26
Ich spucke die Beeren aus und wische mit dem Jackenzipfel meine Zunge ab, damit nur ja kein Saft zurückbleibt. Peeta zieht mich zum See, wo wir uns den Mund ausspülen und dann einander in die Arme fallen. »Hast du welche geschluckt?«, frage ich ihn. Er schüttelt den Kopf. »Du?«
»Schätze, dann war ich jetzt tot«, sage ich. An seinen Lippen sehe ich, dass er etwas erwidert, aber ich kann ihn nicht verstehen, weil die Lautsprecher live den Jubel der Menge im Kapitol übertragen.
Das Hovercraft erscheint über unseren Köpfen und zwei Leitern fahren herunter. Ich lasse Peeta nicht los. Mit einem Arm stütze ich ihn und jeder setzt einen Fuß auf die erste Sprosse der Leiter. Der elektrische Strom hält uns gefangen und diesmal bin ich froh darum, weil ich nicht weiß, ob Peeta durchhält. Da mein Blick nach unten gerichtet ist, kann ich zusehen, wie das Blut ungehindert aus Peetas Bein fließt, während unsere Muskeln unbeweglich sind. Und wie zu erwarten: Kaum dass die Tür hinter uns zugeht und der Strom abgeschaltet wird, bricht Peeta bewusstlos auf dem Boden zusammen.
Meine Finger halten seine Jacke noch immer so fest, dass ich ein faustgroßes Stück schwarzen Stoff herausreiße, als sie ihn fortbringen. Ärzte in sterilem Weiß mit Mundschutz und Handschuhen stehen schon zur Operation bereit und machen sich ans Werk. Blass und still liegt Peeta auf dem silbernen Operationstisch, Schläuche und Kabel hängen kreuz und quer aus ihm heraus und einen Augenblick lang vergesse ich, dass die Spiele zu Ende sind, und sehe die Ärzte als neue Bedrohung, als Meute von Mutationen, die extra dafür entwickelt wurden, ihn zu töten. Entsetzt stürze ich auf ihn zu, aber jemand fängt mich ein und bugsiert mich in einen anderen Raum, eine Glastür schiebt sich zwischen uns. Ich trommele gegen die Scheibe und schreie mir die Lunge aus dem Hals. Niemand beachtet mich, nur ein Diener des Kapitols erscheint in meinem Rücken und reicht mir etwas zu trinken.
Ich sinke zu Boden, mit dem Gesicht zur Tür, und starre verständnislos auf das Kristallglas in meiner Hand. Eiskalter Orangensaft, ein Strohhalm mit weißem Rüschenkragen. Wie unpassend das aussieht in meiner blutigen, dreckigen Hand mit den Schmutzrändern unter den Nägeln und den Narben. Der Duft lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen, aber trotzdem stelle ich das Glas vorsichtig auf den Boden - etwas so Sauberes, Hübsches macht mich misstrauisch.
Durch die Scheibe sehe ich, wie die Ärzte mit konzentriert zusammengezogenen Brauen fieberhaft an Peeta arbeiten. Ich sehe die Flüssigkeiten, die durch die Schläuche gepumpt werden, betrachte eine Wand mit Anzeigen und Lämpchen, die mir nichts sagen. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sein Herz setzt zweimal aus.
Es ist, als wäre ich wieder zu Hause, wenn nach einer Explosion in den Minen ein hoffnungslos zerfetzter Mensch hereingebracht wird, oder die Frau am dritten Tag der Wehen oder das hungernde Kind, das mit einer Lungenentzündung kämpft. Dann haben meine Mutter und Prim auch diesen Gesichtsausdruck. Jetzt ist es Zeit, in den Wald zu rennen, mich zwischen den Bäumen zu verstecken, bis der Patient gestorben ist und in einem anderen Teil des Saums ein Sarg zusammengezimmert wird. Aber hier halten mich die Wände des Hovercrafts und jene Kraft, die Angehörige bei einem Sterbenden ausharren lässt. Wie oft habe ich sie gesehen, rings um unseren Küchentisch, und gedacht: Warum gehen sie nicht weg? Warum wollen sie unbedingt bleiben und zuschauen?
