13


Mein erster Impuls ist, von meinem Baum hinunterzuklettern, aber ich bin ja festgeschnallt. Irgendwie schaffen meine Finger es, die Schnalle zu lösen, und ich falle mitsamt Schlafsack zu Boden. Zum Packen bleibt keine Zeit. Zum Glück sind Rucksack und Wasserflasche schon im Schlafsack. Ich packe den Gürtel ein, lade meinen Krempel auf die Schulter und ergreife die Flucht.

Die Welt hat sich in Flammen und Rauch verwandelt. Brennende Äste brechen von den Bäumen ab und fallen mir in einem Funkenregen vor die Füße. Mir bleibt nur, den anderen zu folgen, die durch den Wald davonjagen: Kaninchen und Rehe und sogar ein Rudel wilder Hunde. Ich vertraue ihrem Orientierungssinn, sie haben den besseren Instinkt. Aber sie sind auch viel schneller und fliegen anmutig durchs Unterholz, während meine Füße an Wurzeln und heruntergefallenen Ästen hängen bleiben. Ich habe keine Chance, mit den Tieren Schritt zu halten.

Die Hitze ist grauenhaft, aber noch schlimmer als die Hitze ist der Qualm, der mich jeden Augenblick zu ersticken droht. Ich ziehe mein T-Shirt hoch bis über die Nase, zum Glück ist es verschwitzt und bietet einen dünnen Schutz. Und ich renne schwer atmend weiter, während der Schlafsack gegen meinen Rücken schlägt und mein Gesicht von Asten zerkratzt wird, die ohne Vorwarnung aus dem grauen Dunst auftauchen, denn mir bleibt keine andere Wahl, als zu rennen.

Das hier ist nicht das Lagerfeuer eines Tributs, das außer Kontrolle geraten ist, kein Zufall. Die näher kommenden Flammen sind von unnatürlicher Höhe und Gleichförmigkeit, und das verrät, dass sie menschengemacht sind, maschinengemacht, von den Spielmachern gemacht. War wohl zu ruhig heute. Keine Todesfälle, vielleicht nicht mal ein Kampf. Den Zuschauern im Kapitol könnte langweilig werden, sie könnten auf die Idee kommen, diese Spiele seien fad. Und das dürfen die Spiele auf gar keinen Fall werden.

Es ist nicht schwer zu erkennen, worauf die Spielmacher abzielen. Auf der einen Seite ist da die Meute der Karrieretribute, auf der anderen Seite sind wir Übrigen, über die ganze Arena verteilte Einzelkämpfer. Dieses Feuer soll uns herausspülen und zusammenfuhren. Es ist vielleicht nicht die originellste Erfindung, die ich je gesehen habe, aber sie ist sehr, sehr wirkungsvoll.

Ich springe über einen brennenden Stamm. Nicht hoch genug. Ein Zipfel meiner Jacke fängt Feuer und ich muss anhalten, sie mir vom Leib reißen und die Flammen austreten. Ich wage nicht, die verbrannte und noch schwelende Jacke zurückzulassen, sondern stopfe sie trotz des Risikos in meinen Schlafsack. Ich kann nur hoffen, dass der Sauerstoffmangel die Glut, die vielleicht noch nicht ganz gelöscht ist, erstickt. Was ich auf dem Rücken trage, ist alles, was ich habe, und es ist wenig genug, um zu überleben.

Innerhalb weniger Minuten sind meine Kehle und meine Nase glühend heiß. Gleich darauf muss ich husten und meine Lunge fühlt sich an wie gekocht. Was bisher nur unangenehm war, ist jetzt die reinste Qual und jeder Atemzug jagt einen sengenden Schmerz durch meine Brust. Ich kann mich gerade noch unter einen Steinvorsprung flüchten, als ich mich übergeben muss und mein karges Abendbrot und das Wasser verliere, das noch in meinem Magen war. Auf Händen und Knien würge ich, bis nichts mehr da ist, das ich erbrechen könnte.

