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Das Trainingscenter ist in einem turmartigen Gebäude untergebracht, das ausschließlich für die Tribute und ihre Teams errichtet wurde. Hier werden wir bis zum Beginn der eigentlichen Spiele wohnen. Jedem Distrikt steht eine ganze Etage zur Verfügung. Man betritt einfach einen Aufzug und drückt die Nummer des eigenen Distrikts. Kinderleicht zu merken.

Ich bin zweimal im Gerichtsgebäude von Distrikt 12 Aufzug gefahren. Einmal, um nach dem Tod meines Vaters die Medaille in Empfang zu nehmen, und dann gestern, um mich von Familie und Freunden zu verabschieden. Aber der Aufzug dort ist ein dunkles knarrendes Ding, das sich im Schneckentempo bewegt und in dem es nach saurer Milch riecht. Die Wände des Aufzugs hier sind aus Glas, sodass man sehen kann, wie die Leute im Erdgeschoss zu Ameisen schrumpfen, während man selbst in die Höhe schießt. Es ist ein tolles Gefühl und ich bin versucht, Effie Trinket zu fragen, ob wir noch mal fahren können, aber irgendwie kommt mir das kindisch vor.

Effie Trinkets Aufgaben sind mit unserer Ankunft am Bahnhof offenbar nicht beendet. Sie und Haymitch werden uns managen, bis es in die Arena geht. Das hat gewisse Vorteile, denn sie steht wenigstens pünktlich bereit, wenn wir irgendwohin müssen, während Haymitch, seit er im Zug eingewilligt hat, uns zu helfen, nicht mehr aufgetaucht ist. Wahrscheinlich liegt er irgendwo im Delirium. Effie Trinket hingegen scheint auf einem Höhenflug zu sein. Zum ersten Mal betreut sie ein Team, das bei der Eröffnungsfeier der unumstrittene Star war. Sie lobt unsere Kostüme und unseren Auftritt. Außerdem behauptet Effie Trinket, sie kenne jeden, der im Kapitol Rang und Namen hat, und habe uns den ganzen Tag in höchsten Tönen gelobt, um Sponsoren für uns zu gewinnen.

»Ich habe aber sehr geheimnisvoll getan«, sagt sie und blinzelt durch die halb geschlossenen Augen. »Haymitch hat mir nämlich nichts über eure Strategien erzählt. Trotzdem habe ich versucht, aus dem Material, das mir zur Verfügung stand, das Beste zu machen. Wie Katniss sich für ihre Schwester geopfert hat. Wie ihr beide erfolgreich dafür kämpft, die Barbarei in eurem Distrikt zu überwinden.«

Barbarei? Ziemliche Ironie, das aus dem Mund einer Frau zu hören, die uns darauf vorbereitet, abgeschlachtet zu werden. Und woran macht sie unseren Erfolg fest? An unseren Tischmanieren?

»Natürlich haben sie alle ihre Vorbehalte. Weil ihr aus dem Kohledistrikt kommt. Aber ich habe gesagt, und das war sehr klug von mir, ich habe gesagt: >Wisst ihr, wenn man nur genug Druck auf die Kohle ausübt, werden daraus Perlen! <« Effie strahlt uns derart an, dass wir nicht anders können, als sie begeistert für ihre Klugheit zu loben, auch wenn sie sich irrt.

Kohle verwandelt sich nicht in Perlen. Die wachsen in Muscheln. Wahrscheinlich meinte sie, dass Kohle sich in Diamanten verwandelt, obwohl auch das nicht stimmt. Ich habe gehört, dass es in Distrikt 1 eine Maschine gibt, die Grafit in Diamanten verwandeln kann. Aber in Distrikt 12 fördern wir keinen Grafit. Das war ein Teil der Aufgabe von Distrikt 13, bis er zerstört wurde.

Ich frage mich, ob die Leute, bei denen sie den ganzen Tag die Werbetrommel für uns gerührt hat, das wissen oder überhaupt wissen wollen.

»Leider kann ich keine Sponsorendeals für euch machen. Das kann nur Haymitch«, sagt sie finster. »Aber macht euch keine Sorgen, ich werde ihn an den Tisch kriegen, wenn nötig mit Waffengewalt.«

Effie Trinket hat zwar gewisse Schwächen, aber ihre Entschlossenheit muss ich bewundern.

