Der Lautforscher

Es war ein warmer Sommerabend. Klausner ging mit schnellen Schritten um das Haus herum in den Garten an der Rückseite. Vor einem Bretterschuppen blieb er stehen. Er schloss die Tür auf, trat ein und machte die Tür hinter sich zu.

In dem Schuppen gab es nur einen einzigen Raum. Auf einer hölzernen Werkbank, die dicht an die ungestrichene Wand herangeschoben war, stand inmitten eines Durcheinanders von Drähten, Batterien und allerlei scharfen Werkzeugen ein etwa ein Meter langer schwarzer Kasten, der die Form eines Kindersargs hatte.

Klausner ging auf den Kasten zu, dessen Deckel offen war. Er beugte sich vor, betrachtete mit größter Aufmerksamkeit ein Gewirr verschiedenfarbiger Drähte und silberner Röhren, hob ein Blatt Papier auf, das neben dem Kasten lag, sah es sich sehr genau an, legte es hin, schaute von neuem in den Kasten, fuhr mit den Fingern über die Drähte, zupfte leicht an ihnen, um die Verbindungen zu prüfen, blickte wieder auf das Papier, dann in den Kasten, dann abermals auf das Papier. So kontrollierte er etwa eine Stunde lang jeden einzelnen Draht.

Schließlich tastete seine Hand über die Vorderseite des Kastens und drehte an den drei Knöpfen, die sich dort befanden. Während er die Bewegungen des Mechanismus im Kasten beobachtete, sprach er leise vor sich hin, nickte mit dem Kopf und lächelte manchmal. Seine Hände glitten pausenlos hin und her, die Finger hantierten flink und geschickt, sein Mund verzog sich eigenartig, wenn er an eine komplizierte Verbindung geriet, und er murmelte in einem fort: «Ja … Ja … Und jetzt diesen hier … Ja … Ja … Aber stimmt das? Habe ich – wo ist mein Diagramm? … Ach ja … Natürlich … Ja, ja … So ist es richtig … Und jetzt … Gut … Gut … Ja … Ja, ja, ja.» Er war völlig konzentriert, aber es lag etwas Drängendes in der Art, wie er arbeitete, etwas Atemloses, das auf eine starke, mühsam unterdrückte Erregung hindeutete.

Plötzlich hörte er Schritte auf dem Kiesweg. Er richtete sich auf und fuhr herum, als die Tür sich öffnete und ein hochgewachsener Mann eintrat. Es war Scott. Es war nur Scott, der Arzt.

«Sieh mal einer an», rief der Arzt. «Also hier verstecken Sie sich abends immer.»

«Hallo, Doktor», sagte Klausner.

«Ich kam gerade vorbei», erklärte der andere. «Und da wollte ich doch sehen, wie es Ihnen geht. Im Haus war niemand, deshalb habe ich Sie im Garten gesucht. Was macht der Hals?»

«Alles in Ordnung. Danke.»

«Na, wenn ich schon hier bin, kann ich ihn mir ja noch einmal anschauen.»

«Bitte, bemühen Sie sich nicht. Mir fehlt nichts. Ich bin völlig gesund.»

Dr. Scott merkte, dass die Atmosphäre mit Spannung geladen war. Er betrachtete den schwarzen Kasten auf der Werkbank, dann blickte er den Mann an. «Sie haben noch den Hut auf», sagte er.

«Wirklich?» Klausner nahm den Hut ab und legte ihn auf die Werkbank.

Der Arzt kam näher und beugte sich über den Kasten. «Was ist das?», fragte er. «Bauen Sie ein Radio?»

«Nein. Nur so eine Bastelei.»

«Ziemlich komplizierte Sache, was?»

«Ja.» Klausner wirkte nervös und zerstreut.

«Was soll’s denn werden?», erkundigte sich der Arzt. «Sieht ja direkt unheimlich aus, das Ding.»

«Mir ist da eine Idee gekommen …»

«Ja?»

«Hat mit Geräuschen zu tun, das ist alles.»

«Du meine Güte! Haben Sie denn tagsüber bei der Arbeit noch nicht genug Lärm?»

«Ich mag Geräusche.»

«Scheint mir auch so.» Dr. Scott wandte sich zum Gehen. An der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte: «Na, ich will Sie nicht länger stören. Schön, dass Ihr Hals wieder in Ordnung ist.» Aber er blieb stehen, denn der seltsame Mechanismus in dem Kasten interessierte ihn, und außerdem hätte er gar zu gern gewusst, was dieser wunderliche Kauz vorhatte. «Wozu ist es denn nun wirklich?», fragte er. «Sie haben mich neugierig gemacht.»

