22


Das Trommeln des Regens bringt mich langsam zu Bewusstsein. Ich würde so gern weiterschlafen, in einem warmen Kokon aus Decken, im sicheren Zuhause. Undeutlich nehme ich wahr, dass mein Kopf schmerzt. Vielleicht habe ich Grippe und darf deshalb im Bett bleiben, obwohl ich weiß, dass ich schon lange schlafe. Meine Mutter streichelt meine Wange und ich schiebe ihre Hand nicht weg, was ich tun würde, wenn ich wach wäre, damit sie nicht merkt, wie sehr ich mich nach dieser Liebkosung sehne.

»Katniss«, sagt jemand. »Kannst du mich hören, Katniss?« Ich öffne die Augen und das Gefühl der Sicherheit ist verschwunden. Ich bin nicht bei meiner Mutter. Ich bin in einer dämmrigen, kalten Höhle, meine nackten Füße frieren trotz der Decke. In der Luft hängt der unverkennbare Geruch von Blut. Das abgezehrte, blasse Gesicht eines Jungen gleitet in mein Blickfeld und nach dem ersten Schreck bin ich beruhigt. »Peeta.«

»Hi«, sagt er. »Gut, deine Augen wiederzusehen.«

»Wie lange war ich weggetreten?«, frage ich.

»Ich weiß nicht. Ich bin gestern Abend aufgewacht und da lagst du neben mir in einer entsetzlichen Blutlache«, sagt er. »Ich glaube, die Blutung hat jetzt aufgehört, aber setz dich lieber nicht auf oder so.«

Vorsichtig fasse ich mir an den Kopf und fühle den Verband. Schon von dieser einfachen Bewegung werde ich schwach und mir schwindelt. Peeta hält eine Flasche an meine Lippen und ich trinke gierig.

»Es geht dir besser«, sage ich.

»Viel besser. Was du mir da auch in den Arm gejagt hast, es hat geholfen«, sagt er. »Heute Morgen war mein Bein fast gar nicht mehr geschwollen.«

Er scheint nicht mehr böse zu sein, weil ich ihn mit dem Schlafmittel hereingelegt habe und zum Fest gegangen bin. Vielleicht schont er mich, weil ich so mitgenommen bin, und ich bekomme alles später zu hören, wenn ich mich erholt habe. Aber jetzt im Moment ist er die Liebenswürdigkeit in Person.

»Hast du was gegessen?«, frage ich.

»Ich muss leider zugeben, dass ich drei Stücke von diesem Grusling verschlungen habe, bevor mir klar wurde, dass der vielleicht noch eine Weile vorhalten muss. Keine Sorge, ich halte wieder strikt Diät«, sagt er.

»Nein, das ist gut. Du musst etwas essen. Bald gehe ich auf die Jagd«, sage ich.

»Nicht zu bald, verstanden?«, sagt er. »Jetzt sorge ich mal eine Weile für dich.«

Ehrlich gesagt bleibt mir kaum etwas anderes übrig. Peeta füttert mich mit Gruslingbissen und Rosinen und sorgt dafür, dass ich viel Wasser trinke. Er rubbelt mir die Füße ein bisschen wärmer und wickelt sie in seine Jacke ein, bevor er den Schlafsack wieder bis an mein Kinn zieht.

»Deine Stiefel und Socken sind immer noch nass und bei dem Wetter werden sie auch nicht trocken«, sagt er. Ein Donner rollt und durch einen Felsspalt sehe ich, wie ein Blitz den Himmel erhellt. Durch mehrere Löcher in den Felsen über uns tropft Regen, aber Peeta hat mithilfe der Plastikplane eine Art Schutzdach über meinem Kopf und meinem Oberkörper gespannt.

»Ich frage mich, was dieser Sturm soll. Ich meine, wem gilt er?«, sagt Peeta.

»Cato und Thresh«, antworte ich, ohne nachzudenken. »Fuchsgesicht sitzt irgendwo in ihrem Bau und Clove … Sie hat mich mit dem Messer verletzt und dann …« Ich verstumme.

»Ich weiß, dass Clove tot ist. Hab’s gestern Abend am Himmel gesehen«, sagt er. »Hast du sie getötet?«

»Nein. Thresh hat ihr mit einem Stein den Schädel eingeschlagen«, sage ich.

»Gut, dass er dich nicht in die Klauen bekommen hat«, sagt Peeta.

