Es muss gegen Mitternacht gewesen sein, als ich nach Hause fuhr. Kurz vor dem Gartentor des Bungalows blendete ich die Scheinwerfer ab, um zu vermeiden, dass der Lichtstrahl beim Einbiegen das Fenster von Harry Popes Schlafzimmer traf und ihn aufweckte. Aber ich hätte mir deswegen keine Gedanken zu machen brauchen. Als ich mich dem Haus näherte, sah ich, dass Harrys Lampe noch brannte. Er war also wach – wenn er nicht über seinem Buch eingenickt war.
Ich parkte den Wagen und stieg die fünf Stufen zur Veranda hinauf. In der Dunkelheit zählte ich jede Stufe, damit ich oben nicht etwa ins Leere trat. Ich überquerte die Veranda, stieß die Fliegentür auf und knipste das Licht in der Diele an. Dann ging ich zu Harrys Tür, öffnete sie einen Spaltbreit und schaute ins Zimmer.
Er lag auf dem Bett, und ich sah, dass er wach war. Er bewegte sich jedoch nicht. Er wandte mir nicht einmal den Kopf zu, aber ich hörte ihn flüstern: «Timber, Timber, komm her.»
Er sprach überaus langsam und vorsichtig. Ich öffnete die Tür vollends und wollte gerade mit schnellen Schritten auf ihn zugehen, als er sagte: «Halt. Warte einen Augenblick, Timber.»
Ich konnte ihn kaum verstehen. Anscheinend kostete es ihn gewaltige Mühe, die Worte herauszubringen.
«Was ist los, Harry?»
«Pssst!», zischte er. «Pssst! Um Gottes willen, sei leise. Zieh die Schuhe aus, bevor du herkommst. Bitte, Timber, tu, was ich dir sage.»
Seine Art zu sprechen beschwor eine Erinnerung herauf: George Barling, der einen Bauchschuss bekommen hatte, stand an die Kiste mit dem Reserve-Flugzeugmotor gelehnt, presste die Hände auf den Leib und verwünschte den deutschen Piloten in genau dem gleichen heiseren, angestrengten Flüsterton, der jetzt aus Harrys Kehle drang.
«Schnell, Timber. Aber zieh dir zuerst die Schuhe aus.»
Ich hatte keine Ahnung, warum ich mir die Schuhe ausziehen sollte, hielt es jedoch für besser, ihm nicht zu widersprechen, denn er machte den Eindruck eines todkranken Menschen. Ich bückte mich also, streifte die Schuhe ab und ließ sie auf dem Boden liegen. Dann ging ich zu Harry hinüber.
«Fass das Bett nicht an! Um Gottes willen, fass das Bett nicht an!» Er sprach noch immer, als hätte er einen Bauchschuss bekommen. Ich sah, dass er auf dem Rücken lag, bis zur Brust mit einem Laken zugedeckt. Er trug einen blau, braun und weiß gestreiften Pyjama und schwitzte fürchterlich. Die Nacht war schwül, und auch ich schwitzte, aber nicht so wie Harry. Sein Gesicht triefte von Schweiß, und rings um den Kopf war das Kissen völlig durchnässt. Vielleicht ein schwerer Malariaanfall, dachte ich.
«Was ist denn nur los, Harry?»
«Eine Bungar», sagte er.
«Eine Bungar! O Gott! Wo hat sie dich gebissen? Und wann?»
«Nicht so laut», wisperte er.
Ich beugte mich vor und packte ihn an der Schulter. «Harry, wir müssen sofort etwas unternehmen. Los, los, sag doch schon, wo sie dich gebissen hat.»
Er rührte sich nicht, und er wirkte seltsam verkrampft, als müsse er alle Kraft zusammennehmen, um einen starken Schmerz zu ertragen. «Ich bin nicht gebissen worden», flüsterte er. «Noch nicht. Sie liegt auf meinem Bauch. Sie liegt da und schläft.»
Ich fuhr unwillkürlich zurück und starrte auf seinen Bauch oder vielmehr auf das Laken, das ihn bedeckte. Das Laken warf an mehreren Stellen Falten, sodass nicht zu erkennen war, ob sich etwas darunter verbarg.
«Eine Bungar auf deinem Bauch? Das ist doch wohl nicht dein Ernst.»
«Ich schwöre es dir.»
