9
Verrat. Das ist das Erste, was ich empfinde, aber das ist lächerlich. Ein Verrat setzt voraus, dass vorher Vertrauen da war. Und Vertrauen war nicht Teil der Abmachung zwischen Peeta und mir. Wir sind Tribute. Aber der Junge, der einst Prügel riskierte, um mir Brot zu geben, der mich im Wagen gestützt hat, der mich in der Sache mit dem rothaarigen Avoxmädchen gedeckt hat, der dafür gesorgt hat, dass Haymitch von meinen Jagdkünsten erfuhr … War da etwas in mir, das nicht anders konnte, als ihm zu vertrauen?
Auch ich bin erleichtert, nicht länger heucheln zu müssen, wir wären Freunde. Die zarte Bindung, die wir törichterweise vielleicht zugelassen haben, ist offenbar durchtrennt worden. War auch höchste Zeit. In zwei Tagen beginnen die Spiele und Vertrauen wird dann nur noch eine Schwäche sein. Was auch zu Peetas Entschluss geführt haben mag - ich vermute, es hat damit zu tun, dass ich ihn im Training ausgestochen habe -, ich sollte dafür dankbar sein. Vielleicht hat er akzeptiert, dass es besser ist, so früh wie möglich anzuerkennen, dass wir Gegner sind. »Gut«, sage ich. »Und wie geht’s jetzt weiter?« »Jeder von euch hat vier Stunden mit Effie für die Präsentation und vier mit mir für den Inhalt«, sagt Haymitch. »Du fängst mit Effie an, Katniss.«
Ich kann mir zwar erst nichts vorstellen, was Effie mir beibringen könnte und was vier Stunden dauert, aber sie beschäftigt mich dann doch bis zur letzten Minute. Wir gehen in mein Zimmer, wo sie mich in ein bodenlanges Kleid und hochhackige Schuhe steckt, andere, als ich während des eigentlichen Interviews tragen werde, und gibt mir Anweisungen, wie ich gehen soll. Die Schuhe sind das Schlimmste. Ich habe noch nie Schuhe mit Absätzen getragen und kann mich nicht daran gewöhnen, auf den Fußballen durch die Gegend zu staksen. Aber Effie läuft die ganze Zeit damit herum, und wenn sie das schafft, will ich es auch schaffen. Das Kleid wirft ein anderes Problem auf. Es wickelt sich immer wieder um meine Schuhe, sodass ich es instinktiv hochraffe, aber da stürzt sich Effie wie ein Falke auf mich, schlägt mir auf die Hände und brüllt: »Nicht über die Knöchel!« Irgendwann kann ich endlich einigermaßen laufen, aber es stehen immer noch richtig Sitzen, Körperhaltung - offenbar neige ich dazu, den Kopf einzuziehen -, Blickkontakt, Handbewegungen und Lächeln auf dem Programm. Beim Lächeln geht es hauptsächlich darum, mehr zu lächeln. Effie lässt mich hundert banale Sätze aufsagen, die mit einem Lächeln anfangen, mit einem Lächeln enden oder von einem Lächeln unterbrochen werden. Als wir zum Mittagessen gehen, zucken meine Wangenmuskeln, so überbeansprucht sind sie.
»Hm, ich habe mein Bestes gegeben«, sagt Effie und seufzt. »Denk dran, Katniss, die Zuschauer sollen dich mögen.«
»Aber du glaubst nicht daran?«, frage ich.
»Nicht, wenn du sie die ganze Zeit so wütend anstarrst. Warum hebst du dir das nicht für die Arena auf? Stell dir lieber vor, du wärst unter Freunden«, sagt Effie.
»Sie wetten darauf, wie lange ich überleben werde!«, platze ich heraus. »Das sind nicht meine Freunde!«
»Du musst einfach so tun als ob!«, blafft Effie mich an. Dann fasst sie sich und strahlt mich an. »So, siehst du? Ich lächele dich an, obwohl ich mich über dich ärgere.«
»Ja, sehr überzeugend«, sage ich. »Ich geh jetzt essen.« Ich schleudere meine Pumps weg und stampfe ins Esszimmer, wobei ich den Rock bis zu den Oberschenkeln hochziehe.