Jetzt kommt die Erinnerung an das Fest mit voller Wucht zurück und mir wird elend. »Hat er schon. Aber er hat mich laufen lassen.« Jetzt muss ich Peeta natürlich alles erzählen. Auch all das, was ich für mich behalten habe, weil er zu krank war, um zu fragen, und was ich ohnehin nicht noch einmal durchleben wollte. Die Explosion und mein Ohr und Rues Tod und der Junge aus Distrikt 1 und das Brot. Alles, was zu meiner Begegnung mit Thresh geführt hat und dazu, dass er eine Art Schuld begleichen wollte.

»Er hat dich gehen lassen, weil er dir nichts schuldig bleiben wollte?«, fragt Peeta ungläubig.

»Ja. Das brauchst du nicht zu verstehen. Du hattest immer genug. Wärest du im Saum aufgewachsen, brauchte ich dir das nicht zu erklären«, sage ich.

»Versuch’s gar nicht erst. Ich bin offenbar viel zu beschränkt, um es zu begreifen«, sagt er sarkastisch.

»Das ist wie mit dem Brot. Anscheinend werde ich dir dafür auf ewig etwas schuldig bleiben«, sage ich.

»Das Brot? Was? Damals, als wir Kinder waren?«, sagt er. »Das können wir hiermit ein für alle Mal vergessen. Du hast mich immerhin wieder zum Leben erweckt.«

»Aber du kanntest mich gar nicht. Wir hatten noch nie miteinander gesprochen. Außerdem lässt sich das erste Geschenk immer am schwersten zurückzahlen. Wenn du mir damals nicht geholfen hättest, wäre ich nicht hier«, sage ich. »Warum hast du das überhaupt getan?«

»Warum? Du weißt, warum«, sagt Peeta. Ich schüttele leicht den schmerzenden Kopf. »Haymitch hat recht, du bist nicht leicht zu überzeugen.«

»Haymitch?«, frage ich. »Was hat der damit zu tun?«

»Ach, nichts«, sagt Peeta. »Also Cato und Thresh, was? Ich schätze, wir können nicht darauf hoffen, dass sie sich gegenseitig umbringen.«

Der Gedanke macht mich wütend. »Ich glaube, wir könnten Thresh gut leiden. Zu Hause wäre er unser Freund«, sage ich.

»Dann hoffen wir mal, dass Cato ihn umbringt, damit wir’s nicht tun müssen«, sagt Peeta grimmig.

Nein, ich will nicht, dass Cato Thresh tötet. Ich will nicht, dass noch irgendjemand stirbt. Aber so was dürfen Siegertypen natürlich nicht laut in der Arena sagen. Trotz aller Anstrengung spüre ich, wie mir Tränen in die Augen steigen.

Peeta sieht mich besorgt an. »Was ist los? Sind die Schmerzen so schlimm?«

Darauf antworte ich nicht, damit es nur als kurzer Augenblick der Schwäche erscheint und nicht als Kapitulation. »Ich will nach Hause, Peeta«, jammere ich wie ein kleines Kind.

»Du wirst nach Hause kommen. Ich verspreche es«, sagt er und beugt sich vor, um mich zu küssen.

»Ich will jetzt nach Hause«, sage ich.

»Ich sag dir was. Du schläfst jetzt weiter und träumst von zu Hause. Und ehe du es merkst, bist du schon da«, sagt er. »Okay?«

»Okay«, flüstere ich. »Weck mich, wenn ich Wache halten soll.«

»Ich fühle mich gut und ausgeruht, dir und Haymitch sei Dank. Und wer weiß, wie lange es noch so bleibt?«, sagt er.

Was meint er? Das Gewitter? Die kurze Ruhepause, die es uns bringt? Die Spiele an sich? Ich weiß es nicht, aber ich bin zu müde und traurig, um nachzufragen.

Es ist Abend, als Peeta mich wieder weckt. Der Regen ist noch stärker geworden, statt einzelner Tropfen rinnen nun ganze Bäche durch die Felsendecke. Unter den größten hat Peeta unseren Topf gestellt und die Plastikplane so platziert, dass ich vor dem Schlimmsten geschützt bin. Es geht mir etwas besser, ich kann mich aufsetzen, ohne dass mir völlig schwindlig wird, und ich habe einen Bärenhunger. Peeta auch. Er hat mit dem Essen auf mich gewartet und kann es kaum noch aushalten.

Viel ist nicht übrig. Zwei Stücke Grusling, etwas Wurzelbrei und eine Handvoll Trockenobst.

»Sollen wir es rationieren?«, fragt Peeta.

»Nein, wir essen es auf. Der Grusling wird langsam alt und einen verdorbenen Magen können wir nun wirklich nicht brauchen«, sage ich und teile das Essen in zwei gleich große Häufchen. Wir versuchen langsam zu essen, aber wir sind beide so hungrig, dass alles im Nu verputzt ist. Mein Magen ist nicht im Geringsten zufriedengestellt.

