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Ein paar Sekunden lang sehen Peeta und ich dabei zu, wie unser Mentor versucht, sich aus dem ekelhaften Schleim zu erheben, der aus seinem Bauch gekommen ist. Von dem Gestank nach Erbrochenem und reinem Alkohol kommt mir fast das Abendessen hoch. Wir tauschen einen Blick. Von Haymitch ist wirklich nicht viel zu erwarten, aber in einem hat Effie Trinket recht: Wenn wir erst mal in der Arena sind, ist er alles, was wir haben. Wie auf ein Zeichen nehmen Peeta und ich Haymitch bei den Armen und helfen ihm auf die Füße.

»Bin ich gestolpert?«, fragt Haymitch. »Das riecht aber übel.« Er wischt sich mit der Hand über die Nase und beschmiert dabei sein Gesicht mit Erbrochenem.

»Wir bringen Sie in Ihr Abteil«, sagt Peeta. »Ein bisschen sauber machen.«

Halb geleiten, halb tragen wir Haymitch in sein Abteil zurück. Da wir ihn schlecht auf der bestickten Bettdecke absetzen können, hieven wir ihn in die Badewanne und stellen die Dusche an. Er merkt es kaum.

»Ist gut«, sagt Peeta zu mir. »Den Rest übernehme ich.« Unwillkürlich bin ich ein bisschen dankbar, denn ich habe nicht die geringste Lust, Haymitch auszuziehen, das Erbrochene aus seinem Brusthaar zu waschen und ihn ins Bett zu verfrachten. Vielleicht versucht Peeta einen guten Eindruck zu machen, damit er bei den Spielen Haymitchs Favorit ist. Aber so, wie es Haymitch jetzt geht, wird er sich morgen an gar nichts mehr erinnern können.

»In Ordnung«, sage ich. »Ich kann einem von den Kapitolleuten Bescheid sagen, damit er euch hilft.« Im Zug gibt es jede Menge davon. Sie kochen für uns. Sie bedienen uns. Sie bewachen uns. Es ist ihre Aufgabe, sich um uns zu kümmern.

»Nein. Ich will keinen von denen«, sagt Peeta.

Ich nicke und gehe in mein Abteil. Ich kann verstehen, wie Peeta fühlt. Ich kann den Anblick der Kapitolleute auch nicht ertragen. Aber wir könnten uns ein bisschen rächen, wenn wir ihnen Haymitch aufs Auge drücken würden. Deshalb grübele ich darüber nach, weshalb Peeta darauf besteht, sich persönlich um Haymitch zu kümmern, und plötzlich denke ich: Weil er ein guter Mensch ist. Genau wie damals, als er mir das Brot geschenkt hat.

Der Gedanke lässt mich erstarren. Ein guter Peeta Mellark ist für mich sehr viel gefährlicher als ein böser. Gute Menschen haben es an sich, dass sie sich bei mir einschleichen und einnisten. Das darf ich bei Peeta nicht zulassen. Nicht angesichts dessen, was uns bevorsteht. Ich beschließe, dem Bäckersohn ab sofort möglichst aus dem Weg zu gehen.

Als ich zurück in mein Abteil komme, legt der Zug einen Tankstopp ein. Schnell öffne ich das Fenster, werfe die Plätzchen, die Peetas Vater mir geschenkt hat, hinaus und knalle das Fenster zu. Schluss damit. Schluss mit den beiden.

Zu meinem Unglück zerplatzt die Schachtel mit den Plätzchen mitten in einer Ansammlung von Löwenzahn an den Gleisen. Nur ganz kurz sehe ich das Bild, denn der Zug setzt sich wieder in Bewegung, aber das genügt. Es genügt, um mich an den anderen Löwenzahn vor vielen Jahren auf dem Schulhof zu erinnern …

Ich hatte den Blick gerade von Peeta Mellarks zerschundenem Gesicht gewandt, als ich den Löwenzahn sah und plötzlich wusste, dass noch nicht alle Hoffnung verloren war. Vorsichtig pflückte ich ihn und lief nach Hause. Ich schnappte mir einen Eimer, nahm Prim bei der Hand und lief mit ihr zur Weide, wo es von dem gelbköpfigen Kraut nur so wimmelte. Nachdem wir es dort geerntet hatten, folgten wir dem Zaun noch über einen Kilometer, bis wir den Eimer mit Blättern, Stängeln und Blüten vom Löwenzahn gefüllt hatten. An diesem Abend stopften wir uns mit Löwenzahnsalat und dem Rest des Bäckerbrots voll.

