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Als der letzte Ton der Hymne verklingt, werden wir verhaftet. Nicht dass wir Handschellen angelegt bekämen oder so, doch eine Schar Friedenswächter nimmt uns in ihre Mitte und fuhrt uns durch das Eingangstor ins Gerichtsgebäude. Möglich, dass früher einmal Tribute versucht haben zu fliehen. Ich habe es noch nie erlebt.

Im Gebäude werde ich in einen Raum geführt und allein gelassen. Es ist der prächtigste Raum, in dem ich je war, mit dicken, breiten Teppichen, einem Sofa und Stühlen, die mit Samt bezogen sind. Dass es Samt ist, weiß ich, weil meine Mutter ein Kleid mit einem Kragen aus diesem Stoff hat. Ich setze mich auf das Sofa und kann nicht anders, als mit den Fingern über den Stoff zu streichen. Es beruhigt mich, während ich versuche, mich auf die folgende Stunde vorzubereiten: So viel Zeit steht den Tributen zur Verfügung, um von ihren Lieben Abschied zu nehmen. Ich darf mich nicht gehen lassen, darf nicht mit verquollenen Augen und einer roten Nase hier heraustreten. Weinen kommt nicht infrage. Am Bahnhof werden weitere Kameras aufgebaut sein.

Zuerst erscheinen meine Schwester und meine Mutter. Ich strecke die Hände nach Prim aus und sie klettert auf meinen Schoß, legt die Arme um meinen Hals, den Kopf auf meine Schulter, wie früher, als sie noch ein Kleinkind war. Meine Mutter setzt sich neben mich und nimmt uns in die Arme. Ein paar Minuten lang sagen wir nichts. Dann liste ich alles auf, was sie erledigen müssen, jetzt, da ich es nicht mehr für sie erledigen kann.

Prim soll auf keinen Fall Tesserasteine nehmen. Wenn sie sparsam sind, können sie mit dem über die Runden kommen, was der Verkauf von Milch und Käse von Prims Ziege und das kleine Apothekergeschäft einbringen, das meine Mutter für die Leute aus dem Saum betreibt. Gale wird ihr die Kräuter besorgen, die sie nicht selbst zieht, aber sie muss sie ihm ganz genau beschreiben, weil er sich nicht so gut auskennt wie ich. Er wird ihnen auch Wild bringen - vor einem Jahr haben er und ich darüber eine Abmachung getroffen - und wahrscheinlich nichts dafür verlangen; sie sollten sich jedoch erkenntlich zeigen, mit Milch oder Arzneien.

Ich dränge Prim nicht, jagen zu lernen. Ich habe mehrmals versucht, es ihr beizubringen, und es war eine Katastrophe. Der Wald machte ihr Angst und immer, wenn ich ein Tier schoss, fing sie an zu weinen und redete davon, dass wir es heilen könnten, wenn wir es nur schnell genug nach Hause brächten. Aber auf ihre Ziege versteht sie sich, deshalb beschränke ich mich darauf.

Als ich mit den Anweisungen bezüglich Brennstoff, Tauschgeschäften und Schule fertig bin, wende ich mich meiner Mutter zu und packe sie hart am Arm. »Hör zu. Hörst du mir zu?« Sie nickt, erschrocken über meine Eindringlichkeit. Bestimmt weiß sie, was jetzt kommt. »Du kannst dich nicht wieder verkriechen«, sage ich.

Meine Mutter schaut zu Boden. »Ich weiß. Ich werde es nicht tun. Damals konnte ich nicht anders …«

»Diesmal wirst du anders können. Du kannst dich nicht ausklinken und Prim sich selbst überlassen. Ich werde nicht mehr da sein, um euer Überleben zu sichern. Ganz gleich, was passiert. Was immer du auf dem Bildschirm siehst. Du musst mir versprechen, dass du das durchstehst!« Meine Stimme ist zu einem Schrei geworden. In diesem Schrei liegt all die Wut, all die Angst, die ich damals empfand, als sie uns verlassen hat.

