Als vor etwa acht Jahren der alte Sir William Turton starb und sein Sohn Basil nicht nur den Titel, sondern auch die Turton Press erbte, wurden, wie ich mich erinnere, in der Fleet Street zahlreiche Wetten abgeschlossen, wie lange es dauern würde, bis eine hübsche junge Frau den kleinen Burschen überzeugt hätte, dass sie sich um ihn kümmern müsse. Um ihn und sein Geld, heißt das.
Basil – nunmehr Sir Basil Turton – mochte damals vierzig Jahre zählen. Er war Junggeselle, ein Mann von sanfter, schlichter Wesensart, der sich bis dahin nur für seine Sammlung moderner Gemälde und Skulpturen interessiert hatte. Nie war sein Seelenfrieden durch eine Frau gestört worden; kein Skandal und kein Gerede hatten je seinen Namen befleckt. Nun aber, da er die Herrschaft über ein großes Zeitungsimperium angetreten hatte, musste er das stille väterliche Landhaus verlassen und nach London übersiedeln.
Natürlich scharten sich die Geier sofort um ihn, und nicht nur die Fleet Street, sondern fast die ganze Stadt sah gespannt zu, wie sie ihm nachstellten. Sie gingen dabei langsam vor, sehr langsam und sehr bedächtig, sodass ich statt von Geiern vielleicht lieber von einem Haufen gelenkiger Krebse sprechen sollte, die unter Wasser nach einem Stück Pferdefleisch greifen.
Aber zur allgemeinen Überraschung wusste der kleine Kerl allen Eroberungsversuchen geschickt zu entgehen, und so zog sich die Jagd über den Frühling und Frühsommer jenes Jahres hin. Obgleich Sir Basil nicht zu meinen Bekannten gehörte, sodass für mich kein Anlass bestand, ihm freundschaftliche Gefühle entgegenzubringen, ergriff ich unwillkürlich für ihn, meinen Geschlechtsgenossen, Partei und triumphierte jedes Mal, wenn es ihm gelang, mit heiler Haut davonzukommen.
Dann, etwa Anfang August – anscheinend auf irgendein weibliches Geheimsignal hin –, schlossen die Mädchen untereinander eine Art Waffenstillstand und fuhren in die Ferien, um auszuruhen, neue Kräfte zu sammeln und Pläne für den Abschuss im Winter zu schmieden. Das war ein Fehler, denn genau in diesem Augenblick kam vom Kontinent ein bezauberndes Geschöpf herüber: Natalia Soundso, von der noch nie jemand gehört hatte, tauchte in London auf, nahm Sir Basil fest an der Hand und schleifte ihn, der sich gewissermaßen in Trance befand, zum Standesamt in der Caxton Hall, bevor irgendjemand, am wenigsten der Bräutigam selbst, begriffen hatte, was eigentlich geschah.
Sie können sich vorstellen, dass die Londoner Damen entrüstet waren, und natürlich zögerten sie keinen Augenblick, allerlei saftigen Klatsch über die frischgebackene Lady Turton («diese unverschämte Wilddiebin») zu verbreiten. Aber damit brauchen wir uns nicht aufzuhalten. Wir können getrost die nächsten sechs Jahre überspringen und uns einer Begebenheit zuwenden, die sich vor genau einer Woche ereignete, als ich das Vergnügen hatte, Ihrer Ladyschaft zum ersten Mal zu begegnen. Wie Sie sich denken können, leitet sie mittlerweile nicht nur die gesamte Turton Press, sondern hat sich dadurch auch eine beträchtliche politische Machtstellung erworben. Gewiss, das ist auch schon anderen Frauen gelungen, aber Lady Turtons Fall ist insofern ungewöhnlich, als sie Ausländerin ist und niemand recht zu wissen scheint, aus welchem Lande sie stammt – aus Jugoslawien, Bulgarien oder Russland.
Am letzten Donnerstag also war ich bei Londoner Freunden zu einer kleinen Abendgesellschaft geladen. Als wir vor dem Dinner im Salon standen, einen Martini tranken und über die Atombombe und Mr. Bevan sprachen, steckte das Mädchen den Kopf herein, um den letzten Gast anzukündigen.
«Lady Turton», meldete sie.
Niemand hörte auf zu reden; dazu waren wir alle zu gut erzogen. Keine Köpfe fuhren herum. Nur unsere Blicke gingen zur Tür und warteten auf ihr Erscheinen.
Sie trat ein, groß und schlank, in einem rotgoldenen glitzernden Kleid, und ging schnell, mit lächelndem Mund und ausgestreckten Händen auf die Gastgeberin zu.
«Mildred, guten Abend!»
«Meine liebe Lady Turton! Wie reizend!»
Ich glaube, jetzt hörten wir tatsächlich auf zu reden und fuhren herum. Wir starrten sie an und warteten ganz bescheiden darauf, ihr vorgestellt zu werden, als wäre sie die Königin oder ein berühmter Filmstar. Aber sie sah besser aus als die Königin oder ein Filmstar. Sie hatte schwarzes Haar und eines jener blassen, ovalen, unschuldigen Gesichter, wie man sie bei den Madonnen flämischer Maler des fünfzehnten Jahrhunderts findet. Ja, sie hätte von Memling oder van Eyck gemalt sein können. Jedenfalls war das mein erster Eindruck. Später, als ich an die Reihe kam, sie zu begrüßen, stellte ich fest, dass ihr Gesicht – bis auf die Konturen und die Farbgebung – keineswegs das einer Madonna war. Ganz im Gegenteil.
So hatte sie beispielsweise sehr merkwürdige Nasenflügel, die überaus stark geschwungen waren und dabei so gebläht, wie ich es nie zuvor gesehen hatte. Die Nase bekam dadurch etwas Witterndes, Schnaubendes, das irgendwie an ein wildes Tier erinnerte – an einen Mustang.