»Was noch?«, fragte Prim. »Können wir noch etwas finden, das man essen kann?«

»Alles Mögliche«, versprach ich ihr. »Ich muss mich nur daran erinnern.«

Meine Mutter hatte aus der Apotheke ihrer Eltern ein altes Buch mitgebracht, mit Tintenzeichnungen von Pflanzen auf Pergamentseiten. In akkurater Handschrift wurden daneben die Namen, Fundstellen, Blütezeiten und medizinischen Verwendungsmöglichkeiten jeder einzelnen Pflanze angegeben. Mein Vater hatte eigene Anmerkungen hinzugefügt. Pflanzen zum Essen, nicht zum Heilen. Löwenzahn, Kermesbeeren, wilde Zwiebeln, Kiefern. Den Rest der Nacht grübelten Prim und ich über dem Buch.

Am nächsten Tag gingen wir nicht in die Schule. Eine Zeit lang beschränkten wir uns auf die Weide, aber schließlich nahm ich meinen Mut zusammen und kroch unter dem Zaun hindurch.

Es war das erste Mal, dass ich allein dort war, ohne dass die Waffen meines Vaters mich beschützten. Doch in einem hohlen Baum fand ich den kleinen Bogen und die Pfeile, die er für mich gemacht hatte. An diesem Tag habe ich mich wahrscheinlich kaum zwanzig Meter in den Wald hineingewagt. Die meiste Zeit saß ich hoch oben im Geäst einer alten Eiche und hoffte darauf, dass Wild vorbeikam. Nach mehreren Stunden hatte ich großes Glück und erwischte ein Kaninchen. Ich hatte schon einige Kaninchen geschossen, früher, unter Anleitung meines Vaters. Aber dieses hier hatte ich ganz allein erlegt.

Seit Monaten hatten wir kein Fleisch mehr gegessen. Der Anblick des Kaninchens schien in meiner Mutter etwas wachzurütteln. Sie raffte sich auf, zog dem Tier das Fell ab und bereitete aus dem Fleisch und Kräutern, die Prim gesammelt hatte, einen Eintopf. Dann wirkte sie verwirrt und ging zu Bett, aber als der Eintopf fertig war, nötigten wir sie, eine Schale davon zu essen.

Der Wald wurde unser Retter und jeden Tag ging ich ein wenig tiefer hinein. Anfangs war es mühsam, aber ich war entschlossen, uns zu ernähren. Ich stahl Eier aus Nestern, fing Fische in Netzen, konnte manchmal ein Eichhörnchen oder ein Kaninchen für den Eintopf schießen und sammelte die verschiedenen Pflanzen, die zu meinen Füßen aus dem Boden kamen. Mit Pflanzen ist das so eine Sache. Viele sind essbar, aber ein Bissen von der falschen Pflanze und man ist tot. Immer wieder verglich ich die Pflanzen, die ich erntete, mit den Abbildungen meines Vaters. Ich sorgte dafür, dass wir überlebten.

Anfangs floh ich beim leisesten Anzeichen von Gefahr, einem fernen Geheul, dem unerklärlichen Knacken eines Asts, zurück zum Zaun. Irgendwann wagte ich es, auf Bäume zu klettern, um den wilden Hunden zu entkommen; dann wurde es ihnen schnell langweilig und sie trabten weiter. Tiefer im Waldesinnern lebten Bären und Raubkatzen, die den rußigen Gestank unseres Distrikts vielleicht nicht mochten.