Mein Quartier ist größer als unser ganzes Haus in Distrikt 12. Es ist ebenso vornehm eingerichtet wie der Waggon im Zug und verfügt dabei über so viele automatische Vorrichtungen, dass ich bestimmt nicht die Zeit haben werde, sie alle auszuprobieren. Allein die Dusche hat ein Bedienfeld mit mehr als hundert Wahlmöglichkeiten, bei denen man Temperatur, Wasserdruck, Seifen, Shampoos, Öle und Massageschwämme einstellen kann. Wenn man auf eine Matte steigt, schalten sich Heizlüfter ein, die den Körper trocken pusten. Anstatt mit den Knoten in meinem nassen Haar zu kämpfen, lege ich einfach die Hand auf einen Kasten, der einen Luftstrom über meine Kopfhaut aussendet und das Haar in kürzester Zeit entwirrt, scheitelt und trocknet. Wie ein glänzender Vorhang fließt es auf meine Schultern herab.

Den Wäscheschrank programmiere ich auf ein Outfit nach meinem Geschmack. Auf mein Kommando zoomen die Fenster die gewünschten Stadtteile heran und wieder weg. Ich brauche nur den Namen eines Gerichts von einer gigantischen Speisekarte in ein Sprachrohr zu flüstern und im Handumdrehen steht es heiß und dampfend vor mir. Ich gehe durch den Raum, esse Gänseleber und lockeres Brot, bis es an der Tür klopft. Effie ruft mich zum Abendessen.

Gut. Ich habe nämlich einen Bärenhunger.

Als wir das Speisezimmer betreten, stehen Peeta, Cinna und Portia auf einem Balkon und schauen auf das Kapitol hinab. Ich bin froh, die Stylisten zu sehen, besonders als ich höre, dass Haymitch auch dazustoßen wird. Eine Mahlzeit nur mit Effie und Haymitch würde in einer Katastrophe enden. Außerdem geht es heute Abend nicht nur ums Essen, sondern auch darum, eine Strategie zu entwerfen, und Cinna und Portia haben bereits bewiesen, wie wertvoll sie sind.

Ein stiller junger Mann in weißer Tunika reicht uns langstielige Gläser mit Wein. Erst will ich ablehnen, aber abgesehen von dem selbst gemachten Zeug, das meine Mutter uns bei Husten verabreicht, habe ich noch nie Wein getrunken, und wann werde ich je wieder die Gelegenheit dazu bekommen? Ich trinke ein Schlückchen der säuerlichen, herben Flüssigkeit und denke insgeheim, dass sie mit ein paar Löffeln Honig besser schmecken würde.

Haymitch erscheint just in dem Augenblick, als das Essen aufgetragen wird. Offenbar hat er auch einen Stylisten, denn er sieht sauber und gepflegt aus und wirkt so nüchtern, wie ich ihn noch nie gesehen habe. Zwar lehnt er den Wein nicht ab, aber als er anfängt, seine Suppe zu löffeln, wird mir bewusst, dass ich ihn zum ersten Mal essen sehe. Vielleicht wird er sich tatsächlich lange genug zusammenreißen, um uns eine Hilfe zu sein.

Cinna und Portia scheinen dazu beizutragen, dass Effie und Haymitch sich zivilisiert benehmen. Zumindest sprechen sie einander höflich an. Und was die Eröffnungsfeier angeht, so sind beide voll des Lobes für unsere Stylisten. Während sie gepflegt plaudern, konzentriere ich mich aufs Essen. Pilzsuppe, ein bitteres Gemüse mit erbsengroßen Tomaten, blutiges Roastbeef, hauchdünn geschnitten, Nudeln in einer grünen Soße, Käse, der auf der Zunge zergeht und mit süßen blauen Weintrauben serviert wird. Die Kellner, alles junge Leute in weißen Tuniken wie der, von dem wir den Wein haben, kommen und gehen wortlos und sorgen dafür, dass Teller und Gläser stets gefüllt sind.

Als ich mein Weinglas halb ausgetrunken habe, fühle ich mich leicht benebelt und steige lieber auf Wasser um. Ich mag das Gefühl nicht und hoffe, dass es bald nachlässt. Es ist mir ein Rätsel, wie Haymitch es aushält, ständig in diesem Zustand herumzulaufen.