«Wie ist sie denn dorthin gekommen?» Es war leichtsinnig von mir, diese Frage zu stellen. Harry scherzte offensichtlich nicht, und ich hätte ihn lieber ermahnen sollen, sich still zu verhalten.
«Ich las», sagte Harry. Er sprach sehr langsam, Wort für Wort, und war ängstlich darauf bedacht, die Bauchmuskeln nicht anzuspannen. «Lag auf dem Rücken und las und fühlte etwas auf der Brust. Hinter dem Buch. Eine Art Kitzeln. Dann sah ich aus den Augenwinkeln diese Bungar über meine Brust kriechen. Klein, etwa fünfundzwanzig Zentimeter. Wusste, dass ich mich nicht rühren durfte. Hätte es auch gar nicht gekonnt. Lag da und beobachtete sie. Dachte, sie würde von meiner Brust aufs Laken kriechen.» Harry schwieg einige Sekunden. Seine Augen richteten sich auf die Stelle, wo das Laken seinen Bauch bedeckte, und ich begriff, dass er fürchtete, sein Flüstern könnte die Bungar gestört haben.
«Da war eine Falte im Laken», berichtete er schließlich weiter. Er sprach jetzt noch langsamer und so leise, dass ich mich weit vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. «Hier oben, siehst du? Sie kroch darunter. Ich konnte durch den Pyjama fühlen, wie sie auf meinen Bauch kroch. Und dann machte sie halt. Jetzt liegt sie dort in der Wärme. Schläft wahrscheinlich. Ich habe auf dich gewartet.» Er hob den Blick und sah mich an.
«Wie lange schon?»
«Seit Stunden», flüsterte er. «Seit Stunden und Stunden und Stunden. Ich kann einfach nicht mehr still liegen. Und dann dieser Hustenreiz, den ich schon die ganze Zeit habe …»
Die Wahrheit dieser Geschichte ließ sich kaum bezweifeln. Für eine Bungar war das durchaus keine ungewöhnliche Verhaltensweise. Diese Schlangen sind oft in der Nähe von Häusern zu finden und haben eine Vorliebe für warme Plätze. Ungewöhnlich erschien mir nur, dass Harry nicht gebissen worden war. Der Biss ist absolut tödlich, es sei denn, dass man das Tier sofort fängt. Jedes Jahr sterben auf diese Weise eine größere Anzahl von Menschen in Bengalen, vor allem in den Dörfern.
«Pass auf, Harry», sagte ich, ebenfalls im Flüsterton, «du darfst dich um keinen Preis bewegen. Und sprich nur, wenn es unbedingt nötig ist. Tu nichts, was sie erschrecken könnte, dann beißt sie bestimmt nicht. Wir kriegen das schon hin.»
Ich schlich auf Socken in die Küche, holte ein kleines, scharfes Messer und steckte es in die Hosentasche – für den Fall, dass etwas schiefging, bevor wir einen Plan gefasst und ihn ausgeführt hatten. Wenn Harry hustete oder sich bewegte oder sonst etwas tat, was die Bungar zum Beißen reizte, würde ich sofort die Wunde durch einen Schnitt erweitern und versuchen, das Gift auszusaugen. Ich kehrte ins Schlafzimmer zurück. Harry lag regungslos da, und der Schweiß lief ihm in Strömen über das Gesicht. Er wandte keinen Blick von mir, als ich durch das Zimmer auf sein Bett zuging, und ich sah ihm an, dass er sich fragte, was ich draußen gemacht hatte. Ich stand neben ihm und zerbrach mir den Kopf, wie ich ihm am besten helfen könnte.
«Harry», sagte ich dicht an seinem Ohr, damit ich die Stimme nicht über das allerleiseste Flüstern zu erheben brauchte, «ich möchte jetzt das Laken ganz, ganz vorsichtig zurückziehen und sie mir erst einmal ansehen. Ich glaube, ich schaffe es, ohne sie zu wecken.»
«Lass das bleiben, du verdammter Idiot.» Er sprach so langsam, so vorsichtig, so leise, dass seine Stimme völlig ausdruckslos war. Der Ausdruck lag in den Augen und in den Mundwinkeln.
«Warum denn?»
«Das Licht würde sie erschrecken. Unter dem Laken ist es doch dunkel.»
«Und wenn ich nun das Laken mit einem Ruck fortreiße und sie hinunterfege, bevor sie zubeißen kann?»