Am 8. Mai jenes Jahres ging ich ins Gerichtsgebäude, trug mich für meine Tesserasteine ein und zog meine erste Ladung Getreide und Öl in Prims Bollerwagen nach Hause. An jedem Achten eines Monats durfte ich wiederkommen. Natürlich konnte ich deshalb nicht aufhören, zu jagen und zu sammeln. Das Getreide reichte nicht zum Überleben und wir mussten ja auch noch andere Sachen kaufen, Seife und Milch und Garn. Was wir nicht auf andere Weise beschaffen konnten, tauschte ich auf dem Hob ein. Es war beängstigend, diesen Ort ohne meinen Vater an meiner Seite zu betreten, aber die Leute hatten ihn respektiert, also respektierten sie auch mich. Wild war Wild, egal, wer es geschossen hatte. Ich verkaufte auch an den Hintertüren der wohlhabenderen Kunden in der Stadt, wobei ich versuchte, mich daran zu erinnern, was mein Vater mir beigebracht hatte, und auch neue Tricks lernte. Der Metzger kaufte Kaninchen, aber keine Eichhörnchen. Der Bäcker mochte Eichhörnchen, nahm aber nur dann eins, wenn seine Frau nicht in der Nähe war. Der Oberste Friedenswächter liebte Truthahn. Der Bürgermeister aß für sein Leben gern Erdbeeren.

Eines Tages im Spätsommer spülte ich Geschirr in einem Tümpel, als mir die Pflanzen auffielen, die um mich herum wuchsen. Große Pflanzen mit Blättern wie Pfeilspitzen. Blüten mit drei weißen Blütenblättern. Ich kniete mich im Wasser hin, fuhr mit den Fingern in den weichen Schlamm und zog eine Handvoll Wurzeln heraus. Kleine bläuliche Knollen, die nicht viel hermachen, gekocht oder gebraten aber so gut schmecken wie Kartoffeln. »Katniss«, sagte ich laut. Katniss, Pfeilkraut - die Pflanze, nach der ich benannt bin. Ich hatte die Stimme meines Vaters im Ohr, wie er im Spaß sagte: »Solange du dich selbst findest, wirst du niemals hungern.« Stundenlang wühlte ich den Grund des Tümpels mit meinen Zehen und einem Stock auf und sammelte die Knollen ein, die an die Oberfläche geschwemmt wurden. An diesem Abend schwelgten wir in Fisch und Pfeilkrautknollen, bis wir alle, zum ersten Mal seit Monaten, satt waren.

Langsam kehrte meine Mutter zu uns zurück. Sie begann zu putzen und zu kochen und etwas von dem Essen, das ich mitbrachte, für den Winter einzumachen. Die Leute tauschten mit uns oder bezahlten sie für ihre Arzneien mit Geld. Eines Tages hörte ich meine Mutter singen.

Prim freute sich wahnsinnig, sie wiederzuhaben, ich jedoch blieb auf der Hut und rechnete ständig damit, dass sie wieder unerreichbar würde. Ich traute ihr nicht. Und ein kleiner, grimmiger Teil von mir hasste sie für ihre Schwäche, für die Vernachlässigung, für die Monate, als sie uns im Stich gelassen hatte. Prim verzieh ihr, aber ich hatte mich von meiner Mutter entfernt und eine Mauer errichtet, um mich davor zu schützen, dass ich sie brauchte. Zwischen uns wurde es nie mehr so wie vorher.

Und nun werde ich sterben und das nie mehr in Ordnung bringen können. Ich denke daran, wie ich sie heute im Gerichtsgebäude angeschrien habe. Aber ich habe ihr auch gesagt, dass ich sie lieb habe. Vielleicht kommt dadurch alles wieder ins Lot.