Ich versuche mich auf das Gespräch zu konzentrieren, in dem es jetzt um unsere Interviewkostüme geht, als ein Mädchen eine umwerfend aussehende Torte auf den Tisch stellt und geschickt anzündet. Die Torte lodert auf, dann züngeln die Flammen eine Weile an den Rändern, bis sie schließlich erlöschen. Einen Moment lang bin ich im Zweifel. »Wodurch brennt das? Alkohol?«, frage ich und schaue zu dem Mädchen auf. »Das möchte ich auf gar keinen Fa… He! Dich kenne ich doch!«

Ich kann dem Gesicht des Mädchens weder einen Namen noch eine Zeit zuordnen. Aber ich bin mir sicher. Das dunkelrote Haar, die markanten Gesichtszüge, die porzellanweiße Haut. Doch schon als ich die Worte ausspreche, habe ich Angst und Schuldgefühle, und obwohl ich nicht weiß, was es ist, spüre ich, dass ich eine schlechte Erinnerung mit ihr verbinde. Das Entsetzen, das über ihr Gesicht huscht, vergrößert meine Verwirrung und mein Unbehagen nur noch mehr. Sie schüttelt den Kopf und geht eilig davon.

Als ich ihr nachsehe, schauen die vier Erwachsenen mich an wie Falken.

»Mach dich nicht lächerlich, Katniss. Woher solltest du einen Avox kennen?«, blafft Effie mich an. »Allein der Gedanke.«

»Was ist ein Avox?«, frage ich dümmlich.

»Jemand, der ein Verbrechen begangen hat. Sie haben ihr die Zunge herausgeschnitten, deshalb kann sie nicht reden«, sagt Haymitch. »Wahrscheinlich ist sie irgendeine Verräterin. Ziemlich unwahrscheinlich, dass du sie kennst.«

»Und selbst wenn, du darfst mit keinem von ihnen sprechen, außer um Befehle zu erteilen«, sagt Effie. »Aber natürlich kennst du sie gar nicht.«

Doch, ich kenne sie. Und jetzt, da Haymitch das Wort Verräterin erwähnt hat, weiß ich auch, woher. Aber die allgemeine Missbilligung ist so deutlich, dass ich es niemals zugeben könnte. »Nein, ich glaube nicht, ich habe nur …«, stammele ich und der Wein macht es nicht besser.

Peeta schnippt mit den Fingern. »Delly Cartwright. Genau. Mir kam sie nämlich auch bekannt vor. Bis mir klar wurde, dass sie Delly aufs Haar gleicht.«

Delly Cartwright ist ein blassgesichtiges, pummeliges Mädchen mit gelblichem Haar, die unserer Kellnerin etwa so ähnlich sieht wie ein Käfer einem Schmetterling. Außerdem ist sie vielleicht der freundlichste Mensch auf der Welt - in der Schule lächelt sie dauernd alle an, sogar mich. Das rothaarige Mädchen habe ich noch nie lächeln gesehen. Aber ich nehme Peetas Vorlage dankbar auf. »Natürlich, an Delly hat sie mich erinnert. Wahrscheinlich wegen der Haare«, sage ich.

»Und auch wegen der Augen«, sagt Peeta.

Die Spannung am Tisch löst sich auf. »Nun ja. Wenn’s nur das ist«, sagt Cinna. »Und die Torte enthält tatsächlich Schnaps, aber der Alkohol ist verbrannt. Ich habe sie extra zu Ehren eures feurigen Debüts bestellt.«

Wir essen die Torte und begeben uns dann in einen Salon, um im Fernsehen die Wiederholung der Eröffnungsfeier anzuschauen. Einige der anderen Paare sehen ganz hübsch aus, aber keines von ihnen kann uns das Wasser reichen. Sogar uns selbst entfährt ein Laut des Staunens bei unserer Ausfahrt aus dem Trainingscenter.

»Wer hatte die Idee mit dem Händchenhalten?«, fragt Haymitch.

»Cinna«, sagt Portia.

»Genau der richtige Touch Rebellion«, sagt Haymitch. »Sehr hübsch.«

Rebellion? Darüber muss ich einen Moment nachdenken. Aber als ich an die anderen Paare denke, jeder steif und für sich, einander weder berührend noch eines Blickes würdigend, als würde der Partnertribut gar nicht existieren, als hätten die Hungerspiele bereits begonnen, verstehe ich, was Haymitch meint. Wir haben uns nicht als Gegner, sondern als Freunde präsentiert, und das hat uns genauso herausgehoben wie die brennenden Kostüme.

