20

Erst nach langem Zureden, Betteln, Drohen und, jawohl, vielen Küssen gelingt es mir, Peeta die Brühe Schluck für Schluck einzuflößen. Danach lasse ich ihn schlafen und kümmere mich um meine eigenen Bedürfnisse, verschlinge ein Abendessen aus Grusling und Wurzeln, während ich mir den täglichen Bericht am Himmel anschaue. Keine neuen Verluste. Aber dafür haben Peeta und ich den Zuschauern ja einen ziemlich interessanten Tag geboten. Hoffentlich genehmigen uns die Spielmacher eine friedliche Nacht.

Automatisch halte ich nach einem guten Baum für mich Ausschau, bis mir einfällt, dass es damit vorbei ist. Zumindest vorläufig. Ich kann Peeta ja kaum unbewacht am Boden zurücklassen. Sein letztes Versteck am Bachufer habe ich gelassen, wie es war - wie hätte ich es auch tarnen sollen? -, und wir sind nur knapp fünfzig Meter weiter bachabwärts. Ich setze meine Brille auf, lege meine Waffen zurecht und mache mich bereit, um Wache zu halten.

Es kühlt schnell ab, bald bin ich bis auf die Knochen durchgefroren. Irgendwann gebe ich auf und schlüpfe zu Peeta in den Schlafsack. Dort ist es angenehm warm und ich kuschele mich dankbar hinein, bis ich merke, dass es mehr als warm ist; enorm heiß ist es, denn der Schlafsack wirft die Fieberhitze zurück. Ich lege die Hand auf seine Stirn, sie ist heiß und trocken. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ihn im Schlafsack lassen und darauf hoffen, dass die übermäßige Hitze das Fieber besiegt? Ihn herausholen und hoffen, dass die Nachtluft ihn abkühlt? Schließlich befeuchte ich nur eine Mullbinde und lege sie ihm auf die Stirn. Das ist nicht viel, aber für drastischere Maßnahmen fehlt mir der Mut.

Ich verbringe die Nacht halb sitzend, halb liegend neben Peeta, erneuere ab und zu die Binde und versuche, nicht so sehr daran zu denken, dass ich mit ihm zusammen viel angreifbarer bin. An den Boden gefesselt, auf der Hut, mit einem sehr kranken Menschen, um den ich mich kümmern muss. Aber ich habe ja gewusst, dass er verwundet ist. Und habe trotzdem nach ihm gesucht. Ich muss einfach darauf vertrauen, dass es ein richtiger Instinkt war, der mich dazu getrieben hat, Peeta zu suchen.

Als sich der Himmel rosig färbt, sehe ich einen Schimmer von Schweiß auf Peetas Lippen und stelle fest, dass das Fieber besiegt ist. Noch nicht Normaltemperatur, aber doch ein paar Grad weniger. Gestern Abend, als ich die Weinranken gesammelt habe, bin ich auf einen Strauch mit Rues Beeren gestoßen. Ich streife die Früchte ab und vermenge sie im Brühetopf mit kaltem Wasser zu einem Brei.

Als ich in die Höhle zurückkehre, versucht Peeta gerade, sich aufzusetzen. »Ich bin aufgewacht und du warst nicht da«, sagt er. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«

Ich muss lachen, während ich ihn wieder hinlege. »Du hast dir Sorgen um mich gemacht? Hast du dich in letzter Zeit mal angeschaut?«

»Ich dachte, Cato und Clove hätten dich vielleicht gefunden. Sie jagen gern nachts«, sagt er, noch immer ernst. »Clove? Wer ist das?«, frage ich.

»Das Mädchen aus Distrikt 2. Sie lebt noch, oder?«, sagt er.

»Ja, es sind nur noch wir und die beiden und Thresh und Fuchsgesicht übrig«, sage ich. »So nenne ich das Mädchen aus Distrikt 5. Wie geht es dir?«

»Besser als gestern. Hier ist es tausendmal besser als im Schlamm«, sagt er. »Saubere Kleider, Medizin, ein Schlafsack … und du.«

Ach, stimmt ja, die Liebesgeschichte wieder. Ich will seine Wange berühren, aber er nimmt meine Hand und drückt sie an seine Lippen. Ich erinnere mich, dass mein Vater genau dasselbe bei meiner Mutter gemacht hat, und frage mich, woher Peeta das wohl hat. Bestimmt nicht von seinem Vater und der Hexe.