«Warum holst du keinen Arzt?», fragte Harry. Der Blick, mit dem er mich ansah, machte mir klar, dass ich schon längst daran hätte denken müssen.
«Einen Arzt. Natürlich. Ich rufe Ganderbai an.»
Ich ging auf Zehenspitzen in die Diele, schlug Ganderbais Nummer im Telefonbuch nach, hob den Hörer ab und bat die Vermittlung, sich zu beeilen.
«Dr. Ganderbai», sagte ich. «Hier spricht Timber Woods.»
«Hallo, Mr. Woods. Sind Sie noch nicht im Bett?»
«Hören Sie, können Sie wohl sofort herkommen? Und bringen Sie ein Serum mit – gegen einen Bungarbiss.»
«Wer ist gebissen worden?» Er stieß die Frage so scharf hervor, dass es in meinem Ohr eine Art kleiner Explosion gab.
«Niemand. Bis jetzt noch niemand. Aber Harry Pope liegt im Bett und hat eine Bungar auf dem Bauch – sie schläft unter dem Laken auf seinem Bauch.»
Etwa drei Sekunden lang herrschte tiefe Stille, dann hörte ich wieder Ganderbais Stimme, und diesmal sprach er nicht explosiv, sondern langsam und eindringlich. «Sagen Sie ihm, er soll ganz still liegen. Er darf sich nicht bewegen und nicht sprechen. Verstehen Sie?»
«Gewiss.»
«Ich komme sofort.» Er legte auf, und ich ging ins Schlafzimmer zurück. Harry ließ mich nicht aus den Augen, als ich den Raum durchquerte.
«Ganderbai ist schon unterwegs. Er sagt, du sollst ganz still liegen.»
«Zum Teufel, denkt er etwa, ich tanze hier herum?»
«Und nicht sprechen, hat er gesagt. Auf keinen Fall, Harry. Du nicht und ich auch nicht.»
«Warum bist du dann nicht endlich still?» Bei diesen Worten begann es in Harrys einem Mundwinkel zu zucken – schnelle, kurze, zum Kinn hinlaufende Bewegungen, die auch dann noch andauerten, als er nicht mehr sprach. Ich zog mein Taschentuch heraus und wischte ihm sehr sanft den Schweiß vom Gesicht. Ich fühlte das leichte Zucken des Muskels – es war der, mit dem er sonst lächelte –, als ich darüberstrich.
Ich schlich in die Küche, holte etwas Eis aus dem Kühlschrank, wickelte es in eine Serviette und zerkleinerte es so geräuschlos wie möglich. Die Sache mit dem Mund gefiel mir nicht. Und ebenso wenig die Art, wie er sprach. Ich ging mit dem Eispaket ins Schlafzimmer und legte es auf Harrys Stirn.
«Zum Abkühlen.»
Er verdrehte die Augen und zog scharf die Luft durch die Zähne. «Nimm es weg», flüsterte er. «Ich muss sonst husten.» Der kleine Lachmuskel begann von neuem zu zucken.
Der Lichtstrahl eines Scheinwerfers huschte über das Bett, als Ganderbais Wagen in die Auffahrt einbog. Ich lief hinaus, das Eispaket noch immer in beiden Händen.
«Wie sieht’s aus?», fragte Ganderbai. Er blieb nicht stehen, um mich zu begrüßen, sondern eilte an mir vorbei durch die Fliegentür. «Wo ist er? In welchem Zimmer?»
Er stellte seine Tasche auf einen Stuhl in der Diele und folgte mir in Harrys Zimmer. Seine Füße steckten in weichsohligen Pantoffeln, sodass er lautlos und leicht wie eine Katze über den Fußboden glitt. Harry beobachtete ihn, ohne den Kopf zu bewegen. Als Ganderbai das Bett erreicht hatte, blickte er auf Harry hinab, lächelte ihm beruhigend zu und nickte mit dem Kopf, um anzudeuten, dass Harry sich keine Sorgen zu machen brauche, denn er, Dr. Ganderbai, werde diese Kleinigkeit bestens erledigen. Dann wandte er sich ab und ging hinaus. Ich folgte ihm in die Diele.
«Zuerst möchte ich ihm das Serum einspritzen», sagte er und öffnete die Tasche, um seine Vorbereitungen zu treffen. «Intravenös. Aber ich muss dabei sehr vorsichtig sein, damit er nicht etwa zusammenzuckt.»