Und ihre Augen waren, aus der Nähe betrachtet, nicht groß und rund, wie die Madonnenmaler sie malten, sondern länglich und schmal, halb lächelnd, halb mürrisch und ein wenig ordinär, sodass sie fast etwas verworfen wirkte. Überdies sah sie einen nie offen an. Der Blick kam langsam von der Seite, mit einer eigenartig gleitenden Bewegung, die mich beunruhigte. Ich versuchte, die Farbe ihrer Augen zu ergründen, hielt sie für hellgrau, war mir aber nicht sicher.
Dann wurde sie zu anderen Gästen geführt, um deren Bekanntschaft zu machen. Ich blickte ihr nach. Offensichtlich war sie sich ihres Erfolges bewusst und genoss es, von diesen Londonern umschmeichelt zu werden. ‹Schaut mich an›, schien sie zu sagen, ‹ich bin erst vor wenigen Jahren hergekommen, aber schon jetzt bin ich reicher und mächtiger als irgendeiner von euch.› In ihrem Gang lag etwas Triumphierendes.
Ein paar Minuten später begaben wir uns ins Speisezimmer, und zu meiner Überraschung saß ich zur Rechten Ihrer Ladyschaft. Vermutlich hatte unsere Gastgeberin das so arrangiert, weil sie mir Gelegenheit geben wollte, Material für die Gesellschaftsspalte zu sammeln, die ich jeden Tag für eine Abendzeitung schreibe. Ich machte mich auf eine anregende Unterhaltung gefasst. Aber die berühmte Dame beachtete mich überhaupt nicht; sie sprach ausschließlich mit ihrem Nachbarn zur Linken, dem Gastgeber. Erst gegen Ende der Mahlzeit – ich war gerade mit meinem Eis fertig – wandte sie sich plötzlich um, streckte die Hand aus, nahm meine Tischkarte und las den Namen. Dann richtete sie ihren Blick mit jener eigenartig gleitenden Bewegung der Augen auf mich. Ich lächelte und deutete eine Verbeugung an. Ohne mein Lächeln zu erwidern, begann sie mit einer seltsam plätschernden Stimme Fragen auf mich abzufeuern, ziemlich persönliche Fragen – Beruf, Alter, Familie und dergleichen –, die ich beantwortete, so gut ich konnte.
Bei diesem Verhör erfuhr sie unter anderem von meinem Interesse für Malerei und Bildhauerkunst.
«Dann sollten Sie uns einmal auf dem Land besuchen und sich die Sammlung meines Mannes ansehen.» Sie sagte das nur als Gesprächsfloskel, aber ich kann es mir in meinem Beruf nicht erlauben, eine solche Chance ungenutzt zu lassen.
«Ich wüsste nicht, was ich lieber täte, Lady Turton. Sehr freundlich von Ihnen. Wann darf ich kommen?»
Ihr Kopf fuhr hoch. Sie zögerte, runzelte die Stirn, zuckte die Achseln. «Ach, das ist mir gleich. Irgendwann.»
«Wie wär’s mit diesem Wochenende? Würde Ihnen das passen?» Der Blick ihrer länglichen, schmalen Augen heftete sich für eine Sekunde auf mein Gesicht und glitt dann weiter. «Warum nicht? Wenn Sie wollen … Mir ist es gleich.»
So packte ich denn am nächsten Sonnabendnachmittag meinen Koffer und fuhr im Wagen nach Wooton. Vielleicht sind Sie der Meinung, ich hätte die Einladung ein wenig forciert – nun ja, anders wäre ich nie dazu gekommen. Und mir lag nicht nur aus beruflichen Gründen sehr viel daran, das Haus zu besichtigen. Bekanntlich zählt Wooton zu den wirklich bedeutenden Steinhäusern der frühen englischen Renaissance. Wie seine Gegenstücke Longleat, Wollaton und Montacute wurde es in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts erbaut, als die großen Herren zum ersten Mal auf die festen Burgen verzichten und sich behagliche Wohnsitze schaffen konnten. Damals hat eine neue Schule von Architekten, unter ihnen John Thorpe und die Smithsons, in ganz England wahre Wunderwerke erstehen lassen. Wooton liegt südlich von Oxford in der Nähe eines Städtchens namens Princes Risborough. Als ich in das Portal einbog, verdunkelte sich bereits der Himmel, und der frühe Winterabend brach an.
Ich fuhr jetzt sehr langsam und versuchte, so viel wie möglich von dem Park zu beiden Seiten des Weges zu sehen. Besonders interessierten mich die berühmten Figurenbäume, von denen ich schon viel gehört hatte. Und ich muss sagen, es war wirklich ein eindrucksvoller Anblick. Überall standen kräftige Eiben, die so beschnitten und zurechtgestutzt waren, dass sie seltsame Formen und Figuren bildeten: Hühner, Tauben, Flaschen, Stiefel, Lehnstühle, Burgen, Eierbecher, Laternen, alte Frauen mit bauschigen Röcken, hohe Säulen, einige von einer Kugel gekrönt, andere von großen, runden Dächern oder Pilzhüten. In der Dämmerung hatte sich das Grün in Schwarz verwandelt, sodass die Bäume wie dunkle, glatte Skulpturen wirkten. An einer Stelle sah ich eine Rasenfläche mit riesigen Schachfiguren, jede eine lebende Eibe, wunderbar gestaltet. Ich hielt den Wagen an und stieg aus. Die Figuren waren doppelt so groß wie ich. Ein vollständiges Schachspiel. Die Könige, die Damen, die Läufer, Springer, Türme und Bauern – alle standen sie da, als sollte die Partie gleich eröffnet werden.
Hinter der nächsten Wegbiegung erblickte ich das große graue Haus, dessen Vorhof von einer hohen Balustrade umgeben war und zu beiden Seiten von säulenverzierten Pavillons flankiert wurde. Auf den Pfeilern der Balustrade erhoben sich Obelisken – der italienische Einfluss auf den Tudor-Geschmack. Eine mindestens dreißig Meter breite Freitreppe führte zum Haus hinauf.