Peeta und Haymitch wirken gut gelaunt, deshalb gehe ich davon aus, dass die Inhaltssitzung gegenüber dem Vormittag mit Effie eine Steigerung bringen wird. Aber da habe ich mich gewaltig geirrt. Nach dem Mittagessen nimmt Haymitch mich mit in den Salon, führt mich zum Sofa und schaut mich dann eine Weile mit gerunzelter Stirn an.
»Was ist?«, frage ich schließlich.
»Ich überlege, was ich mit dir anstellen soll«, sagt er. »Wie wir dich präsentieren sollen. Liebreizend? Reserviert? Wild? Im Moment strahlst du wie ein Stern. Du hast freiwillig den Platz deiner Schwester eingenommen. Durch Cinna hast du unvergesslich ausgesehen. Du hast die höchste Trainingswertung. Die Leute sind fasziniert, aber keiner weiß, wer du bist. Der Eindruck, den du morgen machst, wird darüber entscheiden, wie viele Sponsoren ich dir besorgen kann«, erklärt Haymitch.
Da ich mein Leben lang die Interviews mit den Tributen angeschaut habe, weiß ich, dass da etwas dran ist. Egal, ob witzig, brutal oder exzentrisch - wer Eindruck auf die Menge macht, der hat ihr Wohlwollen.
»Wie geht Peeta vor? Oder darf ich das nicht fragen?«
»Einnehmend. Er hat einen natürlichen, selbstironischen Humor«, sagt Haymitch. »Wohingegen du, wenn du den Mund aufmachst, eher mürrisch und feindselig rüberkommst.«
»Stimmt gar nicht!«, sage ich.
»Bitte. Ich weiß nicht, wo du dieses fröhliche Lockenköpfchen auf dem Wagen hergeholt hast, aber ich habe es weder vorher noch nachher wiedergesehen«, sagt Haymitch.
»Dabei haben Sie mir so viele Anlässe gegeben, fröhlich zu sein«, entgegne ich.
»Aber mir musst du doch nicht gefallen. Ich werde dich nicht sponsern. Also tu so, als war ich das Publikum«, sagt Haymitch. »Begeistere mich.«
»Na gut!«, fauche ich. Haymitch übernimmt die Rolle des Interviewers, und ich versuche, seine Fragen auf gewinnende Art zu beantworten. Aber es geht nicht. Ich bin zu sauer auf Haymitch wegen seiner Worte und weil ich jetzt auch noch Fragen beantworten soll. Dabei kann ich nur an eins denken, nämlich wie ungerecht die ganze Sache ist, diese Hungerspiele. Warum hüpfe ich herum wie ein dressierter Hund, bemüht, Leuten zu gefallen, die ich hasse? Je länger das Interview dauert, desto mehr scheint mein Zorn hochzukommen, bis ich ihm die Antworten regelrecht ins Gesicht spucke.
»Okay, das reicht«, sagt er. »Wir müssen einen anderen Dreh finden. Du bist nicht nur feindselig, ich weiß auch immer noch nichts über dich. Ich hab dir fünfzig Fragen gestellt und immer noch keinen Schimmer von deinem Leben, deiner Familie, davon, was dir wichtig ist. Sie wollen etwas über dich erfahren, Katniss.«
»Aber ich will das nicht! Die nehmen mir schon meine Zukunft! Sie sollen nicht auch noch das kriegen, was mir in der Vergangenheit wichtig war!«, sage ich.
»Dann lüg! Denk dir was aus!«, fordert Haymitch.
»Ich kann nicht gut lügen«, sage ich.
»Dann musst du’s eben lernen, und zwar schnell. Du hast den Charme einer toten Nacktschnecke«, sagt Haymitch.
Aua. Das tut weh. Sogar Haymitch muss gemerkt haben, dass er zu grob war, denn seine Stimme wird weicher. »Ich hab da eine Idee. Versuch, auf bescheiden zu machen.«
»Bescheiden«, wiederhole ich.
»Dass du es einfach nicht fassen kannst, dass ein kleines Mädchen aus Distrikt 12 es so weit gebracht hat. Das alles ist mehr, als du dir je hättest träumen lassen. Erzähl von Cinnas Kleidern. Wie nett die Leute sind. Wie die Stadt dich verzaubert. Wenn du schon nicht über dich selbst reden willst, mach wenigstens den Zuschauern Komplimente. Dreh einfach den Spieß um, okay?! So, und nun zeig mal, was du kannst!«
Die nächsten Stunden sind quälend. Sofort ist klar, dass ich gar nichts kann. Ich bemühe mich, frech zu sein, aber dafür bin ich nicht arrogant genug. Für Wildheit bin ich offenbar zu »verletzlich«. Ich bin nicht geistreich. Nicht witzig oder sexy. Und auch nicht geheimnisvoll.