»Keinen Kuss mehr, bevor du nicht gegessen hast«, sage ich.

Wir schaffen es, ihn gegen die Wand zu lehnen, und gehorsam schluckt er den Beerenbrei, den ich ihm löffelweise reiche. Nur den Grusling verweigert er wieder.

»Du hast nicht geschlafen«, sagt Peeta.

»Mir geht’s gut«, sage ich. Aber die Wahrheit ist, dass ich erschöpft bin.

»Schlaf du jetzt. Ich halte Wache. Wenn was passiert, wecke ich dich«, sagt er. Ich zögere. »Du kannst nicht ewig wach bleiben, Katniss.«

Er hat recht. Irgendwann werde ich schlafen müssen. Und wahrscheinlich ist es besser, das jetzt zu tun, da er ziemlich munter wirkt und das Tageslicht uns hilft. »In Ordnung«, sage ich. »Aber nur ein paar Stunden. Dann weckst du mich.«

Jetzt ist es zu warm für den Schlafsack. Ich breite ihn auf dem Höhlenboden aus und lege mich hin, eine Hand auf dem geladenen Bogen, falls ich von jetzt auf gleich schießen muss. Peeta sitzt neben mir, an die Wand gelehnt, das kranke Bein ausgestreckt, die Augen auf die Welt da draußen gerichtet. »Schlaf jetzt«, sagt er sanft. Er streicht mir die Haare aus der Stirn. Anders als die gekünstelten Küsse und Zärtlichkeiten bisher wirkt diese Geste natürlich und tröstlich. Ich möchte nicht, dass er damit aufhört, und er tut mir den Gefallen. Als ich einschlafe, streichelt er noch immer mein Haar.

Zu lange. Ich schlafe zu lange. Als ich die Augen öffne, weiß ich sofort, dass es schon Nachmittag ist. Peeta sitzt neben mir, noch immer in der gleichen Stellung. Ich setze mich auf und fühle mich irgendwie auf der Hut, aber so erholt wie seit Tagen nicht.

»Du solltest mich doch nach ein paar Stunden wecken, Peeta«, sage ich.

»Wozu? Hier ist nichts los«, sagt er. »Außerdem sehe ich dir gern beim Schlafen zu. Dann machst du nicht so ein böses Gesicht. Steht dir viel besser.«

Jetzt mache ich natürlich sofort wieder ein böses Gesicht und er muss grinsen. Da sehe ich, wie trocken seine Lippen sind. Ich lege ihm eine Hand an die Wange. Heiß wie ein Kohleofen. Er behauptet, er habe getrunken, aber die Behälter fühlen sich immer noch voll an. Ich verabreiche ihm noch mehr Fiebertabletten und wache darüber, wie er erst einen, dann noch einen Liter Wasser trinkt. Dann kümmere ich mich um seine weniger schlimmen Wunden, die Verbrennungen und Stiche, die besser geworden sind. Ich nehme all meinen Mut zusammen und wickele das Bein aus.

Das Herz rutscht mir in die Hose. Es ist schlimmer geworden, viel schlimmer. Zwar ist kein Eiter mehr zu sehen, aber die Schwellung ist größer geworden und die gespannte, glänzende Haut ist entzündet. Da sehe ich die roten Streifen, die das Bein hinaufkriechen. Blutvergiftung. Wenn sie nicht behandelt wird, stirbt er unweigerlich. Die zerkauten Blätter und die Brandsalbe können dagegen nichts ausrichten. Was wir brauchen, sind starke entzündungshemmende Medikamente vom Kapitol. Die Kosten für diese Arzneimittel mag ich mir gar nicht ausmalen. Wenn Haymitch sämtliche Spenden aller Sponsoren zusammennähme, würde es dann reichen? Ich bezweifele es. Die Geschenke werden immer teurer, je länger die Spiele dauern. Was am ersten Tag für eine vollständige Mahlzeit reicht, reicht am zwölften Tag gerade mal für einen Kräcker. Und die Kosten für eine Medizin, wie Peeta sie braucht, wären von Anfang an gewaltig gewesen.