Klausner sah auf den Kasten, dann auf den Arzt. Er hob die Hand und rieb nachdenklich sein rechtes Ohrläppchen. Eine Pause trat ein. Der Arzt stand lächelnd an der Tür und wartete.

«Also gut, ich will’s Ihnen erklären, wenn es Sie interessiert.» Wieder trat eine Pause ein. Offensichtlich wusste Klausner nicht, wie er beginnen sollte.

Er trat von einem Fuß auf den anderen, zupfte am Ohrläppchen, sah auf seine Füße, und schließlich sagte er langsam: «Ja, also … Theoretisch ist die Sache ganz einfach. Das menschliche Ohr … Sie wissen ja, dass es nicht alles hören kann. Es gibt Töne, die so hoch oder so tief sind, dass wir sie nicht hören können.»

«Richtig», bestätigte der Arzt.

«Ja, jeder Ton, der grob gesprochen mehr als fünfzehntausend Schwingungen in der Sekunde hat, ist für uns nicht mehr zu hören. Hunde haben bessere Ohren als wir. Gewiss kennen Sie diese Pfeifchen, deren Ton so hoch ist, dass nur ein Hund sie hören kann.»

«Ja, ich habe schon mal so ein Ding gesehen.»

«Natürlich. Und weiter oben auf der Tonleiter, also über dem Ton der Hundepfeife, gibt es noch einen Ton – eine Schwingung, wenn Sie wollen, aber ich spreche lieber von einem Ton. Den können Sie auch nicht hören. Und darüber gibt es noch einen und noch einen, immer höher und höher die Tonleiter hinauf, eine endlose Tonfolge … eine Unendlichkeit von Tönen … Es gibt einen Ton – wenn unser Ohr ihn nur hören könnte –, der so hoch ist, dass er eine Million Schwingungen in der Sekunde hat … und einen, der noch Millionen Mal höher ist … und so weiter, immer höher und höher, bis ins Unendliche … in die Ewigkeit … hinter die Sterne.»

Klausner sprach mit wachsender Erregung. Er war ein kleiner, schmächtiger Mann, nervös und zappelig, mit Händen, die dauernd in Bewegung waren. Sein großer Kopf neigte sich zur linken Schulter, als wäre der Hals nicht stark genug, ihn zu tragen. Er hatte ein weiches, blasses, fast weißes Gesicht, und der Blick seiner hellgrauen Augen, die zwinkernd durch eine nickelgeränderte Brille schauten, war unstet und verträumt. Ja, er war klein und schmächtig, nervös und zappelig, eine Motte von einem Mann, bald verträumt und zerstreut, bald aufgeregt und lebhaft, und doch spürte der Arzt, als er das seltsam blasse Gesicht und die hellgrauen Augen betrachtete, dass an diesem kleinen Mann etwas Distanziertes war, etwas ungemein Distanziertes, als hätte sich sein Geist weit vom Körper entfernt.

Der Arzt wartete auf nähere Erklärungen. Klausner seufzte und faltete fest die Hände. «Ich glaube», sagte er, langsamer jetzt, «ich glaube, dass es eine ganze Welt von Lauten gibt, die wir nicht hören können. Vielleicht erklingt dort oben in den hohen, unhörbaren Regionen eine neue erregende Musik mit zarten Harmonien und wilden, schneidenden Dissonanzen – eine Musik, die so mächtig ist, dass sie uns verrückt machen würde, wenn unsere Ohren darauf eingestellt wären, sie zu hören. Ja, das ist durchaus möglich … Und nicht nur das. Es kann dort sogar …»

«Ja», unterbrach ihn der Arzt, «aber es ist nicht sehr wahrscheinlich.»

«Warum nicht? Warum nicht?» Klausner deutete auf eine Fliege, die auf einer kleinen Rolle Kupferdraht saß. «Sehen Sie diese Fliege? Was für ein Geräusch macht sie jetzt? Keines – soweit wir hören können. Aber wer sagt uns, dass sie nicht wie verrückt in den höchsten Tönen pfeift oder bellt oder krächzt oder singt? Sie hat doch einen Mund, nicht wahr? Sie hat eine Kehle!»

Der Arzt blickt lächelnd auf die Fliege. Er stand noch immer an der Tür, halb zum Gehen gewandt. «Und das wollen Sie also herausfinden?», fragte er.