Mir ist klar, dass ich weitermuss, aber ich zittere, mir ist schwindlig und ich schnappe nach Luft. Ich genehmige mir einen Löffel voll Wasser, um meinen Mund auszuspülen und auszuspucken, dann nehme ich ein paar Schlucke aus der Flasche. Du hast eine Minute, sage ich mir. Eine Minute zum Ausruhen. Ich nutze die Zeit, um meine Vorräte in Ordnung zu bringen, rolle den Schlafsack zusammen und stopfe alles irgendwie in den Rucksack. Die Minute ist um. Ich weiß, dass ich jetzt weitermuss, aber der Rauch hat meine Gedanken benebelt. Die leichtfüßigen Tiere, die mir die Richtung gewiesen haben, haben mich abgehängt. In diesem Teil des Waldes bin ich noch nicht gewesen, bisher gab es keine nennenswerten Felsen wie den, hinter dem ich jetzt Schutz suche. Wohin wollen mich die Spielmacher lenken? Zurück zum See? Zu einem ganz neuen Terrain voller neuer Gefahren? Ich hatte an meinem Teich gerade ein paar Stunden Ruhe gefunden, als die Attacke begann. Gäbe es eine Möglichkeit, parallel zum Feuer zu laufen und den Weg zurück zu finden, dorthin oder zu irgendeiner anderen Wasserquelle? Die Feuerwand muss irgendwo zu Ende sein und sie wird nicht unendlich lange brennen. Nicht weil die Spielmacher sie nicht weiter anheizen könnten, sondern weil es dann schon wieder heißen könnte, die Spiele seien langweilig. Wenn ich hinter die Feuerlinie gelangen könnte, würde ich den Karrieretributen nicht über den Weg laufen. Ich habe mich gerade entschlossen, es zu versuchen und das Feuer zu umgehen, auch wenn das viele Kilometer Umweg in einem weiten Bogen zurück bedeutet, als einen halben Meter von meinem Kopf entfernt der erste Feuerball in den Fels einschlägt. Ich springe unter meinem Vorsprung hervor, angetrieben von neuer Angst.

Das Spiel hat eine überraschende Wendung genommen. Das Feuer war nur dazu da, uns aufzuscheuchen, jetzt soll den Zuschauern richtig etwas geboten werden. Als ich das nächste Zischen höre, verschwende ich keine Zeit damit, mich umzuschauen, ich werfe mich einfach flach auf den Boden. Der Feuerball trifft einen Baum zu meiner Linken und setzt ihn in Flammen. Wenn ich mich jetzt nicht bewege, bin ich tot. Ich bin kaum wieder auf den Füßen, als ein dritter Feuerball an der Stelle aufkommt, wo ich eben noch gelegen habe, und hinter mir eine Feuersäule emporschlagen lässt. Die Zeit hat jetzt keine Bedeutung mehr, ich versuche nur noch verzweifelt, den Angriffen auszuweichen. Ich kann nicht erkennen, woher sie kommen, aber ein Hovercraft ist es nicht. Dafür sind die Winkel nicht steil genug. Wahrscheinlich haben sie den ganzen Waldabschnitt mit Präzisionsgeschützen bestückt, die in Bäumen oder Felsen versteckt sind. Irgendwo in einem kühlen, makellosen Raum sitzt ein Spielmacher vor einer Kontrollkonsole und spielt an den Knöpfen, die mein Leben binnen einer Sekunde beenden könnten. Ein Volltreffer genügt.

Der unbestimmte Plan, zu meinem Teich zurückzukehren, wird buchstäblich weggefegt, während ich Haken schlage, wegtauche und springe, um den Feuerbällen auszuweichen. Sie sind nicht größer als Äpfel, aber beim Aufprall setzen sie enorme Kräfte frei. Meine Sinne sind aufs Äußerste geschärft, denn jetzt geht es nur noch ums blanke Überleben. Keine Zeit, darüber nachzudenken, ob eine Bewegung richtig ist. Sobald es zischt, heißt es handeln oder sterben.