»Also, die Schwellung ist größer geworden, aber der Eiter ist weg«, sage ich mit wackliger Stimme.

»Ich weiß, was eine Blutvergiftung ist, Katniss«, sagt Peeta. »Obwohl meine Mutter keine Heilerin ist.«

»Du musst nur länger durchhalten als die anderen, Peeta. Wenn wir gewinnen, werden sie dich im Kapitol behandeln«, sage ich.

»Ja, das ist ein guter Plan«, sagt er. Aber ich spüre, dass er das vor allem um meinetwillen sagt.

»Du musst essen. Damit du zu Kräften kommst. Ich werde dir eine Suppe machen«, sage ich.

»Mach kein Feuer«, erwidert er. »Das ist es nicht wert.«

»Wir werden sehen«, sage ich. Als ich mit dem Topf zum Bach hinuntergehe, haut mich die Hitze fast um. Ich wette, die Spielmacher lassen die Temperaturen am Tag immer höher steigen und in der Nacht immer tiefer sinken. Aber die Hitze der von der Sonne beschienenen Steine bringt mich auf eine Idee. Vielleicht brauche ich gar kein Feuer zu machen.

Ich setze mich auf einen großen flachen Felsen auf halbem Weg zwischen Höhle und Bach. Nachdem ich einen halben Topf Wasser sterilisiert habe, stelle ich ihn ins direkte Sonnenlicht und lege ein paar eiergroße heiße Steine ins Wasser. Ich würde nie behaupten, dass ich eine tolle Köchin bin. Aber da es bei einer Suppe eigentlich nur darum geht, alles in einen Topf zu werfen und abzuwarten, ist Suppe sozusagen meine Spezialität. Ich zerhacke Gruslingfleisch zu Mus und mische ein paar von Rues Wurzeln darunter. Zum Glück ist beides schon gebraten, sodass es eigentlich nur warm gemacht werden muss. Sonnenlicht und Steine haben das Wasser bereits angewärmt. Ich gebe Fleisch und Wurzeln hinzu, lege frische Steine hinein und mache mich auf die Suche nach Kräutern, mit denen ich das Ganze ein bisschen würzen kann. Bald entdecke ich am Fuß eines Felsens ein Büschel Schnittlauch. Perfekt. Ich hacke ihn ganz klein und gebe ihn in den Topf, tausche noch einmal die Steine aus, lege den Deckel drauf und lasse das Ganze schmoren.

Ich habe ein paar Hinweise auf Wild entdeckt, aber mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, Peeta allein zu lassen, um zu jagen. Deshalb stelle ich eine Handvoll Fallen und hoffe auf Glück. Ich frage mich, wo die anderen Tribute sind, wie sie jetzt, da ihre wichtigste Nahrungsquelle in die Luft geflogen ist, zurechtkommen. Wenigstens drei von ihnen, Cato, Clove und Fuchsgesicht, waren darauf angewiesen. Nur Thresh wahrscheinlich nicht. Mein Gefühl sagt mir, dass er wie Rue wissen muss, wie man sich von der Erde ernährt. Ob sie gegeneinander kämpfen? Suchen sie uns? Vielleicht hat uns schon einer ausfindig gemacht und wartet nur auf den richtigen Zeitpunkt für einen Angriff. Die Vorstellung treibt mich zurück in die Höhle.

Im Schatten der Felsen liegt Peeta ausgestreckt auf dem Schlafsack. Obwohl sich seine Miene etwas aufhellt, als ich hereinkomme, sehe ich ihm an, wie elend er sich fühlt. Ich lege ihm einen kühlen Lappen auf die Stirn, doch der Lappen wird heiß, sobald er seine Haut berührt.

»Möchtest du etwas?«, frage ich.

»Nein danke«, sagt er. »Ach doch, warte. Erzähl mir eine Geschichte.«

»Eine Geschichte? Was für eine?«, sage ich. Ich bin keine große Geschichtenerzählerin. Es ist so wie mit dem Singen. Aber hin und wieder schwatzt Prim mir eine ab.

»Irgendwas Aufheiterndes. Erzähl mir vom glücklichsten Tag, an den du dich erinnern kannst«, sagt Peeta.

