.

«Nein, Lionel, nein, du verkennst ihn! Du hättest ihn nur hören sollen. So bezaubernd, so aufrichtig und ehrlich. Ich bin sicher, dass ihm alles, was er sagte, wirklich von Herzen kam.»

«Ein Gauner ist er, Gladys, weiter nichts!»

«Sei nicht albern, Lionel. Lass mich doch erst einmal zu Ende erzählen. Ich wandte natürlich sofort ein, dass mein Mann (der damals noch lebte) so etwas nie gestatten würde.

‹Ihr Gatte braucht das überhaupt nicht zu erfahren›, antwortete er. ‹Weshalb wollen Sie ihn damit behelligen? Niemand kennt mein Geheimnis, niemand außer den Frauen, die ich gemalt habe.›

Ich protestierte noch ein bisschen, und da sagte er: ‹Meine liebe Lady Ponsonby, daran ist wirklich nichts Unmoralisches. Kunst ist nur dann unmoralisch, wenn Stümper sie ausüben. Es ist genauso wie in der Medizin. Sie würden sich doch wohl nicht weigern, sich vor einem Arzt zu entkleiden, nicht wahr?›

Ich erwiderte, dass ich mich bestimmt weigern würde, wenn es sich um einen Ohrenarzt handelte. Darüber musste er lachen. Aber er redete mir unentwegt zu, und zwar sehr überzeugend. So gab ich denn schließlich nach, und damit hatte es sich. Jetzt kennst du also das Geheimnis, Lionel, mein Liebling.» Sie stand auf, um sich noch einen Cognac zu holen.

«Gladys, das kann doch nicht wahr sein!»

«Warum denn nicht?»

«Soll das heißen, dass er alle seine Modelle so malt?»

«Ja. Und der Witz ist, dass die Ehemänner keine Ahnung davon haben. Alles, was sie sehen, ist ein nettes, vollständig bekleidetes Porträt ihrer Frau. Natürlich sind Aktbilder nicht im Geringsten anstößig. Jeder Künstler malt so etwas. Aber unsere kindischen Ehemänner können das eben nicht verstehen.»

«Mein Gott, der Mann hat Nerven!»

«Er ist ein Genie.»

«Ich wette, er hat die Idee von Goya.»

«Unsinn, Lionel.»

«Doch, ganz bestimmt. Hör mal, Gladys, etwas würde mich noch interessieren. Hast du von dieser … dieser sonderbaren Technik gewusst, bevor du zu Royden gingst?»

Als ich die Frage stellte, wollte Gladys gerade den Cognac eingießen. Sie hielt inne, wandte den Kopf und sah mich an. Um ihre Mundwinkel spielte ein geschmeidiges kleines Lächeln. «Zum Teufel mit dir, Lionel», sagte sie. «Du bist viel zu schlau. Du lässt einem auch gar nichts durchgehen.»

«Also hast du’s gewusst?»

«Natürlich, Hermione Girdlestone hat es mir erzählt.»

«Das habe ich mir ja gleich gedacht.»

«Na und? Was ist denn dabei?»

«Nichts», versicherte ich. «Überhaupt nichts.» Jetzt war mir alles klar. Dieser Royden war wirklich ein Gauner und bediente sich des geschicktesten psychologischen Tricks, von dem ich je gehört hatte. Der Kerl wusste nur zu gut, dass es in London eine Menge reicher Nichtstuerinnen gab, die mittags erst aufstanden und sich die Zeit bis zur Cocktailstunde mit Bridge, Canasta und Einkäufen vertrieben. Alles, wonach sie verlangten, war ein bisschen Aufregung, eine kleine Sensation – je teurer, desto besser. O ja, wenn es im Atelier des Malers so unterhaltsam zuging, dann hatte sich diese Nachricht zweifellos schneller als die Pocken unter den Frauen verbreitet. Ich konnte mir gut vorstellen, wie sich die große, dicke Hermione Girdlestone über den Canasta-Tisch beugte und begeistert erzählte: «Aber, meine Liebe, es ist einfach faszinierend … Du glaubst gar nicht, wie aufregend es ist … Viel amüsanter, als wenn man zum Arzt geht …»

«Du behältst es doch für dich, Lionel, nicht wahr? Du hast es versprochen.»

«Ja, natürlich. Aber jetzt muss ich gehen, Gladys. Wirklich.»

«Sei nicht albern. Ich fange gerade an, mich wohl zu fühlen. Warte doch wenigstens, bis ich ausgetrunken habe.»

Ich blieb geduldig auf dem Sofa sitzen, während sie sich mit ihrem Cognac beschäftigte. Die kleinen, in Fett eingebetteten Augen beobachteten mich wieder in dieser boshaft lauernden Art von der Seite. Ich hatte das deutliche Gefühl, dass Gladys noch mehr unangenehme oder skandalöse Dinge in petto hatte. Ihr Blick erinnerte mich an den einer Schlange, und ihre Lippen kräuselten sich ganz eigenartig. Vielleicht war es nur Einbildung, aber ich glaubte, Gefahr zu wittern.

Und plötzlich, so unerwartet, dass ich zusammenfuhr, sagte sie: «Lionel, stimmt es, was ich über dich und Janet de Pelagia gehört habe?»

«Gladys, bitte …»

«Oh, du wirst ja ganz rot!»