Eine Weile stehe ich da, starre aus dem Zugfenster und würde es am liebsten wieder öffnen, aber ich habe keine Ahnung, was bei so hoher Geschwindigkeit passieren würde. In der Ferne sehe ich die Lichter eines anderen Distrikts. 7? 10? Ich weiß es nicht. Ich denke an die Leute in den Häusern, die jetzt allmählich zu Bett gehen. Ich stelle mir unser Haus vor, mit den fest zugezogenen Läden. Was sie jetzt wohl machen, meine Mutter und Prim? Haben sie das Abendessen heruntergebracht? Die Fischsuppe und die Erdbeeren? Oder ist es unberührt auf ihren Tellern liegen geblieben? Haben sie sich in dem ramponierten alten Fernseher, der auf dem Tisch an der Wand steht, die Zusammenfassung der Tagesereignisse angeschaut? Bestimmt sind noch mehr Tränen geflossen. Bewahrt meine Mutter Haltung, ist sie stark für Prim? Oder driftet sie schon ab und lädt die Last der Welt auf den schwachen Schultern meiner Schwester ab?

Prim wird heute Nacht zweifellos bei meiner Mutter schlafen. Der Gedanke daran, wie Butterblume, der zerzauste alte Kater, sich aufs Bett legt und über Prim wacht, tröstet mich. Wenn sie weint, wird er sich in ihre Arme schleichen und sich dort zusammenrollen, damit sie sich beruhigt und einschläft. Jetzt bin ich unendlich froh, dass ich ihn nicht ertränkt habe.

Beim Gedanken an zu Hause wird mir schmerzlich bewusst, wie einsam ich bin. Dieser Tag war endlos. Haben Gale und ich heute Morgen wirklich noch Brombeeren gegessen? Es kommt mir vor, als wäre es eine Ewigkeit her. Wie ein langer Traum, der in einen Albtraum ausgeartet ist. Wenn ich schlafen gehe, wache ich vielleicht wieder in Distrikt 12 auf, wo ich hingehöre.

Wahrscheinlich sind in den Schubladen jede Menge Nachthemden, aber ich ziehe nur Bluse und Hose aus und steige in Unterwäsche ins Bett. Die Laken sind aus weichem, seidigem Stoff. Eine dicke, kuschelige Bettdecke spendet sofort Wärme.

Wenn ich schon weinen muss, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt. Den Schaden, den die Tränen in meinem Gesicht anrichten, kann ich morgen früh abwaschen. Aber es kommen keine Tränen. Ich bin zu müde oder zu abgestumpft, um zu weinen. Ich spüre nur den Wunsch, woanders zu sein. Also lasse ich mich vom Zug ins Vergessen schaukeln.

Graues Licht sickert durch die Vorhänge, als ein Klopfen mich weckt. Ich höre Effie Trinkets Stimme, die sagt, ich solle aufstehen. »Auf, auf, auf! Das wird ein ganz, ganz großer Tag heute!« Einen Augenblick lang versuche ich mir vorzustellen, wie es im Kopf dieser Frau aussieht. Welche Gedanken füllen ihre wachen Stunden? Welche Träume kommen nachts zu ihr? Ich habe keine Ahnung.

Ich ziehe die grünen Sachen wieder an, weil sie noch nicht schmutzig sind, nur ein wenig verknittert nach der Nacht auf dem Fußboden. Meine Finger fahren den Kreis um den kleinen Spotttölpel nach und ich denke an den Wald und an meinen Vater und an meine Mutter und an Prim, wie sie aufwacht und mit alldem zurechtkommen muss. Ich habe mit der Flechtfrisur geschlafen, die meine Mutter mir für die Ernte gemacht hat, sie sieht noch passabel aus, also lasse ich sie so. Spielt sowieso keine Rolle. Es kann jetzt nicht mehr weit sein bis zum Kapitol. Und wenn wir die Stadt erst einmal erreicht haben, wird sowieso ein Stylist bestimmen, welchen Look ich bei der Eröffnungsfeier heute Abend trage. Ich hoffe nur, er denkt nicht, nackte Haut wäre der letzte Schrei.