«Vor einiger Zeit», berichtete Klausner, «fertigte ich ein einfaches Instrument an, das mir das Vorhandensein vieler unhörbarer Geräusche bewies. Oft habe ich dagesessen und beobachtet, wie die Nadel meines Instruments Klangschwingungen in der Luft anzeigte, die ich nicht hören konnte. Und das sind die Laute, die ich gern hören möchte. Ich möchte wissen, woher sie kommen und wer oder was sie hervorbringt.»

«Und der Apparat, an dem Sie da arbeiten? Wird der Ihnen ermöglichen, diese Geräusche zu hören?»

«Vielleicht. Wer weiß? Bis jetzt ist es mir noch nicht geglückt. Aber ich habe einige Veränderungen vorgenommen, und heute Abend werde ich’s nochmal versuchen. Dieser Apparat –» Klausner legte die Hand darauf – «soll Klangschwingungen, die für das menschliche Ohr zu hoch sind, auffangen und sie in hörbare Töne umwandeln. Ich stelle ihn ein, beinahe wie ein Radio.»

«Wie meinen Sie das?»

«Eine ganz einfache Sache. Angenommen, ich möchte das Piepsen einer Fledermaus hören, also einen ziemlich hohen Ton – etwa dreißigtausend Schwingungen in der Sekunde. Das normale menschliche Ohr kann ihn kaum hören. Aber wenn nun eine Fledermaus in diesem Raum herumflöge, dann bräuchte ich den Apparat nur auf dreißigtausend einzustellen, und schon würde ich das Piepsen ganz klar hören. Ich würde sogar den richtigen Ton hören – f oder b, was es gerade ist –, nur die Tonhöhe wäre viel niedriger. Verstehen Sie?»

Der Arzt sah auf den langen schwarzen Kasten. «Und das wollen Sie heute Abend versuchen?»

«Ja.»

«Na, dann viel Glück.» Dr. Scott blickte auf seine Uhr. «Du meine Güte, ich muss ja weiter. Auf Wiedersehen. Und vielen Dank, dass Sie es mir erklärt haben. Ich komme mal vorbei und frage, ob es geklappt hat.» Er ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Klausner bastelte noch eine Zeitlang an den Drähten in dem schwarzen Kasten herum; dann richtete er sich auf und sagte in einem leisen, erregten Flüstern: «So, jetzt machen wir noch einen Versuch … Diesmal im Garten … Vielleicht … vielleicht … ist der Empfang dort besser. Hoch damit … Vorsichtig … Mein Gott, ist das schwer!» Er trug den Kasten zur Tür, merkte, dass er die Tür nicht öffnen konnte, ohne den Kasten abzusetzen, trug ihn auf die Werkbank zurück, öffnete die Tür, nahm den Kasten und trug ihn mit einiger Mühe in den Garten. Auf dem Rasen stand ein kleiner Holztisch, und dort setzte er seine Last behutsam ab. Dann holte er aus dem Schuppen einen Kopfhörer. Er stülpte ihn über die Ohren und schob die Stecker in den Apparat. Seine Hände bewegten sich flink und zielsicher. Aufgeregt, wie er war, atmete er laut und schnell durch den Mund. Er sprach noch immer mit sich selbst, beruhigend und ermutigend, als hätte er Angst – Angst, dass der Apparat nicht funktionierte, und Angst vor dem, was geschehen würde, wenn er funktionierte.

Er stand im Garten neben dem Holztisch, so blass, klein und dünn, dass er einem greisenhaften, schwindsüchtigen, bebrillten Kind glich. Die Sonne war untergegangen. Kein Lüftchen regte sich, kein Geräusch war zu hören. Vom Rasen aus konnte er über einen niedrigen Zaun in den Nachbargarten sehen, wo eine Frau mit einem Blumenkorb zwischen den Beeten umherging. Er betrachtete sie eine Zeitlang, dachte aber dabei an etwas ganz anderes. Dann wandte er sich dem Kasten auf dem Tisch zu und drückte einen Hebel an der Vorderseite herunter. Er legte die linke Hand auf den Lautstärkeregler und die rechte auf den Drehknopf, mit dem sich ein Zeiger über eine große Skalenscheibe bewegen ließ. Auf der Skala standen wie bei einem Radioapparat die Frequenzangaben – viele Zahlen zwischen 15 000 und 1 000 000.

Nun beugte er sich über den Kasten, den Kopf gespannt lauschend zur Seite geneigt, und begann mit der rechten Hand den Knopf zu drehen. Der Zeiger wanderte langsam über die Skala, so langsam, dass Klausner kaum eine Bewegung sah. In dem Kopfhörer ertönte ein schwaches, unregelmäßiges Knistern.