Jetzt weiß ich, warum. Weil sie nicht anders können.
Ich schrecke zusammen, als ich merke, dass jemand mich aus nächster Nähe anstarrt, aber dann begreife ich, dass es mein eigenes Gesicht ist, das sich in der Scheibe spiegelt. Wilde Augen, eingefallene Wangen, mein Haar eine verfilzte Matte. Tollwütig. Verwildert. Irr. Kein Wunder, dass alle auf Abstand gehen.
Als Nächstes merke ich, dass wir auf dem Dach des Trainingscenters landen. Peeta wird fortgebracht, während ich weiter hinter der Tür bleibe. Mit einem gellenden Schrei werfe ich mich gegen die Glasscheibe und sehe flüchtig rosa Haare - das muss Effie sein, ja, Effie, die kommt, um mich zu retten -, als von hinten eine Nadel in mich einsticht.
Als ich aufwache, habe ich zuerst Angst, mich zu bewegen. Die Zimmerdecke schimmert in weichem, gelbem Licht und ich sehe, dass ich in einem Raum liege, in dem nur mein Bett steht. Keine Türen, keine Fenster sind zu sehen. Die Luft riecht irgendwie scharf und antiseptisch. In meinem rechten Arm stecken mehrere Schläuche, die zu der Wand hinter mir führen.
Ich bin nackt, aber die Bettwäsche fühlt sich wohlig auf der Haut an. Probehalber hebe ich den linken Arm über die Bettdecke. Er ist nicht nur vollkommen sauber, auch die Nägel sind zu perfekten Ovalen gefeilt worden, die Brandnarben sind nicht mehr so auffällig. Ich betaste meine Wange, meine Lippen, die runzlige Narbe über der Augenbraue und fahre mit den Fingern durch mein seidiges Haar, als ich erstarre. Ängstlich wühle ich im Haar über meinem linken Ohr. Nein, ich habe mich nicht getäuscht. Ich kann wieder hören.
Ich versuche mich aufzusetzen, aber ein breites Rückhalteband um die Taille lässt mir nur ein paar Zentimeter Bewegungsfreiheit. Panik steigt auf, ich versuche mich hochzuziehen und mich mit der Hüfte durch das Band zu winden. Da wird ein Teil der Wand beiseitegeschoben und das rothaarige Avoxmädchen kommt mit einem Tablett herein. Ihr Anblick beruhigt mich so sehr, dass ich meine Fluchtversuche einstelle. Am liebsten würde ich ihr tausend Fragen stellen, aber ich befürchte, dass ihr schon die kleinste Vertraulichkeit schaden könnte. Offenbar werde ich ja genauestens überwacht. Sie setzt das Tablett über meinen Oberschenkeln ab und drückt einen Knopf, woraufhin ich in eine sitzende Position gehoben werde. Während sie meine Kissen zurechtrückt, riskiere ich eine Frage. Ich spreche sie laut aus, so deutlich es meine eingerostete Stimme erlaubt, damit es nicht geheimniskrämerisch wirkt. »Hat Peeta überlebt?« Sie nickt, und als sie mir den Löffel reicht, drückt sie mir freundschaftlich die Hand.
Dann wollte sie mich wohl doch nicht tot sehen. Und Peeta hat überlebt. Natürlich. Bei der erstklassigen Ausstattung hier. Trotzdem war ich mir bis jetzt nicht sicher.