»Morgen früh beginnt die erste Trainingseinheit. Beim Frühstück werde ich euch genau erklären, wie ihr sie angehen sollt«, sagt Haymitch zu Peeta und mir. »Und jetzt geht schlafen, während sich die Erwachsenen unterhalten.«

Peeta und ich gehen den Flur entlang. Als wir vor meiner Zimmertür ankommen, lehnt er sich gegen den Rahmen. Er versperrt mir nicht direkt den Weg, zwingt mich jedoch, ihn anzusehen. »Delly Cartwright, soso. Das war was, hier ihrer Doppelgängerin zu begegnen.«

Er wartet auf eine Erklärung und ich bin versucht, ihm eine zu geben. Wir wissen beide, dass er mich gedeckt hat. Schon wieder bin ich ihm etwas schuldig. Wenn ich ihm die Wahrheit über das Mädchen sage, könnte ich etwas davon wettmachen. Was könnte es schaden? Selbst wenn er die Geschichte ausplaudern würde, wäre das nicht so schlimm. Ich war schließlich nur Zeuge. Und was Delly Cartwright angeht, so hat er schließlich genauso gelogen wie ich.

Ich merke, dass ich jemandem von dem Mädchen erzählen möchte. Jemandem, der mir helfen könnte, ihre Geschichte zu verstehen. Gale wäre erste Wahl, aber es ist unwahrscheinlich, dass ich Gale je wiedersehe. Ich überlege, ob es Peeta einen Vorteil verschaffen könnte, wenn ich es ihm erzähle, aber ich wüsste nicht, wie. Wenn ich ihn ins Vertrauen ziehe, denkt er vielleicht sogar, dass ich ihn als Freund betrachte.

Abgesehen davon macht mir der Gedanke an das Mädchen mit der verstümmelten Zunge Angst. Sie hat mich daran erinnert, warum ich hier bin. Nicht um Glitzerklamotten vorzuführen und Delikatessen zu verspeisen. Sondern um einen blutigen Tod zu sterben, während die Menge meinen Mörder anfeuert.

Verraten oder nicht verraten? Mein Hirn fühlt sich noch träge an vom Wein. Ich starre in den leeren Flur, als könnte ich dort die Lösung finden.

Peeta nutzt mein Zögern. »Warst du schon mal auf dem Dach?« Ich schüttele den Kopf. »Cinna hat es mir gezeigt. Du kannst praktisch über die ganze Stadt schauen. Nur der Wind ist ein bisschen laut.«

In Gedanken übersetze ich das mit: »Niemand wird unser Gespräch belauschen können.« Denn es fühlt sich so an, als ob sie uns hier überwachen. »Können wir da denn einfach raufgehen?«

»Aber ja, komm«, sagt Peeta. Ich folge ihm zu einer Treppe, die nach oben in einen kleinen kuppelförmigen Raum führt. Als wir durch eine Tür in die kühle, windige Abendluft hinaustreten, stockt mir der Atem bei der Aussicht. Das Kapitol blinkt wie ein riesiges Feld aus Glühwürmchen. In Distrikt 12 haben wir mal Strom und mal nicht, meist nur für ein paar Stunden am Tag. Oft verbringen wir die Abende bei Kerzenschein. Auf Strom verlassen kann man sich nur dann, wenn im Fernsehen die Spiele übertragen werden oder eine wichtige Mitteilung der Regierung kommt, bei der das Zuschauen obligatorisch ist. Aber hier wird nie Mangel an Strom herrschen. Niemals.

Peeta und ich gehen zu einer Brüstung am Rand des Dachs. Ich schaue geradewegs die Gebäudewand hinunter auf die Straße, auf der es von Menschen wimmelt. Man kann ihre Autos hören, gelegentlich einen Ruf und ein seltsames metallisches Geklingel. In Distrikt 12 würden um diese Uhrzeit alle ans Bett denken.

»Ich habe Cinna gefragt, warum sie uns hier herauflassen. Wäre doch möglich, dass manche Tribute sich entschließen könnten, runterzuspringen«, sagt Peeta.

»Und was hat er geantwortet?«, frage ich.