Außer diesem knisternden Geräusch vernahm er noch ein gedämpftes Summen, das von dem Apparat selbst herrührte, aber das war alles. Während er lauschte, überkam ihn ein seltsames Gefühl: Ihm war, als wüchsen seine Ohren weit aus dem Kopf heraus, als sei jedes Ohr durch einen dünnen, steifen Draht mit dem Kopf verbunden und als würde dieser Draht immer länger, sodass die Ohren wie Fühler höher und höher in ein geheimes Territorium vordrangen, in ein gefährliches ultrasonores Gebiet, in das sich Menschenohren noch nie gewagt hatten und eigentlich auch nicht wagen durften.

Der kleine Zeiger wanderte langsam über die Skala. Plötzlich hörte Klausner einen Schrei, einen entsetzlichen, durchdringenden Schrei. Er zuckte zusammen, und seine Hände krampften sich um den Rand des Tisches. Dann blickte er nach allen Seiten, als erwarte er, denjenigen zu sehen, der geschrien hatte. Aber er sah nur die Frau im Nachbargarten, und die war es bestimmt nicht gewesen. Sie stand über ein Beet gebückt, schnitt gelbe Rosen und legte sie in ihren Korb.

Da war er wieder – dieser kehllose, unmenschliche Schrei, scharf und kurz, sehr klar und kalt. Der Ton hatte etwas Metallisches, Mollartiges, wie es Klausner nie zuvor gehört hatte. Er schaute umher, suchte instinktiv nach dem Ursprung des Geräusches. Die Frau nebenan war das einzige lebende Wesen, das er entdecken konnte. Er sah, wie sie eine Rose am Stiel ergriff und sie mit der Gartenschere abschnitt.

Wieder der Schrei. Er gellte genau in dem Augenblick auf, als der Rosenstiel durchgeschnitten wurde. Jetzt legte die Frau die Schere zu den Rosen in den Korb und wandte sich zum Gehen.

«Mrs. Saunders!», schrie Klausner mit vor Aufregung schriller Stimme. «Hallo, Mrs. Saunders!»

Die Frau fuhr herum und sah ihren Nachbarn auf dem Rasen stehen – eine phantastische kleine Gestalt mit seltsamen Klappen über den Ohren, die heftig die Arme schwenkte und so schrill, so laut nach ihr rief, dass sie dachte, es sei etwas passiert.

«Schneiden Sie noch eine ab! Bitte schneiden Sie schnell noch eine ab!»

Sie starrte ihn verdutzt an. «Nanu, Mr. Klausner», sagte sie. «Was ist denn los?»

«Bitte, tun Sie mir den Gefallen», beschwor er sie. «Schneiden Sie noch eine Rose ab!»

Mrs. Saunders hatte ihren Nachbarn schon immer für einen Sonderling gehalten, und jetzt war er anscheinend völlig verrückt geworden. Sie überlegte, ob sie ins Haus laufen und ihren Mann holen sollte. Nein, dachte sie. Nein, er ist harmlos. Ich darf ihm nur nicht widersprechen. «Gern, Mr. Klausner, ganz wie Sie wollen», sagte sie, nahm die Schere aus dem Korb, bückte sich und schnitt eine Rose ab.

Und wieder hörte Klausner diesen entsetzlichen, kehllosen Schrei, wieder genau in dem Augenblick, da der Rosenstiel durchgeschnitten wurde. Er nahm den Kopfhörer ab und lief an den Zaun, der die beiden Gärten trennte. «Halt!», rief er. «Das genügt. Nicht noch mehr. Bitte, nicht noch mehr.»

Die Frau hob erstaunt den Kopf, die gelbe Rose in der einen, die Gartenschere in der anderen Hand.

«Ich will Ihnen etwas sagen, Mrs. Saunders», sprach er weiter. «Etwas so Merkwürdiges, dass Sie’s vielleicht gar nicht glauben werden.» Er legte die Hand auf den Zaun und sah sie eindringlich durch seine dicken Brillengläser an. «Sie haben heute Abend einen Korb voll Rosen geschnitten. Sie haben mit einer scharfen Schere die Stiele lebender Wesen durchtrennt, und jede Rose hat dabei entsetzlich geschrien. Haben Sie das gewusst, Mrs. Saunders?»

«Nein», antwortete sie. «Das habe ich wirklich nicht gewusst.»