In der Mitte des Vorhofs stand, wie ich zu meinem Entsetzen sah, ein Brunnenbecken mit einer großen Statue von Epstein. Zweifellos ein wunderbares Stück, aber in dieser Umgebung einigermaßen fehl am Platze. Als ich die Treppe hinaufstieg und mich noch einmal umschaute, entdeckte ich, dass auch auf den kleinen Rasenplätzen und Terrassen ringsum moderne Statuen und seltsam geformte Skulpturen standen. Ich glaubte einen Gaudier Breska, einen Brancusi, einen Saint-Gaudens, einen Henry Moore und noch einen Epstein zu erkennen.
Die Tür wurde von einem jungen Diener geöffnet, der mich in ein Schlafzimmer im ersten Stock führte. Ihre Ladyschaft, erklärte er, habe sich zu einer Ruhepause zurückgezogen, und die übrigen Gäste seien ihrem Beispiel gefolgt, aber alle würden sich in etwa einer Stunde, zum Dinner gekleidet, im großen Salon einfinden.
Mein Beruf zwingt mich, viele Wochenendbesuche zu machen. Ich verbringe wohl fünfzig Sonnabende und Sonntage im Jahr in den Häusern anderer Leute und habe daher eine feine Witterung für ungewohnte Atmosphären. Schon wenn ich ein Haus betrete, kann ich förmlich riechen, ob alles in Ordnung ist. Das Haus, in dem ich mich jetzt befand, gefiel mir gar nicht, denn in der Luft lag ein Hauch jenes trockenen Geruchs, der nichts Gutes verheißt. Ich spürte ihn sogar, als ich mit Behagen mein warmes Bad in einer riesigen Marmorwanne genoss, und ich konnte nur hoffen, dass bis Montag nichts Unerfreuliches geschehen würde.
Kaum zehn Minuten später geschah etwas – wenn es auch eher überraschend als unerfreulich war. Ich saß auf dem Bett und zog mir die Socken an, als sich die Tür leise öffnete und ein schwarzbefrackter, schiefschultriger alter Gnom mit schleichenden Schritten hereinkam. Er sagte, er sei der Butler, heiße Jelks und erlaube sich die Frage, ob ich mich wohlfühlte und alles hätte, was ich brauchte.
Ich beruhigte ihn über diesen Punkt. Er versicherte, dass er sich nach Kräften bemühen werde, mir das Wochenende so angenehm wie möglich zu machen. Ich dankte ihm und wartete, dass er ginge. Er zögerte, dann bat er mit einer Stimme, die vor Salbung triefte, um die Erlaubnis, eine recht heikle Sache zur Sprache zu bringen. Ich forderte ihn auf loszuschießen.
Um ganz offen zu sein, sagte er, es handle sich um das Trinkgeld. Das sei eine Angelegenheit, die ihm ernste Sorgen bereite.
Ach? Und wieso?
Nun, wenn ich es wirklich wissen wolle, ihm gefalle der Gedanke nicht, dass seine Gäste sich verpflichtet fühlen könnten, ihm beim Verlassen des Hauses ein Trinkgeld zu geben – wie es ja allgemein üblich sei. Er empfinde dieses Verfahren als erniedrigend, sowohl für den, der das Trinkgeld gebe, als auch für den, der es erhalte. Außerdem sei ihm durchaus klar, dass Gäste wie ich – er bitte höflichst, ihm diese Offenheit zu verzeihen – mitunter in eine peinliche Lage gerieten, weil sie sich anstandshalber verpflichtet fühlten, mehr zu geben, als sie sich eigentlich leisten könnten.
Er machte eine Pause, und zwei kleine, verschlagene Augen suchten in meinem Gesicht nach einem Zeichen der Zustimmung. Ich murmelte, dass er das meine Sorge sein lassen solle.
O nein, erwiderte er rasch, er hoffe aufrichtig, dass ich mich bereit erklären würde, ihm kein Trinkgeld zu geben.
«Nun», sagte ich, «darüber brauchen wir uns doch jetzt noch nicht aufzuregen. Das findet sich alles, wenn es so weit ist.»
«Nein, Sir!», rief er. «Bitte, ich muss darauf bestehen.»
Ich gab also nach.
Er dankte mir. Dann trat er schlurfend zwei, drei Schritte näher, neigte den Kopf zur Seite, faltete die Hände über der Brust wie ein Priester und zuckte, als wollte er sich entschuldigen, kaum merklich die Achseln. Die kleinen, scharfen Augen sahen mich unverwandt an, während ich – die eine Socke am Fuß, die andere in der Hand – zu erraten suchte, was nun kommen würde.
Alles, worum er bitte, sagte er leise, so leise jetzt, dass seine Stimme wie Musik klang, die schwach aus einer großen Konzerthalle auf die Straße dringt, alles, worum er bitte, sei dies: Ich möge ihm statt des Trinkgelds dreiunddreißigeindrittel Prozent meines auf Wooton erzielten Spielgewinns überlassen. Wenn ich verlöre, brauchte ich ihm nichts zu geben.
Das kam alles so leise, so sanft und so plötzlich heraus, dass ich nicht einmal überrascht war.
«Wird hier viel Karten gespielt, Jelks?»
«Ja, Sir. Sehr viel.»
«Finden Sie dreiunddreißigeindrittel nicht ein bisschen happig?»
«Keineswegs, Sir.»
«Wie wär’s mit zehn Prozent?»
«Nein, Sir, darauf kann ich mich nicht einlassen.»
Er betrachtete die Fingernägel seiner linken Hand und runzelte die Stirn.
«Na, dann fünfzehn. In Ordnung?»
«Dreiunddreißigeindrittel, Sir? Das ist nur recht und billig. Denn sehen Sie, Sir, ich weiß ja nicht einmal, ob Sie ein guter Spieler sind. Ohne persönlich werden zu wollen – ich setze auf ein Pferd, dass ich noch nie habe laufen sehen.»
Zweifellos werden Sie jetzt denken, dass ich gar nicht erst hätte anfangen dürfen, mit dem Butler zu feilschen, und vielleicht haben Sie recht. Aber als liberal gesinnter Mensch bemühe ich mich immer, Angehörigen der unteren Klassen freundlich entgegenzukommen. Außerdem musste ich bei näherer Überlegung zugeben, dass dies ein faires Angebot war und dass kein Sportsmann das Recht hatte, es abzulehnen.