Nachdem er in der Küche die Injektionsspritze sterilisiert hatte, nahm er ein Fläschchen in die linke Hand, stieß die Nadel durch den Gummiverschluss und zog mit dem Kolben eine hellgelbe Flüssigkeit in die Spritze. Dann gab er sie mir.
«Halten Sie das, bis ich so weit bin.»
Er ergriff die Tasche, und wir gingen ins Schlafzimmer. Harrys Äugen glänzten jetzt und waren weit geöffnet. Ganderbai beugte sich über ihn. Sehr behutsam – wie jemand, der mit Spitzen aus dem sechzehnten Jahrhundert hantiert – streifte er den Pyjamaärmel bis zum Ellbogen hoch, ohne Harrys Arm anzuheben. Ich stellte fest, dass er darauf bedacht war, nicht zu nah an das Bett heranzutreten.
Er flüsterte: «Ich gebe Ihnen jetzt eine Injektion. Serum. Nur ein Stich, aber versuchen Sie, sich nicht zu bewegen. Und nicht die Bauchmuskeln anspannen. Ganz locker lassen.»
Harry starrte auf die Spritze.
Ganderbai holte einen roten Gummischlauch aus der Tasche, schob ihn vorsichtig unter Harrys Arm und knotete ihn über dem Bizeps fest zusammen. Dann betupfte er die Armbeuge mit Alkohol, gab mir den Wattebausch und ließ sich dafür die Spritze reichen. Er hielt sie gegen das Licht und drückte nach einem Blick auf die Messskala etwas Flüssigkeit heraus. Ich stand daneben und schaute ihm zu. Harry schaute ebenfalls zu. Er schwitzte stark. Sein Gesicht glänzte, als wäre es dick mit Fettcreme eingerieben, die auf der Haut zerschmolz und auf das Kissen rann.
Ich sah die blaue Vene in Harrys Armbeuge, angeschwollen jetzt durch die Aderpresse. Dann sah ich die Nadel über der Vene. Ganderbai hielt die Spritze fast flach gegen den Arm, schob die Nadel seitwärts durch die Haut in die blaue Vene, schob sie langsam hinein, aber so fest, dass sie in die Haut glitt wie in ein Stück Käse. Harry, dessen Blick auf die Zimmerdecke gerichtet war, schloss die Augen und öffnete sie wieder, rührte sich jedoch nicht.
Als Ganderbai fertig war, beugte er sich vor und flüsterte dicht an Harrys Ohr: «Es ist jetzt in Ordnung, selbst wenn Sie gebissen werden. Aber bewegen Sie sich nicht. Bitte, bewegen Sie sich nicht. Ich bin sofort zurück.»
Er nahm seine Tasche und verließ das Zimmer. Ich folgte ihm.
«Ist er jetzt immun?», fragte ich.
«Nein.»
«Ja, aber …»
Der kleine indische Arzt stand in der Diele und rieb sich die Unterlippe.
«Gibt ihm das Serum nicht wenigstens einen gewissen Schutz?», erkundigte ich mich.
Ganderbai ging zu der Fliegentür, die auf die Veranda führte. Ich dachte, er würde sie aufstoßen, aber er blieb an der Innenseite der Tür stehen und blickte durch das Drahtgeflecht hinaus in die Nacht.
«Ist das Serum nicht gut?», fragte ich.
«Leider nicht», antwortete er, ohne sich umzudrehen. «Vielleicht kann es ihn retten. Vielleicht auch nicht. Ich überlege gerade, was sich sonst noch tun ließe.»
«Sollen wir das Laken schnell zurückziehen und die Bungar herunterfegen, bevor sie zubeißen kann?»
«Auf keinen Fall! Wir dürfen sein Leben nicht aufs Spiel setzen.» Er sprach in scharfem Ton, und seine Stimme klang ein wenig schrill.
«Wir können ihn aber nicht einfach so liegen lassen», sagte ich. «Seine Nerven halten das nicht aus.»
«Bitte! Bitte!» Er fuhr herum und hob abwehrend die Hände. «Nicht so hastig, bitte. So etwas lässt sich nicht übers Knie brechen.» Er trocknete sich die Stirn mit dem Taschentuch und starrte, an den Lippen nagend, nachdenklich vor sich hin.