Etwas treibt mich allerdings vorwärts. Von den vielen Hungerspielen, bei denen ich im Lauf der Zeit zugeschaut habe, weiß ich, dass bestimmte Bereiche der Arena für bestimmte Attacken präpariert sind. Wenn es mir gelingt, aus diesem Abschnitt zu entkommen, kann ich es außer Reichweite der Geschütze schaffen. Vielleicht lande ich dann geradewegs in einer Schlangengrube, aber darüber kann ich mir jetzt keine Gedanken machen.

Wie lange ich herumrenne und den Feuerbällen ausweiche, weiß ich nicht, doch irgendwann lässt der Angriff nach. Und das ist gut, denn ich muss mich schon wieder übergeben. Diesmal verbrennt mir eine ätzende Substanz die Kehle und gelangt in meine Nase. Von Krämpfen geschüttelt, muss ich stehen bleiben, während mein Körper versucht, die Giftstoffe loszuwerden, die ich während der Attacke geschluckt habe. Ich warte auf das nächste Zischen, das Signal zum Wegrennen. Es kommt nicht. Die Anstrengung beim Würgen hat mir Tränen in die brennenden Augen getrieben. Meine Kleider sind schweißnass. Durch den Gestank von Qualm und Erbrochenem hindurch nehme ich den Geruch von versengtem Haar wahr. Ich taste mit einer Hand nach meinem Zopf und stelle fest, dass ein Feuerball mindestens fünfzehn Zentimeter davon versengt hat.

Verkohlte Haarsträhnen zerbröseln zwischen meinen Fingern. Fasziniert von der Verwandlung, starre ich darauf, als ich das Zischen wieder höre.

Ich reagiere, aber diesmal nicht schnell genug. Der Feuerball streift meine rechte Wade und schlägt neben mir im Boden ein. Beim Anblick meines brennenden Hosenbeins raste ich völlig aus. Ich winde mich auf Händen und Füßen, krabble rückwärts, versuche kreischend, dem Horror zu entkommen. Als ich wieder halbwegs bei Verstand bin, wälze ich das Bein auf dem Boden hin und her und ersticke die Flammen. Ohne nachzudenken, reiße ich mit bloßen Händen den Rest des glimmenden Stoffs ab.

Ich sitze auf dem Boden, ein paar Meter von der Stichflamme entfernt, die der Feuerball ausgelöst hat. In der Wade spüre ich einen brüllenden Schmerz, meine Hände sind mit roten Quaddeln übersät. Ich zittere so sehr, dass ich mich nicht bewegen kann. Falls die Spielmacher mich erledigen wollen, ist jetzt der richtige Zeitpunkt.

Ich höre wieder Cinnas Stimme, die Bilder von üppigen Stoffen und funkelnden Edelsteinen hervorruft: »Katniss - das Mädchen, das in Flammen stand.« Darüber lachen die Spielmacher in diesem Augenblick bestimmt herzlich. Vielleicht haben Cinnas wunderschöne Kostüme sie überhaupt erst auf die Idee dieser besonderen Folter für mich gebracht. Das konnte er nicht vorhersehen und bestimmt tut es ihm weh, denn ich glaube, dass er mich wirklich gern hat. Trotzdem, vielleicht wäre es sicherer gewesen, wenn ich mich splitternackt auf dem Wagen präsentiert hätte.

Die Attacke ist vorbei. Die Spielmacher wollen nicht, dass ich sterbe. Jedenfalls noch nicht jetzt. Jeder weiß, dass sie uns nach dem Eröffnungsgong in wenigen Sekunden töten könnten. Aber der eigentliche Spaß bei den Hungerspielen liegt darin, zuzuschauen, wie sich die Tribute gegenseitig umbringen. Ab und zu töten sie einen Tribut, um die anderen daran zu erinnern, dass sie es können. Doch meistens bringen sie uns dazu, einander Auge in Auge gegenüberzustehen. Wenn ich jetzt nicht mehr beschossen werde, heißt das also, dass zumindest ein anderer Tribut ganz in der Nähe ist.