«Also gut, Jelks. Wie Sie wollen.»
«Danke, Sir.» Er steuerte auf die Tür zu, schob sich langsam seitwärts vor wie ein Krebs. Wieder zögerte er, eine Hand auf dem Türknopf. «Wenn Sie gestatten, Sir … Dürfte ich Ihnen einen kleinen Rat geben?»
«Na?»
«Es ist nur, dass Ihre Ladyschaft dazu neigt, zu hoch zu reizen.»
Nun, das ging wirklich zu weit. Ich war so verdutzt, dass ich meine Socke fallen ließ. Gewiss, es ist nichts dabei, wenn man wegen des Trinkgelds mit dem Butler ein kleines sportliches Abkommen trifft, aber wenn er mit Ratschlägen anfängt, wie man der Gastgeberin am besten das Geld abnehmen kann, dann ist es zweifellos Zeit, ihn in die Schranken zu weisen.
«Danke, Jelks, das genügt.»
«Sie verstehen mich hoffentlich nicht falsch, Sir. Ich meine nur, dass Sie bestimmt gegen Ihre Ladyschaft spielen. Sie hat immer Major Haddock als Partner.»
«Major Haddock? Major Jack Haddock?»
«Ja, Sir.»
Ich bemerkte, dass Jelks leicht die Nase rümpfte, als er von diesem Mann sprach. Und noch weniger schien er von Lady Turton zu halten. Jedes Mal, wenn er ‹Ihre Ladyschaft› sagte, verzog er den Mund, als sauge er an einer Zitrone, und seine Stimme hatte einen leicht spöttischen Klang.
«Entschuldigen Sie mich jetzt bitte, Sir. Ihre Ladyschaft wird um sieben Uhr herunterkommen. Ebenso Major Haddock und die anderen.» Er schlüpfte aus der Tür und ließ den schwachen Geruch irgendeines Einreibemittels zurück, der die Atmosphäre keineswegs verbesserte.
Kurz nach sieben betrat ich den großen Salon. Lady Turton, schön wie immer, erhob sich, als sie mich sah.
«Ich wusste nicht mehr genau, wann Sie kommen würden», sagte sie mit ihrer eigentümlich wiegenden Stimme. «Wie war doch gleich Ihr Name?»
«Ich fürchte, ich habe Sie beim Wort genommen, Lady Turton. Hoffentlich ist es Ihnen recht.»
«Warum nicht?», erwiderte sie. «Das Haus hat siebenundvierzig Schlafzimmer. Dies ist mein Mann.»
Ein kleiner Mann tauchte hinter ihrem Rücken auf und begrüßte mich mit den Worten: «Wissen Sie, ich freue mich wirklich, dass Sie kommen konnten.» Er hatte ein sehr gewinnendes, warmes Lächeln, und als er mir die Hand gab, spürte ich in dem Druck seiner Finger sofort etwas Freundschaftliches.
«Und Carmen La Rosa», sagte Lady Turton.
Das war eine kräftig gebaute Frau, die aussah, als hätte sie etwas mit Pferden zu tun. Sie nickte mir zu, verzichtete aber darauf, meine bereits ausgestreckte Hand zu ergreifen, sodass ich gezwungen war, die Bewegung in ein Naseputzen umzuwandeln.
«Sind Sie erkältet?», fragte sie. «Das tut mir leid.»
Miss Carmen La Rosa missfiel mir.
«Und dies ist Jack Haddock.»
Ich kannte den Mann, wenn auch nur flüchtig. Er war Direktor in einigen Unternehmen (was immer das bedeuten mochte) und ein bekanntes Mitglied der Gesellschaft. Ich hatte ihn ein paarmal in meiner Spalte erwähnt, aber er war mir nie sympathisch gewesen. Wahrscheinlich lag das vor allem daran, dass mir Leute, die ihre militärischen Titel mit ins Privatleben hinübernehmen, immer verdächtig sind – besonders Majore und Obersten. Wie er dastand in seinem Smoking, mit dem vollblütigen, animalischen Gesicht, den schwarzen Augenbrauen und den blendend weißen Zähnen, sah er so gut aus, dass es fast indezent wirkte. Er hatte die Angewohnheit, beim Lächeln die Oberlippe zu heben und die Zähne zu entblößen, und er lächelte jetzt, als er mir seine behaarte braune Hand reichte.
«Ich hoffe, Sie sagen etwas Nettes über uns in Ihrer Spalte.»
«Das möchte ich ihm raten», meinte Lady Turton, «sonst sage ich nämlich etwas Unangenehmes über ihn auf meiner ersten Seite.»
Ich lachte, aber alle drei, Lady Turton, Major Haddock und Carmen La Rosa, hatten sich bereits abgewandt und nahmen wieder auf dem Sofa Platz. Jelks brachte mir einen Drink, und Sir Basil zog mich zu einem ruhigen Gespräch in den Hintergrund des Salons. Lady Turton rief alle Augenblicke nach ihrem Mann, damit er irgendetwas für sie hole – noch einen Martini, eine Zigarette, einen Aschenbecher, ein Taschentuch –, aber wenn er sich dann halb aus seinem Sessel erhoben hatte, war ihm Jelks schon zuvorgekommen und versorgte Lady Turton mit dem Gewünschten.
Es war klar, dass Jelks seinen Herrn liebte, und ebenso klar, dass er die Frau hasste. Sooft er etwas für sie tat, stieß er verächtlich ein wenig Luft durch die Nase und presste die Lippen zusammen, sodass sie aussahen wie das Hinterteil eines Puters.
Beim Dinner saß Lady Turton zwischen ihren beiden Freunden, Haddock und Miss La Rosa. Durch dieses unkonventionelle Arrangement hatten Sir Basil und ich Gelegenheit, unser interessantes Gespräch über Bilder und Skulpturen fortzusetzen. Natürlich hatte ich inzwischen begriffen, dass der Major in Ihre Ladyschaft verliebt war. Und ich hatte das Gefühl – so ungern ich diesen Verdacht äußere –, dass die La Rosa demselben Vogel nachjagte.