Am Ende der Sitzung bin ich niemand. Irgendwo bei geistreich hat Haymitch angefangen zu trinken und ein gemeiner Unterton hat sich in seine Stimme geschlichen. »Ich geb’s auf, Süße. Beantworte einfach die Fragen und konzentrier dich darauf, dass die Zuschauer nicht mitbekommen, wie sehr du sie verachtest.«
An diesem Abend esse ich in meinem Zimmer und bestelle mir eine unverschämte Menge Delikatessen. Ich überfresse mich daran und dann lasse ich meine Wut auf Haymitch, die Hungerspiele und überhaupt jedes Lebewesen im Kapitol raus, indem ich mit Geschirr um mich werfe. Als das Mädchen mit den roten Haaren hereinkommt, um mein Bett aufzuschlagen, und das Durcheinander sieht, werden ihre Augen groß. »Lass!«, schreie ich sie an. »Lass es, wie es ist!«
Sie hasse ich auch, sie mit den wissenden, vorwurfsvollen Augen, die mich Feigling, Monster, Marionette des Kapitals nennen, damals wie heute. Aus ihrer Sicht nimmt die Gerechtigkeit jetzt endlich ihren Lauf. Wenigstens wird mein Tod das Leben des Jungen im Wald ein wenig aufwiegen.
Aber anstatt aus dem Raum zu flüchten, schließt das Mädchen die Tür hinter sich und geht ins Bad. Sie kommt mit einem feuchten Lappen zurück und wischt mir sanft über das Gesicht. Dann wischt sie das Blut von meinen Händen, das von einem zerbrochenen Teller stammt. Warum tut sie das? Warum lasse ich das zu?
»Ich hätte versuchen müssen, euch zu retten«, flüstere ich.
Sie schüttelt den Kopf. Soll das heißen, wir haben gut daran getan, nur zuzuschauen? Dass sie mir vergeben hat?
»Nein, es war falsch«, sage ich.
Sie tippt sich mit dem Finger auf die Lippen und deutet dann auf meine Brust. Ich glaube, sie meint, dass ich dann auch als Avox geendet wäre. Höchstwahrscheinlich. Ein Avox oder tot.
In der folgenden Stunde helfe ich dem rothaarigen Mädchen, das Zimmer sauber zu machen. Als der ganze Müll beseitigt und das Essen aufgewischt ist, schlägt sie mein Bett auf. Ich krieche hinein wie ein fünfjähriges Kind und lasse mich von ihr zudecken. Dann geht sie. Ich möchte, dass sie dableibt, bis ich eingeschlafen bin. Dass sie da ist, wenn ich aufwache. Ich möchte den Schutz dieses Mädchens, obwohl sie meinen nie hatte.
Am nächsten Morgen ist es nicht das Mädchen, das sich über mich beugt, sondern die Mitglieder meines Vorbereitungsteams. Meine Stunden mit Effie und Haymitch sind Vergangenheit. Dieser Tag gehört Cinna. Er ist meine letzte Hoffnung. Vielleicht kann er mich so schön aussehen lassen, dass niemand darauf achtet, was aus meinem Mund kommt.
Bis in den späten Nachmittag arbeitet das Team an mir, verwandelt meine Haut in leuchtenden Satin, zeichnet Muster auf meine Arme, malt Flammenmotive auf meine zwanzig perfekt gefeilten Nägel. Dann nimmt sich Venia mein Haar vor, flicht rote Strähnen zu einem Muster, das an meinem linken Ohr beginnt, sich um meinen Kopf wickelt und dann in einem Zopf über meine rechte Schulter fällt. Sie überdecken mein Gesicht mit einer Schicht aus blassem Make-up und arbeiten meine Gesichtszüge dann wieder heraus. Riesige dunkle Augen, volle rote Lippen. Wimpern, die Funken sprühen, wenn ich blinzele. Schließlich bedecken sie meinen ganzen Körper mit einem Puder, der mich golden schimmern lässt.
Anschließend kommt Cinna mit etwas herein, das wohl mein Abendkleid ist, aber ich kann es nicht richtig sehen, weil es verhüllt ist. »Mach die Augen zu«, befiehlt er.