Wenn ich könnte, würde ich auf einem Baum Deckung suchen, aber der Rauch ist noch immer dicht genug, um mich zu töten. Ich raffe mich auf und schleppe mich von der Feuerwand weg, die den Himmel erleuchtet. Sie scheint mich nicht mehr zu verfolgen, abgesehen von den stinkenden schwarzen Wolken.

Langsam erscheint ein anderes Licht, Tageslicht. Rauchwirbel fangen die Sonnenstrahlen ein. Die Sicht ist schlecht, vielleicht fünfzehn Meter in jede Richtung. Es wäre ein Leichtes für einen Tribut, sich hier vor mir zu verstecken. Eigentlich müsste ich mein Messer ziehen, aber ich bezweifele, dass ich imstande wäre, es lange zu halten. Der Schmerz in meinen Händen ist jedoch kein Vergleich zu dem in meiner Wade. Ich hasse Verbrennungen, habe sie schon immer gehasst, selbst die kleinen, die man sich einhandelt, wenn man ein Brot aus dem Backofen holt. Es war schon immer der schlimmste Schmerz für mich, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt.

Ich bin so erschöpft, dass ich den Tümpel erst bemerke, als ich knöcheltief darin stehe. Er wird von einer Quelle gespeist, die einer Felsspalte entspringt, und ist herrlich kühl. Ich tauche die Hände in das seichte Wasser und verspüre sofort Linderung. Hat meine Mutter das nicht auch immer gesagt? Dass kaltes Wasser das beste Mittel bei Verbrennungen ist? Weil es die Hitze herauszieht? Allerdings meinte sie kleinere Verbrennungen und würde das wohl bei meinen Händen empfehlen. Aber was ist mit der Wade? Obwohl ich noch nicht den Mut hatte, sie mir anzuschauen, vermute ich, dass diese Wunde von ganz anderem Kaliber ist.

Eine Weile liege ich auf dem Bauch am Rand des Tümpels, lasse meine Hände im Wasser baumeln, betrachte die kleinen Flammen auf meinen Fingernägeln, die langsam abbröckeln. Gut so. Feuer habe ich für dieses Leben genug gehabt.

Ich wasche Blut und Asche von meinem Gesicht. Dann versuche ich mir alles in Erinnerung zu rufen, was ich über Verbrennungen weiß. Im Saum kommen sie häufig vor, schließlich kochen und heizen wir mit Kohle. Dazu noch die Minenunfälle … Einmal kam eine Familie mit einem bewusstlosen jungen Mann zu uns und flehte meine Mutter an, ihm zu helfen. Der Distriktarzt, der für die Behandlung der Minenarbeiter zuständig war, hatte ihn aufgegeben und der Familie gesagt, sie solle ihn zum Sterben mit nach Hause nehmen. Aber sie wollten sich nicht damit abfinden. Nun lag er also bewusstlos auf unserem Küchentisch. Ich erhaschte einen Blick auf die klaffende Wunde am Oberschenkel, verkohltes Fleisch, bis auf den Knochen verbrannt, dann rannte ich aus dem Haus. Ich lief in den Wald und jagte den ganzen Tag, verfolgt von dem grauenhaften Bein, Erinnerungen an den Tod meines Vaters. Komischerweise blieb Prim, die normalerweise vor ihrem eigenen Schatten davonläuft, da und half. Zum Heiler wird man geboren, nicht gemacht, sagt meine Mutter. Sie taten ihr Bestes, doch der junge Mann starb, wie der Arzt gesagt hatte.