«Unsinn.»

«Sieh einer an, den alten Junggesellen hat’s also doch noch erwischt.»

«Gladys, das ist zu abgeschmackt.» Ich wollte aufstehen, aber sie legte die Hand auf mein Knie und zwang mich, sitzen zu bleiben.

«Hast du noch immer nicht gelernt, dass es keine Geheimnisse gibt?»

«Janet ist einfach ein nettes Mädchen.»

«Nun, als Mädchen kann man sie wohl kaum noch bezeichnen.» Gladys Ponsonby blickte in das große Cognacglas, das sie mit beiden Händen umschlossen hielt. «Aber sie ist natürlich in jeder Beziehung ein wunderbarer Mensch, da hast du recht, Lionel. Nur», sie sprach jetzt sehr langsam, «nur, dass sie manchmal sehr merkwürdige Sachen sagt.»

«Was für Sachen?»

«Ach … eben Sachen. Über Leute, weißt du. Über dich.»

«Was hat sie über mich gesagt?»

«Nichts, Lionel. Es würde dich nicht interessieren.»

«Was hat sie über mich gesagt?»

«Wozu soll ich das wiederholen? Wirklich, es lohnt nicht. Ich war nur im ersten Augenblick etwas verblüfft, als sie es sagte.»

«Gladys, was hat sie gesagt?» Während ich auf ihre Antwort wartete, fühlte ich, wie mir am ganzen Körper der Schweiß ausbrach.

«Hm, ja, lass mich mal überlegen. Natürlich war es nur ein Scherz von ihr, sonst würde ich ja nie mit dir darüber reden, aber ich glaube, sie hat gesagt, dass sie es ein bisschen langweilig findet …»

«Was?»

«Fast jeden Abend mit dir zum Dinner auszugehen – oder so ähnlich.»

«Sie findet das langweilig?»

«Ja.» Gladys Ponsonby leerte das Cognacglas mit einem letzten großen Schluck und richtete sich auf. «Wenn du es genau wissen willst, sie sagte, es sei stinklangweilig. Und dann …»

«Und dann?»

«Hör mal, Lionel, du brauchst dich wirklich nicht so aufzuregen. Ich erzähle es dir nur, damit du weißt, woran du bist.»

«Los, los, sprich doch schon.»

«Ja, das war so. Wir haben heute Nachmittag Canasta gespielt, und als ich Janet fragte, ob sie morgen Zeit hätte, bei mir zu essen, sagte sie nein.»

«Weiter.»

«Nun – eigentlich hat sie gesagt: ‹Ich bin schon mit diesem stinklangweiligen alten Lionel Lampson verabredet.›»

«Das hat Janet gesagt?»

«Ja, Liebling.»

«Was sonst noch?»

«Ach, das genügt wohl. Mit dem Rest möchte ich dich lieber verschonen.»

«Ich will alles hören!»

«Bitte, Lionel, schrei mich nicht an. Natürlich erzähle ich es dir, wenn du darauf bestehst. Ja, vielleicht bin ich es sogar unserer Freundschaft schuldig, dir nichts zu verschweigen. Meinst du nicht auch, dass es ein Zeichen echter Freundschaft ist, wenn zwei Menschen wie wir …»

«Gladys! Komm bitte zur Sache.»

«Mein Gott, lass mir doch Zeit zum Nachdenken. Wie war denn das gleich …? Ja, soweit ich mich erinnere, sagte sie wörtlich folgendes …» Und Gladys Ponsonby, aufrecht auf dem Sofa sitzend, ohne dass ihre Füße den Boden berührten, den Blick jetzt nicht mehr auf mich, sondern auf die Wand geheftet, ahmte geschickt die klangvolle Altstimme nach, die ich so gut kannte. «So ein Langweiler, meine Liebe! Man weiß ja bei Lionel immer genau, wie sich der Abend abspielen wird. Zum Dinner gehen wir in den Savoy Grill – es ist immer der Savoy Grill –, und dann muss ich zwei Stunden lang zuhören, wie dieser aufgeblasene alte … ich meine, wie er mir Vorträge über Bilder und Porzellan hält – immer Bilder und Porzellan. Später, im Taxi, greift er nach meiner Hand und rückt so dicht an mich heran, dass mir eine Wolke von kaltem Zigarrenrauch und Cognacdunst ins Gesicht schlägt. Dann fängt er an herumzulamentieren, wie sehr, ach, wie sehr er wünschte, zwanzig Jahre jünger zu sein. Und ich sage: ‹Könntest du wohl das Fenster ein bisschen herunterlassen?› Wenn wir dann vor meinem Haus halten, bitte ich ihn, im Taxi zu bleiben, aber er tut so, als hätte er nicht gehört, und drückt dem Fahrer rasch das Geld in die Hand. An der Haustür steht er mit so einem blöden Spanielblick neben mir, während ich in der Handtasche nach meinem Schlüssel suche, und wenn ich den Schlüssel gefunden habe, stecke ich ihn langsam ins Schloss, drehe ihn langsam um, und dann – sehr schnell, bevor Lionel Zeit hat, eine Bewegung zu machen – sage ich gute Nacht, schlüpfe hinein und schlage die Tür hinter mir zu …› Oh, Lionel, was hast du denn, mein Lieber? Du siehst so schlecht aus …»

Hier muss ich wohl ohnmächtig geworden sein, denn alles, was sonst noch in dieser schrecklichen Nacht geschah, ist wie ausgelöscht. Ich habe nur den vagen und beunruhigenden Verdacht, dass ich, als ich wieder zu mir kam, völlig zusammenbrach und Gladys Ponsonby gestattete, mich auf jede erdenkliche Weise zu trösten. Später ging ich wohl fort, aber ich kann mich an nichts erinnern; ich weiß nur, dass ich am nächsten Morgen in meinem Bett erwachte.