»Morgen gehen wir auf die Jagd«, sage ich.

»Da werde ich keine große Hilfe sein«, erwidert Peeta. »Ich hab mein Lebtag noch nicht gejagt.«

»Ich erlege die Beute und du kochst«, sage ich. »Und du kannst sammeln.«

»Das war was, wenn es hier einen Brotstrauch gäbe«, sagt Peeta.

»Das Brot, das sie mir aus Distrikt 11 geschickt haben, war noch warm«, sage ich und seufze. »Hier, kau das.« Ich gebe ihm ein paar Minzeblätter und stecke mir auch welche in den Mund.

Man kann die Projektion am Himmel kaum erkennen, aber immerhin sehen wir, dass es heute keine Toten gegeben hat. Cato und Thresh haben es also noch nicht ausgefochten.

»Wo ist Thresh hingegangen? Was ist jenseits der Ebene?«, frage ich Peeta.

»Ein Feld. Schulterhohes Gras, so weit das Auge reicht. Ich weiß nicht, vielleicht ist auch Getreide darunter. Man sieht verschiedenfarbige Flecken. Aber keine Wege«, sagt Peeta.

»Ich wette, dass da auch Getreide wächst. Und ich wette, Thresh kennt sich damit aus«, sage ich. »Bist du mal dort gewesen?«

»Nein. Keiner hatte Lust, Thresh durchs hohe Gras zu verfolgen. Es ist irgendwie unheimlich. Jedes Mal, wenn ich auf das Feld schaue, denke ich an alle möglichen verborgenen Dinge. Schlangen, tollwütige Tiere und Treibsand«, sagt Peeta. »Alles könnte dort sein.«

Ich sage es nicht, aber Peetas Worte erinnern mich an die Warnungen, wir sollten uns ja nicht jenseits des Zauns um Distrikt 12 wagen. In diesem Moment kann ich nicht anders, als ihn mit Gale zu vergleichen, der in dem Feld nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine mögliche Nahrungsquelle sehen würde. So wie Thresh. Nicht dass Peeta ein Schwächling wäre, und dass er nicht feige ist, hat er mehrfach bewiesen. Aber manche Dinge stellt man wohl einfach nicht infrage, wenn es zu Hause immer nach frischem Brot duftet. Gale dagegen stellt alles infrage. Was würde Peeta von den respektlosen Scherzen halten, mit denen wir tagtäglich das Gesetz brechen? Würde ihn das schockieren? Und wie wir über Panem reden? Gales Tiraden gegen das Kapitol?

»Vielleicht gibt es in diesem Feld sogar einen Brotstrauch«, sage ich. »Vielleicht sieht Thresh deshalb besser genährt aus als zu Beginn der Spiele.«

»Oder er hat großzügige Sponsoren«, sagt Peeta. »Ich frage mich, was wir tun müssen, damit Haymitch uns ein bisschen Brot schickt.«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch, aber dann fällt mir ein, dass er ja nichts von der Botschaft weiß, die Haymitch uns vor ein paar Tagen geschickt hat. Ein Kuss gleich ein Topf Brühe. Aber damit kann ich ja jetzt schlecht herausplatzen. Wenn ich es aussprechen würde, würde ich die Zuschauer darauf stoßen, dass die ganze Liebesgeschichte nur Show war, um ihre Sympathien zu gewinnen, und dann würden wir gar nichts zu essen bekommen. Irgendwie muss ich die Dinge glaubhaft wieder auf Kurs bringen. Mit etwas Einfachem anfangen. Ich nehme seine Hand.

»Ach, wahrscheinlich hat er schon zu viele Mittel eingesetzt, damit ich dich außer Gefecht setzen konnte«, sage ich verschmitzt.

»Ach, stimmt ja«, sagt Peeta und verschränkt seine Finger mit meinen. »Versuch das nicht noch mal.« »Sonst?«, frage ich.

»Sonst … sonst …« Ihm fällt nichts Gutes ein. »Ich muss nachdenken.«

»Was ist los?«, sage ich grinsend.

»Das ist los: Wir sind beide noch am Leben. Und jetzt denkst du bestimmt, du hättest richtig gehandelt«, sagt Peeta. »Hab ich ja auch«, sage ich.