«Ja», sagte er schließlich, «es gibt eine Möglichkeit. Wissen Sie, was wir tun werden? Wir werden das Tier narkotisieren.»
Das war eine geniale Idee.
«Ich weiß allerdings nicht, ob es gelingen wird», fügte er hinzu. «Schlangen sind Kaltblüter, und Betäubungsmittel wirken bei ihnen nicht so gut oder jedenfalls nicht so schnell wie bei warmblütigen Lebewesen. Aber es ist unsere einzige Chance. Wir können Äther verwenden … oder Chloroform …» Er sprach langsam und versuchte auf diese Weise, sich über die erforderlichen Maßnahmen klarzuwerden.
«Was schlagen Sie also vor?»
«Chloroform», entschied er. «Gewöhnliches Chloroform. Das ist das Beste. Kommen Sie!» Er zog mich auf die Veranda. «Fahren Sie zu mir nach Hause. Ich rufe inzwischen meinen Boy an. Er wird Ihnen den Giftschrank zeigen. Hier ist der Schlüssel zum Schrank. Nehmen Sie das Chloroform heraus. Die Flasche hat ein hellrotes Etikett, auf dem die Bezeichnung steht. Ich bleibe hier, falls etwas passiert. Los, beeilen Sie sich! Nein, nein, Sie brauchen keine Schuhe.»
Ich fuhr schnell, und nach etwa fünfzehn Minuten war ich mit dem Chloroform zurück. Ganderbai kam aus Harrys Zimmer, als ich ins Haus trat. «Haben Sie’s?», fragte er. «Gut, gut. Ich habe ihm gerade erklärt, was wir vorhaben. Wir müssen jetzt schnell machen. Es ist auf die Dauer nicht leicht für ihn. Ich habe Angst, dass er sich bewegt.»
Er ging ins Schlafzimmer, und ich folgte ihm mit der Flasche, die ich wie eine Kostbarkeit vor mir her trug. Harry lag noch in genau derselben Stellung auf dem Bett. Der Schweiß strömte ihm über die Wangen. Sein Gesicht war weiß und nass. Als er die Augen auf mich richtete, lächelte ich und nickte ihm ermutigend zu. Ich hob den Daumen und machte das Okay-Zeichen. Ganderbai hockte sich neben das Bett. Auf dem Fußboden sah ich den Gummischlauch, den er vorhin als Aderpresse benutzt hatte. Jetzt steckte in dem einen Ende des Schlauches ein kleiner Papiertrichter.
Nun machte sich Ganderbai daran, ein Stückchen Laken unter der Matratze hervorzuziehen, und zwar an einer Stelle, die sich in gleicher Höhe mit Harrys Bauch befand, etwa vierzig Zentimeter davon entfernt. Ich beobachtete, wie seine Finger vorsichtig am Laken zupften. Er arbeitete so langsam, dass ich Mühe hatte, an den Fingern oder dem Laken eine Bewegung wahrzunehmen.
Schließlich hatte er es geschafft: Unter dem Laken wölbte sich eine kleine Öffnung. Er nahm den Gummischlauch und schob ihn behutsam zwischen Matratze und Laken. Ich weiß nicht, wie viel Zeit er brauchte, um den Schlauch bis zu Harrys Körper gleiten zu lassen. Es können zwanzig, es können vierzig Minuten gewesen sein. Kein einziges Mal sah ich, dass der Schlauch sich bewegte. Ich wusste, dass er vordrang, da der sichtbare Teil allmählich kürzer wurde, doch ich war sicher, dass die Bungar nicht die leiseste Erschütterung spürte. Ganderbai schwitzte jetzt auch; große Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn und der Oberlippe. Aber seine Hände waren ruhig. Ich bemerkte, dass er nicht auf den Schlauch blickte, sondern auf die Falten, die das Laken über Harrys Bauch warf.
Ohne mich anzusehen, streckte er die Hand nach dem Chloroform aus. Ich entfernte den Glasstöpsel und gab ihm die Flasche in die Hand, ängstlich darauf bedacht, sie nicht eher loszulassen, als bis er sie fest im Griff hatte. Dann bedeutete er mir mit einer Kopfbewegung, näher zu kommen, und flüsterte: «Sagen Sie ihm, dass ich jetzt das Chloroform durch den Schlauch auf die Matratze gieße und es sehr kalt unter seinem Körper werden wird. Damit muss er rechnen. Er darf auf keinen Fall zusammenzucken. Schärfen Sie ihm das ein.»