Ich fühlte mich sehr schwach, sehr angegriffen. Unfähig, mich zu rühren, blieb ich mit geschlossenen Augen liegen und versuchte, die Ereignisse des Vorabends zu rekonstruieren – Gladys Ponsonbys Wohnzimmer, Gladys, die auf dem Sofa saß und unentwegt Cognac trank, ihr kleines, runzliges Gesicht, der Mund, der einem Karpfenmaul glich, die Dinge, die sie gesagt hatte … Worüber hatte sie doch gesprochen? Ach ja. Über mich. Mein Gott, ja! Über Janet und mich! Diese unvorstellbar empörenden Bemerkungen! Hatte Janet sie wirklich gemacht? Konnte sie mir das angetan haben?

Ich erinnere mich, mit welcher erschreckenden Schnelligkeit der Hass auf Janet de Pelagia von mir Besitz ergriff. Jäh und heftig wallte er auf, und schon war ich derart von ihm erfüllt, dass ich dachte, ich würde platzen. Er ließ sich nicht verdrängen, dieser Hass, er brannte in mir wie ein Fieber, und ich, nicht anders als ein gemeiner Gangster, sann in rasender Wut auf Rache.

Ein seltsames Benehmen für einen Mann wie mich, werden Sie sagen. Darauf kann ich nur erwidern: Nein, eigentlich nicht, wenn man die Umstände bedenkt. Das, was mir geschehen war, gehört meiner Meinung nach zu den Dingen, die einen Menschen zum Mord treiben können. Und hätte mich nicht mein leichter, ganz leichter Hang zum Sadismus bewogen, nach einer subtileren und empfindlicheren Strafe für mein Opfer zu suchen, so wäre ich vielleicht wirklich zum Mörder geworden. Aber ich fand, ein bloßer Mord sei zu gut für diese Frau, ganz abgesehen davon, dass er für meinen Geschmack viel zu roh war. Ich beschloss also, eine originellere Methode zu ersinnen.

Von Natur aus neige ich nicht zum Intrigieren. Ich halte das für eine abscheuliche Unsitte und habe darin nicht die geringste Übung. Aber Wut und Hass können den Geist eines Menschen in erstaunlichem Maße umstimmen. Schon bald hatte ich einen Plan gefasst und entwickelt – einen Plan, der so raffiniert und erregend war, dass ich die Einzelheiten mit wachsender Begeisterung ausarbeitete. Schließlich, nachdem ich mich noch über ein, zwei unbedeutende Einwände hinweggesetzt hatte, war meine verbohrte, rachsüchtige Stimmung völlig einem Gefühl triumphierender Freude gewichen. Ich erinnere mich, dass ich wie ein Idiot im Bett auf und ab hüpfte und in die Hände klatschte. Gleich darauf hatte ich das Telefonbuch auf dem Schoß und suchte fieberhaft einen bestimmten Namen. Ich fand ihn, nahm den Hörer ab und wählte die Nummer.

«Hallo», sagte ich. «Mr. Royden? Mr. John Royden?»

«Am Apparat.»

Nun, es war nicht schwer, den Mann zu überreden, dass er mir einen kurzen Besuch abstattete. Wir waren einander noch nie begegnet, aber natürlich kannte er mich dem Namen nach als Besitzer einer großen Gemäldesammlung und als geachtetes Mitglied der Gesellschaft, und er glaubte zweifellos, einen dicken Hecht an der Angel zu haben.

«Lassen Sie mich sehen, Mr. Lampson», sagte er. «Ja, in etwa zwei Stunden könnte ich kommen. Passt es Ihnen dann?»

Das sei mir sehr recht, erwiderte ich, gab ihm meine Adresse und legte auf.

Ich sprang aus dem Bett. Es war erstaunlich, wie frisch und munter ich mich plötzlich fühlte. Eben noch hatte ich mich tief verzweifelt mit Mord- und Selbstmordgedanken herumgeschlagen, und jetzt pfiff ich in der Badewanne eine Arie von Puccini. Immer wieder ertappte ich mich dabei, dass ich mir mit teuflischem Grinsen die Hände rieb, und als ich während der Morgengymnastik bei einer Kniebeuge das Gleichgewicht verlor, blieb ich auf dem Fußboden sitzen und kicherte wie ein Schuljunge.

Zur verabredeten Zeit wurde Mr. Royden in meine Bibliothek geführt. Ich erhob mich, um ihn zu begrüßen. Der Maler war ein zierlicher kleiner Mann mit einem rötlichen Spitzbart. Er trug eine schwarze Samtjacke, eine rostbraune Krawatte, einen roten Pullover und schwarze Wildlederschuhe. Ich schüttelte seine zierliche kleine Hand.

«Nett von Ihnen, dass Sie so schnell gekommen sind, Mr. Royden.»