Das alles schien der Gastgeberin sehr zu behagen. Aber ihrem Mann behagte es gar nicht. Ich stellte fest, dass er sich, während wir uns unterhielten, unablässig der Vorgänge am anderen Ende des Tisches bewusst war. Seine Gedanken schweiften des Öfteren von unserem Thema ab, er unterbrach sich mitten im Satz, und sein Blick ruhte sekundenlang mit einem geradezu rührenden Ausdruck auf der schönen Frau mit dem schwarzen Haar und den eigenartig geblähten Nasenflügeln. Es konnte ihm nicht entgangen sein, wie aufgekratzt sie war, wie sie beim Sprechen gestikulierte und dabei mehrmals die Hand auf den Arm des Majors legte und wie fordernd die andere Frau, diejenige, die möglicherweise etwas mit Pferden zu tun hatte, immer wieder rief: «Nata-li-a! Nata-li-a, hör doch mal zu!»
«Morgen», sagte ich, «müssen Sie mir die Skulpturen zeigen, die Sie im Garten stehen haben.»
«Natürlich», murmelte er. «Mit Vergnügen.» Er schaute dabei zu seiner Frau hinüber, und der flehende Blick seiner Augen war herzzerreißend. Dieser Mann hatte ein so weiches, liebevolles Gemüt, dass selbst jetzt kein Zorn in ihm war, nichts, was eine Explosion hätte auslösen können.
Nach dem Essen wurde ich sofort an den Kartentisch befohlen, um mit Miss Carmen La Rosa gegen Major Haddock und Lady Turton zu spielen. Sir Basil setzte sich mit einem Buch auf das Sofa.
Das Spiel verlief durchaus normal; es brachte keinerlei Überraschungen und war ziemlich langweilig. Aber Jelks fiel mir auf die Nerven. Den ganzen Abend lungerte er um uns herum, leerte die Aschenbecher, erkundigte sich, was wir zu trinken wünschten, und schaute uns in die Karten. Er war offenbar kurzsichtig, und ich bezweifle, dass er viel von dem mitbekam, was vor sich ging. Wie Sie wissen oder vielleicht auch nicht wissen, darf ein Butler in England niemals eine Brille tragen – übrigens auch keinen Schnurrbart. Das ist eine unverbrüchliche goldene Regel und obendrein eine sehr vernünftige, obgleich mir nicht ganz klar ist, was eigentlich dahinter steckt. Vermutlich würde er mit Bart zu sehr wie ein Gentleman und mit Brille zu sehr wie ein Amerikaner aussehen, und wohin sollte das führen, frage ich Sie. Nun, jedenfalls machte Jelks mich ziemlich nervös, genau wie Lady Turton, die dauernd wegen irgendeiner Zeitungssache ans Telefon gerufen wurde.
Um elf Uhr blickte sie von ihren Karten auf und sagte: «Basil, du solltest jetzt schlafen gehen.»
«Ja, mein Liebes, vielleicht hast du recht.» Er klappte das Buch zu, erhob sich und blieb ein Weilchen am Tisch stehen, um uns zuzuschauen. «Alles in Ordnung mit dem Spiel?», fragte er.
Da die anderen nicht antworteten, sagte ich: «Es ist ein schönes Spiel.»
«Das freut mich. Und Jelks wird sich um Sie kümmern und Ihnen bringen, was Sie brauchen.»
«Jelks kann auch schlafen gehen», entschied Lady Turton.
Ich hörte, wie Major Haddock neben mir durch die Nase atmete, wie die Karten, eine nach der anderen, leise auf den Tisch klatschten und wie Jelks’ Füße über den Teppich auf uns zuschlurrten.
«Wäre es Ihnen nicht lieber, wenn ich aufbliebe, M’lady?»
«Nein. Gehen Sie zu Bett. Du auch, Basil.»
«Ja, mein Liebes. Gute Nacht. Gute Nacht, alle miteinander.»
Jelks öffnete seinem Herrn die Tür und verließ hinter ihm das Zimmer.
Sobald wir den nächsten Robber beendet hatten, erklärte ich, dass auch ich mich zurückziehen wolle.
«Bitte sehr», sagte Lady Turton. «Gute Nacht.»
Ich ging in mein Zimmer, schloss die Tür ab, nahm eine Tablette und legte mich schlafen.
Am nächsten Morgen stand ich gegen zehn Uhr auf. Als ich im Frühstückszimmer erschien, war Sir Basil schon da und wurde gerade von Jelks mit gegrillten Nieren, Speck und gebratenen Tomaten versorgt. Er freute sich, mich zu sehen, und fragte, ob ich Lust hätte, ihn gleich nach dem Frühstück auf einem langen Spaziergang durch den Garten zu begleiten. Ich versicherte ihm, dass ich mir nichts Besseres wünschen könne.
Eine halbe Stunde später brachen wir auf. Sie glauben gar nicht, wie erleichtert ich war, aus diesem Haus heraus an die frische Luft zu kommen. Es war einer jener warmen, leuchtenden Tage, die gelegentlich mitten im Winter auf eine Regennacht folgen, mit strahlendem Sonnenschein und ohne Wind. Die kahlen Bäume sahen herrlich aus in dem goldenen Licht. Das Wasser tropfte noch von den Ästen, und die Pfützen auf den Wegen funkelten wie Diamanten. Am Himmel standen zarte Wölkchen.
«Was für ein herrlicher Tag!»
«Ja, ganz herrlich, nicht wahr?»
Das war ungefähr alles, was wir während des Spaziergangs sprachen; mehr war nicht nötig. Sir Basil führte mich zu den großen Schachfiguren; dann zeigte er mir die anderen kunstvoll gestutzten Bäume, die Gartenhäuschen mit dem schönen Schnitzwerk, die Teiche, die Brunnen, das Labyrinth, in dem man sich nur im Sommer verirren konnte, wenn die Hecken belaubt waren. Auch die Blumenbeete besichtigten wir, die künstlichen Grotten, die Gewächshäuser mit ihren Weinstöcken und Pfirsichbäumen. Und natürlich die Skulpturen. Die meisten zeitgenössischen Bildhauer waren hier mit Werken aus Bronze, Granit, Kalkstein und Holz vertreten. Obgleich es ein Genuss war, diese Schöpfungen in der Sonne warm aufleuchten zu sehen, schienen sie mir nach wie vor ein bisschen fehl am Platze in diesem weitläufigen, nach strengen Regeln angelegten Park.