Ich fühle das Seidenfutter, als sie mir das Kleid über den nackten Körper streifen, und dann das Gewicht. Es muss zwanzig Kilo wiegen. Ich greife nach Octavias Hand, während ich blind in meine Schuhe steige, wobei ich erleichtert feststelle, dass sie mindestens fünf Zentimeter niedriger sind als das Paar, mit dem ich geübt habe. Jemand richtet und zupft herum. Dann Stille.
»Darf ich jetzt gucken?«, frage ich.
»Ja«, sagt Cinna. »Du darfst.«
Das Geschöpf, das vor mir in dem mannshohen Spiegel steht, kommt aus einer anderen Welt. Einer Welt, wo die Haut schimmert und die Augen blitzen und die Kleider aus Juwelen gemacht sind. Denn mein Kleid, oh, mein Kleid ist vollständig mit glitzernden, wertvollen Edelsteinen bedeckt, rot und gelb und weiß, und hier und da blau, um die Spitzen des Flammendesigns zu betonen. Schon bei der kleinsten Bewegung sieht es so aus, als wäre ich von Feuerzungen umgeben.
Ich bin nicht hübsch. Ich bin nicht schön. Ich bin strahlend wie die Sonne.
Eine Zeit lang starren mich alle an. »Oh, Cinna«, flüstere ich schließlich. »Danke.«
»Dreh dich für mich«, sagt er. Ich strecke die Arme aus und drehe mich im Kreis. Das Vorbereitungsteam kreischt vor Bewunderung.
Cinna schickt das Team weg und lässt mich in Kleid und Schuhen, die unendlich viel bequemer sind als die von Effie, umhergehen. Das Kleid fällt so, dass ich den Rock beim Gehen nicht anheben muss. Eine Sache weniger, um die ich mir Sorgen machen muss.
»Also dann, bereit fürs Interview?«, fragt Cinna. An seinem Gesichtsausdruck erkenne ich, dass er Bescheid weiß. Er hat mit Haymitch gesprochen und weiß, wie grässlich ich bin.
»Ich bin schrecklich. Haymitch hat mich eine tote Nackt-Schnecke genannt. Was wir auch versucht haben, ich hab’s nicht hingekriegt. Ich kann einfach nicht so sein, wie er mich haben möchte«, sage ich.
Cinna denkt einen Augenblick nach. »Warum bist du nicht einfach du selbst?«, schlägt er vor.
»Ich selbst? Das bringt’s auch nicht. Haymitch sagt, ich sei mürrisch und feindselig«, erwidere ich.
»Das stimmt, das bist du … wenn Haymitch in der Nähe ist«, sagt Cinna und grinst. »Ich sehe dich nicht so. Das Vorbereitungsteam betet dich an. Sogar die Spielmacher hast du für dich eingenommen. Und was die Bürger des Kapitols betrifft, also, die reden nur von dir. Niemand kann sich deinem Temperament entziehen.«
Mein Temperament. Das ist ein neuer Gedanke. Ich bin mir nicht ganz sicher, was es bedeutet, aber es soll wohl heißen, dass ich eine Kämpfernatur bin. Dass ich Mut habe. Und ich bin ja auch nicht immer nur unfreundlich. Okay, vielleicht schenke ich nicht gerade jedem mein Herz, der mir über den Weg läuft, vielleicht könnte ich ein bisschen öfter lächeln, aber manche Menschen sind mir doch wichtig.
Cinna nimmt meine eisigen Hände in seine warmen. »Wenn du auf die Fragen antwortest, dann stell dir vor, du würdest zu einem Freund in der Heimat sprechen. Wer ist dein bester Freund?«, fragt Cinna.
»Gale«, sage ich spontan. »Nur dass es sinnlos ist, Cinna. Gale würde ich so was nie erzählen. Er weiß das alles schon.«
»Und ich? Käme ich als Freund infrage?«, fragt Cinna.
Von allen, die ich getroffen habe, seit ich von zu Hause fort bin, ist Cinna mein absoluter Favorit. Ich mochte ihn vom ersten Augenblick an und bisher hat er mich nicht enttäuscht. »Ich glaube schon, aber …«
»Ich werde mit den anderen Stylisten auf der Haupttribüne sitzen. Du kannst mich ansehen. Wenn du etwas gefragt wirst, schau zu mir und antworte so aufrichtig wie möglich«, sagt Cinna.