Ich beugte mich über Harry und teilte ihm mit, was Ganderbai tun wollte.
«Warum macht er nicht weiter?», fragte Harry.
«Er macht ja weiter, Harry. Aber es wird sich sehr kalt anfühlen, bereite dich also darauf vor.»
«Mein Gott, macht weiter, macht doch schon weiter!»
Zum ersten Mal hatte er die Stimme erhoben. Ganderbai blickte auf, sah ihn scharf an und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu.
Er goss ein paar Tropfen Chloroform in den Papiertrichter und wartete, bis sie durch den Schlauch gelaufen waren. Dann goss er einige Tropfen nach und wartete abermals. Der schwere süßliche Geruch des Chloroforms breitete sich im Zimmer aus und weckte unangenehme Erinnerungen an weißgekleidete Schwestern und Ärzte, die in einem weißen Raum um einen langen weißen Tisch standen. Ganderbai goss jetzt schneller nach, und ich sah den schweren Dunst des Chloroforms wie Rauch über dem Papiertrichter wallen. Nach einiger Zeit hielt Ganderbai die Flasche gegen das Licht und entschloss sich, den Trichter noch einmal zu füllen, bevor er sie mir zurückgab. Dann zog er den Gummischlauch langsam unter dem Laken hervor und stand auf.
Offenbar war es eine große Anstrengung für ihn gewesen, den Schlauch vorzuschieben und das Chloroform einzugießen, denn seine Stimme klang matt und erschöpft, als er sich umdrehte und mir zuraunte: «Wir werden eine Viertelstunde warten. Um ganz sicherzugehen.»
Ich beugte mich über Harry. «Wir werden eine Viertelstunde warten, um ganz sicherzugehen. Aber wahrscheinlich ist es schon geschafft.»
«Zum Donnerwetter, warum seht ihr dann nicht nach?» Wieder sprach er laut. Ganderbai fuhr herum. Seine Miene war plötzlich sehr zornig. Er hatte fast schwarze Augen, mit denen er Harry anstarrte. Harrys kleiner Muskel begann wieder zu zucken. Ich nahm mein Taschentuch, trocknete sein nasses Gesicht, und strich ihm beruhigend über die Stirn.
Schweigend warteten wir neben dem Bett. Ganderbai blickte Harry unverwandt und seltsam eindringlich an. Der kleine Inder konzentrierte seine Willenskraft darauf, Harry ruhig zu halten. Er ließ ihn nicht eine Sekunde aus den Augen, und obgleich er keinen Laut von sich gab, schien er dauernd zu rufen: Hören Sie mir zu, Sie müssen mir zuhören, Sie dürfen jetzt nicht alles zunichte machen, hören Sie? Und Harry lag mit zuckendem Mund da und schwitzte. Seine Lider waren meistens geschlossen, und wenn er sie öffnete, sah er entweder mich an oder das Laken oder die Zimmerdecke, aber niemals Ganderbai. Und doch wurde er irgendwie von Ganderbai beherrscht. Der durchdringende Chloroformgeruch ließ ein Gefühl der Übelkeit in mir aufsteigen, aber ich konnte jetzt unmöglich aus dem Zimmer gehen. Mir war, als würde vor meinen Augen ein Ballon aufgeblasen, der immer mehr anschwoll, während ich ihn wie gebannt anstarrte und wartete, dass er zerplatzte.
Endlich drehte sich Ganderbai um und nickte. Es war so weit. «Gehen Sie an die andere Bettseite», sagte er. «Wir nehmen jeder einen Zipfel des Lakens und ziehen es zurück. Aber bitte sehr langsam, sehr vorsichtig.»
«Lieg jetzt ganz still, Harry», ermahnte ich ihn und ging um das Bett herum. Ganderbai stand mir gegenüber. Wir ergriffen das Laken an den beiden oberen Zipfeln, hoben es leicht von Harrys Körper ab und zogen es Zentimeter für Zentimeter zurück. Dabei gaben wir acht, dass wir nicht zu nah an das Bett herankamen, beugten uns jedoch vor und versuchten, unter das Laken zu schauen. Der Chloroformgeruch war ekelhaft. Ich erinnere mich, dass ich die Luft so lange wie möglich anhielt, und als das nicht mehr ging, bemühte ich mich, flach zu atmen, damit mir das Zeug nicht in die Lungen drang.