«Wollen wir uns nicht ein Weilchen ausruhen?», schlug Sir Basil vor, nachdem wir länger als eine Stunde umhergewandert waren. Wir setzten uns auf eine weiße Bank in der Nähe eines mit Wasserlilien bedeckten Teiches voller Karpfen und Goldfische und zündeten uns eine Zigarette an. Unsere Bank befand sich auf einer Anhöhe, ziemlich weit vom Haus entfernt, sodass wir den Garten vor uns liegen sahen wie eine Zeichnung aus einem alten Buch über Gartenarchitektur. Die Hecken, Rasenflächen, Terrassen und Brunnen bildeten ein hübsches Muster aus Vierecken und Kreisen.
«Mein Vater hat Wooton gekauft, kurz bevor ich geboren wurde», sagte Sir Basil. «Ich habe immer hier gelebt und kenne jedes Fleckchen. Ich liebe den Garten von Tag zu Tag mehr.»
«Im Sommer ist es hier bestimmt wunderbar.»
«O ja. Sie müssen uns einmal im Mai oder Juni besuchen. Versprechen Sie mir das?»
«Natürlich», sagte ich. «Mit dem größten Vergnügen.»
Während ich sprach, beobachtete ich eine rotgekleidete Frau, die sich in der Ferne zwischen den Blumenbeeten bewegte. Ich sah, wie sie mit wiegendem Gang einen Rasenplatz überquerte; dann wandte sie sich nach links und schritt an einer hohen Eibenhecke entlang, bis sie zu einem zweiten, kleineren Rasen kam, der kreisrund war und in dessen Mitte eine Skulptur aufragte.
«Der Garten ist jünger als das Haus», sagte Sir Basil. «Er wurde im frühen achtzehnten Jahrhundert von einem Franzosen namens Beaumont angelegt – demselben, der den Garten von Levens in Westmoreland gestaltet hat. Zweihundertfünfzig Leute haben mindestens ein Jahr lang daran gearbeitet.»
Ein Mann hatte sich jetzt zu der Frau im roten Kleid gesellt. Sie standen, etwa einen Meter voneinander entfernt, genau im Mittelpunkt des Gartenpanoramas auf diesem runden Rasenstück, anscheinend in ein Gespräch vertieft. Der Mann hielt irgendetwas Schwarzes in der Hand.
«Wenn es Sie interessiert, zeige ich Ihnen nachher die Rechnungen, die Beaumont dem alten Herzog eingereicht hat.»
«Ja, die würde ich sehr gern sehen. Sicherlich sind sie hochinteressant.»
«Er hat seinen Arbeitern einen Shilling pro Tag gezahlt, und sie arbeiteten zehn Stunden.»
In dem klaren Sonnenlicht war es nicht schwer, die Bewegungen und Gesten der beiden Gestalten auf dem Rasen zu verfolgen. Sie hatten sich jetzt der Skulptur zugewandt, zeigten darauf und lachten. Offenbar machten sie Witze über ihre Form. Ich erkannte, dass es sich um einen Henry Moore handelte, ein in Holz gearbeitetes Werk von einmaliger Schönheit, schlank, glatt, mit zwei oder drei Löchern und einigen seltsamen Vorsprüngen, die an Gliedmaßen erinnerten.
«Als Beaumont die Eiben für die Schachfiguren und die anderen Sachen pflanzte, wusste er, dass mindestens hundert Jahre vergehen würden, bevor sie sich in Form schneiden ließen. So viel Geduld bringen wir bei unseren Planungen nicht mehr auf, was?»
«Nein» «bestätigte ich. «Ganz gewiss nicht.»
Das schwarze Ding in der Hand des Mannes war eine Kamera. Er trat jetzt ein paar Schritte zurück und fotografierte die Frau neben dem Henry Moore. Sie nahm die verschiedensten Posen ein, die alle albern waren und komisch wirken sollten. Einmal legte sie die Arme um einen der Vorsprünge und schmiegte sich an ihn, dann wieder kletterte sie auf die Skulptur, setzte sich im Damensitz darauf und ergriff imaginäre Zügel. Die hohe Eibenhecke hinter den beiden trennte sie von dem Haus und dem vorderen Teil des Gartens. Nur von unserer Anhöhe aus waren sie deutlich zu sehen. Sie hatten allen Grund, sich unbeobachtet zu glauben, und selbst wenn sie zufällig in unsere Richtung geblickt hätten – das heißt gegen die Sonne –, so wären ihnen wohl kaum die beiden kleinen Gestalten aufgefallen, die regungslos auf der Bank am Teich saßen.
«Wissen Sie, ich liebe diese Eiben», sagte Sir Basil. «Ihre Farbe ist gerade in einem Garten so überaus wohltuend für das Auge. Und im Sommer dämpft sie das grelle Sonnenlicht, sodass man die Bäume überhaupt erst richtig bewundern kann. Haben Sie die vielen Schattierungen von Grün an den Flächen und Facetten der gestutzten Bäume bemerkt?»
«Ja, ein herrlicher Anblick, nicht wahr?»
Der Mann schien jetzt der Frau irgendetwas zu erklären. Er deutete auf den Henry Moore, und die Art, wie sie den Kopf zurückwarfen, verriet mir, dass sie wieder lachten. Der Mann stand noch immer mit ausgestrecktem Zeigefinger da, und nun lief die Frau zur Rückseite der Holzskulptur, bückte sich und schob den Kopf durch eines der Löcher. Die Plastik war etwa so groß wie, sagen wir, ein kleines Pferd, aber wesentlich schmaler. Von unserer Bank aus konnte ich beide Seiten sehen – die linke mit dem Körper der Frau, die rechte mit dem durchgesteckten Kopf. Es erinnerte an diese Scherzaufnahmen in Seebädern, wo man den Kopf durch ein Loch im Brett steckt und als dicke Dame fotografiert wird. Der Mann hob jetzt die Kamera ans Auge.