»Es geht nicht«, sagt Peeta. Er streckt die Hand in den scheinbar leeren Raum. Ein scharfes Sirren ertönt und er zuckt zurück. »Eine Art elektrisches Feld wirft dich zurück aufs Dach.«

»Immer um unsere Sicherheit besorgt«, sage ich. Obwohl Cinna Peeta das Dach gezeigt hat, frage ich mich, ob wir jetzt eigentlich hier oben sein dürften, so spät und ganz allein. Ich habe noch nie Tribute auf dem Dach des Trainingscenters gesehen. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir nicht aufgenommen werden. »Glaubst du, sie beobachten uns?«

»Gut möglich«, sagt er. »Komm mit in den Garten.«

Auf der anderen Seite der Kuppel befindet sich ein Garten mit Blumenbeeten und Bäumen in Töpfen. An den Ästen hängen Hunderte Glockenspiele, von ihnen kommt das Geklingel, das ich gehört habe. Hier im Garten, in dieser windigen Nacht, reicht es aus, um zwei Menschen zu übertönen, die nicht gehört werden wollen. Peeta sieht mich erwartungsvoll an.

Ich tue so, als würde ich eine Blüte untersuchen. »Wir haben mal im Wald gejagt. Uns versteckt und auf die Lauer gelegt«, flüstere ich.

»Du und dein Vater?«, flüstert er zurück.

»Nein, mein Freund Gale. Plötzlich hörten alle Vögel schlagartig auf zu singen. Bis auf einen. Als hätte er einen Warnruf ausgestoßen. Und dann sahen wir sie. Ich bin mir sicher, dass es dasselbe Mädchen war. Ein Junge war bei ihr. Ihre Kleider waren zerlumpt. Sie hatten vor Schlafmangel dunkle Ringe unter den Augen. Sie rannten, als würde ihr Leben davon abhängen«, sage ich.

Einen Augenblick lang bin ich still, während ich mich daran erinnere, wie der Anblick dieses seltsamen Paars, das auf der Flucht durch den Wald war und eindeutig nicht aus Distrikt 12 kam, uns lähmte. Später fragten wir uns, ob wir den beiden hätten helfen können. Vielleicht. Vielleicht hätten wir sie verstecken können. Wenn wir schnell gehandelt hätten. Gale und ich waren überrascht, das schon, aber wir waren beide Jäger. Wir wissen, wie ein Tier aussieht, das in die Enge getrieben ist. Sobald wir sie sahen, wussten wir, dass die beiden in Schwierigkeiten waren. Trotzdem schauten wir nur zu.

»Das Hovercraft tauchte aus dem Nichts auf«, erzähle ich weiter. »Der Himmel war leer und im nächsten Augenblick war es da. Es machte kein Geräusch, doch sie sahen es. Ein Netz fiel auf das Mädchen und hievte es hinauf, schnell, so schnell wie ein Aufzug. Dann durchbohrten sie den Jungen mit einer Art Speer, der an einem Seil hing, und holten ihn ebenfalls an Bord. Aber ich bin sicher, dass er tot war. Wir hörten das Mädchen einmal schreien. Den Namen des Jungen, glaube ich. Dann war das Hovercraft fort. Spurlos verschwunden. Und die Vögel begannen wieder zu singen, als ob nichts geschehen wäre.«

»Haben die beiden euch gesehen?«, fragt Peeta.

»Ich weiß nicht. Wir lagen unter einem Felsvorsprung«, antworte ich. Aber ich weiß es doch. Es gab einen Augenblick, nach dem Vogelschrei und noch vor dem Hovercraft, da hat das Mädchen uns gesehen. Es starrte mich an und rief um Hilfe. Doch weder Gale noch ich haben geantwortet.

»Du zitterst«, sagt Peeta.

Der Wind und die Geschichte haben alle Wärme aus meinem Körper geblasen. Der Schrei des Mädchens. War es ihr letzter?

Peeta zieht seine Jacke aus und wickelt sie um meine Schultern. Erst weiche ich einen Schritt zurück, aber dann lasse ich ihn gewähren und beschließe, für den Moment beides anzunehmen, seine Jacke und seine Freundlichkeit. Das würde ein Freund doch tun, oder?

»Waren sie von hier?«, fragt er, während er einen Knopf an meinem Hals zuknöpft.

Ich nicke. Sie trugen Kapitolklamotten. Der Junge und das Mädchen.

»Was glaubst du, wohin sie wollten?«, fragt er.

»Das weiß ich nicht«, sage ich. Distrikt 12 ist sozusagen die Endstation. Hinter uns gibt es nur Wildnis. Wenn man die Ruinen von Distrikt 13 nicht mitzählt, in denen noch immer die Giftbomben schwelen. Ab und zu zeigen sie es im Fernsehen, um uns daran zu erinnern. »Und ich weiß auch nicht, warum sie abgehauen sind.« Haymitch hat die Avoxe als Verräter bezeichnet. Gegen wen richteten sie sich? Es kam nur das Kapitol infrage. Aber sie hatten hier doch alles. Kein Grund zu rebellieren.