»Selbst wenn ich schreckliche Gedanken habe?«, frage ich. Denn das könnte tatsächlich passieren.
»Dann erst recht«, sagt Cinna. »Wirst du es versuchen?«
Ich nicke. Es ist ein Plan. Oder wenigstens ein Strohhalm, an den ich mich klammern kann.
Zu schnell wird es Zeit zum Aufbruch. Die Interviews finden auf einer Bühne statt, die vor dem Trainingscenter aufgebaut worden ist. Wenn ich erst mal aus meinem Zimmer gehe, ist es nur noch eine Frage von Minuten, bis ich vor der Menge stehe, vor den Kameras, vor ganz Panem.
Als Cinna die Türklinke drückt, halte ich ihn auf. »Cinna …« Das Lampenfieber hat mich voll erwischt.
»Denk dran, sie lieben dich schon jetzt«, sagt er sanft. »Sei einfach du selbst.«
Am Aufzug treffen wir auf den Rest des Teams aus Distrikt 12. Portia und ihre Truppe haben sich mächtig ins Zeug gelegt. Peeta sieht bemerkenswert aus in seinem schwarzen Anzug mit Flammenakzenten. Wir passen gut zusammen, aber ich bin erleichtert, dass wir diesmal nicht identisch aussehen. Haymitch und Effie sind dem Anlass gemäß aufgedonnert. Ich gehe Haymitch aus dem Weg, doch Effies Komplimente nehme ich an. Effie mag anstrengend und unbedarft sein, aber sie ist nicht so destruktiv wie Haymitch.
Als sich der Aufzug öffnet, werden die anderen Tribute gerade aufgestellt, um auf die Bühne zu gehen. Während der Interviews sitzen alle vierundzwanzig in einem großen Bogen um die Bühnenmitte. Ich bin als Letzte dran beziehungsweise als Vorletzte, denn bei den Interviews kommt immer der weibliche Tribut eines jeden Distrikts vor dem männlichen an die Reihe. Ich wünschte, ich wäre die Erste und könnte die Sache schnell hinter mich bringen! So aber muss ich mir anhören, wie witzig, lustig, bescheiden, wild und charmant die anderen sind, bevor ich endlich an der Reihe bin. Außerdem wird es dem Publikum langweilig werden, genau wie den Spielmachern. Und diesmal kann ich schlecht einen Pfeil in die Menge schießen, damit sie sich mir zuwendet.
Kurz bevor wir auf die Bühne treten, taucht Haymitch hinter Peeta und mir auf und knurrt: »Denkt dran, ihr seid immer noch ein glückliches Paar. Also benehmt euch auch so.«
Wie bitte? Ich dachte, davon hätten wir uns verabschiedet, als Peeta um getrenntes Coaching gebeten hat. Aber das war wohl sozusagen etwas Privates, nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Sei’s drum, für Zwischenmenschliches ist jetzt sowieso nicht mehr viel Gelegenheit, denn wir gehen bereits im Gänsemarsch zu unseren Plätzen und setzen uns.
Allein das Betreten der Bühne führt dazu, dass mein Atem schneller und flacher geht. Ich fühle den Puls in den Schläfen pochen. Die Erleichterung ist groß, als ich meinen Stuhl erreiche, denn ich habe Angst, dass ich wegen der Absätze oder der wackligen Knie stolpere. Obwohl es schon Abend wird, ist der Zentrale Platz heller erleuchtet als an einem Sommertag. Für die prominenten Gäste wurde eine erhöhte Tribüne errichtet, die Stylisten besetzen die erste Reihe. Immer wenn die Menge auf ihre Kreationen reagiert, werden die Kameras auf sie schwenken. Ein großer Balkon vor einem Gebäude rechter Hand ist für die Spielmacher reserviert. Die meisten anderen Balkone sind von Fernsehteams besetzt. Aber der Zentrale Platz und die darauf zuführenden Hauptstraßen sind voller Menschen. Nur Stehplätze. In sämtlichen Häusern und Gemeindesälen des Landes sind die Fernseher eingeschaltet. Jeder Bürger Panems ist auf Empfang. Heute Nacht wird es keine Stromausfälle geben.