«So ist es aber», versicherte Klausner. Er atmete hastig, bemühte sich jedoch, seine Erregung zu unterdrücken. «Ich habe gehört, wie sie schrien. Jedes Mal wenn Sie eine Rose abschnitten, hörte ich diesen Schmerzensschrei. Ziemlich hoch, ungefähr einhundertzweiunddreißigtausend Schwingungen in der Sekunde. Sie, Mrs. Saunders, konnten es natürlich nicht hören. Aber ich habe es gehört.»

«Ist das wahr, Mr. Klausner?» Sie beschloss, bis fünf zu zählen und dann auf das Haus zuzurennen.

«Sie werden vielleicht einwenden», fuhr er fort, «dass ein Rosenstrauch kein Nervensystem hat, mit dem er etwas empfinden kann, und keine Kehle, die es ihm ermöglicht zu schreien. Das stimmt. Er hat beides nicht. Nicht so wie wir jedenfalls. Aber woher wissen Sie, Mrs. Saunders –» er lehnte sich weit über den Zaun und sprach in einem leidenschaftlichen Flüsterton – «woher wissen Sie, dass ein Rosenstrauch, von dem man eine Blüte abschneidet, nicht ebenso großen Schmerz empfindet wie Sie, wenn man Ihnen mit einer Gartenschere das Handgelenk durchschneidet. Woher wissen Sie das? Der Strauch lebt doch, nicht wahr?»

«Ja, Mr. Klausner. O ja … Gute Nacht.» Damit machte sie kehrt und lief wie gehetzt den Gartenweg entlang. Klausner ging zum Tisch zurück. Er setzte den Kopfhörer auf und blieb eine Weile lauschend stehen. Nichts – nur das schwache Knistern und das Summen im Apparat. Er bückte sich, nahm ein weißes Gänseblümchen zwischen Daumen und Zeigefinger und zog langsam daran, bis der Stängel brach.

Von dem Augenblick, in dem er zu ziehen begann, bis zu dem Augenblick, da der Stängel brach, hörte er deutlich einen Schrei, einen leisen, hohen, seltsam unbeseelten Schrei. Er wiederholte das Experiment an einem anderen Gänseblümchen. Auch diesmal drang aus dem Kopfhörer ein Schrei an sein Ohr – aber er war jetzt nicht sicher, was dieser Schrei ausdrückte: Schmerz? Nein, eher Überraschung. Oder auch das nicht? Dieser Schrei drückte in Wahrheit keine der Empfindungen aus, die dem Menschen bekannt sind. Es war einfach ein Schrei, ein neutraler, unbeteiligter Schrei – ein einzelner Ton, der nichts ausdrückte. Und genauso war es bei den Rosen gewesen. Er hatte unrecht gehabt, es einen Schmerzensschrei zu nennen. Eine Blume empfindet wahrscheinlich keinen Schmerz. Sie fühlt etwas anderes, von dem wir nichts wissen – etwas, was vielleicht Schmarte heißt oder Plupfer oder Erflückerung oder sonst wie.

Klausner richtete sich auf und nahm den Kopfhörer ab. Es wurde dunkel. Er sah, wie in den umliegenden Häusern die Lichter aufflammten. Vorsichtig hob er den schwarzen Kasten vom Tisch, trug ihn in den Schuppen und stellte ihn auf die Werkbank. Dann schloss er die Tür von außen ab und ging ins Haus.

Am nächsten Morgen stand er in aller Frühe auf, zog sich an und lief sofort in den Schuppen, um den Apparat zu holen. Er umfasste ihn mit beiden Händen, drückte ihn gegen die Brust und schritt, leicht unter dem Gewicht schwankend, am Haus vorbei zur Gartenpforte und von dort über die Straße in den Park. Nachdem er kurz Umschau gehalten hatte, ging er weiter, bis er zu einem großen Baum kam, einer Buche. Er stellte den Kasten dicht neben den Baumstamm. Dann rannte er ins Haus zurück, holte eine Axt aus dem Kohlenkeller, trug sie über die Straße in den Park und legte sie ebenfalls neben den Baum.

Wieder hielt er Umschau, blickte nervös durch seine dicken Gläser nach allen Seiten. Kein Mensch weit und breit. Es war sechs Uhr morgens.

Klausner stülpte den Kopfhörer über die Ohren und schaltete den Apparat ein. Er lauschte ein Weilchen dem vertrauten schwachen Summen; dann ergriff er die Axt, stellte sich breitbeinig hin und hieb sie mit aller Kraft dicht über dem Boden in den Baumstamm. Die Schneide drang tief in das Holz und blieb dort stecken. Im Augenblick des Aufpralls hörte er einen höchst merkwürdigen Laut. Es war ein unbekannter Laut, anders als alles, was er jemals gehört hatte, ein raues tonloses Dröhnen, ein brummendes, tiefes Ächzen, nicht schnell und kurz wie der Aufschrei der Rosen, sondern langgezogen wie ein Seufzen. Am lautesten war es, als die Axt aufschlug, dann wurde es nach und nach schwächer, bis es schließlich verstummte.