«Und noch etwas gefällt mir an den Eiben», fuhr Sir Basil fort. «Im Frühsommer, wenn die Zweige ausschlagen …»
Hier verstummte er plötzlich, reckte den Oberkörper und beugte sich ein wenig vor. Ich spürte, wie er förmlich erstarrte.
«Ja», sagte ich, «wenn die Zweige ausschlagen …?»
Die Aufnahme war fertig, aber die Frau zog den Kopf nicht zurück. Ich sah, wie der Mann beide Hände (mit der Kamera) auf den Rücken legte und auf sie zuging. Dann bückte er sich, brachte sein Gesicht ganz nah an das ihre heran und blieb so stehen. Ich nehme an, dass er ihr ein paar Küsse gab oder dergleichen. In der tiefen Stille glaubte ich das Klingen eines Frauenlachens zu hören, das von weit her durch den sonnenhellen Garten zu uns drang.
«Wollen wir nicht zurückgehen?», fragte ich.
«Zurück?»
«Ja. Wir könnten dann vor dem Essen noch einen Martini trinken.»
«Einen Martini? Ja, das werden wir tun.» Aber er rührte sich nicht. Er saß sehr still, war mir gleichsam entrückt und starrte wie gebannt auf die beiden Gestalten. Ich starrte sie ebenfalls an. Es war mir unmöglich, den Blick abzuwenden; ich musste einfach hinsehen. Das, was sich dort in der Ferne abspielte, schien ein gefährliches kleines Ballett zu sein: Man kannte die Musik und die Tänzer, aber nicht den Handlungsverlauf, nicht die Choreographie. Man wusste nicht, was als Nächstes geschehen würde, man war fasziniert und musste einfach hinsehen.
«Gaudier Breska», sagte ich. «Was glauben Sie, wie weit er es gebracht hätte, wenn er nicht so früh gestorben wäre?»
«Wer?»
«Gaudier Breska.»
«Ja», murmelte er. «Allerdings.»
Plötzlich fiel mir etwas Seltsames auf. Die Frau hatte den Kopf noch immer nicht zurückgezogen, aber sie schob jetzt ihren Körper in langsamen Windungen hin und her. Der Mann stand einen Schritt von ihr entfernt und sah sie an. Er schien irgendwie beunruhigt zu sein; der gesenkte Kopf und die angespannte Körperhaltung deuteten darauf hin, dass er nicht mehr lachte. Nach einer Weile legte er die Kamera auf den Boden, näherte sich der Frau und nahm ihren Kopf in die Hände. Und auf einmal war es eher ein Puppenspiel als ein Ballett – winzige hölzerne Marionetten, die winzige hölzerne Bewegungen machten, verrückt und unwirklich, auf einer weitentfernten, von der Sonne beleuchteten Bühne.
Wir saßen auf der weißen Bank und sahen schweigend zu, wie der Marionettenmann an dem Kopf der Frau herumhantierte. Er tat es sanft, daran war nicht zu zweifeln, sanft und vorsichtig. Von Zeit zu Zeit trat er zurück, um nachzudenken; mehrmals hockte er sich nieder, um die Lage aus einem anderen Blickwinkel zu begutachten. Immer wenn er die Frau allein ließ, begann sie von neuem, sich hin und her zu winden, und zwar auf eine seltsame Art, die mich an einen Hund erinnerte, der zum ersten Mal ein Halsband trägt.
«Sie ist eingeklemmt», sagte Sir Basil.
Nun ging der Mann auf die andere Seite der Holzskulptur, dorthin, wo sich der Körper der Frau befand. Er bückte sich und versuchte, irgendetwas mit ihrem Hals zu machen. Dann, als hätte er plötzlich die Geduld verloren, zerrte er zwei-, dreimal heftig an dem Hals, und diesmal drang die Stimme der Frau, schrill vor Zorn oder Schmerz, klar und deutlich durch das Sonnenlicht zu uns.
Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Sir Basil ruhig nickte. «Als Junge bin ich einmal mit der Hand in einem Glas Konfitüre stecken geblieben», sagte er. «Bekam sie nicht wieder heraus.»
Der Mann war ein paar Schritte zurückgetreten und stand nun da, die Hände in die Hüfte gestemmt, den Kopf hoch erhoben. Ich hatte den Eindruck, dass er ärgerlich und gereizt war. Die Frau schien aus ihrer unbequemen Stellung heraus mit ihm zu sprechen oder ihn vielmehr anzuschreien, und wenn sich auch ihr Körper nur winden konnte, so waren doch die Beine frei, mit denen sie wild auf den Boden stampfte.
«Ich habe das Glas mit dem Hammer zerschlagen und meiner Mutter erzählt, ich hätte es aus Versehen vom Regal gestoßen.» Sir Basil wirkte jetzt völlig entspannt, kein bisschen nervös, obgleich er mit merkwürdig tonloser Stimme sprach. «Vielleicht sollten wir hinuntergehen und sehen, ob wir helfen können.»
«Das wäre wohl das Beste.»
Aber er rührte sich nicht. Er nahm eine Zigarette heraus, zündete sie an und legte das abgebrannte Streichholz sorgfältig in die Schachtel zurück.
«Ach, entschuldigen Sie», sagte er. «Möchten Sie auch eine?»
«Danke, ich glaube, ja.»
Er machte aus dem Anbieten und Anzünden der Zigarette eine umständliche kleine Zeremonie, und wieder legte er das abgebrannte Streichholz sorgfältig in die Schachtel zurück. Dann standen wir auf und gingen langsam den grasigen Abhang hinunter.
Für die beiden war es natürlich eine ziemliche Überraschung, als wir durch einen Torbogen in der Eibenhecke auf sie zutraten.
«Was ist denn hier los?», fragte Sir Basil. Er sprach sanft, aber es war eine gefährliche Sanftmut, die seine Frau sicherlich noch nie bei ihm erlebt hatte.