Ich gebe einen Laut von mir, der halb Stöhnen, halb verzweifeltes Schnauben ist. Eine fröhliche Geschichte? Das ist ja noch schwieriger, als eine Suppe zu kochen. Ich durchforste mein Gedächtnis nach schönen Erinnerungen. Die meisten haben mit Gale und der gemeinsamen Jagd zu tun, aber ich glaube nicht, dass das bei Peeta oder den Zuschauern gut ankommt. Bleibt noch Prim.

»Habe ich dir schon mal erzählt, wie ich an Prims Ziege gekommen bin?«, frage ich. Peeta schüttelt den Kopf und sieht mich erwartungsvoll an. Also fange ich an. Aber vorsichtig. Denn meine Worte werden in ganz Panem übertragen. Auch wenn die Leute zweifellos schon längst eins und eins zusammengezählt haben und wissen, dass ich illegal jage, möchte ich weder Gale noch Greasy Sae oder der Metzgerin und nicht einmal den Friedenswächtern, die bei mir einkaufen, schaden, indem ich öffentlich verkünde, dass auch sie das Gesetz brechen.

Dies ist die wahre Geschichte, wie ich das Geld für Prims Ziege Lady beschafft habe. Es war ein Freitag Ende Mai, der Tag vor Prims zehntem Geburtstag. Gleich nach der Schule gingen Gale und ich in den Wald. Ich wollte unbedingt genug Tauschware haben, um Prim ein Geschenk besorgen zu können. Neuen Stoff für ein Kleid vielleicht oder eine Haarbürste. Mit unseren Fallen hatten wir zwar reichlich Beute gemacht und im Wald spross das Gemüse üppig aus dem Boden, aber mehr als unsere übliche Freitagsausbeute hatten wir trotzdem noch nicht zusammen. Auf dem Rückweg war ich enttäuscht, obwohl Gale sagte, am nächsten Tag würden wir bestimmt mehr Glück haben. Wir ruhten uns eine Weile an einem Bach aus, als wir ihn sahen. Einen jungen Bock, der Größe nach wahrscheinlich ein Jährling. Sein Geweih war gerade erst durchgestoßen, es war noch klein und mit Samt überzogen. Bereit zur Flucht, unschlüssig, was er von uns halten sollte, mit Menschen nicht vertraut. Wunderschön.

Nicht mehr ganz so schön mit den beiden Pfeilen im Körper, einer im Genick, der andere in der Brust. Gale und ich hatten gleichzeitig geschossen. Der Bock versuchte zu fliehen, strauchelte aber, und ehe er sichs versah, hatte Gale ihm mit dem Messer schon die Kehle durchgeschnitten. Einen Moment lang tat es mir leid, etwas so Zartes und Unschuldiges zu töten. Doch dann knurrte mein Magen beim Gedanken an das zarte, unschuldige Fleisch.

Ein Hirsch! Nur drei haben Gale und ich je erlegt. Der erste, eine Ricke, die sich irgendwo eine Verletzung am Bein zugezogen hatte, zählte eigentlich nicht. Wir wollten das tote Tier auf dem Hob anbieten, aber das Tohuwabohu, das wir damit auslösten, sollte uns eine Lehre sein. Die Leute boten auf einzelne Körperteile und versuchten sogar eigenmächtig Stücke abzuhacken. Bis Greasy Sae einschritt und uns mitsamt dem schon arg geschundenen Reh zur Metzgerin schickte. Hier und da waren Stücke aus dem Fleisch gerissen, das Fell war ganz durchlöchert. Obwohl alle anständig bezahlten, war der Wert der Beute deutlich gemindert.

Diesmal warteten wir bis nach Einbruch der Dunkelheit und schlüpften in der Nähe der Metzgerei durch den Zaun. Obwohl wir bekannte Jäger waren, wäre es nicht klug gewesen, mit einem siebzig Kilo schweren Hirsch am helllichten Tag durch die Straßen von Distrikt 12 zu gehen, als wollten wir die Beamten mit der Nase darauf stoßen.