«Aber ich bitte Sie, Sir.» Seine Lippen – wie die Lippen fast aller bärtigen Männer – schimmerten so rot zwischen all dem Haar, dass sie feucht, nackt und ein bisschen obszön wirkten. Nachdem ich ihm noch einmal versichert hatte, wie sehr ich seine Bilder bewunderte, kam ich zur Sache.

«Mr. Royden», sagte ich, «mein Anliegen an Sie ist etwas ungewöhnlich und durchaus privater Natur.»

«Ja, Mr. Lampson?» Er saß mir gegenüber im Sessel und neigte den Kopf mit einem Ruck zur Seite, flink und keck wie ein Vogel.

«Ich verlasse mich natürlich darauf, dass Sie alles, was ich sage, mit äußerster Diskretion behandeln.»

«Selbstverständlich, Mr. Lampson.»

«Gut. Die Sache ist die: Es gibt hier in London eine Dame, deren Porträt ich gern von Ihnen malen lassen möchte. Ich wünschte nichts sehnlicher, als ein schönes Bild von ihr zu besitzen. Aber das ist etwas schwierig. Aus bestimmten Gründen lege ich nämlich keinen Wert darauf, dass sie erfährt, wer das Bild in Auftrag gegeben hat.»

«Sie meinen …»

«Genau, Mr. Royden. Genau das meine ich. Sie, ein Mann von Welt, werden mich gewiss verstehen.»

Sein falsches kleines Lächeln drang eben noch durch den Bart, als er zustimmend nickte.

«Ist es nicht denkbar», fuhr ich fort, «dass ein Mann – wie soll ich mich ausdrücken? – für eine Dame entflammt ist, jedoch gute Gründe hat, sie das nicht wissen zu lassen?»

«Aber ja, Mr. Lampson.»

«Wer auf Beute ausgeht, muss sich oft langsam heranpirschen und geduldig warten, bis der rechte Augenblick kommt.»

«Sehr richtig, Mr. Lampson.»

«Es gibt bessere Möglichkeiten, einen Vogel zu fangen, als ihn durch die Wälder zu jagen.»

«Allerdings, Mr. Lampson.»

«Beispielsweise indem man ihm Salz auf den Schwanz streut.»

«Haha!»

«Gut, Mr. Royden. Ich denke, wir verstehen uns. Nun – kennen Sie zufällig eine Dame namens Janet de Pelagia?»

«Janet de Pelagia? Warten Sie – ja. Das heißt, ich habe von ihr gehört. Eigentlich kenne ich sie also nicht.»

«Schade. Das erschwert die Sache ein wenig. Glauben Sie, dass Sie ihre Bekanntschaft machen können – vielleicht bei einer Cocktailparty oder so?»

«Das lässt sich bestimmt arrangieren, Mr. Lampson.»

«Gut. Dann schlage ich Ihnen Folgendes vor: Sie erzählen ihr, sie sei genau das Modell, nach dem Sie seit Jahren suchen – das richtige Gesicht, die richtige Figur, die richtige Augenfarbe und so weiter. Daran knüpfen Sie die Frage, ob sie Ihnen unentgeltlich Modell stehen würde. Sagen Sie ihr, Sie wollten ihr Porträt für die nächste Ausstellung der Akademie haben. Ich bin sicher, sie wird Ihnen gern helfen und sich sogar sehr geehrt fühlen. Sie malen also das Bild, stellen es aus, und wenn es von der Akademie zurückkommt, geht es in meinen Besitz über. Außer Ihnen braucht niemand zu erfahren, dass ich es gekauft habe.»

Mr. John Royden hatte den Kopf wieder zur Seite geneigt, und seine kleinen runden Augen beobachteten mich scharf. Er hockte auf dem Rand des Sessels, und in dieser Haltung erinnerte er mich mit seinem roten Pullover an ein Rotkehlchen, das auf einem Zweig sitzt und auf ein verdächtiges Geräusch lauscht.

«Die Sache ist völlig in Ordnung», versicherte ich ihm. «Betrachten Sie das Ganze, wenn Sie wollen, als eine harmlose kleine Verschwörung, angezettelt von einem … nun … von einem recht romantischen alten Mann.»

«Ich weiß, Mr. Lampson, ich weiß …» Er schien noch immer zu zögern, deshalb sagte ich rasch: «Ich zahle Ihnen natürlich das Doppelte von dem, was Sie üblicherweise berechnen.»

Das gab den Ausschlag. Der Mann leckte sich buchstäblich die Lippen. «Wissen Sie, Mr. Lampson, eigentlich lasse ich mich nicht gern auf so etwas ein. Aber es wäre doch wirklich sehr herzlos, wenn ich einen – ja, wie soll ich sagen? – einen so romantischen Auftrag ablehnen wollte.»

«Ich habe an ein Ganzporträt gedacht, Mr. Royden. Und das Format – nun, vielleicht doppelt so groß wie der Manet dort an der Wand.»

«Etwa hundertfünfzig mal neunzig?»

«Ja. Und ich hätte sie gern stehend. Meiner Meinung nach ist das ihre anmutigste Haltung.»

«Ganz wie Sie wünschen, Mr. Lampson. Es wird mir ein Vergnügen sein, eine so reizende Dame zu malen.»