Geräuschlos schließt sich die Tür hinter dem Avoxmädchen und ich wende mich hungrig dem Tablett zu. Eine Schale klare Brühe, eine kleine Portion Apfelmus und ein Glas Wasser. Das soll alles sein?, denke ich mürrisch. Müsste meine Heimkehrermahlzeit nicht ein wenig spektakulärer ausfallen? Dann aber habe ich schon Mühe, diese karge Mahlzeit aufzuessen. Anscheinend ist mein Magen auf die Größe einer Kastanie zusammengeschrumpft und ich frage mich, wie lange ich eigentlich bewusstlos war, denn am letzten Morgen in der Arena habe ich doch noch mühelos ein ansehnliches Frühstück vertilgt. Gewöhnlich gibt es zwischen dem Ende des Wettkampfs und der Präsentation des Siegers eine mehrtägige Pause, damit das ausgehungerte, verletzte Wrack, zu dem der Mensch geworden ist, wieder zusammengeflickt werden kann. Irgendwo arbeiten Cinna und Portia schon an der Garderobe für unsere Auftritte. Haymitch und Effie arrangieren das Bankett für unsere Sponsoren und besprechen die Fragen für unsere abschließenden Interviews. Zu Hause in Distrikt 12 dürfte ein Chaos ausgebrochen sein, schließlich ist die Willkommensparty, die sie dort für Peeta und mich bestimmt schon organisieren, die erste seit fast dreißig Jahren.
Zu Hause! Prim und meine Mutter! Gale! Sogar bei dem Gedanken an Prims verlotterte alte Katze muss ich lächeln. Bald bin ich zu Hause!
Ich möchte aus diesem Bett raus. Möchte Peeta und Cinna sehen und mehr darüber erfahren, was passiert ist. Warum auch nicht? Mir geht’s gut. Doch als ich mich jetzt endgültig aus dem Band winden will, spüre ich, wie aus einem der Schläuche eine kalte Flüssigkeit in meine Adern sickert, und verliere fast augenblicklich das Bewusstsein.
Dies wiederholt sich mehrmals über eine unbestimmte Zeitspanne. Aufwachen, Essen und Ausgeschaltetwerden, selbst wenn ich keine Anstalten mache, aufzustehen. Es ist, als befände ich mich in einem ständigen Dämmerzustand. Nur ein paar Sachen registriere ich. Dass das rothaarige Avoxmädchen nicht wiedergekommen ist, dass meine Narben verschwinden und dass - oder fantasiere ich das? - ein Mann schreit. Nicht mit dem Akzent des Kapitols, sondern im raueren Tonfall meines Heimatdistrikts. Und ich habe unwillkürlich das vage, tröstliche Gefühl, dass jemand über mich wacht.
Schließlich komme ich wieder zu mir und die Kanülen im rechten Arm sind verschwunden. Das Band um meinen Rumpf ist weg, ich kann mich frei bewegen. Ich versuche mich aufzusetzen, als mein Blick auf meine Hände fällt und ich stutze: Die Haut ist vollkommen, zart und schimmernd. Die Narben sind spurlos verschwunden, aber nicht nur die aus der Arena, sondern auch die von den vielen Jahren des Jagens. Meine Stirn fühlt sich an wie Seide und sogar nach der Brandwunde an meiner Wade taste ich vergebens.
Ich strecke die Beine aus dem Bett, ein bisschen nervös, weil ich nicht weiß, ob sie mein Gewicht tragen werden, aber sie sind stark und zuverlässig. Beim Anblick der Kleidungsstücke, die am Fuß des Bettes liegen, zucke ich zusammen. Es ist die Kluft der Tribute, wie ich sie in der Arena getragen habe. Ich starre die Kleider an, als ob sie Zähne hätten, bis mir einfällt, dass ich in dieser Aufmachung meinem Team gegenübertreten muss.
In weniger als einer Minute bin ich angezogen und zappele vor der Wand herum, wo ich die Tür vermute, auch wenn ich sie nicht sehen kann, bis sie sich plötzlich öffnet. Ich betrete einen weiträumigen, verlassenen Flur, der scheinbar keine weiteren Türen besitzt. Doch da müssen welche sein. Und hinter einer davon muss Peeta sein. Jetzt, da ich bei Bewusstsein bin und mich bewege, überwiegt die Sorge um ihn. Er ist ganz sicher wohlauf, sonst hätte das Avoxmädchen es nicht gesagt. Aber ich muss ihn mit eigenen Augen sehen.