»Ich würde auch abhauen«, platzt Peeta heraus. Dann schaut er sich nervös um. Er hat laut genug gesprochen, um die Glockenspiele zu übertönen. Er lacht. »Wenn sie mich ließen, würde ich jetzt nach Hause gehen. Aber das Essen ist erstklassig, das muss man zugeben.«

Jetzt ist er wieder in Deckung gegangen. Hätte man nur das gehört, man hätte es für die Worte eines verängstigten Tributs halten können und wäre nicht auf den Gedanken gekommen, dass hier jemand die ach so große Güte des Kapitols infrage stellt.

»Es wird kühl. Wir gehen besser rein«, sagt er. In der Kuppel ist es warm und hell. Er ist in Plauderstimmung. »Dein Freund Gale. Ist das der, der bei der Ernte deine Schwester weggetragen hat?«

»Ja. Kennst du ihn?«, frage ich.

»Kaum. Die Mädchen sprechen viel über ihn. Ich habe gedacht, er wäre dein Cousin oder so. Ihr helft einander«, sagt er.

»Nein, wir sind nicht verwandt«, sage ich. Peeta nickt unergründlich. »Hat er sich von dir verabschiedet?«

»Ja«, sage ich, wobei ich ihn vorsichtig beobachte. »Dein Vater auch. Er hat mir Plätzchen mitgebracht.«

Peeta zieht die Augenbrauen hoch, als hörte er das zum ersten Mal. Aber nachdem ich gesehen habe, wie glatt er lügen kann, messe ich dem kein Gewicht bei. »Wirklich? Nun ja, er mag dich und deine Schwester. Ich glaube, er hätte gern eine Tochter und nicht das ganze Haus voller Jungs.«

Die Vorstellung, dass am Esstisch, am Backofen oder auch nur beiläufig bei Peeta zu Hause über mich gesprochen wurde, lässt mich zusammenfahren. Da kann die Mutter aber nicht im Zimmer gewesen sein.

»Er kannte deine Mutter aus der Kindheit«, sagt Peeta.

Noch eine Überraschung. Aber wahrscheinlich stimmt es. »Ach ja. Sie ist in der Stadt aufgewachsen«, sage ich. Es wäre unfreundlich zu sagen, dass sie den Bäcker nie erwähnt hat, außer um sein Brot zu loben.

Wir kommen vor meine Tür. Ich gebe ihm seine Jacke zurück. »Bis morgen.«

»Bis morgen«, sagt er und geht durch den Flur davon.

Als ich meine Tür öffne, hebt das rothaarige Mädchen gerade Einteiler und Stiefel vom Boden auf, wo ich sie vor dem Duschen liegen gelassen habe. Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich sie vorhin vielleicht in Schwierigkeiten gebracht habe. Aber dann fällt mir ein, dass ich nicht mit ihr reden soll, es sei denn, um ihr Befehle zu erteilen.

»Oh, Entschuldigung«, sage ich. »Ich sollte sie ja Cinna zurückgeben. Tut mir leid. Kannst du sie ihm bringen?«

Sie weicht meinem Blick aus, nickt kurz und verschwindet schnell durch die Tür.

Ich hatte ihr gerade sagen wollen, dass es mir leid tut wegen des Abendessens. Aber ich weiß, dass mein Bedauern viel tiefer reicht. Dass ich mich schäme, weil ich damals nicht versucht habe, ihr zu helfen. Dass ich zuließ, dass das Kapitol den Jungen tötete und sie verstümmelte, und keinen Finger gerührt habe.

So wie ich mir die Spiele angeschaut habe.

Ich streife meine Schuhe ab und verkrieche mich in meinen Kleidern unter die Bettdecke. Ich zittere immer noch. Vielleicht erinnert sich das Mädchen gar nicht an mich. Doch, sie tut es, das weiß ich. Das Gesicht eines Menschen, der einmal die letzte Hoffnung war, vergisst man nicht. Ich ziehe mir die Decke über den Kopf, als könnte ich mich so vor dem rothaarigen Mädchen schützen, das nicht sprechen kann. Aber ich spüre, wie ihr Blick durch Wände und Türen und Bettzeug dringt.

Ich frage mich, ob es ihr wohl Spaß machen wird, mich sterben zu sehen.


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