Mein Bein müsste behandelt werden, aber ich kann immer noch nicht hinsehen. Wenn es nun so schlimm ist wie bei dem Mann und ich den Knochen sehe? Dann fällt mir ein, dass meine Mutter einmal gesagt hat, bei sehr schlimmen Verbrennungen empfinde man häufig gar keinen Schmerz, weil die Nerven zerstört seien. Dadurch ermutigt, setze ich mich auf und schwinge das Bein nach vorn.

Beim Anblick meiner Wade kippe ich fast um. Das Fleisch ist leuchtend rot und mit Brandblasen übersät. Ich zwinge mich, tief und langsam zu atmen, denn ich bin mir fast sicher, dass die Kameras auf mein Gesicht halten. Ich darf bei dieser Verletzung keine Schwäche zeigen. Nicht, wenn ich Hilfe will. Mitleid bringt einem keine Hilfe. Bewunderung, weil man nicht aufgibt, das bringt Hilfe. Ich schneide die Reste des Hosenbeins auf Höhe des Knies ab und untersuche die Wunde genauer. Die verbrannte Stelle ist etwa handtellergroß. Nirgendwo ist die Haut schwarz. Kann nicht schaden, die Wunde ins Wasser zu halten, überlege ich. Vorsichtig strecke ich das Bein in den Tümpel, wobei ich den Fuß auf einem Stein ablege, damit das Leder des Stiefels nicht so sehr durchweicht. Ich seufze, denn es bringt ein wenig Linderung. Ich weiß, dass es Kräuter gibt, die den Heilungsprozess beschleunigen, aber ich kann mich nicht daran erinnern, welche es waren. Wahrscheinlich werde ich es mit Wasser und Zeit schaffen müssen.

Soll ich weitergehen? Der Rauch verzieht sich langsam, ist allerdings immer noch so dicht, dass er gefährlich sein könnte. Aber wenn ich mich weiter vom Feuer entferne, werde ich dann nicht geradewegs den Karrieros vor die Waffen laufen? Abgesehen davon meldet sich jedes Mal, wenn ich das Bein aus dem Wasser hebe, der Schmerz so heftig zurück, dass ich es wieder hineingleiten lassen muss. Meinen Händen geht es besser. Sie ertragen es, wenn ich sie kurz aus dem Tümpel ziehe. So kann ich langsam mein Gepäck ordnen. Zunächst fülle ich meine Flasche mit Wasser aus dem Tümpel, präpariere es, und als genug Zeit vergangen ist, beginne ich meinem Körper wieder Wasser zuzuführen. Nach einer Weile zwinge ich mich, an einem Kräcker zu knabbern, was meinen Magen wieder in Ordnung bringt. Ich rolle den Schlafsack auseinander. Bis auf ein paar schwarze Flecken ist er einigermaßen unversehrt. Die Jacke hat mehr abbekommen. Sie stinkt und ist versengt und eine mindestens dreißig Zentimeter lange Stelle am Rücken ist nicht mehr zu reparieren. Ich schneide die zerstörte Stelle heraus, sodass mir die Jacke nur mehr bis über die Rippen reicht. Dafür ist die Kapuze noch intakt und das ist eindeutig besser als nichts.

Trotz des Schmerzes gewinnt die Müdigkeit die Oberhand. Ich würde gern zu einem Baum gehen und ausruhen, nur dass ich da zu leicht zu entdecken wäre. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, den Tümpel zu verlassen. Ich lege meine Sachen ordentlich zurecht, setze mir sogar den Rucksack auf, aber wie es aussieht, kann ich nicht fort. Ich entdecke Wasserpflanzen mit essbaren Wurzeln und bereite mit dem letzten Stück Kaninchen eine kleine Mahlzeit. Trinke Wasser in kleinen Schlucken. Betrachte die Sonne, die in langsamem Bogen über den Himmel wandert. Wo sollte ich auch hin, wo wäre ich sicherer als hier? Ich lehne mich gegen den Rucksack, überwältigt von der Müdigkeit. Sollen die Karrieros mich doch finden, wenn sie wollen, denke ich, bevor ich mich in eine Starre gleiten lasse. Sollen sie mich doch finden.