Die Metzgerin, eine kleine stämmige Frau namens Rooba, öffnete auf unser Klopfen hin die Hintertür. Mit Rooba feilscht man nicht. Sie nennt einen Preis, den man annehmen oder ablehnen kann, aber es ist ein fairer Preis. Wir nahmen ihr Angebot für den Bock sofort an und sie legte noch ein paar Hirsch-Steaks drauf, die wir nach dem Schlachten abholen konnten. Weder Gale noch ich hatten je so viel Geld auf einmal in Händen gehabt, selbst als wir es durch zwei geteilt hatten. Wir beschlossen, niemandem etwas zu sagen und unsere Familien am Abend des nächsten Tages mit dem Fleisch und dem Geld zu überraschen.

So und nicht anders habe ich das Geld für die Ziege verdient, aber Peeta erzähle ich, ich hätte ein altes Silbermedaillon meiner Mutter verkauft. Das tut niemandem weh. Dann nehme ich die Geschichte am Nachmittag von Prims Geburtstag wieder auf.

Gale und ich gingen zum offiziellen Markt auf dem Platz, damit ich die nötigen Materialien für das Kleid kaufen konnte. Während ich mit den Fingern über eine dicke blaue Baumwollbahn strich, fiel mir etwas auf. Ein alter Mann mit einer kleinen Ziegenherde, die er auf der anderen Seite des Saums hält. Seinen richtigen Namen kenne ich nicht, jeder nennt ihn nur den Ziegenmann. Seine Gelenke sind geschwollen und verdreht, und sein trockener Husten verrät, dass er lange Jahre in den Minen verbracht hat. Aber er hat Glück gehabt. Irgendwie hat er dabei genug gespart, um diese Ziegen zu kaufen, und nun hat er auf seine alten Tage etwas zu tun und muss nicht nur darauf warten, dass der Hunger kommt. Er ist schmutzig und ungehobelt, aber seine Ziegen sind sauber und ihre Milch ist reichhaltig, vorausgesetzt, man kann sie sich leisten.

Eine der Ziegen, eine weiße mit schwarzen Flecken, lag in einem Wagen. Warum, sah man sofort. Irgendein Tier, vermutlich ein Hund, hatte ihr eine schlimme Verletzung an der Schulter zugefügt und die Wunde hatte sich entzündet. Es sah schlimm aus, der Ziegenmann musste sie stützen, wenn er sie melkte. Aber mir kam sofort der Gedanke, dass ich jemanden kannte, der sie heilen könnte.

»Gale«, flüsterte ich. »Ich möchte Prim diese Ziege schenken.«

In Distrikt 12 kann der Besitz einer Ziege ein Leben ändern. Die Tiere ernähren sich von praktisch allem, die Weide ist ein perfekter Futterplatz und sie geben bis zu vier Liter Milch am Tag. Die man trinken, zu Käse verarbeiten oder verkaufen kann.

»Sie ist ziemlich schwer verletzt«, meinte Gale. »Wir sollten sie uns genau ansehen.«

Wir gingen hinüber und kauften uns einen Becher Milch. Dann stellten wir uns zu der Ziege, als ob wir mäßig interessiert wären.

»Lasst sie in Ruhe«, sagte der Mann. »Wir gucken nur«, sagte Gale.

»Na, dann beeilt euch mal. Sie kommt nämlich bald zur Metzgerin. Keiner will ihre Milch, und wenn, dann nur für den halben Preis«, sagte der Mann.

»Was zahlt die Metzgerin für sie?«, fragte ich.

Der Mann zuckte die Achseln. »Das werdet ihr gleich erfahren.« Ich drehte mich um und sah, dass Rooba quer über den Platz auf uns zukam. »Gut, dass du kommst«, sagte der Ziegenmann, als sie bei uns war. »Das Mädchen hier hat ein Auge auf die Ziege geworfen.«

»Ach, die ist doch schon vergeben«, sagte ich gleichgültig.

Rooba musterte mich, dann sah sie die Ziege finster an. »Ist sie nicht. Schau dir die Schulter an. Ich wette, das Tier ist schon halb verfault, da kann ich nicht mal mehr Wurst draus machen.«

»Was?«, sagte der Ziegenmann. »Wir hatten eine Abmachung.«

»Wir hatten eine Abmachung über ein Tier mit ein paar Bissstellen. Aber nicht so was. Verkauf sie dem Mädchen hier, wenn sie so dumm ist und sie nimmt«, sagte Rooba. Als sie davonging, zwinkerte sie mir zu.