Sie befreit sich aus meinem Griff, jetzt ebenfalls wütend. »Ich war krank. Hätte ich die Arzneien gehabt, die ich jetzt habe, hätte ich mich selbst kuriert.«

Möglich, dass sie wirklich krank war. Ich habe gesehen, wie sie später Leute aus einem Zustand lähmender Trauer zurück ins Leben geführt hat. Vielleicht ist es tatsächlich eine Krankheit. Aber wir können sie uns nicht leisten.

»Dann nimm diese Arzneien. Und pass auf Prim auf.«, sage ich.

»Ich pass schon selbst auf mich auf, Katniss«, sagt Prim und umschließt mein Gesicht mit den Händen. »Aber du musst auch vorsichtig sein. Du bist so schnell und mutig. Vielleicht kannst du gewinnen.«

Ich kann nicht gewinnen. Das muss Prim tief in ihrem Innern wissen. Der Wettkampf wird meine Fähigkeiten bei Weitem übersteigen. Kinder aus wohlhabenderen Distrikten, in denen der Sieg eine enorme Ehre darstellt, die ihr ganzes Leben lang darauf gedrillt wurden. Jungen, die doppelt oder dreimal so schwer sind wie ich. Mädchen, die zwanzig verschiedene Arten kennen, jemanden mit dem Messer zu töten. Ja, es wird auch Leute wie mich geben. Leute, die aussortiert werden müssen, bevor der eigentliche Spaß losgeht.

»Vielleicht«, sage ich. Ich kann ja schlecht meiner Mutter sagen, sie solle durchhalten, wenn ich mich gleichzeitig selbst schon aufgegeben habe. Abgesehen davon liegt es nicht in meiner Natur, mich kampflos zu ergeben, selbst wenn die Hindernisse unüberwindlich scheinen. »Dann wären wir so reich wie Haymitch.«

»Mir ist es egal, ob wir reich sind. Ich möchte nur, dass du wieder nach Hause kommst. Du versuchst es, ja? Ganz, ganz doli?«, fragt Prim.

»Ganz, ganz doli. Ich schwöre es«, sage ich. Und ich weiß, wegen Prim werde ich es auch wirklich versuchen müssen.

Dann erscheint ein Friedenswächter in der Tür zum Zeichen, dass unsere Zeit vorüber ist, und wir umarmen uns so fest, dass es wehtut, und alles, was ich sagen kann, ist: »Ich hab euch lieb. Ich hab euch beide lieb.« Sie sagen, dass sie mich auch lieb haben, und dann müssen sie hinausgehen und die Tür wird geschlossen. Ich vergrabe den Kopf in einem der Samtkissen, als könnte ich dadurch alles ausblenden.

Noch jemand betritt den Raum, und als ich aufblicke, sehe ich zu meiner Überraschung den Bäcker, Peeta Mellarks Vater. Ich kann kaum glauben, dass er mich besuchen kommt. Immerhin werde ich schon bald versuchen, seinen Sohn zu töten. Aber wir kennen uns flüchtig und Prim kennt er sogar noch besser. Wenn sie auf dem Hob ihren Ziegenkäse verkauft, legt sie ihm immer zwei zurück und er gibt ihr dafür eine großzügige Menge Brot. Wenn wir mit ihm handeln, achten wir stets darauf, dass seine Frau, die Hexe, nicht in der Nähe ist, weil er dann sehr viel entgegenkommender ist. Ich bin mir sicher, dass er seinen Sohn niemals so geschlagen hätte, wie sie es wegen des verbrannten Brots getan hat. Doch weshalb ist er gekommen?

Der Bäcker setzt sich verlegen auf die Kante eines Plüschstuhls. Ein großer, breitschultriger Mann mit Brandnarben von den vielen Jahren am Backofen. Er muss sich eben erst von seinem Sohn verabschiedet haben.

Er zieht eine weiße Pappschachtel aus der Jackentasche und reicht sie mir. Ich öffne sie und finde Plätzchen darin. Ein Luxus, den wir uns niemals leisten können.