Und sie finden mich tatsächlich. Zum Glück bin ich schon abmarschbereit, denn als ich die Schritte höre, habe ich weniger als eine Minute Vorsprung. Der Abend dämmert bereits. Ich bin kaum wach, da bin ich auch schon auf den Beinen, renne quer durch den Tümpel und flüchte ins Unterholz. Das Bein behindert mich, aber ich merke, dass meine Verfolger auch nicht mehr so schnell sind wie vor dem Feuer. Ich höre sie husten und einander mit kratzigen Stimmen rufen.

Trotzdem kommen sie näher, wie eine Meute wilder Hunde, und deshalb tue ich das, was ich in solchen Situationen immer schon getan habe. Ich suche mir einen hohen Baum und beginne hinaufzuklettern. Rennen ist schon schmerzhaft, aber Klettern ist eine Qual, denn es erfordert nicht nur Kraft, sondern auch den direkten Kontakt meiner Hände mit der Baumrinde. Aber ich bin schnell, und als sie meinen Baum erreichen, bin ich schon gut sechs Meter über ihnen. Einen Augenblick halten wir inne und mustern einander. Hoffentlich können sie mein Herzklopfen nicht hören.

Das könnte es gewesen sein, denke ich. Welche Chance habe ich gegen sie? Alle sechs sind da, die fünf Karrieros und Peeta, und mein einziger Trost ist, dass sie auch ziemlich mitgenommen aussehen. Trotzdem, da sind ja noch ihre Waffen. Und ihre Gesichter, wie sie mich angrinsen und die Zähne fletschen, über sich die sichere Beute. Es scheint hoffnungslos. Doch dann wird mir etwas bewusst. Sie sind vielleicht größer und stärker als ich, aber sie sind auch schwerer. Es hatte seinen Grund, dass immer ich und nicht Gale die höchsten Früchte gepflückt und die entlegensten Vogelnester ausgeräubert habe. Ich wiege mindestens fünfundzwanzig, dreißig Kilo weniger als die leichtesten der Karrieros.

Jetzt lächele ich. »Wie geht’s denn so?«, rufe ich fröhlich hinunter.

Das verblüfft sie, aber ich weiß, dass die Zuschauer begeistert sein werden.

»Ganz gut«, sagt der Junge aus Distrikt 2. »Und selbst?«

»War ein bisschen warm für meinen Geschmack«, sage ich. Ich kann das Gelächter vom Kapitol fast hören. »Hier oben ist die Luft besser. Warum kommt ihr nicht hoch?«

»Kannst du haben«, sagt der Junge.

»Nimm das hier, Cato«, sagt das Mädchen aus Distrikt 1 und reicht ihm den silbernen Bogen samt Köcher. Mein Bogen! Meine Pfeile! Allein der Anblick macht mich so wütend, dass ich schreien könnte; ich ärgere mich über mich selbst und diesen Verräter von Peeta, weil er mich davon abgehalten hat, sie zu bekommen. Ich versuche, Blickkontakt zu ihm herzustellen, aber er schaut mich absichtlich nicht an, während er sein Messer am Hemdsaum abputzt.

»Nein«, sagt Cato und schiebt den Bogen weg. »Mit dem Schwert geht’s besser.« Ich kann die Waffe sehen, eine kurze, schwere Klinge an seinem Gürtel.

Ich warte ab, bis Cato sich in den Baum gezogen hat, und klettere dann weiter hinauf. Gale sagt immer, die Art, wie ich noch die dünnsten Äste emporhusche, erinnere ihn an ein Eichhörnchen. Zum Teil liegt es daran, dass ich so leicht bin, zum Teil ist es Übung. Man muss wissen, wohin man Hände und Füße setzt. Ich bin noch einmal fünf Meter höher, als ich ein Knacken höre und nach unten schaue. Cato rudert wild mit den Armen und kracht mitsamt dem Ast herunter. Als er aufschlägt, hoffe ich, dass er sich das Genick gebrochen hat, aber er steht schon wieder auf den Füßen und flucht wie der Teufel.