Als ich den Speisewagen betrete, hastet Effie Trinket mit einer Tasse schwarzem Kaffee an mir vorbei. Sie flucht leise vor sich hin. Haymitch sitzt mit rotem, aufgedunsenem Gesicht von der gestrigen Sauferei da und kichert vor sich hin. Peeta hat ein Brötchen in der Hand und wirkt peinlich berührt.

»Setz dich! Setz dich!«, sagt Haymitch und winkt mich herbei. Kaum sitze ich auf meinem Stuhl, bekomme ich eine riesige Platte mit Essen serviert. Eier, Schinken, haufenweise Bratkartoffeln. Eine Schale mit Obst steht in Eis, damit die Früchte schön kühl bleiben. Der Brötchenkorb vor mir könnte meine Familie eine Woche lang ernähren. Ein edles Glas mit Orangensaft steht auch da. Zumindest nehme ich an, dass es Orangensaft ist. Ich habe erst einmal eine Orange probiert, an Silvester, als mein Vater als besondere Leckerei eine mitbrachte. Eine Tasse Kaffee. Meine Mutter liebt Kaffee, den wir uns fast nie leisten konnten, aber ich finde, er schmeckt nur bitter und dünn. Und eine Tasse mit einem tiefbraunen Getränk, das ich noch nie gesehen habe.

»Das ist heiße Schokolade«, sagt Peeta. »Ist lecker.«

Ich trinke ein Schlückchen von der heißen, süßen, cremigen Flüssigkeit, und ein Schauer durchfährt mich. Obwohl das übrige Essen lockt, rühre ich es nicht an, bis ich die Tasse ausgetrunken habe. Dann schlinge ich so viel in mich hinein, wie ich bei mir behalten kann, was eine ordentliche Menge ist, und achte darauf, es mit den schweren Speisen nicht zu übertreiben. Meine Mutter hat mal zu mir gesagt, ich äße immer, als ob ich nie mehr etwas bekommen würde. Und ich habe gesagt: »Bekomme ich ja auch nicht, wenn ich es nicht selbst besorge.« Da fiel ihr nichts mehr ein.

Als ich kurz vorm Platzen bin, lehne ich mich zurück und betrachte meine Frühstücksgefährten. Peeta isst immer noch; er bricht Stücke von seinem Brötchen ab und tunkt sie in die heiße Schokolade. Haymitch hat seine Platte kaum angerührt, aber er kippt ein Glas mit rotem Saft hinunter, den er mit einer klaren Flüssigkeit aus einer Flasche verdünnt hat. Den Dünsten nach zu urteilen, ist es irgendein Alkohol. Ich kenne Haymitch nicht, aber ich habe ihn oft genug auf dem Hob gesehen, wo er händeweise Geld auf den Tresen der Frau warf, die klaren Schnaps verkauft. Wenn er so weitermacht, ist er weggetreten, ehe wir das Kapitol erreichen.

Ich merke, dass ich Haymitch verabscheue. Kein Wunder, dass die Tribute aus Distrikt 12 nie eine Chance hatten. Es liegt nicht nur daran, dass wir unterernährt und untrainiert sind. Einige unserer Tribute waren trotzdem stark genug, um erfolgreich zu sein. Aber wir bekommen selten Sponsoren und das liegt zum großen Teil an ihm. Die Reichen, die die Tribute unterstützen - entweder, weil sie auf sie wetten, oder schlicht, um sich hinterher damit brüsten zu können, dass sie auf einen Sieger gesetzt haben -, möchten nichts mit so einer heruntergekommenen Type wie Haymitch zu tun haben.

»Sie sollen uns also mit Rat und Tat zur Seite stehen«, sage ich zu Haymitch.

»Hier hast du einen Rat: Bleib am Leben«, sagt Haymitch und prustet los. Ich tausche einen Blick mit Peeta, doch dann fällt mir wieder ein, dass ich ja nichts mehr mit ihm zu tun habe. Die Härte in seinen Augen überrascht mich. Sonst wirkt er immer so sanft.