Harrys Brust – besser gesagt, seine gestreifte Pyjamajacke – war jetzt freigelegt. Dann sah ich das weiße Band der Pyjamahose, sauber zu einer Schleife gebunden. Etwas weiter unten tauchte ein Knopf auf, ein Perlmuttknopf. Ich habe noch nie einen Pyjama gehabt, dessen Schlitz mit einem Knopf zu schließen war, geschweige denn mit einem Perlmuttknopf. Dieser Harry, dachte ich, ist doch ein richtiger Stutzer. Es ist merkwürdig, dass einem manchmal in den aufregendsten Situationen solche albernen Gedanken kommen. Ich weiß noch genau, dass ich Harry für einen Stutzer hielt, als ich diesen Knopf sah.
Außer dem Knopf war nichts auf seinem Bauch.
Nun zogen wir das Laken schneller zurück, und als wir die Beine und die Füße aufgedeckt hatten, ließen wir es auf den Boden fallen.
«Bewegen Sie sich nicht», sagte Ganderbai. «Bewegen Sie sich nicht, Mr. Pope.» Er versuchte, unter Harrys Körper zu spähen.
«Wir müssen vorsichtig sein», erklärte er. «Sie kann überall stecken. Vielleicht ist sie ins Hosenbein des Pyjamas gekrochen.»
Diese Worte bewirkten, dass Harry hastig den Kopf vom Kissen hob und an sich hinuntersah. Es war das erste Mal, dass er sich bewegte. Dann sprang er mit einem Satz auf, sodass er nun mitten im Bett stand, und schüttelte zuerst das eine, dann das andere Bein heftig in der Luft. In diesem Augenblick dachten wir beide, er sei gebissen worden, und Ganderbai suchte bereits in seiner Tasche nach einem Skalpell und einer Aderpresse. Plötzlich aber hörte Harry mit seinen Luftsprüngen auf. Er betrachtete die Matratze, auf der er stand, und rief: «Sie ist nicht da!»
Ganderbai richtete sich auf und betrachtete ebenfalls die Matratze. Dann sah er Harry an. Harry war unversehrt. Er war nicht gebissen worden, er würde nicht gebissen werden, er brauchte nicht zu sterben, und alles war gut. Aber das schien keinen von uns zu beruhigen.
«Mr. Pope, Sie sind natürlich ganz sicher, dass Sie die Bungar gesehen haben?» In Gänderbais Stimme lag eine Spur von Sarkasmus – was unter normalen Umständen bei ihm undenkbar gewesen wäre. «Sie glauben nicht, Mr. Pope, dass Sie geträumt haben könnten, nicht wahr?» Die Art, wie er Harry ansah, verriet mir, dass der Sarkasmus nicht als Beleidigung gemeint war. Ganderbai machte sich nach der Nervenprobe nur etwas Luft. Harry stand in seinem gestreiften Pyjama auf dem Bett und starrte den Arzt an, während ihm das Blut in die Wangen stieg.
«Wollen Sie etwa behaupten, dass ich ein Lügner bin?», brüllte er.
Ganderbai blickte schweigend zu ihm auf. Harry trat einen Schritt auf dem Bett vor. In seinen Augen war ein seltsames Funkeln.
«Sie dreckiges indisches Mistvieh!»
«Halt den Mund, Harry!», rief ich.
«Sie dreckiges schwarzes …»
«Harry!», schrie ich. «Halt den Mund, Harry!» Es war schrecklich, was er alles sagte.
Ganderbai ging aus dem Zimmer, als wären Harry und ich nicht vorhanden. Ich eilte ihm nach und legte ihm den Arm um die Schultern, als wir die Diele überquerten und auf die Veranda hinaustraten.
«Hören Sie nicht auf Harry», bat ich. «Die Sache hat ihn fertiggemacht. Er weiß nicht mehr, was er sagt.»
Wir gingen die Verandatreppe hinunter zur Auffahrt, wo in der Dunkelheit Ganderbais alter Morris stand. Er öffnete die Tür und stieg ein. «Sie haben großartige Arbeit geleistet», beteuerte ich. «Vielen herzlichen Dank, dass Sie gekommen sind.»
«Alles, was er braucht, ist ein langer Urlaub», sagte er ruhig, ohne mich anzusehen. Dann ließ er den Motor an und fuhr los.