»Peeta!«, rufe ich, weil niemand da ist, den ich fragen könnte. Als Antwort höre ich meinen Namen, aber es ist nicht seine Stimme. Die Stimme macht mich erst ärgerlich, dann ungeduldig. Effie.
Ich drehe mich um und sehe, dass sie allesamt in einem großen Raum am Ende des Flurs warten: Effie, Haymitch und Cinna. Da renne ich los. Möglich, dass eine Siegerin mehr Zurückhaltung, mehr Überlegenheit an den Tag legen sollte, besonders wenn sie weiß, dass sie gefilmt wird, aber das ist mir egal. Ich renne los und werfe mich zu meiner eigenen Überraschung zuerst Haymitch in die Arme. »Gute Arbeit, Süße«, flüstert er mir ins Ohr und es klingt nicht mal sarkastisch. Effie ist den Tränen nahe, tätschelt ununterbrochen meinen Kopf und redet davon, dass sie jedem erzählt habe, was für Goldstücke wir sind. Cinna drückt mich nur ganz fest und sagt kein Wort. Dann fällt mir auf, dass Peeta nicht da ist, und ich werde unruhig.
»Wo ist Portia? Bei Peeta? Er ist wohlauf, oder? Er lebt doch, nicht wahr?«, platze ich heraus.
»Es geht ihm gut. Aber sie wollen euer Wiedersehen bei der Siegesfeier live übertragen«, sagt Haymitch.
»Ach so«, sage ich. Der schreckliche Augenblick, als ich Peeta schon wieder für tot hielt, ist vorüber. »Das würde ich selbst gern sehen, glaube ich.«
»Geh jetzt mit Cinna. Er muss dich fertig machen«, sagt Haymitch.
Ich bin erleichtert, dass ich mit Cinna allein sein werde. Ich spüre seinen beschützenden Arm um meine Schultern, als er mich von den Kameras fortgeleitet, ein paar Gänge entlang zu einem Aufzug, der in die Eingangshalle des Trainingscenters führt. Dann befindet sich das Krankenhaus also tief unter der Erde, noch unter der Turnhalle, wo wir Knotenbinden und Speerwerfen geübt haben. Die Fenster der Eingangshalle sind verdunkelt, hier und da stehen Wachen. Sonst sieht uns niemand dabei zu, wie wir zum Aufzug der Tribute hinübergehen. In der Leere hallen unsere Schritte wider. Als wir in den zwölften Stock hinauffahren, kommen mir die Gesichter all der Tribute in den Sinn, die nie mehr zurückkehren werden, und die Brust wird mir eng und schwer.
Die Aufzugtüren öffnen sich und ich werde von Venia, Flavius und Octavia umringt. Sie sprechen so schnell und überschwänglich, dass ich kein Wort verstehe. Aber die Stimmung ist eindeutig. Sie freuen sich wahnsinnig, mich zu sehen, und ich freue mich auch, wenn auch nicht so sehr wie bei Cinna. Eher so, wie man sich freut, wenn man am Ende eines besonders schweren Tages drei anhängliche Haustiere wiedersieht.
Sie nehmen mich mit in ein Esszimmer, wo ich endlich eine richtige Mahlzeit bekomme - Roastbeef, Erbsen und weiche Brötchen -, auch wenn meine Portionen immer noch strikt rationiert werden. Ein Nachschlag wird mir nämlich nicht gewährt.
»Nein, nein, nein. Sie wollen ja nicht, dass das alles auf der Bühne wieder hochkommt«, sagt Octavia. Heimlich unter dem Tisch steckt sie mir aber doch ein Extrabrötchen zu, um mir zu verstehen zu geben, dass sie zu mir hält.