Das Mädchen mit den Pfeilen, Glimmer nennen sie sie - in Distrikt 1 geben sie ihren Kindern wirklich lächerliche Namen -, diese Glimmer also versucht jetzt ihr Glück, doch als die Äste auch unter ihrem Gewicht brechen, ist sie so schlau, es aufzugeben. Ich befinde mich gut zwanzig Meter über dem Boden. Nun will sie mich abschießen, aber man merkt sofort, dass sie nicht mit dem Bogen umgehen kann. Einer der Pfeile bleibt nicht weit von mir im Baum stecken und ich ziehe ihn heraus. Herausfordernd schwenke ich ihn über ihrem Kopf, als wäre das der einzige Grund, weshalb ich ihn mir geschnappt habe. Dabei bin ich entschlossen, ihn zu benutzen, falls sich die Gelegenheit bietet. Hätte ich diese silbernen Waffen in meinen Händen, ich könnte sie alle töten, einen nach dem anderen.

Die Karrieros scharen sich unten zusammen. Ich kann hören, wie sie verschwörerisch miteinander tuscheln. Sie sind wütend darüber, dass ich sie wie Deppen dastehen lasse. Aber die Dämmerung bricht schon herein und damit bleibt ihnen keine Zeit für weitere Attacken. Schließlich höre ich Peeta barsch sagen: »Ach, lasst sie einfach da oben. Sie kann ja nirgendwohin. Wir nehmen sie uns morgen vor.«

Wo er recht hat, hat er recht. Ich kann nirgendwohin. Die Linderung, die das Wasser mir verschafft hat, ist vorüber und ich spüre die Verbrennungen jetzt mit voller Wucht. Ich lasse mich in eine Astgabel hinabrutschen und treffe schwerfällig die Vorbereitungen zum Schlafen. Ziehe die Jacke an. Rolle den Schlafsack aus. Schnalle mich mit dem Gürtel an und versuche, nicht zu stöhnen. Die Hitze im Schlafsack ist zu viel für mein Bein. Ich schneide einen Schlitz in den Stoff und lasse die Wade heraushängen. Träufele Wasser auf die Wunde, auf meine Hände.

Das war’s mit meiner Tapferkeit. Ich bin geschwächt von Schmerz und Hunger, trotzdem kann ich mich nicht dazu aufraffen, etwas zu essen. Selbst wenn ich die Nacht überstehe, was wird der Morgen bringen? Ich starre ins Blattwerk und versuche, mich zum Ausruhen zu zwingen, aber die Brandwunden verhindern es. Vögel lassen sich für die Nacht nieder, singen ihren Jungen Schlaflieder vor. Die Geschöpfe der Nacht kommen heraus. Eine Eule ruft. Der Geruch eines Stinktiers dringt undeutlich durch den Qualm. Vom Nachbarbaum starren mich die Augen eines Tiers an, eines Opossums vielleicht, in denen sich der Schein von den Fackeln der Karrieros fängt. Plötzlich stütze ich mich auf den Ellbogen. Das sind nicht die Augen eines Opossums, dazu kenne ich ihren glasigen Widerschein zu gut. Die Augen gehören überhaupt nicht zu einem Tier. Im letzten Dämmerlicht erkenne ich sie, wie sie mich still durch das Geäst hindurch ansieht.

Rue.

Wie lange ist sie schon dort? Wahrscheinlich die ganze Zeit über. Still und unbeachtet, während unter ihr das Treiben seinen Lauf nahm. Vielleicht hat sie ihren Baum erst kurz vor mir erklommen, als sie hörte, dass die Meute nah war.

Eine Weile starren wir uns an. Dann, ohne dass auch nur ein Blatt raschelt, schiebt sich ihre kleine Hand nach vorn und deutet auf eine Stelle über meinem Kopf.


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