»Sehr witzig«, sagt Peeta. Urplötzlich schlägt er Haymitch das Glas aus der Hand. Es zerschellt auf dem Fußboden, die blutrote Flüssigkeit bahnt sich eine Spur zum hinteren Teil des Zuges. »Nur - wir können darüber gar nicht lachen.«

Haymitch überlegt einen Augenblick, dann verpasst er Peeta einen Kinnhaken, der ihn vom Stuhl schleudert. Als Haymitch sich wieder den Schnapsflaschen zuwenden will, stoße ich mein Messer in den Tisch, genau zwischen seiner Hand und der Flasche, und verfehle seine Finger nur um Haaresbreite. Ich bereite mich darauf vor, seinem Schlag auszuweichen, aber es kommt nichts. Stattdessen lehnt Haymitch sich zurück und schaut uns mit zusammengekniffenen Augen an.

»Was haben wir denn da?«, sagt er. »Hab ich dieses Jahr etwa zwei Kämpfer gekriegt?«

Peeta steht auf und klaubt etwas Eis unter der Obstschale hervor. Er will es auf die rote Schwellung an seinem Kinn drücken.

»Nein«, sagt Haymitch und hält ihn zurück. »Die Leute sollen den Bluterguss ruhig sehen. Dann denken sie, du wärst schon mit einem anderen Tribut aneinandergeraten, bevor es überhaupt in die Arena geht.«

»Das verstößt gegen die Regeln«, sagt Peeta.

»Nur wenn man sich erwischen lässt. Dieser Bluterguss bedeutet, dass du gekämpft hast, und wenn sie dich nicht erwischt haben, umso besser«, sagt Haymitch. Er wendet sich an mich. »Kannst du mit dem Messer da auch noch was anderes treffen als den Tisch?«

Pfeil und Bogen sind meine Waffen. Aber ich habe auch lange Messerwerfen geübt. Manchmal, wenn ich ein Tier mit dem Pfeil nur verwundet habe, ist es besser, auch noch ein Messer hinterherzuwerfen, bevor ich mich ihm nähere. Wenn ich Haymitchs Interesse wecken will, dann ist jetzt die Gelegenheit, Eindruck zu schinden. Ich ziehe das Messer aus dem Tisch, halte es an der Klinge fest und werfe es an die gegenüberliegende Wand. Ich habe eigentlich nur gehofft, dass es stecken bleibt, aber es landet sogar genau zwischen zwei Paneelen und ich stehe da wie ein Ass.

»Stellt euch hierher, alle beide«, sagt Haymitch und deutet mit dem Kopf in die Mitte des Abteils. Wir gehorchen und er umkreist uns und stupst uns ab und zu an wie Tiere, prüft unsere Muskeln, untersucht unsere Gesichter. »Hm, so ganz hoffnungslose Fälle seid ihr nicht. Sieht so aus, als wärt ihr in Form. Und wenn die Stylisten euch erst mal in die Finger kriegen, werdet ihr schon ganz passabel aussehen.«

Peeta und ich hinterfragen das nicht. Die Hungerspiele sind kein Schönheitswettbewerb, aber die attraktivsten Tribute ziehen immer die meisten Sponsoren an.

»Na gut, ich mache einen Deal mit euch. Ihr mischt euch nicht in meine Sauferei ein und ich bleibe nüchtern genug, um euch zu helfen«, sagt Haymitch. »Aber ihr müsst genauestens befolgen, was ich euch sage.«

Das ist nicht nur ein Deal, es ist ein Riesenschritt nach vorn, denn vor zehn Minuten hatten wir noch überhaupt niemanden, der uns führt.

»Prima«, sagt Peeta.

»Dann helfen Sie uns«, sage ich. »In der Arena, vor dem Füllhorn, was ist da die beste Strategie, um …«

»Eins nach dem anderen. In ein paar Minuten fahren wir in den Bahnhof ein. Ihr werdet euren Stylisten übergeben. Es wird euch nicht gefallen, was sie mit euch veranstalten. Doch was es auch ist, lasst es über euch ergehen«, fährt Haymitch fort.