Wir gehen zurück in mein Zimmer und Cinna verschwindet eine Weile, während das Vorbereitungsteam an mir arbeitet.
»Oh, du hast eine Ganzkörperbehandlung bekommen«, sagt Flavius neidisch. »Deine Haut ist makellos.«
Aber als ich meinen nackten Körper im Spiegel betrachte, fällt mir nur auf, wie mager ich bin. Unmittelbar nach der Arena hab ich zwar bestimmt noch schlimmer ausgesehen, doch meine Rippen kann ich immer noch zählen.
Sie stellen mich unter die Dusche, danach nehmen sie sich Haar, Nägel und Make-up vor. Sie plappern in einem fort, sodass ich kaum antworten muss, was mir recht ist, denn mir ist nicht nach Reden zumute. Komisch, obwohl sie ununterbrochen über die Spiele plappern, geht es nur darum, wo sie waren, was sie getan haben oder wie es ihnen ging, während sich dies und das in der Arena ereignete. »Ich hab noch im Bett gelegen!« - »Ich hatte mir gerade die Augenbrauen gefärbt!« - »Ich schwör’s euch, ich war fast in Ohnmacht gefallen!« Es geht nur um sie, nicht um die sterbenden Jungen und Mädchen in der Arena.
So schwelgen wir in Distrikt 12 nicht in den Spielen. Wir beißen die Zähne zusammen und schauen zu, weil wir müssen, aber wenn sie vorbei sind, versuchen wir so schnell wie möglich zum Alltag zurückzukehren. Um das Vorbereitungsteam nicht zu hassen, blende ich das meiste von dem, was sie sagen, einfach aus.
Cinna kommt herein, über dem Arm ein eher bescheidenes gelbes Kleid.
»Machen wir jetzt nicht mehr auf Mädchen in Flammen?«, frage ich.
»Sieh selbst«, sagt er und zieht mir das Kleid über den Kopf. Sofort bemerke ich die Polster über meinen Brüsten, sie täuschen Kurven vor, die der Hunger meinem Körper gestohlen hat. Ich fasse mir an die Brust und runzele die Stirn.
»Ich weiß«, sagt Cinna, bevor ich Einwände erheben kann. »Aber wenn es nach den Spielmachern gegangen wäre, hättest du eine Schönheitsoperation bekommen. Haymitch hatte einen Riesenkrach mit ihnen deswegen. Schließlich haben sie sich darauf geeinigt.« Er hält mich zurück, bevor ich mein Spiegelbild betrachten kann. »Warte, vergiss die Schuhe nicht.« Venia hilft mir in flache Ledersandalen, dann erst wende ich mich dem Spiegel zu.
Ich bin immer noch das »Mädchen in Flammen«. Der hauchdünne Stoff schimmert zart. Bei der kleinsten Luftbewegung geht ein Kräuseln meinen Körper hinauf. Im Vergleich hierzu erscheint das Wagenkostüm aufdringlich, das Interviewkleid zu gekünstelt. In diesem Kleid erwecke ich den Eindruck, als wäre ich in Kerzenlicht gekleidet.
»Was meinst du?«, fragt Cinna.
»Das ist das beste von allen«, sage ich. Als ich mich vom Anblick des flackernden Stoffs losreißen kann, wartet schon der nächste Schock. Mein Haar ist offen und wird nur von einem schlichten Haarband gehalten. Das Make-up macht mein Gesicht weicher und glättet die scharfen Kanten. Die Nägel sind klar lackiert. Das ärmellose Kleid ist unter den Rippen gerafft, nicht in der Taille, wodurch die Polster fast überdeckt werden. Der Saum reicht bis zu den Knien. Ohne Absätze habe ich meine wahre Größe. Ich sehe einfach nur wie ein Mädchen aus. Ein junges Mädchen. Höchstens vierzehn. Unschuldig. Harmlos. Dass Cinna das hinbekommen hat, obwohl ich soeben die Hungerspiele gewonnen habe, ja, das ist schon schockierend.