»Danke«, sage ich. Der Bäcker ist auch unter angenehmeren Umständen kein gesprächiger Mensch, aber heute findet er gar keine Worte. »Ich habe heute Morgen Ihr Brot gegessen. Mein Freund Gale hat Ihnen ein Eichhörnchen dafür gegeben.« Er nickt, als würde er sich an das Eichhörnchen erinnern. »Kein guter Tausch für Sie«, sage ich. Er zuckt die Achseln, als wäre das vollkommen belanglos.

Dann fällt mir nichts mehr ein und deshalb sitzen wir schweigend da, bis ein Friedenswächter ihn zum Gehen auffordert. Er steht auf und räuspert sich. »Ich werde auf das kleine Mädchen aufpassen. Du kannst dich darauf verlassen, dass sie zu essen hat.«

Bei diesen Worten spüre ich, wie mir ein wenig leichter ums Herz wird. Mit mir treiben die Leute Handel, aber Prim haben sie aufrichtig gern. Vielleicht so gern, dass sie überlebt.

Mein nächster Besuch kommt ebenfalls unerwartet. Es ist Madge und sie kommt geradewegs auf mich zu. Sie ist nicht weinerlich und sie lenkt auch nicht ab, stattdessen liegt eine Dringlichkeit in ihrer Stimme, die mich überrascht. »Du darfst eine Sache aus diesem Distrikt in die Arena mitnehmen. Etwas, das dich an zu Hause erinnert. Möchtest du das hier tragen?« Sie hält mir die runde Goldbrosche hin, die sie an ihrem Kleid hatte. Ich habe vorher nicht besonders darauf geachtet, aber jetzt sehe ich, dass es ein kleiner fliegender Vogel ist.

»Deine Brosche?«, sage ich. Ein Andenken an meinen Distrikt zu tragen ist wohl das Letzte, was mir einfallen würde.

»Hier, ich stecke sie dir ans Kleid, einverstanden?« Madge wartet die Antwort nicht ab, sie beugt sich einfach vor und befestigt den Vogel an meinem Kleid. »Versprichst du mir, dass du ihn in der Arena tragen wirst, Katniss?«, fragt sie. »Versprichst du’s mir?«

»Ja«, sage ich. Plätzchen. Eine Brosche. Was für Geschenke ich heute bekomme. Und da kommt schon das nächste. Madge drückt mir einen Kuss auf die Wange. Dann ist sie fort und ich sitze da und denke, dass Madge vielleicht die ganze Zeit über wirklich meine Freundin war.

Zu guter Letzt kommt auch Gale, und selbst wenn es keine romantischen Gefühle zwischen uns gibt, zögere ich doch nicht, ihm in die geöffneten Arme zu fallen. Sein Körper ist mir vertraut - die Art, wie er sich bewegt, der Geruch nach Holzrauch, sogar sein Herzklopfen kenne ich von den stillen Momenten einer Jagd -, aber es ist das erste Mal, dass ich ihn richtig spüre, schlank und muskulös.

»Hör zu«, sagt er. »An ein Messer zu kommen dürfte kein Problem sein, und wenn es irgend geht, musst du dir einen Bogen besorgen. Das ist deine größte Chance.«

»Bogen gibt es aber nicht immer«, sage ich und muss an das Jahr denken, als es nur schreckliche Streitkeulen mit Stacheln gab, mit denen die Tribute aufeinander eindreschen mussten, bis zum Tod.

»Dann mach dir einen«, sagt Gale. »Ein schwacher Bogen ist immer noch besser als keiner.«

Ich habe versucht, die Bogen meines Vaters nachzubauen, mit wenig Erfolg. Es ist nicht so einfach. Sogar ihm ist manchmal ein Bogen misslungen und er musste ihn wegwerfen.

»Ich weiß nicht mal, ob es da Holz gibt«, sage ich. In einem Jahr haben sie die Tribute in einer Landschaft ausgesetzt, in der es nur Geröll und Sand und Gestrüpp gab. Das fand ich besonders schrecklich. Viele der Kämpfer wurden von Giftschlangen gebissen oder vor Durst wahnsinnig.