Caesar Flickerman, der Mann, der seit über vierzig Jahren die Interviews führt, springt auf die Bühne. Es ist ein bisschen beängstigend, denn seine Erscheinung hat sich in all der Zeit buchstäblich nicht verändert. Dasselbe Gesicht unter einer Schicht aus reinweißem Make-up. Dieselbe Frisur, nur jedes Jahr eine andere Farbe. Dasselbe Bühnenkostüm, mitternachtsblau und übersät mit Tausenden von winzigen elektrischen Lämpchen, die wie Sterne funkeln. Im Kapitol gibt es Chirurgen, die einen jünger und dünner erscheinen lassen. In Distrikt 12 ist es in gewisser Hinsicht eine Leistung, alt auszusehen, denn dort sterben viele Menschen früh. Wenn man dort einem älteren Menschen begegnet, möchte man ihn zu seiner Langlebigkeit beglückwünschen und nach dem Geheimnis seines Überlebens fragen. Ein dicker Mensch wird beneidet, weil er im Gegensatz zu den meisten von uns mehr als genug hat. Hier ist das anders. Falten sind unerwünscht. Ein runder Bauch ist kein Zeichen von Erfolg.
Dieses Jahr ist Caesars Haar taubenblau und seine Augenlider und Lippen sind im gleichen Farbton geschminkt. Er sieht grotesk aus, aber nicht so gruselig wie letztes Jahr, als die Farbe tiefrot war und man meinen konnte, er würde bluten. Caesar macht zum Einstieg ein paar Gags, dann kommt er zur Sache.
Das Mädchen aus Distrikt 1, das in seinem durchsichtigen goldenen Abendkleid aufreizend aussieht, geht zu Caesar ins Rampenlicht, um interviewt zu werden. Ihr Mentor hatte todsicher keine Mühe, ein Image für sie zu erfinden. Das wallende blonde Haar, die smaragdgrünen Augen und ihr groß gewachsener, üppiger Körper … Sie ist eine richtige Sexbombe.
Jedes Interview dauert nur drei Minuten. Dann ertönt ein Signal und der nächste Tribut ist dran. Eins muss man Caesar lassen, er tut wirklich sein Bestes, um die Tribute zur Geltung zu bringen. Er ist freundlich, versucht die Nervösen zu beruhigen, lacht bei den müdesten Scherzen und kann eine schwache Antwort durch die Art, wie er darauf reagiert, unvergesslich machen.
Ich sitze da wie eine Dame, so wie Effie es mir gezeigt hat, während die Distrikte einer nach dem anderen drankommen. Jeder scheint irgendeine Rolle zu spielen. Der riesige Junge aus Distrikt 2 ist eine skrupellose Tötungsmaschine. Das fuchsgesichtige Mädchen aus Distrikt 5 ist durchtrieben und schwer zu fassen. Ich habe Cinna sofort gesehen, als er seinen Platz eingenommen hat, aber trotz seiner Anwesenheit bin ich verkrampft. 8, 9, 10. Der verkrüppelte Junge aus Distrikt 10 ist sehr still. Meine Hände schwitzen wie verrückt, doch das juwelenbesetzte Kleid saugt nichts auf, und als ich sie daran abwischen will, rutschen sie ab. 11.
Rue, die ein hauchzartes Kleid mit Flügeln trägt, flattert auf Caesar zu. Beim Anblick dieses elfengleichen Nichts von einem Tribut verstummt die Menge. Caesar ist sehr nett zu ihr, er gratuliert ihr zu der Sieben im Training, eine exzellente Bewertung für eine so kleine Person. Als er sie fragt, welches ihre größte Stärke in der Arena sein wird, zögert sie nicht. »Ich bin schwer zu fangen«, sagt sie mit bebender Stimme. »Und wenn sie mich nicht fangen können, können sie mich auch nicht töten. Also schreiben Sie mich nicht ab.«
»Nicht in einer Million Jahren«, sagt Caesar aufmunternd.
Thresh, der Junge aus Distrikt 11, hat die gleiche dunkle Haut wie Rue, aber hier hört die Ähnlichkeit auch schon auf. Er ist ein wahrer Riese, über eins neunzig groß und bärenstark, doch mir ist aufgefallen, dass er die Einladung der Karrieretribute, sich ihnen anzuschließen, ausgeschlagen hat. Stattdessen ist er fast die ganze Zeit über für sich geblieben, hat mit niemandem gesprochen und nur wenig Interesse am Training gezeigt. Trotzdem hat er eine Zehn erreicht und man kann sich unschwer vorstellen, dass er die Spielmacher beeindruckt hat. Er geht nicht auf Caesars Geplänkel ein, er antwortet mit Ja oder Nein oder sagt einfach gar nichts.