Es ist ein wohlbedachtes Erscheinungsbild. Cinna überlässt bei seinen Entwürfen nichts dem Zufall. Ich beiße mir auf die Lippen, während ich versuche, hinter seine Beweggründe zu kommen.
»Ich hätte etwas … Raffinierteres erwartet«, sage ich.
»Ich dachte mir, Peeta würde das hier besser gefallen«, antwortet er vorsichtig.
Peeta? Hier geht es doch nicht um Peeta. Hier geht es um das Kapitol und die Spielmacher und die Zuschauer. Obwohl ich Cinnas Konzept noch nicht durchschaue, erinnert es mich daran, dass die Spiele noch nicht zu Ende sind. Und aus seiner harmlosen Antwort meine ich eine Warnung herauszuhören. Vor etwas, das er nicht einmal gegenüber seinem eigenen Team ansprechen darf.
Wir fahren mit dem Aufzug hinunter auf die Ebene, wo damals das Training stattfand. Es ist üblich, dass die Sieger mit dem Team aus dem Bühnenboden auftauchen. Erst das Vorbereitungsteam, dann die Betreuerin, der Stylist, der Mentor und schließlich der Sieger. Da es in diesem Jahr zwei Sieger mit derselben Betreuerin und demselben Mentor gibt, mussten sie sich etwas anderes einfallen lassen. Wir befinden uns in einem spärlich beleuchteten Areal unterhalb der Bühne. Eine brandneue Metallplatte wurde installiert, um mich hochzufahren. Man sieht noch die kleinen Sägemehlhaufen, riecht die frische Farbe. Cinna und das Vorbereitungsteam ziehen sich zurück, um die eigenen Kostüme anzulegen und ihre Positionen einzunehmen, und ich bleibe allein. In der Dunkelheit sehe ich etwa zehn Meter entfernt eine Behelfswand, hinter der ich Peeta vermute.
Das Lärmen der Menge ist so laut, dass ich Haymitch erst bemerke, als er mich an der Schulter berührt. Vor Schreck mache ich einen Satz. Irgendwie bin ich wohl immer noch halb in der Arena.
»Keine Panik, ich bin’s nur. Lass dich mal anschauen«, sagt Haymitch. Ich strecke die Arme aus und drehe mich einmal. »Nicht übel.«
Kein besonders tolles Kompliment. »Aber?«, sage ich.
Haymitchs Blick mustert den muffigen Raum und er scheint einen Entschluss zu fassen. »Nichts aber. Wie wär’s mit einmal Drücken und Glückwünschen?«
Eine solche Bitte ist zwar ungewöhnlich für Haymitch, aber immerhin sind wir Sieger. Vielleicht ist einmal Drücken in Ordnung. Doch als ich ihm die Arme um den Hals lege, lässt er mich plötzlich nicht mehr los. Während meine Haare seine Lippen verdecken, flüstert er mir sehr schnell und ganz leise ins Ohr.
»Hör zu. Du bist in Schwierigkeiten. Es heißt, im Kapitol sind sie außer sich, weil du sie in der Arena vorgeführt hast. Sie können es nicht ausstehen, wenn sie ausgelacht werden, und jetzt macht sich ganz Panem über sie lustig«, sagt Haymitch.
Obwohl mich großer Schrecken packt, lache ich, als hätte Haymitch etwas Witziges gesagt, denn mein Mund ist für die Kameras gut sichtbar. »Und weiter?«
»Du hast nur eine einzige Verteidigungsstrategie, nämlich dass du so total verliebt warst, dass du nicht wusstest, was du tatest.« Haymitch gibt mich frei und rückt mein Haarband zurecht. »Alles klar, Süße?« Das könnte sich auf alles Mögliche beziehen.