Davon bin ich überzeugt, dachte ich. Bei deiner Methode, mein Junge, wundert mich das kein bisschen. Laut aber sagte ich: «Sehr schön, Mr. Royden. Alles Weitere überlasse ich Ihnen. Und bitte vergessen Sie nicht – dies ist ein kleines Geheimnis zwischen uns beiden.»

Als er gegangen war, zwang ich mich, still sitzen zu bleiben und fünfundzwanzig tiefe Atemzüge zu machen, obgleich ich am liebsten einen Freudentanz aufgeführt und wilde Jubelschreie ausgestoßen hätte. Noch nie in meinem Leben war ich in einer solchen Hochstimmung gewesen. Ich hatte erreicht, was ich wollte! Der schwierigste Teil meines Plans war bereits verwirklicht. Jetzt musste ich erst einmal warten, lange warten. Bei der Malweise dieses Mannes würde es einige Monate dauern, bis er das Bild fertig hatte. Nun, ich brauchte nur Geduld zu haben, das war alles.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, beschloss ich, in der Zwischenzeit zu verreisen. Ich schrieb an Janet (mit der ich, wie Sie sich erinnern werden, an jenem Abend zum Dinner verabredet war), teilte ihr mit, dass ich leider absagen müsse, packte meine Koffer und fuhr schon am nächsten Morgen nach Italien.

Ich verbrachte dort, wie immer, eine herrliche Zeit, und nur meine ständige nervöse Erregung, hervorgerufen durch den Gedanken an das, was mich in London erwartete, beeinträchtigte diesen Genuss.

Vier Monate später, im Juli – tags zuvor war die Ausstellung in der Akademie eröffnet worden –, kehrte ich nach London zurück und hörte zu meiner Erleichterung, dass während meiner Abwesenheit alles planmäßig verlaufen war. Das Porträt von Janet de Pelagia war fertig, hing in der Ausstellung und fand bereits bei der Kritik wie auch beim Publikum großen Anklang. Ich selbst verzichtete darauf, es zu besichtigen. Royden sagte mir am Telefon, er habe mehrere Anfragen von Leuten, die es kaufen wollten, mit dem Hinweis beantwortet, dass es unverkäuflich sei. Als die Ausstellung vorüber war, lieferte Royden das Bild bei mir ab und bekam sein Geld.

Ich ließ das Porträt sofort in mein Arbeitszimmer tragen und machte mich nicht ohne Herzklopfen daran, es genau zu betrachten. Janet stand in einem schwarzen Abendkleid vor einem roten Plüschsofa. Ihre linke Hand ruhte auf der Rückenlehne eines schweren, ebenfalls mit rotem Plüsch bezogenen Sessels, und von der Decke hing ein riesiger Kronleuchter.

Mein Gott, dachte ich, geschmackloser ging es wohl nicht! Das Porträt selbst war gar nicht so übel. Royden hatte den Gesichtsausdruck der Frau recht gut getroffen – den leicht gesenkten Kopf, die großen blauen Augen, den breiten, hässlich-schönen Mund mit der Andeutung eines Lächelns. Natürlich hatte er ihr geschmeichelt. Kein Fältchen auf der Stirn, keine Spur von Fett unter dem Kinn. Ich beugte mich vor, um das Kleid in Augenschein zu nehmen. Ja – hier war die Farbschicht dicker, viel dicker. Außerstande, auch nur eine Sekunde länger zu warten, warf ich mein Jackett ab und ging ans Werk.

Hier muss ich erwähnen, dass ich Fachmann im Reinigen und Restaurieren von Gemälden bin. Was das Reinigen betrifft, so ist das nicht weiter schwer, wenn man Geduld und eine leichte Hand hat. Mit diesen Berufsrestauratoren, die so ein Geheimnis aus ihrem Metier machen und solche gepfefferten Preise verlangen, habe ich nichts im Sinn. An meine Bilder lasse ich keinen Fremden heran.

Ich goss Terpentin in eine Schale und fügte ein paar Tropfen Alkohol hinzu. Dann tauchte ich einen Wattebausch in die Mischung, drückte ihn aus und begann behutsam, ganz behutsam mit kreisenden Bewegungen über die schwarze Farbe des Kleides zu wischen. Ich konnte nur hoffen, dass Royden jede neue Farbschicht erst dann aufgetragen hatte, wenn die untere völlig trocken war; sonst würden beide zusammenfließen, und damit wäre mein Vorhaben misslungen. Bald würde ich es wissen. Ich arbeitete auf etwa zwei Quadratzentimetern des schwarzen Kleides am Bauch der Dame und ließ mir viel Zeit. Immer wieder prüfte ich vorsichtig die Farbe, raute sie leicht auf, goss ein, zwei Tropfen Alkohol in die Schale, prüfte von neuem, fügte noch einen Tropfen hinzu, bis die Mischung gerade stark genug war, die Farbe zu lösen.

Ich arbeitete etwa eine Stunde an diesem kleinen schwarzen Viereck. Je näher ich der darunterliegenden Schicht kam, desto behutsamer ging ich vor. Schließlich erschien ein winziger rosa Punkt, der sich allmählich vergrößerte, bis die ganze Stelle in leuchtendem Rosa schimmerte. Schnell neutralisierte ich mit reinem Terpentinöl.