»Holz gibt es fast immer«, sagt Gale. »Seit dem Jahr, in dem die Hälfte erfroren ist. Das war nämlich nicht unterhaltsam genug.«

Das stimmt. Einmal mussten wir den Spielern der Hungerspiele dabei zusehen, wie sie nachts reihenweise erfroren. Man konnte sie kaum sehen, denn sie hatten sich wie Bälle zusammengerollt und nirgendwo gab es Holz für Feuer, Fackeln oder Ähnliches. All diese stillen, unblutigen Tode wurden im Kapitol als wenig spannungsreich empfunden und seitdem hat es für gewöhnlich Holz gegeben, um Feuer zu machen.

»Ja, normalerweise gibt es welches«, sage ich.

»Es ist eine Jagd, Katniss. Und du bist die beste Jägerin, die ich kenne«, sagt Gale.

»Es ist keine Jagd. Die anderen sind bewaffnet. Sie können denken«, sage ich.

»Wie du. Aber du hast mehr Übung. Echte Übung«, sagt er. »Du weißt, wie man tötet.«

»Aber nicht Menschen«, sage ich.

»Was soll daran groß anders sein?«, sagt Gale grimmig.

Das Schlimme ist, dass es überhaupt nicht anders sein wird. Ich muss nur vergessen, dass es Menschen sind.

Allzu bald kommen die Friedenswächter zurück. Gale bittet um mehr Zeit, aber sie führen ihn fort und ich werde panisch. »Lass sie nicht verhungern!«, schreie ich und umklammere seine Hand.

»Ich verspreche es! Du weißt, ich werde sie nicht vergessen, Katniss, denk dran, ich …«, sagt er, aber sie reißen uns auseinander und schlagen die Tür zu und ich werde nie erfahren, woran ich denken soll.

Es ist eine kurze Fahrt vom Gerichtsgebäude zum Bahnhof. Ich habe noch nie in einem Auto gesessen. Und bin nur ganz selten in einem Wagen gefahren. Im Saum bewegt man sich zu Fuß fort.

Gut, dass ich nicht geweint habe. Im Bahnhof wimmelt es von Reportern mit ihren insektenartigen Kameras, die direkt auf mein Gesicht gerichtet sind. Aber ich habe genug Übung darin, alle Gefühle aus meinem Gesicht zu verbannen, und das tue ich auch jetzt. Ich betrachte mich in dem Fernseher an der Wand, der meine Ankunft live überträgt, und stelle befriedigt fest, dass ich fast gelangweilt aussehe.

Peeta Mellark dagegen hat offenbar geweint und versucht interessanterweise nicht, es zu verbergen. Ich frage mich sofort, ob dies seine Strategie in den Spielen sein wird. Schwach und ängstlich wirken, die anderen Tribute davon überzeugen, dass man keinerlei Konkurrenz darstellt, und sich dann als Kämpfer outen. Das hat vor sieben Jahren bei Johanna Mason gut funktioniert, einem Mädchen aus Distrikt 7. Sie spielte die Rolle der vertrottelten Memme so gut, dass niemand sie beachtete, bis nur noch eine Handvoll Kämpfer übrig war. Und dann zeigte sich, dass sie brutal töten konnte. Ganz schön clever, wie sie das anstellte. Für Peeta Mellark erscheint mir das allerdings nicht als geeignete Strategie, denn er ist der Sohn eines Bäckers. Die vielen Jahre, in denen er ausreichend zu essen hatte und Backtröge schleppte, haben ihn breitschultrig und stark gemacht. Da muss er schon verdammt viel weinen, um übersehen zu werden.

Ein paar Minuten lang müssen wir in der Tür des Zugs stehen, während die Kameras unser Bild verschlingen, dann dürfen wir hinein, und die Türen schließen sich barmherzig hinter uns. Sofort setzt sich der Zug in Bewegung.