«Sie hat den Kopf durch das Loch gesteckt und kriegt ihn nicht wieder raus», erklärte Major Haddock. «War ein Jux, wissen Sie.»
«Ein was?»
«Basil!», schrie Lady Turton. «Stell dich nicht so dumm an! Tu etwas, ja?» Sie konnte sich zwar nicht viel bewegen, aber reden konnte sie noch.
«Wird wohl nichts anders übrigbleiben, als dieses Holzding aufzubrechen», sagte der Major. An seinem grauen Schnurrbart haftete ein wenig Rot, und das genügte, sein männliches Aussehen zu zerstören – wie der überflüssige Farbtupfen, der ein vollkommenes Gemälde ruiniert. Er wirkte nur noch komisch.
«Aufbrechen? Den Henry Moore aufbrechen?»
«Mein lieber Sir Basil, es gibt keine andere Möglichkeit, Ihre Gattin zu befreien. Gott weiß, wie sie es fertiggebracht hat, sich da hineinzuquetschen, aber heraus kommt sie nicht von selbst, so viel steht fest. Die Ohren sind im Weg.»
«Ach Gott», seufzte Sir Basil. «Das ist ja schrecklich. Mein schöner Henry Moore.»
Hier begann Lady Turton, ihren Mann in höchst unangenehmer Weise zu beschimpfen, und vermutlich hätte sie nicht sobald damit aufgehört, wäre nicht plötzlich Jelks aus dem Schatten aufgetaucht. Er kam über den Rasen geschlurft und stellte sich wortlos in respektvoller Entfernung neben Sir Basil auf, als erwarte er seine Befehle. Die schwarze Kleidung des Butlers passte ganz und gar nicht zu diesem sonnigen Morgen. Mit seinem runzligen, rosig-weißen Gesicht und den weißen Händen sah er wie ein Maulwurf aus, der sein ganzes Leben unter der Erde verbracht hat.
«Kann ich etwas tun, Sir Basil?», fragte er gleichmütig. Er hatte zwar seine Stimme in der Gewalt, nicht aber sein Mienenspiel. Als er Lady Turton ansah, funkelte es triumphierend in seinen Augen auf.
«Ja, Jelks. Holen Sie mir eine Säge oder so etwas, damit ich ein Stück Holz herausschneiden kann.»
«Soll ich nicht jemand von den Leuten rufen, Sir Basil? William ist ein guter Zimmermann.»
«Nein, das mache ich selbst. Holen Sie nur das Werkzeug – und beeilen Sie sich.»
Während sie auf Jelks warteten, ging ich ein wenig umher, weil ich nicht mehr mit anhören konnte, was Lady Turton zu ihrem Mann sagte. Aber ich war zeitig genug zurück, um den Butler kommen zu sehen. Ihm voran eilte Miss Carmen La Rosa, die sofort auf die Gastgeberin zustürzte. «Nata-li-a! Meine liebe Natali-a! Was hat man mit dir gemacht?»
«Ach, halt den Mund», fauchte die Gastgeberin. «Und geh aus dem Weg, ja?»
Sir Basil stand jetzt neben dem Kopf seiner Frau und blickte dem Butler entgegen. Jelks trottete langsam auf ihn zu, in der einen Hand eine Säge, in der anderen eine Axt. Etwa einen Meter vor der Skulptur blieb er stehen und streckte die beiden Werkzeuge aus, damit sein Herr zwischen ihnen wählen konnte. Zwei, drei Sekunden des Schweigens und Abwartens folgten, und als ich auf Jelks blickte, sah ich, wie sich die Hand mit der Axt um den Bruchteil eines Zentimeters näher an Sir Basil heranschob. Eine kaum merkliche Bewegung, ein winziges Vorschieben der Hand, langsam und verstohlen, ein kleines Angebot, ein kleines überredendes Angebot, das von einem nur angedeuteten Heben der Augenbrauen begleitet wurde.
Ich bin mir nicht sicher, ob Sir Basil es sah, aber er zögerte. Wieder schob sich die Hand mit der Axt um den Bruchteil eines Zentimeters vor. Das Ganze erinnerte stark an jenen Kartentrick, bei dem der Mann sagt: ‹Ziehen Sie, welche Sie wollen› – und dann wählt man unweigerlich die Karte, die er einem zugedacht hat. Sir Basil wählte die Axt. Wie im Traum streckte er die Hand danach aus und nahm sie von Jelks in Empfang. Dann, als er den Griff umklammerte, schien er zu begreifen, was von ihm verlangt wurde, und es kam Leben in ihn.
Für mich war das wie der schreckliche Moment, in dem man ein Kind auf die Straße laufen sieht und ein Auto rast heran, und man kann nur die Augen schließen und warten, bis das Krachen einem verrät, dass es geschehen ist. Diese Sekunde des Wartens, in der gelbe und rote Punkte vor einem schwarzen Hintergrund tanzen, wird zu einer langen, intensiv erlebten Zeit. Vielleicht stellt sich nachher heraus, dass niemand getötet oder verletzt worden ist. Aber davon wird einem nicht besser im Magen, denn ob so oder so – man hat alles gesehen.
Ich jedenfalls sah dies hier so genau wie nur möglich, und ich kehrte erst in die Wirklichkeit zurück, als ich Sir Basils Stimme, noch leiser als sonst, mit sanftem Protest den Butler zur Ordnung rufen hörte.
«Jelks», sagte er, und ich öffnete die Augen. Da stand er – unverändert ruhig und freundlich, mit der Axt in der Hand. Auch Lady Turtons Kopf war noch an seinem Platz, das heißt, er steckte in dem Loch. Aber ihr Gesicht war aschgrau geworden, der Mund klappte auf und zu, und sie gab gurgelnde Laute von sich.
«Ich bitte Sie, Jelks», sagte Sir Basil, «wo haben Sie Ihre Gedanken? Das Ding ist doch viel zu gefährlich. Geben Sie mir die Säge.» Und als er das Werkzeug auswechselte, bemerkte ich, dass auf seinen Wangen zwei warme rote Flecke erschienen und darüber, rund um die Augenwinkel, die winzigen Fältchen eines Lächelns.