Gut und schön. Ich wusste nun, dass ich die schwarze Farbe abtragen konnte, ohne die untere Schicht zu beschädigen. Mit Fleiß und Geduld musste es mir gelingen, alles zu entfernen. Terpentin und Alkohol waren im richtigen Verhältnis gemischt, ich hatte herausgefunden, wie hart ich reiben durfte, und ich nahm an, dass ich jetzt viel schneller vorankommen würde.

Im Grunde war es eine recht amüsante Beschäftigung. Ich arbeitete mich zunächst von Janets Körpermitte nach unten vor, und in dem Maße, wie ihr Rock an meinen Wattebäuschen haften blieb, wurde ein merkwürdiges rosa Wäschestück sichtbar. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie das Ding hieß, aber jedenfalls war es ein fürchterlicher Apparat, anscheinend aus einem festen elastischen Material gefertigt und offensichtlich zu dem Zweck konstruiert, die gerundeten Hüften der Frau in eine nette Stromlinienform zu pressen, sodass der völlig falsche Eindruck mädchenhafter Schlankheit entstand. Als ich noch weiter nach unten ging, stieß ich auf eine imposante Garnitur ebenfalls rosafarbener Strumpfhalter, die an der elastischen Rüstung befestigt waren und sich acht bis zehn Zentimeter tiefer in die Strumpfränder krallten.

Eine tolle Konstruktion, stellte ich fest, als ich einen Schritt zurücktrat, um sie im Ganzen zu betrachten. Ich fühlte mich irgendwie als Opfer eines Betrugs, denn hatte ich nicht monatelang die anmutig schlanke Figur der Dame bewundert? Sie war eine Schwindlerin, wie ich nun klar erkannte. Ich fragte mich nur, ob auch andere Frauen solche Tricks anwandten. Natürlich wusste ich, dass es in der Zeit der Korsetts und der Fischbeinpanzer allgemein üblich war, sich einzuschnüren; aber aus irgendwelchen Gründen hatte ich mir eingebildet, dass die modernen Frauen nur noch Diät zu halten brauchten.

Als ich die untere Hälfte des Kleides abgetragen hatte, wandte ich mich sofort dem oberen Teil zu. Von der Taille der Dame ausgehend, drang ich langsam zur Brust vor. In der Gegend des Zwerchfells legte ich einen Streifen nackten Fleisches frei; weiter oben stieß ich auf eine Vorrichtung, die den Busen enthielt. Sie war aus irgendeinem schweren schwarzen Stoff gefertigt und mit gekräuselten Spitzen besetzt. Dies war, wie ich sehr wohl wusste, der Büstenhalter – auch so ein fürchterlicher Apparat, dessen schwarze Träger geschickt und exakt wie die Haltekabel einer Hängebrücke montiert waren.

Du meine Güte, dachte ich. Man lernt doch nie aus.

Endlich war die Arbeit beendet, und ich trat wieder zurück, um das Bild auf mich wirken zu lassen. Es war ein verblüffender Anblick! Diese Frau, Janet de Pelagia, beinahe lebensgroß, stand in ihrer Unterwäsche mitten in einem Salon (oder was es nun war), einen großen Kronleuchter über sich, einen roten Plüschsessel neben sich. Und sie selbst – das war das Beunruhigendste – sah völlig unbeteiligt aus mit ihren großen, sanften blauen Augen und dem leicht lächelnden, hässlich-schönen Mund. Obendrein bemerkte ich mit einigem Entsetzen, dass sie O-Beine wie ein Jockey hatte. Offen gesagt, die ganze Sache war mir peinlich. Ich hatte das Gefühl, ich sei nicht berechtigt, sie anzustarren. So ging ich denn nach einer Weile hinaus und schloss die Tür hinter mir. Es schien das Einzige zu sein, was ich als wohlerzogener Mensch tun konnte.

Nun zum letzten und entscheidenden Schritt! Glauben Sie ja nicht, dass mein Rachedurst, nur weil ich nicht mehr davon gesprochen habe, im Laufe der Zeit abgenommen hätte. Im Gegenteil, er war eher noch gewachsen. Und nun, da der letzte Akt über die Bühne gehen sollte, hatte ich die größte Mühe, meine Ungeduld zu zügeln. Um schneller ans Ziel zu kommen, opferte ich sogar meinen Schlaf.

Wissen Sie, ich brannte darauf, die Einladungen zu verschicken. Ich saß die ganze Nacht am Schreibtisch, verfasste die Briefe und adressierte die Umschläge. Es waren insgesamt zweiundzwanzig, und jede Einladung sollte eine persönliche Note haben. ‹Am Freitag, dem zweiundzwangzigsten, gebe ich ein kleines Dinner. Ich hoffe sehr, dass Sie kommen können. Es wäre mir eine so große Freude, Sie wiederzusehen …›

Die erste, die am sorgfältigsten formulierte Einladung ging an Janet de Pelagia. Ich bedauerte darin, sie so lange nicht gesehen zu haben … Ich sei im Ausland gewesen … Nun aber müssten wir doch endlich … und so weiter und so fort. Im gleichen Sinne schrieb ich an Gladys Ponsonby, Lady Hermione Girdlestone, Prinzessin Bicheno, Mrs. Cudbird, Sir Hubert Kaul, Mrs. Galbally, Peter Euan-Thomas, James Pisker, Sir Eustace Piegrome, Peter van Santen, Elizabeth Moynihan, Lord Mulherrin, Bertram Sturt, Philip Cornelius, Jack Hill, Lady Akeman, Mrs. Icely, Humphrey King-Howard, Johnny O’Coffey, Mrs. Uvary und die Herzoginwitwe von Waxworth.