Die Geschwindigkeit raubt mir anfangs den Atem. Natürlich bin ich noch nie mit dem Zug gefahren, denn Reisen zwischen den Distrikten sind außer zu offiziell genehmigten Arbeiten verboten. In unserem Fall heißt das hauptsächlich Kohle transportieren. Aber dies hier ist kein gewöhnlicher Kohlezug. Es ist einer der Hochgeschwindigkeitszüge mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 380 Stundenkilometern. Unsere Reise ins Kapital wird nicht mal einen Tag dauern.

In der Schule bekommen wir beigebracht, dass das Kapital an einem Ort errichtet wurde, der einst die Roddes hieß. Distrikt 12 lag in den Appalachen, so wurde die Region genannt. Schon vor Jahrhunderten wurde hier Kohle gefördert. Weshalb unsere Bergleute heute umso tiefer graben müssen.

Irgendwie ist in der Schule alles auf die Kohle ausgerichtet. Neben Grundkenntnissen im Lesen und Rechnen ist unsere Bildung überwiegend kohleorientiert. Abgesehen von der wöchentlichen Vorlesung über die Geschichte von Panem, wo hauptsächlich darüber geschwafelt wird, was wir dem Kapitol verdanken. Ich weiß, dass sie nicht die ganze Geschichte erzählen, dass es mehr geben muss, einen authentischen Bericht über das, was während des Aufstands geschehen ist. Aber ich verschwende nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken. Was immer die Wahrheit sein mag, ich kann nicht erkennen, wie sie mir dabei helfen sollte, Essen auf den Tisch zu bekommen.

Der Zug für die Tribute ist noch schicker als der Raum im Gerichtsgebäude. Jeder von uns bekommt ein eigenes Schlafabteil mit Ankleideraum und Bad mit fließend warmem und kaltem Wasser. Wenn wir zu Hause warmes Wasser haben wollen, müssen wir welches auf dem Herd kochen.

Es gibt Schubladen voll mit feiner Kleidung und Effie Trinket sagt, ich kann tun, was ich will, anziehen, was ich will, alles steht zu meiner Verfügung. Hauptsache, in einer Stunde bin ich fertig fürs Abendessen. Ich schäle mich aus dem Kleid meiner Mutter und stelle mich unter die heiße Dusche. Noch nie im Leben habe ich geduscht. Es ist, als würde man unter einem Sommerregen stehen, nur heißer. Ich ziehe eine dunkelgrüne Bluse und eine Hose an.

In letzter Minute fällt mir Madges kleine Goldbrosche ein. Zum ersten Mal schaue ich sie mir genauer an. Als hätte jemand erst einen kleinen goldenen Vogel gestaltet und dann einen Ring drum herum befestigt. Der Vogel ist nur an den Flügelspitzen mit dem Ring verbunden. Ich erkenne ihn sofort. Ein Spotttölpel.

Lustige Vögel und für das Kapitol so etwas wie ein Schlag ins Gesicht. Zu Zeiten der Rebellion hatte das Kapitol eine Reihe gentechnisch veränderter Tiere gezüchtet, um sie als Waffen einzusetzen. Eines davon war ein Vogel namens Schnattertölpel, der ganze Unterhaltungen zwischen Menschen im Gedächtnis speichern und wiedergeben konnte. Sie waren ausschließlich männlich und fanden wie Brieftauben den Weg nach Hause. Sie wurden in den Gegenden ausgesetzt, wo sich die Feinde des Kapitals versteckt hielten. Wenn die Vögel die Worte aufgeschnappt hatten, sollten sie zu Sammelpunkten zurückfliegen, wo alles aufgezeichnet wurde. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Leute herausfanden, was da vor sich ging und wie ihre privaten Unterhaltungen übertragen wurden. Dann allerdings fütterten die Rebellen die Vögel mit lauter Lügen und das Kapitol guckte dumm aus der Wäsche. Die Sammelpunkte wurden geschlossen und die Vögel zum Sterben in die Wildnis entlassen.