Wenn ich so groß wäre wie er, dann könnte ich so mürrisch und feindselig sein, wie ich wollte, das wäre vollkommen egal! Ich wette, die Hälfte der Sponsoren zieht ihn zumindest in Betracht. Wenn ich Geld hätte, würde ich selbst auf ihn setzen.
Dann wird Katniss Everdeen aufgerufen und wie im Traum stehe ich auf und gehe zur Bühnenmitte. Ich schüttele Caesars ausgestreckte Hand und er ist so taktvoll, seine Hand nicht sofort an seinem Anzug abzuwischen.
»Also, Katniss, vom Distrikt 12 ins Kapitol, das ist ja bestimmt eine ganz schöne Umstellung. Was hat dich am meisten beeindruckt, seit du hier bist?«, fragt er.
Was? Was hat er gesagt? Ich kann ihm nicht richtig folgen.
Mein Mund ist trocken wie Sägemehl. Verzweifelt suche ich in der Menge nach Cinna und lasse ihn nicht mehr aus den Augen. Ich stelle mir vor, die Worte kämen aus seinem Mund. »Was hat dich am meisten beeindruckt, seit du hier bist?« Ich zerbreche mir den Kopf auf der Suche nach etwas, worüber ich mich hier gefreut habe. Sei ehrlich, denke ich. Sei ehrlich.
»Der Lammeintopf«, presse ich hervor.
Caesar lacht und ich merke undeutlich, dass ein paar Zuschauer einstimmen.
»Der mit Backpflaumen?«, fragt Caesar. Ich nicke. »Oh, den esse ich immer tonnenweise.« Er legt die Hände auf seinen Bauch und dreht sich seitlich zum Publikum. »Das sieht man doch nicht, oder?« Die Zuschauer beschwichtigen ihn und applaudieren. Das ist es, was ich meinte. Caesar versucht den Leuten aus der Klemme zu helfen.
»Also, Katniss«, sagt er vertraulich. »Bei deinem Auftritt auf der Eröffnungsfeier ist mir das Herz stehen geblieben. Was hältst du persönlich von diesem Kostüm?«
Cinna hebt die Augenbraue. Sei ehrlich. »Sie meinen, nachdem ich meine Angst überwunden hatte, bei lebendigem Leib zu verbrennen?«, frage ich.
Großer Lacher. Ein echter, aus dem Publikum.
»Ja. Fang da an«, sagt Caesar.
Cinna, mein Freund, das muss ich dir sowieso mal sagen. »Ich hab gedacht, dass Cinna genial ist und dass es das umwerfendste Kostüm ist, das ich je gesehen habe, und ich konnte gar nicht glauben, dass ich es trug. Und ich kann auch nicht glauben, dass ich dies hier trage.« Ich hebe meinen Rock hoch und breite ihn aus. »Ich meine, schauen Sie sich das an!«
Während das Publikum Ah und Oh ruft, sehe ich, wie Cinna eine winzige Bewegung mit dem Finger macht. Ich weiß, was er sagen will. Dreh dich für mich.
Ich drehe mich einmal im Kreis und die Reaktion kommt sofort.
»Oh, mach das noch mal«, sagt Caesar, also hebe ich die Arme und drehe mich und drehe mich und lasse den Rock fliegen, bis das Kleid mich umzüngelt wie Flammen. Die Menge jubelt. Als ich stehen bleibe, greife ich nach Caesars Arm.
»Nicht aufhören!«, sagt er.
»Ich muss, mir ist schwindlig!« Ich kichere sogar, was ich vielleicht noch nie in meinem Leben getan habe. Aber das Lampenfieber und das Gedrehe zeigen ihre Wirkung.
Caesar legt beschützend den Arm um mich. »Keine Sorge, ich halte dich fest. Ich kann doch nicht zulassen, dass du in die Fußstapfen deines Mentors trittst.«
Großes Gejohle, während die Kameras Haymitch suchen, der mit seinem Hechtsprung von der Bühne Berühmtheit erlangt hat. Er winkt gutmütig ab und zeigt zurück auf mich.
»Keine Sorge«, versichert Caesar der Menge. »Bei mir ist sie in Sicherheit. So, jetzt zu deiner Trainingsbewertung. Elfi, verrat uns doch mal, was da drinnen passiert ist.«
Ich werfe den Spielmachern auf dem Balkon einen kurzen Blick zu und beiße mir auf die Lippe. »Ähm … ich kann nur sagen, dass es wohl eine Premiere gewesen sein dürfte.«
Die Kameras halten auf die Spielmacher, die kichern und nicken.