Der Ziegenmann war wütend, aber seine Ziege wollte er immer noch loswerden. Es dauerte eine halbe Stunde, bis wir uns auf den Preis einigten. Unterdessen hatten sich Leute um uns geschart, die ihre Kommentare abgaben. Falls die Ziege überlebte, hätten wir ein sehr gutes Geschäft gemacht; würde sie sterben, wäre ich nur mein Geld los gewesen. Die Leute sprachen sich für das eine oder das andere aus, aber ich nahm die Ziege.

Gale bot an, sie nach Hause zu tragen. Wahrscheinlich war er ebenso gespannt wie ich auf Prims Gesicht. In einem Anfall von Übermut kaufte ich ein rosafarbenes Band und knotete es der Ziege um den Hals. Dann liefen wir nach Hause.

Prims Gesicht war unbeschreiblich, als wir mit der Ziege hereinkamen. Sie hatte ja schon damals wegen der schrecklichen alten Katze geweint, die sie unbedingt retten wollte. Sie war so aufgeregt, dass sie gleichzeitig weinte und lachte. Meine Mutter war skeptisch, als sie die Wunde sah, aber dann machten sie sich gemeinsam ans Werk, zermahlten Kräuter und redeten der Ziege gut zu, damit sie das Gebräu trank.

»Wie du«, sagt Peeta. Ich hatte fast vergessen, dass er auch noch da ist.

»Oh nein, Peeta. Die beiden können Wunder bewirken. Die Ziege hatte keine Chance zu sterben, selbst wenn sie gewollt hätte«, sage ich. Aber dann beiße ich mir auf die Zunge, als ich merke, wie das in Peetas Ohren klingen muss, denn er liegt im Sterben und ist auf meine unkundigen Hände angewiesen.

»Keine Bange. Ich will’s gar nicht«, witzelt er. »Erzähl weiter.«

»Das war’s schon. Ich weiß noch, dass Prim in dieser Nacht partout mit Lady auf einer Decke neben dem Feuer schlafen wollte. Kurz bevor sie einschliefen, hat die Ziege Prims Wange geleckt, als ob sie ihr einen Gutenachtkuss geben wollte«, sage ich. »Sie war ihr schon verfallen.«

»Trug sie denn noch das rosa Band?«, fragt er.

»Ich glaub schon«, antworte ich. »Warum?«

»Ich versuche es mir nur vorzustellen«, sagt er nachdenklich. »Ich verstehe, warum dich dieser Tag glücklich gemacht hat.«

»Na ja, ich wusste, dass die Ziege eine kleine Goldgrube werden würde«, sage ich.

»Ja, natürlich. Genau das hab ich gemeint, nicht etwa die große Freude, die du deiner Schwester gemacht hast, die du so sehr liebst, dass du dich bei der Ernte an ihrer statt gemeldet hast«, sagt er trocken.

»Die Ziege hat sich bezahlt gemacht. Um ein Vielfaches«, antworte ich überlegen.

»Na, die konnte ja auch gar nicht anders, nachdem du ihr das Leben gerettet hast«, sagt Peeta. »Ich beabsichtige übrigens, dasselbe zu tun.«

»Wirklich? Was hast du mich noch mal gekostet?«, frage ich.

»Eine Menge Ärger. Aber keine Sorge, du kriegst es zurück«, sagt er.

»Du redest dummes Zeug«, sage ich. Ich befühle seine Stirn. Das Fieber steigt immer weiter. »Dabei fühlt es sich ein bisschen kühler an.«

Der Klang der Fanfaren scheucht mich auf. Im Nu bin ich auf den Beinen und an der Höhlenöffnung, denn ich will keine Silbe verpassen. Es ist mein guter Freund Claudius Templesmith, und wie ich erwartet habe, lädt er uns zu einem Festmahl ein. Aber wir sind nicht besonders hungrig und im Geist schlage ich die Einladung schon aus, als er sagt: »Moment noch. Ein paar von euch wollen meine Einladung vielleicht nicht annehmen. Aber dies ist kein gewöhnliches Fest. Jeder von euch benötigt etwas ganz Bestimmtes besonders dringend.«

Es gibt etwas, das ich dringend benötige. Etwas, mit dem ich Peetas Bein heilen kann.