»Alles klar«, sage ich. »Hast du Peeta das auch gesagt?« »Muss ich gar nicht«, sagt Haymitch. »Er macht das ganz von allein.«
»Und ich nicht, oder was?«, sage ich und nutze die Gelegenheit, die knallrote Fliege zurechtzurücken, die Cinna ihm aufgenötigt haben muss.
»Seit wann ist es wichtig, was ich denke?«, sagt Haymitch. »Lass uns jetzt unsere Plätze einnehmen.« Er führt mich auf die Metallscheibe. »Das ist dein Abend, Süße. Genieß ihn.« Er küsst mich auf die Stirn und verschwindet in der Dunkelheit.
Ich ziehe an meinem Kleid und wünsche mir, es wäre länger, damit meine schlotternden Knie bedeckt wären. Irgendwann gebe ich es auf. Ich zittere am ganzen Körper wie Espenlaub. Hoffentlich wird es nur dem Lampenfieber zugeschrieben. Schließlich ist es mein Abend.
Der dumpfe Modergeruch unter der Bühne nimmt mir den Atem. Feuchtkalter Schweiß rinnt mir von der Stirn und ich werde das Gefühl nicht los, dass jeden Augenblick die Bohlen über mir einstürzen und ich lebendig unter den Trümmern begraben werde. Als ich die Arena verließ, als die Fanfaren erschollen, da dachte ich, ich wäre gerettet. Von jenem Augenblick an. Für den Rest meines Lebens. Aber wenn es stimmt, was Haymitch sagt, und warum sollte er lügen, dann war ich noch nie im Leben an einem gefährlicheren Ort.
Das hier ist viel schlimmer, als in der Arena gejagt zu werden. Dort konnte ich sterben und Schluss. Ende der Geschichte. Aber hier könnten Prim, meine Mutter, Gale, die Leute aus Distrikt 12, alle, die mir etwas bedeuten, bestraft werden, falls ich die Komödie von dem liebestollen Mädchen nicht überzeugend spiele, die Haymitch mir so eindringlich ans Herz gelegt hat.
Ich habe also noch eine Chance. Komisch, als ich in der Arena die Beeren hervorholte, dachte ich nur daran, wie ich die Spielmacher überliste, nicht, wie meine Handlungen im Kapitol ankommen würden. Aber die Hungerspiele sind ihre Waffe und keiner soll sie schlagen können. Im Kapitol werden sie nun also so tun, als hätten sie die ganze Zeit alles im Griff gehabt. Als hätten sie das ganze Ereignis gesteuert, bis hin zu dem doppelten Selbstmord. Und das funktioniert natürlich nur, wenn ich mitspiele.
Und Peeta … Wenn es schiefgeht, wird auch Peeta darunter leiden. Aber was hat Haymitch gesagt, als ich ihn fragte, ob er Peeta die Lage ebenfalls erklärt habe? Damit Peeta versteht, dass er unbedingt so tun muss, als wäre er hoffnungslos in mich verliebt?
»Muss ich gar nicht. Er macht das ganz von allein.«
Was soll das heißen? Dass er mir im Mitdenken wieder mal voraus ist? Und begreift, in welcher Gefahr wir uns befinden? Oder … dass er bereits hoffnungslos verliebt ist? Ich weiß es nicht. Ich habe noch nicht mal angefangen, meine Gefühle für Peeta zu sortieren. Es ist zu kompliziert. Was ich im Rahmen der Spiele getan habe. Im Gegensatz zu dem, was ich aus Wut auf das Kapitol getan habe. Oder weil es auf die Leute in Distrikt 12 wirken sollte. Oder einfach deshalb, weil es das einzig Vernünftige war. Oder was ich getan habe, weil Peeta mir wichtig war.
All diese Fragen werde ich zu Hause entwirren müssen, in der friedlichen Stille des Waldes, wo niemand zusieht. Bestimmt nicht hier, wo aller Augen auf mich gerichtet sind. Ein Luxus, den ich noch lange nicht genießen werde. Denn jetzt beginnt der gefährlichste Teil der ganzen Hungerspiele.