»Aber …«, hebe ich an.

»Kein Aber. Lasst es über euch ergehen«, sagt Haymitch. Er nimmt die Schnapsflasche, die auf dem Tisch steht, und verlässt den Wagen. Als die Tür hinter ihm zuschlägt, wird es dunkel. Ein paar Lichter sind noch an, aber draußen sieht es aus, als wäre plötzlich wieder Nacht. Wir müssen in den Tunnel gefahren sein, der durchs Gebirge hinauf zum Kapitol führt. Die Berge bilden ein natürliches Hindernis zwischen dem Kapitol und den östlich gelegenen Distrikten. Außer durch die Tunnel ist es fast unmöglich, sich von Osten zu nähern. Dieser geografische Vorteil war einer der Hauptgründe dafür, dass die Distrikte den Krieg verloren haben und ich heute ein Tribut bin. Die Rebellen, die die Berge erklimmen mussten, waren leichte Ziele für die Luftwaffe des Kapitols.

Peeta Mellark und ich schweigen, während der Zug seine Fahrt fortsetzt. Der Tunnel ist endlos lang, ich muss an die Tonnen Gestein denken, die mich vom Himmel trennen, und meine Brust zieht sich zusammen. Ich hasse es, so in Stein eingeschlossen zu sein. Es erinnert mich an die Minen und an meinen Vater, wie er in der Falle saß, das Sonnenlicht in unerreichbarer Ferne, für immer in der Finsternis begraben.

Schließlich wird der Zug langsamer und plötzlich strömt gleißendes Licht ins Abteil. Wir können nicht anders, wir stürzen beide ans Fenster und schauen uns an, was wir nur aus dem Fernsehen kennen: das Kapitol, die Herrscherin über Panem. Die Kameras haben ihre Erhabenheit nicht übertrieben. Wenn überhaupt, dann haben sie die Pracht der in allen Farben leuchtenden Gebäude, die in den Himmel ragen, nicht ganz erfasst, die glänzenden Autos, die über die breiten Asphaltstraßen fahren, die eigentümlich gekleideten, wohlgenährten Leute mit wunderlichem Haar und bemalten Gesichtern. Alle Farben wirken künstlich - das Rosa zu satt, das Grün zu knallig und das Gelb schmerzt in den Augen wie die flachen harten Bonbons in dem kleinen Süßwarenladen in Distrikt 12, die wir uns nie leisten können.

Als die Leute den Zug mit den Tributen entdecken, zeigen sie aufgeregt auf uns. Ich trete vom Fenster weg, angewidert von ihrer Begeisterung, denn ich weiß, dass sie es nicht abwarten können, uns sterben zu sehen. Aber Peeta hält die Stellung, er winkt und lächelt der glotzenden Menge sogar zu. Er hört erst damit auf, als der Zug in den Bahnhof einfährt und sie uns nicht mehr sehen können.

Er merkt, wie ich ihn anstarre, und zuckt die Achseln. »Wer weiß?«, sagt er. »Vielleicht ist ein Reicher dabei.«

Ich hatte ihn falsch eingeschätzt. Seit der Ernte denke ich über sein Verhalten nach. Der freundliche Händedruck. Sein Vater, der mit Plätzchen auftaucht und verspricht, für Prim zu sorgen … Hat Peeta ihm das aufgetragen? Seine Tränen am Bahnhof. Wie bereitwillig er Haymitch gewaschen hat, um ihn dann heute Morgen zu provozieren, als die freundliche Tour nicht gewirkt hatte. Und nun das Winken am Fenster, um die Menge für sich einzunehmen, jetzt schon.

All das passt immer noch zusammen, aber ich spüre, dass ein Plan in ihm heranreift. Er hat nicht akzeptiert, dass er sterben soll. Er kämpft bereits um sein Leben. Was auch bedeutet, dass der nette Peeta Mellark, der Junge, der mir einst das Brot geschenkt hat, darauf aus ist, mich zu töten.


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