»Dieses Etwas könnt ihr bei Sonnenaufgang am Füllhorn finden, in Rucksäcken, die jeweils mit der Nummer eures Distrikts gekennzeichnet sind. Denkt gut darüber nach, ob ihr euch weigern wollt, zu erscheinen. Für einige von euch ist es die letzte Chance«, sagt Claudius.

Das war’s, seine Worte verhallen. Ich mache einen Satz, als Peeta mir die Hand auf die Schulter legt. »Nein«, sagt er. »Du wirst nicht dein Leben für mich aufs Spiel setzen.«

»Wer sagt, dass ich das vorhabe?«, erwidere ich.

»Ach, dann gehst du also nicht hin?«, fragt er.

»Natürlich gehe ich nicht hin. Wofür hältst du mich? Glaubst du, ich renne geradewegs in eine Massenkeilerei mit Cato, Clove und Thresh? Sei nicht dumm«, sage ich und helfe ihm, sich wieder hinzulegen. »Sollen sie es untereinander auskämpfen. Morgen Abend werden wir sehen, wessen Foto am Himmel erscheint, und dann überlegen wir weiter.«

»Du lügst echt schlecht, Katniss. Es ist mir schleierhaft, wie du so lange überleben konntest.« Er äfft mich nach. »Ich wusste, dass die Ziege eine kleine Goldgrube werden würde. Es fühlt sich ein bisschen kühler an. Natürlich gehe ich nicht hin.« Er schüttelt den Kopf. »Lass ja die Finger vom Glücksspiel, falls du je in Versuchung gerätst. Du würdest deinen letzten Heller verlieren«, sagt er.

Ich werde rot vor Zorn. »Also gut, ich werde gehen und du kannst mich nicht aufhalten!«

»Ich kann dir aber folgen. Wenigstens einen Teil des Weges. Ich schaffe es vielleicht nicht bis zum Füllhorn, aber wenn ich deinen Namen schreie, dann findet mich bestimmt jemand. Und dann sterbe ich auf jeden Fall«, sagt er.

»Mit dem Bein kommst du keine hundert Meter weit«, sage ich.

»Dann krieche ich eben«, sagt Peeta. »Wenn du gehst, komme ich mit.«

Dickköpfig genug ist er, vielleicht sogar stark genug. Im Wald hinter mir herschreien. Selbst wenn ihn kein Tribut findet, es gibt noch andere Kandidaten. Er kann sich nicht verteidigen. Wenn ich allein gehen wollte, müsste ich ihn in der Höhle einmauern. Aber wer weiß, wie sehr ihn die Anspannung mitnehmen wird.

»Was soll ich tun? Hier sitzen und zusehen, wie du stirbst?«, sage ich. Er muss doch einsehen, dass das nicht geht. Dass die Zuschauer mich hassen würden. Und ehrlich gesagt, ich müsste mich selbst hassen, wenn ich es nicht mal versuchen würde.

»Ich werde nicht sterben. Ich verspreche es. Wenn du versprichst, dass du nicht hingehst«, sagt er.

Wir sind in einer Sackgasse gelandet. Ich weiß, dass ich es ihm nicht ausreden kann, also versuche ich es erst gar nicht. Ich tue so, als würde ich ihm widerstrebend zustimmen. »Dann musst du aber tun, was ich sage. Dein Wasser trinken, mich wecken, wann ich sage, brav deine Suppe schlürfen, egal, wie abscheulich sie ist!«, fahre ich ihn an.

»Abgemacht. Ist sie schon fertig?«, fragt er.

»Warte hier«, sage ich. Es ist kalt geworden, obwohl die Sonne noch am Himmel steht. Ich hatte recht, die Spielmacher manipulieren die Temperatur. Ich frage mich, wie viele unserer Gegner wohl verzweifelt eine warme Decke benötigen. Die Suppe im Eisentopf ist noch warm. Eigentlich schmeckt sie gar nicht so schlecht.

Peeta isst klaglos und kratzt sogar den Topf aus, um seine Begeisterung zu zeigen. Er schwafelt davon, wie köstlich sie ist, was ermutigend sein könnte, wüsste ich nicht, was Fieber alles bewirken kann. Er redet wie Haymitch, kurz bevor der Alkohol ihn ins Delirium schickt. Ehe er völlig abdreht, gebe ich ihm noch eine Dosis Fiebertabletten.