Entsetzt starrte Klausner auf die Stelle, wo die Axt in das hölzerne Fleisch des Baumes gedrungen war. Er umfasste mit beiden Händen den Griff der Axt, zog die Schneide behutsam aus dem Stamm und warf das Werkzeug auf die Erde. Seine Finger tasteten über den Riss, der im Holz klaffte; er versuchte, die Ränder zusammenzupressen, um die Wunde zu schließen, und dabei murmelte er immer wieder: «Baum … ach, Baum … Es tut mir leid … Es tut mir so leid … Aber es wird heilen … O ja, es wird heilen …»

So stand er eine Zeitlang vor dem großen Baum, die Hände auf dem Stamm; dann drehte er sich plötzlich um und lief zurück – über die Straße, durch die Pforte, ins Haus. Er ging zum Telefon, sah im Buch nach, wählte eine Nummer und wartete. Seine linke Hand hielt den Hörer umklammert, während er mit der rechten ungeduldig auf den Tisch klopfte. Er hörte das Klingelzeichen am anderen Ende der Leitung, dann ein Klicken. Eine verschlafene männliche Stimme sagte: «Hallo, ja.»

«Dr. Scott?», fragte er.

«Ja. Am Apparat.»

«Dr. Scott, Sie müssen sofort kommen – bitte, schnell.»

«Wer spricht denn da?»

«Klausner. Sie erinnern sich doch, ich habe Ihnen gestern Abend von den Lauten erzählt, die ich hören möchte, und davon, dass ich hoffte …»

«Ja, ja, natürlich, aber was ist los? Sind Sie krank?»

«Nein, krank bin ich nicht, aber …»

«Was denn», sagte der Arzt, «und da reißen Sie mich morgens um halb sieben aus dem Schlaf?»

«Bitte, kommen Sie. Kommen Sie schnell. Ich möchte, dass jemand es hört. Es macht mich verrückt! Ich kann es nicht glauben …»

Der Arzt kannte diesen verzweifelten, fast hysterischen Tön – es war der gleiche Ton, in dem man ihm schon oft durchs Telefon zugerufen hatte: «Hier ist ein Unfall passiert. Kommen Sie schnell.» Er sagte langsam: «Sie wollen also wirklich, dass ich aufstehe und zu Ihnen komme?»

«Ja, jetzt gleich. Sofort, bitte.»

«Also gut – in ein paar Minuten bin ich da.»

Klausner setzte sich neben das Telefon und wartete. Er suchte sich zu erinnern, wie der Schrei des Baumes geklungen hatte, aber es gelang ihm nicht. Er wusste nur, dass es furchtbar gewesen war und dass sich ihm vor Entsetzen der Magen umgedreht hatte. Was für einen Schrei würde wohl ein Mensch ausstoßen, der fest in der Erde verankert dastehen musste, während ihm jemand eine scharfe Axt ins Bein hieb, sodass die Schneide tief eindrang und sich in der Wunde einkeilte? Vielleicht den gleichen Schrei? Nein. Ganz bestimmt nicht. Der Schrei des Baumes war schrecklicher gewesen als irgendein Laut, den Menschen hervorbringen konnten, weil er etwas so grauenhaft Tonloses, Kehlloses gehabt hatte. Und wie würden wohl andere Lebewesen schreien? Klausner sah sofort ein Weizenfeld vor sich, ein Feld voll lebender, aufrecht stehender gelber Weizenhalme, über das eine Mähmaschine fuhr, die mit ihren scharfen Messern die Halme durchschnitt, fünfhundert Halme in der Sekunde, in jeder Sekunde. O Gott, was musste das für ein Laut sein? Fünfhundert Weizenpflanzen, die gleichzeitig aufschrien, und in jeder Sekunde wurden fünfhundert weitere geschnitten und schrien – nein, dachte er, ich will nicht mit meinem Apparat auf ein Weizenfeld gehen. Ich würde danach nie wieder Brot essen können. Und wie ist es mit Kartoffeln, fragte er sich, mit Kohlköpfen, Karotten und Zwiebeln? Und mit Äpfeln? Ach nein, bei Äpfeln ist nichts zu befürchten. Sie fallen auf natürliche Weise ab, wenn sie reif sind. Mit Äpfeln ist es etwas anderes, sofern man sie abfallen lässt und sie nicht von den Zweigen reißt. Aber Gemüse … Kartoffeln zum Beispiel. Eine Kartoffel würde bestimmt schreien, ebenso eine Karotte, eine Zwiebel, ein Kohlkopf …

Er hörte das Knarren der Gartenpforte, sprang auf, lief hinaus und sah den hochgewachsenen Arzt, der sich mit seiner schwarzen Tasche in der Hand dem Haus näherte.