Nur dass sie nicht starben. Stattdessen paarten sich die Schnattertölpel mit weiblichen Spottdrosseln und schufen eine ganz neue Art, die sowohl Vogelgezwitscher als auch menschliche Melodien wiedergeben konnte. Diese Tiere hatten die Fähigkeit verloren, Wörter zu artikulieren, doch sie konnten immer noch eine Reihe menschlicher Laute nachahmen, vom hohen Geträller eines Kindes bis zur tiefen Stimme eines Mannes. Und sie konnten Lieder wiedergeben. Nicht nur ein paar Töne, sondern ganze Lieder mit mehreren Strophen, man musste nur die Geduld aufbringen und sie ihnen vorsingen - und die Stimme musste ihnen gefallen.

Die Spotttölpel waren die Lieblingsvögel meines Vaters. Wenn wir auf die Jagd gingen, pfiff oder sang er ihnen komplizierte Lieder vor und nach einer höflichen Pause sangen sie sie immer nach. Nicht jeder wird mit solchem Respekt behandelt. Aber wenn mein Vater sang, verstummten alle Vögel in der Gegend und lauschten. Seine Stimme war so schön, voll und klar und so lebendig, dass man zugleich lachen und weinen wollte. Nachdem er fort war, konnte ich mich nicht überwinden, in seine Fußstapfen zu treten. Trotzdem hat der kleine Vogel etwas Tröstliches. Als hätte ich ein Stück von meinem Vater dabei, das mich beschützt. Ich befestige die Brosche an meiner Bluse und mit dem dunkelgrünen Stoff als Hintergrund sieht es fast so aus, als würde der Spotttölpel zwischen Bäumen hindurchfliegen.

Effie Trinket kommt, um mich zum Abendessen abzuholen. Ich folge ihr durch den engen, schaukelnden Gang in einen Speisewagen mit glänzender Wandtäfelung. Das Geschirr auf dem Tisch ist hauchdünn. Peeta Mellark sitzt bereits da und wartet auf uns, der Platz neben ihm ist leer.

»Wo ist Haymitch?«, fragt Effie Trinket fröhlich.

»Als ich ihn das letzte Mal sah, wollte er ein Nickerchen machen«, antwortet Peeta.

»War ja auch ein anstrengender Tag«, sagt Effie Trinket. Ich glaube, sie ist erleichtert über Haymitchs Abwesenheit. Wer könnte es ihr verdenken?

Das Abendessen hat mehrere Gänge. Eine dicke Möhrensuppe, grüner Salat, Lammkoteletts mit Kartoffelpüree, Käse und Obst, Schokoladenkuchen. Die ganze Zeit ermahnt Effie Trinket uns, noch ein wenig Platz übrig zu lassen, weil noch mehr komme. Ich schlage mir trotzdem den Bauch voll, denn so gut und so reichlich habe ich noch nie gegessen. Außerdem ist es bestimmt nicht schlecht, wenn ich bis zu den Hungerspielen ein paar Pfunde zulege.

»Immerhin habt ihr beide anständige Manieren«, sagt Effie Trinket nach dem Hauptgang. »Das Paar vom letzten Jahr aß alles mit den Händen, wie die Wilden. Das hat meine Verdauung völlig durcheinandergebracht.«

Das Paar vom letzten Jahr waren zwei Kinder aus dem Saum, die nie, nicht einen Tag in ihrem Leben, genug zu essen gehabt hatten. Und wenn sie zu essen hatten, waren Tischmanieren mit Sicherheit das Letzte, woran sie dachten. Peeta ist Bäckersohn. Prim und ich haben von Mutter beigebracht bekommen, wie man anständig isst, und deshalb kann ich tatsächlich mit Messer und Gabel umgehen. Aber ich finde Effie Trinkets Kommentar so abscheulich, dass ich den Rest der Mahlzeit absichtlich mit den Händen verspeise. Dann wische ich mir die Hände an der Tischdecke ab. Da wird sie ein wenig schmallippig.

Jetzt, nachdem das Essen beendet ist, habe ich Mühe, es bei mir zu behalten. Peeta ist auch ein bisschen grün im Gesicht. Aber wenn ich Greasy Saes Mischung aus Mäusefleisch, Schweineinnereien und Baumrinde - eine Winterspezialität - runterkriege, dann werde ich hier auch keine Schwäche zeigen.