Während ich zum Bach gehe, um abzuwaschen, kann ich nur an eins denken: Wenn ich nicht zu diesem Fest gehe, wird er sterben. Ein oder zwei Tage kann er noch durchhalten, aber dann wird die Infektion auf sein Herz oder sein Gehirn oder seine Lunge übergreifen und das ist das Ende. Dann bin ich hier ganz allein. Wieder allein. Und warte auf die anderen.

Ich bin so in Gedanken versunken, dass ich fast den Fallschirm übersehen hätte, der neben mir herunterschwebt. Aber dann stürze ich mich auf ihn, ziehe ihn aus dem Wasser, reiße den silbernen Stoff ab und ziehe das Fläschchen heraus. Haymitch hat es geschafft! Er hat das Medikament bekommen - ich weiß nicht, wie, vielleicht hat er eine Schar romantischer Deppen überredet, ihren Schmuck zu verkaufen - und ich kann Peeta retten! Allerdings ist das Fläschchen unheimlich klein. Die Medizin muss sehr stark sein, wenn sie einen Menschen kurieren soll, der so krank ist wie Peeta. In mir regt sich Zweifel. Ich öffne das Fläschchen und rieche daran. Bei dem ekligen süßen Duft legt sich meine Begeisterung schlagartig. Um sicherzugehen, träufele ich einen Tropfen auf meine Zunge. Keine Frage, es ist Schlafsirup. Eine ganz normale Arznei in Distrikt 12. Für ein Medikament billig und hochgradig suchterzeugend. Fast jeder hat schon mal eine Dosis davon genommen. Wir haben auch eine Flasche zu Hause. Meine Mutter verabreicht es bei hysterischen Patienten, wenn sie schlimme Wunden nähen muss, als Beruhigungsmittel oder einfach nur, damit jemand, der starke Schmerzen hat, die Nacht übersteht. Man braucht nur wenig davon. Ein Fläschchen dieser Größe könnte Peeta einen ganzen Tag lang außer Gefecht setzen, aber wozu? Ich bin so wütend, dass ich Haymitchs Geschenk schon in den Bach schmeißen will, als es mir wie Schuppen von den Augen fällt. Einen ganzen Tag? Das ist mehr, als ich brauche.

Ich zerstampfe eine Handvoll Beeren, damit der Sirup nicht so durchschmeckt, und mische sicherheitshalber noch Pfefferminzblätter darunter. Dann gehe ich zurück zur Höhle. »Ich habe dir was Leckeres mitgebracht. Ein Stück den Bach runter habe ich eine neue Stelle mit Beeren gefunden.«

Ohne Zögern öffnet Peeta den Mund für den ersten Happen. Er schluckt ihn hinunter, dann runzelt er die Stirn. »Die sind aber süß.«

»Ja, das sind Zuckerbeeren. Meine Mutter macht daraus immer Marmelade. Hast du die noch nie gegessen?«, sage ich, während ich ihm den nächsten Löffel in den Mund schiebe.

»Nein«, sagt er fast verwundert. »Aber der Geschmack kommt mir irgendwie bekannt vor. Zuckerbeeren?«

»Auf dem Markt bekommt man sie nur selten, weißt du, sie wachsen nur wild«, sage ich. Noch ein Löffel voll geht seinen Weg. Jetzt nur noch einer.

»Sie schmecken so süß wie Sirup«, sagt er und nimmt den letzten Happen. »Sirup.« Seine Augen weiten sich, als er begreift. Ich drücke ihm meine Hand fest auf Nase und Mund und zwinge ihn zu schlucken, statt auszuspucken. Er versucht, das Zeug zu erbrechen, aber zu spät, er verliert schon das Bewusstsein. Während er wegdämmert, sehe ich seinem Blick an, dass ich etwas Unverzeihliches getan habe.

Ich hocke mich auf die Fersen und betrachte ihn halb traurig, halb zufrieden. Eine einsame Beere besudelt sein Kinn. Ich wische sie weg. »Wer lügt hier schlecht, Peeta?«, sage ich, obwohl er mich nicht hören kann.

Macht nichts. Dafür hört mich ganz Panem.


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