«Na», sagte Dr. Scott, «wo brennt’s denn?»

«Kommen Sie mit, Doktor. Ich möchte, dass Sie es hören. Ich habe Sie gerufen, weil Sie der Einzige sind, dem ich’s erzählt habe. Es ist drüben im Park. Kommen Sie mit.»

Der Arzt sah ihn an. Klausner schien sich beruhigt zu haben. Nichts deutete auf Geistesgestörtheit oder Hysterie hin; er war nur nervös und erregt.

Sie gingen über die Straße in den Park. Klausner führte den Arzt zu der großen Buche, an deren Fuß der sargähnliche schwarze Kasten stand. Daneben lag die Axt.

«Warum haben Sie den Apparat hierhergebracht?», fragte Dr. Scott.

«Ich brauchte einen Baum. In meinem Garten gibt es keine großen Bäume.»

«Und was soll die Axt?»

«Das werden Sie gleich sehen. Aber jetzt setzen Sie bitte den Kopfhörer auf und geben Sie acht. Geben Sie sehr gut acht, und sagen Sie mir nachher genau, was Sie gehört haben. Ich möchte ganz sichergehen …»

Der Arzt lächelte, nahm den Kopfhörer und stülpte ihn über die Ohren.

Klausner bückte sich und schaltete den Apparat ein. Dann ergriff er die Axt, stellte sich breitbeinig hin, um den Schlag zu führen. Einen Augenblick zögerte er noch. «Können Sie etwas hören?», fragte er den Arzt.

«Kann ich was

«Können Sie etwas hören

«Nur ein Summen.»

Klausner stand mit der erhobenen Axt da. Aber er brachte es einfach nicht fertig zuzuschlagen. Der Gedanke an den Laut, den der Baum von sich geben würde, ließ ihn abermals zögern.

«Worauf warten Sie noch?», fragte der Arzt.

«Auf nichts», antwortete Klausner. Er holte weit aus und schwang die Axt gegen den Baum. Und während er sie schwang, glaubte er zu fühlen, ja mehr noch, war er sicher zu fühlen, dass sich die Erde unter ihm bewegte. Ein leichtes Beben lief durch den Boden, auf dem er stand, als wären die Wurzeln des Baumes in der Tiefe erzittert. Aber es war zu spät, den Schlag zu bremsen. Die Axt traf den Stamm und drang in ihn ein. In diesem Augenblick erklang über den Männern das Krachen berstenden Holzes und das Rauschen von Blättern, die andere Blätter streiften. Sie sahen beide hoch, und der Arzt schrie: «Passen Sie auf! Laufen Sie, Mann! Schnell, laufen Sie!»

Er hatte den Kopfhörer abgerissen und rannte davon. Klausner aber stand wie erstarrt und blickte auf den großen, viele Meter langen Ast, der sich langsam nach unten neigte. An der dicksten Stelle des Astes, dort, wo er in den Stamm überging, barst, knackte und splitterte das Holz. Klausner konnte gerade noch rechtzeitig beiseitespringen. Der Ast fiel auf den Apparat und zertrümmerte ihn.

«Mein Gott!», rief der Arzt, als er zurückgelaufen kam. «Das ging nahe vorbei! Ich dachte schon, es hätte Sie erwischt!»

Klausner sah den Baum an. Sein großer Kopf war zur Seite geneigt, und auf seinem weichen weißen Gesicht lag ein Ausdruck des Entsetzens. Langsam näherte er sich dem Baum und löste vorsichtig die Axt aus dem Stamm.

«Haben Sie es gehört, Doktor?», fragte er mit versagender Stimme.

Der Arzt war vom Laufen und der Aufregung noch ganz außer Atem. «Was gehört?»

«Im Kopfhörer. War da irgendein Geräusch, als die Axt aufschlug?» Dr. Scott rieb sich den Nacken. «Hm», murmelte er, «offen gestanden …» Er runzelte die Stirn und nagte an seiner Unterlippe. «Nein, nicht dass ich wüsste. Wirklich, ich kann es nicht sagen. Die Axt schlug auf, und in der nächsten Sekunde habe ich den Kopfhörer schon abgerissen.»