Wir wechseln in ein anderes Abteil, um die Zusammenfassung der Ernten in ganz Panem anzuschauen. Sie verteilen sie über den ganzen Tag, sodass es den Zuschauern möglich ist, alles live mitzuerleben, aber dazu sind sowieso nur die Bewohner des Kapitols in der Lage. Von ihnen muss ja auch keiner bei einer Ernte dabei sein.

Nacheinander sehen wir die anderen Ernten, hören die Namen, sehen Freiwillige vortreten oder, was häufiger ist, auch nicht. Wir betrachten die Gesichter der Kinder, die unsere Konkurrenten sein werden. Ein paar bleiben mir besonders im Gedächtnis. Ein riesenhafter Junge aus Distrikt 2, der nach vorn stürzt, um sich freiwillig zu melden. Ein Mädchen mit Fuchsgesicht und seidig glänzendem Haar aus Distrikt 5. Ein Junge mit verkrüppeltem Fuß aus Distrikt 10. Und, am ergreifendsten: ein zwölfjähriges Mädchen aus Distrikt 11. Ihre Haut und ihre Augen sind dunkelbraun, aber in Größe und Auftreten ist sie Prim sehr ähnlich. Doch als sie die Bühne erklimmt und nach Freiwilligen gefragt wird, ist nur der Wind zu hören, der durch die baufälligen Gebäude ringsum pfeift. Niemand ist bereit, ihren Platz einzunehmen.

Zuletzt wird Distrikt 12 gezeigt. Wie Prim ausgerufen wird und ich nach vorn renne und mich freiwillig melde. Die Verzweiflung in meiner Stimme ist unüberhörbar, während ich Prim hinter mich schiebe - als hätte ich Angst, sie würden mich nicht hören und Prim mitnehmen. Aber natürlich hören sie mich doch. Ich sehe, wie Gale Prim von mir wegzieht und wie ich auf die Bühne gehe. Die Kommentatoren sind unsicher, was sie dazu sagen sollen, dass die Zuschauer nicht applaudieren wollen. Der stille Gruß. Einer sagt, Distrikt 12 sei immer schon ein wenig rückständig gewesen, wobei lokale Bräuche durchaus auch ihren Charme haben könnten. Wie bestellt fällt Haymitch von der Bühne, woraufhin sie übertrieben stöhnen. Peetas Name wird gezogen und er nimmt schweigend seinen Platz ein. Wir reichen uns die Hände. Schnitt auf die Hymne und die Aufzeichnung ist zu Ende.

Effie Trinket ärgert sich über den Zustand ihrer Perücke.

»Euer Mentor muss noch viel über Moderation lernen. Und darüber, wie man sich im Fernsehen benimmt.«

Da lacht Peeta plötzlich auf. »Er war betrunken«, sagt er. »Er ist jedes Jahr betrunken.«

»Jeden Tag«, füge ich hinzu. Ich kann mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen. Bei Effie Trinket klingt es so, als hätte Haymitch nur ein bisschen raue Manieren, die sich mit ein paar guten Tipps korrigieren ließen.

»Ja«, faucht Effie Trinket. »Merkwürdig, dass ihr beide das amüsant findet. Vergesst nicht, dass euer Mentor bei diesen Spielen eure Rettungsleine zur Welt ist. Er ist derjenige, der euch berät, eure Sponsoren organisiert und bestimmt, wann ihr eure Geschenke erhaltet. Haymitch kann für euch den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten!«

Genau in diesem Moment kommt Haymitch ins Abteil getorkelt. »Hab ich das Abendessen verpasst?«, lallt er. Dann erbricht er sich auf den kostbaren Teppich und fällt mitten in die Sauerei.

»Lacht ihr nur!«, sagt Effie Trinket. In ihren spitzen Schuhen hüpft sie um den See aus Erbrochenem herum und flüchtet aus dem Waggon.


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