»Du spannst uns echt auf die Folter«, sagt Caesar, als ob er wirklich leiden würde. »Mehr Einzelheiten, wenn ich bitten darf.«
Ich wende mich zum Balkon. »Soll ich?«
Der Spielmacher, der in die Punschschale gefallen ist, ruft: »Um Gottes willen, nein.«
»Danke«, sage ich. »Tut mir leid. Meine Lippen sind versiegelt.«
»Dann lass uns zu dem Augenblick bei der Ernte zurückkehren, als der Name deiner Schwester ausgerufen wurde«, sagt Caesar. Er wirkt jetzt eher gedämpft. »Du hast dich freiwillig an ihrer statt gemeldet. Kannst du uns von ihr erzählen?«
Nein. Euch allen nicht. Aber Cinna vielleicht. Ich glaube nicht, dass ich mir die Traurigkeit auf seinem Gesicht nur einbilde. »Sie heißt Prim. Sie ist erst zwölf. Und ich liebe sie mehr als alles auf der Welt.«
Auf dem Zentralen Platz könnte man in diesem Moment eine Stecknadel fallen hören.
»Was hat sie hinterher zu dir gesagt?«, fragt Caesar.
Sei ehrlich. Sei ehrlich. Ich schlucke schwer. »Sie hat gesagt, ich soll unbedingt versuchen zu gewinnen.« Gebannt lauschen die Zuschauer auf jedes meiner Worte.
»Und was hast du geantwortet?«, hakt Caesar behutsam nach.
Aber statt Wärme spüre ich, wie eine eisige Starre meinen Körper überfällt. Meine Muskeln spannen sich an, wie beim Töten. Als ich spreche, klingt meine Stimme eine Oktave tiefer: »Ich habe es ihr geschworen.«
»Das glaube ich«, sagt Caesar und drückt mich. Das Signal ertönt. »Tut mir leid, unsere Zeit ist um. Viel Glück, Katniss Everdeen, Tribut aus Distrikt 12.«
Der Applaus ertönt noch lange, nachdem ich mich gesetzt habe. Ich suche Cinna, um mich zu beruhigen. Er hält unauffällig die Daumen hoch.
Während des ersten Teils von Peetas Interview bin ich noch völlig benommen. Trotzdem bekomme ich mit, dass er die Zuschauer von Anfang an auf seiner Seite hat; ich höre sie lachen und jubeln. Er spielt mit dem Bäckersohnimage und vergleicht die Tribute mit dem Brot aus ihrem jeweiligen Distrikt. Dann erzählt er eine Anekdote über die Gefahren, die in den Duschen des Kapitols lauern. »Sagen Sie, dufte ich immer noch nach Rosen?«, fragt er Caesar und dann beschnüffeln sie sich gegenseitig und reißen das Publikum zu Begeisterungsstürmen hin. Ich gerate noch einmal ins Blickfeld, als Caesar ihn fragt, ob er zu Hause eine Freundin hat.
Peeta zögert, dann schüttelt er nicht sehr überzeugend den Kopf.
»Ein hübscher Junge wie du. Es muss ein besonderes Mädchen geben. Komm schon, wie heißt sie?«, sagt Caesar.
Peeta seufzt. »Ja, es gibt da dieses eine Mädchen. Ich bin schon in sie verliebt, seit ich denken kann. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie bis zur Ernte nicht mal wusste, dass es mich gibt.«
Sympathiebekundungen aus der Menge. Unerwiderte Liebe, das können sie nachempfinden.
»Hat sie einen anderen?«, fragt Caesar.
»Ich weiß nicht, aber viele Jungs stehen auf sie«, sagt Peeta.
»Soll ich dir sagen, was du tun musst? Du gewinnst und kehrst nach Hause zurück. Dann kann sie dich nicht abblitzen lassen, was?«, sagt Caesar aufmunternd.
»Ich glaube, das wird nicht hinhauen. Gewinnen … das funktioniert nicht in meinem Fall«, sagt Peeta.
»Wieso nicht?«, fragt Caesar verblüfft.
Peeta wird rot wie eine Tomate und fängt an zu stottern: »Weil … weil … Wir sind zusammen hier.«