Es war eine geschickt zusammengestellte Liste, in der die distinguiertesten Männer und die einflussreichsten Frauen der Creme unserer Gesellschaft vertreten waren.

Ich wusste sehr gut, dass ein Abendessen in meinem Haus als ein festliches Ereignis galt, an dem jeder gern teilnehmen würde. Während meine Feder über das Papier glitt, malte ich mir aus, wie die Damen, wenn sie die Einladung auf ihrem Frühstückstablett fanden, freudig erregt den Hörer vom Telefon neben dem Bett abnahmen und wie eine schrille Stimme mit einer noch schrilleren sprach: «Lionel gibt eine Party … Hat er dich auch eingeladen? … Meine Liebe, wie schön … Sein Essen ist immer so gut … Und so ein reizender Mann, nicht wahr?»

Aber würden sie das wirklich sagen? Plötzlich kam mir der Gedanke, dass ihre Bemerkungen auch ganz anders klingen könnten. Etwa so: «Gewiss, gewiss, meine Liebe, er ist gar nicht so übel, der alte Lionel … Nur eben ein bisschen langweilig, findest du nicht? … Wie bitte? … Fade? O ja, entsetzlich fade, meine Liebe. Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen … Weißt du, was Janet de Pelagia einmal von ihm gesagt hat? … Aha, ich dachte mir schon, dass du es gehört hast … Zum Schreien komisch, nicht wahr? … Die arme Janet … Wie sie es so lange ausgehalten hat, ist mir wirklich ein Rätsel …»

Jedenfalls verschickte ich die Einladungen, und nach einigen Tagen hatten alle – ausgenommen Mrs. Cudbird und Sir Hubert Kaul, die beide verreist waren – mit Vergnügen zugesagt.

Am Abend des zweiundzwanzigsten um halb neun war mein großer Salon voller Menschen. Sie standen herum, bewunderten die Bilder, tranken Martini und unterhielten sich mit lauter Stimme. Die Frauen rochen stark nach Parfum, die Männer hatten rosige Gesichter und steckten in stramm sitzenden Smokings. Janet de Pelagia trug dasselbe schwarze Kleid wie auf dem Bild, und sooft mein Blick auf sie fiel, sah ich (wie auf diesen albernen Witzzeichnungen) eine Blase über meinen Kopf schweben und darin Janet in ihrem schwarzen Büstenhalter, der Konstruktion aus rosa Gummigewebe, den Strumpfhaltern und mit den Jockeybeinen.

Ich ging von Gruppe zu Gruppe, plauderte freundlich mit meinen Gästen und fing dabei so manchen Gesprächsfetzen auf. Mrs. Galbally zum Beispiel erzählte Sir Eustace Piegrome und James Pisker von einem Mann, der gestern Abend im Claridge am Nebentisch gesessen hatte und dessen weißer Schnurrbart voll roter Lippenstiftflecke gewesen war. «Über und über beschmiert», wiederholte sie mehrmals. «Und der alte Knabe war mindestens neunzig …» In einer anderen Ecke verbreitete sich Lady Girdlestone über Trüffeln, in Cognac gekocht, und Mrs. Icely flüsterte, wie ich bemerkte, Lord Mulherrin etwas zu, während Seine Lordschaft, einem alten, kraftlosen Metronom nicht unähnlich, den Kopf langsam hin- und herpendeln ließ.

Dann wurde zum Essen gebeten, und wir gingen ins Speisezimmer hinüber.

«Du meine Güte!», riefen sie, als sie eintraten.

«Wie dunkel und unheimlich!»

«Ich kann kaum etwas sehen!»

«Was für entzückende kleine Kerzen!»

«O Lionel, wie romantisch!»

In der Mitte der langen Tafel brannten Kerzen, sechs dünne Kerzen, jeweils sechzig Zentimeter voneinander entfernt. Die kleinen Flammen verbreiteten auf dem Tisch ein schwaches Licht, ließen jedoch den übrigen Raum im Dunkeln. Es war ein reizendes Arrangement, und abgesehen von der Tatsache, dass es meinem Vorhaben zustatten kam, stellte es eine nette Abwechslung dar. Die Gäste hatten bald ihre Plätze gefunden, und das Mahl begann.

Alle schienen sich über das Kerzenlicht zu freuen, und die Stimmung war ausgezeichnet. Merkwürdigerweise sprach jeder wegen der Dunkelheit lauter als gewöhnlich. Janet de Pelagias Stimme fiel mir besonders unangenehm auf. Sie saß neben Lord Mulherrin, und ich hörte, wie sie ihm von dem langweiligen Wochenende erzählte, das sie auf Cap Ferrat verbracht hatte. «Nichts als Franzosen», sagte sie immer wieder. «Weit und breit nichts als Franzosen …»

Ich beobachtete die Kerzen. Sie waren sehr dünn, und ich wusste, dass sie schnell herunterbrennen würden. Ich war, wie ich zugeben muss, recht nervös, zugleich aber fast trunken vor Heiterkeit und freudiger Erwartung. Jedes Mal, wenn ich Janets Stimme hörte oder im Kerzenlicht ihr von Schatten überspieltes Gesicht erblickte, zerbarst vor Aufregung ein kleiner Feuerball in meinem Innern, und ich fühlte, wie sich die Glut unter meiner Haut ausbreitete.