«Ja, ja, aber was haben Sie gehört?»

«Ich weiß es nicht», beteuerte der Arzt. «Ich weiß nicht, was ich gehört habe. Wahrscheinlich das Geräusch des splitternden Astes.» Er sprach schnell und ziemlich gereizt.

«Wie hat es geklungen?» Klausner beugte sich ein wenig vor und sah ihn scharf an. «Beschreiben Sie mir genau, wie es geklungen hat.»

Der Arzt verlor die Geduld. «Zum Teufel, woher soll ich das wissen? Ich war mehr daran interessiert, mein Leben zu retten. Lassen wir das.»

«Dr. Scott, wie hat es geklungen?»

«Herr des Himmels, denken Sie denn, ich achte auf so was, wenn der halbe Baum herunterkommt und ich um mein Leben rennen muss?» Der Arzt war zweifellos nervös. Klausner spürte es. Er stand regungslos da und blickte Dr. Scott an, ohne ein Wort zu sprechen. Der Arzt scharrte mit den Füßen, zuckte die Achseln und wandte sich schließlich ab. «Nun», sagte er, «das ist dann wohl alles.»

«Halt!», befahl der kleine Mann, und sein weiches weißes Gesicht rötete sich plötzlich. «Halt, Sie müssen das hier erst nähen.» Er zeigte auf den klaffenden Riss, den zweiten, den die Axt in den Baumstamm geschlagen hatte. «Nähen Sie das schnell.»

«Seien Sie nicht albern.»

«Tun Sie, was ich Ihnen sage. Nähen Sie es.» Klausner hob die Axt etwas höher. Er sprach leise, in einem seltsamen, fast drohenden Ton.

«Seien Sie nicht albern», wiederholte der Arzt. «Ich kann kein Holz nähen. Kommen Sie, wir gehen ins Haus.»

«Sie können kein Holz nähen?»

«Nein, natürlich nicht.»

«Haben Sie Jod in Ihrer Tasche?»

«Und wenn ich welches habe?»

«Bepinseln Sie die Wunde mit Jod. Es wird brennen, aber das lässt sich nicht ändern.»

«Unsinn», sagte der Arzt, und wieder wandte er sich zum Gehen. «Machen Sie sich doch nicht lächerlich. Kommen Sie mit ins Haus, und dann …»

«Bepinseln Sie die Wunde mit Jod!»

Der Arzt zögerte. Er sah, wie sich Klausners Hand fester um den Griff der Axt schloss. Entweder tue ich ihm den Willen, dachte er, oder ich laufe weg, so schnell ich kann. Er fühlte sich verpflichtet zu bleiben.

«Also gut», sagte er. «Ich bepinsele die Wunde mit Jod.»

Aus seiner schwarzen Tasche, die etwa zehn Meter entfernt im Gras lag, holte er eine Flasche Jod und etwas Watte. Dann trat er an den Baumstamm heran, entkorkte die Flasche, goss etwas Jod auf die Watte, bückte sich und betupfte die Schnittfläche. Er behielt dabei Klausner im Auge, der mit der Axt in der Hand unbeweglich dastand und ihn beobachtete.

«Passen Sie auf, dass Sie es richtig hineinbekommen.»

«Ja», sagte der Arzt.

«Und jetzt die andere Wunde – die obere.»

Der Arzt gehorchte.

«So, ich bin fertig.» Dr. Scott richtete sich auf und begutachtete mit ernster Miene seine Arbeit. «Das dürfte völlig genügen.»

Klausner untersuchte gewissenhaft die beiden Wunden.

«Ja», meinte er und nickte bedächtig mit dem großen Kopf. «Ja, das dürfte genügen.» Er ging einen Schritt zurück. «Kommen Sie morgen wieder, um es sich anzusehen?»

«Natürlich», versicherte der Arzt. «Selbstverständlich.»

«Und behandeln Sie die Wunden wieder mit Jod?»

«Wenn es nötig ist, ja.»

«Danke, Doktor.» Klausner nickte noch einmal mit dem Kopf. Er ließ die Axt fallen, und plötzlich lächelte er ein wildes, erregtes Lächeln. Der Arzt trat schnell auf ihn zu, nahm ihn sanft beim Arm und sagte: «Kommen Sie jetzt.» Und dann gingen sie fort, die beiden, gingen schweigend und ziemlich eilig zurück – durch den Park, über die Straße, ins Haus.

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