Endlich – die Erdbeeren waren gerade serviert worden – hielt ich die Zeit für gekommen. Ich holte tief Luft und sagte mit lauter Stimme: «Leider werden wir jetzt wohl Licht machen müssen. Die Kerzen sind fast abgebrannt. Mary», rief ich dem Dienstmädchen zu. «Ach, Mary, drehen Sie bitte das Licht an, ja?»

In dem Schweigen, das meiner Ankündigung folgte, hörte ich das Mädchen zur Tür gehen. Ein leises Klicken des Schalters, und der Raum war in strahlendes Licht getaucht. Alle schlossen die Augen, öffneten sie wieder und schauten um sich.

Ich beeilte mich, von meinem Stuhl aufzustehen und das Zimmer unauffällig zu verlassen; aber als ich hinausging, wurde mir ein Anblick zuteil, den ich mein Leben lang nicht vergessen werde: Janet, die mit erhobenen Händen wie gelähmt dasaß, mitten in der Bewegung erstarrt, in einer Geste, die vermutlich jemandem auf der anderen Tischseite gegolten hatte. Ihr Mund war weit geöffnet, und sie hatte den überraschten, verständnislosen Blick eines Menschen, der vor genau einer Sekunde von einer Kugel ins Herz getroffen wurde.

In der Diele blieb ich stehen und lauschte. Drinnen brach jetzt der Tumult los: schrille Schreie der Damen, empörte, ungläubige Ausrufe der Männer. Alle redeten durcheinander, sodass die Stimmen zu einem lauten Summen verschmolzen. Dann – und das war für mich der schönste Augenblick – hörte ich Lord Mulherrin über den Lärm hinweg brüllen: «Hierher! Schnell, schnell! Geben Sie ihr rasch etwas Wasser!»

Draußen auf der Straße half mir der Chauffeur in den Wagen. Bald waren wir aus London heraus und rollten fröhlich über die Great North Road zu diesem, meinem anderen Haus, das nur hundertfünfzig Kilometer von der Stadt entfernt liegt.

Die nächsten beiden Tage standen im Zeichen der Schadenfreude. Ich ging wie im Traum umher, verzückt, in Selbstgefälligkeit schwelgend und von einem so starken Glücksempfinden erfüllt, dass ich es bis in die Zehen hinein spürte. Erst heute Morgen, als Gladys Ponsonby anrief, kam ich plötzlich zu mir und erkannte, dass ich kein Held, sondern ein Ausgestoßener bin. Sie teilte mir mit – nicht ohne Behagen, wie mir schien –, dass jeder über mich aufgebracht sei, dass alle meine lieben alten Freunde die schrecklichsten Dinge über mich sagten und geschworen hätten, nie mehr ein Wort mit mir zu sprechen. Ausgenommen natürlich sie selbst, wie sie immer wieder betonte. Alle, nur sie, Gladys Ponsonby, nicht. Und sie fragte, ob ich nicht glaubte, dass es sehr nett werden könnte, wenn sie ein paar Tage zu mir käme, um mich aufzumuntern.

Leider hatte sie mich inzwischen so aus der Fassung gebracht, dass ich nicht einmal imstande war, ihr höflich zu antworten. Ich legte auf und ging fort, um zu weinen.

Und heute Mittag kam der letzte, vernichtende Schlag. Die Post brachte mir einen Brief – ich schäme mich so, dass ich mich kaum überwinden kann, es niederzuschreiben –, einen unvorstellbar reizenden, zärtlichen kleinen Brief, und von wem? Von niemand anderem als Janet de Pelagia. Sie verzeihe mir alles, was ich ihr angetan hätte, schrieb sie. Es sei ja nur ein Scherz gewesen, das wisse sie, und ich solle mir nichts daraus machen, dass die anderen Leute so schlecht über mich redeten. Sie liebe mich wie eh und je, und sie werde mich bis an ihr Lebensende lieben.

Ach, wie gemein, wie viehisch kam ich mir vor, als ich das las! Umso mehr, als ich entdeckte, dass sie mir mit gleicher Post als zusätzliches Zeichen ihrer Liebe ein kleines Geschenk übersandt hatte – ein Halbpfundglas mit frischem Kaviar, meinem Lieblingsgericht.

Ich habe eine Schwäche für guten Kaviar, eine so große Schwäche, dass ich ihm einfach nicht widerstehen kann. Natürlich hatte ich heute Abend überhaupt keinen Appetit, aber selbst das hinderte mich nicht, ein paar Löffel davon zu essen – ein kleiner Trost in meinem Elend. Es ist sogar möglich, dass ich ein bisschen zu viel gegessen habe, denn seit ungefähr einer Stunde fühle ich mich nicht allzu gut. Vielleicht sollte ich aufstehen und mir etwas Natron holen. Ich kann ja später weiterschreiben, wenn ich in einer besseren Verfassung bin.

Wissen Sie – ich merke gerade, dass ich mich wirklich sehr schlecht fühle.

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