»Nein! Eben nicht, Katniss!« Er hält meine Hand jetzt so fest, dass es wehtut, und er klingt richtig wütend. »Du sollst nicht für mich sterben. Tu mir nie mehr einen solchen Gefallen. Okay?«

Seine Heftigkeit erschreckt mich, aber ich erkenne darin auch eine hervorragende Chance, an Essen zu kommen, also mache ich weiter. »Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass ich es vielleicht für mich selbst getan habe, Peeta? Vielleicht bist du ja nicht der Einzige, der … der sich Sorgen macht … wie es wäre, wenn …«, stammele ich. Ich kann nicht so gut mit Worten umgehen wie Peeta. Und während ich gesprochen habe, hat mich die Vorstellung, Peeta zu verlieren, erneut getroffen und ich merke, wie sehr ich mir wünsche, dass er nicht stirbt. Nicht nur wegen der Sponsoren. Nicht nur aus Sorge, was bei meiner Rückkehr nach Hause passieren könnte. Nicht nur, weil ich nicht allein sein möchte. Seinetwegen. Ich will den Jungen mit dem Brot nicht verlieren.

»Wenn was, Katniss?«, fragt er sanft.

Am liebsten würde ich die Läden zumachen, diesen Augenblick vor den neugierigen Blicken Panems abschotten. Selbst wenn das bedeutet, dass wir nichts zu essen bekommen. Was ich jetzt fühle, geht niemanden etwas an außer mir.

»Haymitch hat mir geraten, genau um dieses Thema einen Bogen zu machen«, sage ich ausweichend, obwohl Haymitch nie irgendwas in der Art gesagt hat. Wahrscheinlich verflucht er mich gerade, weil ich diesen spannenden Moment verpatze. Aber irgendwie rettet Peeta die Situation.

»Dann muss ich mir den Rest selber denken«, sagt er und rückt näher.

Es ist der erste Kuss, den wir beide ganz bewusst erleben. Ohne dass einer von Krankheit oder Schmerz benebelt oder bewusstlos ist. Kein Kuss mit fieberheißen oder eiskalten Lippen. Es ist der erste Kuss, der in meiner Brust etwas auslöst. Etwas Warmes und Eigenartiges. Es ist der erste Kuss, der mir Lust auf mehr macht.

Aber ich bekomme keinen mehr. Na ja, ich bekomme zwar einen zweiten Kuss, aber nur einen leichten auf die Nasenspitze, denn Peeta ist abgelenkt worden. »Ich glaube, deine Wunde hat wieder angefangen zu bluten. Komm, leg dich hin, es ist sowieso Schlafenszeit«, sagt er.

Meine Socken sind jetzt so trocken, dass ich sie anziehen kann. Ich gebe Peeta seine Jacke zurück. Die nasse Kälte dringt mir sofort in die Knochen ein, wie kalt muss ihm dann sein?

Ich bestehe auch darauf, die erste Wache zu übernehmen, obwohl keiner von uns davon ausgeht, dass bei dem Wetter jemand kommt. Aber er stimmt nicht eher zu, bis ich auch im Schlafsack bin, und ich zittere so sehr, dass Widerstand zwecklos ist. Ganz anders als vorgestern Abend, als Peeta mir Tausende Meilen weit weg vorkam, trifft mich seine Nähe jetzt bis ins Mark. Als wir im Schlafsack liegen, zieht er meinen Kopf hinunter, damit ich seinen Arm als Kissen benutzen kann, der andere bleibt schützend über mir liegen, selbst als er schon eingeschlafen ist. Wie lange hat mich niemand so gehalten. Seit mein Vater starb und ich das Vertrauen in meine Mutter verlor, hat mir kein Arm mehr so ein Gefühl der Geborgenheit gegeben.

Ich liege da und betrachte mithilfe der Brille die Wassertropfen, die auf den Höhlenboden platschen. Regelmäßig und einschläfernd. Mehrmals dämmere ich kurz ein und fahre mit einem Ruck auf, dann habe ich ein schlechtes Gewissen und ärgere mich über mich selbst. Nach drei, vier Stunden kann ich nicht anders, ich muss Peeta wecken, weil ich die Augen nicht mehr offen halten kann. Ihm scheint es nichts auszumachen.

»Morgen, wenn es trocken ist, suche ich uns einen Platz so hoch in den Bäumen, dass wir beide in Ruhe schlafen können«, verspreche ich und schon bin ich eingeschlafen.

Aber der Morgen bringt keine Wetterbesserung. Die Sintflut hält an, als wollten die Spielmacher uns alle davonschwemmen. Der Donner ist so gewaltig, dass er die Erde erschüttert. Peeta schlägt vor, trotzdem nach draußen zu gehen und Nahrung zu suchen, aber ich erkläre ihm, dass das bei diesem Gewitter sinnlos wäre. Er würde keinen Meter weit sehen können und am Ende wäre er nur bis auf die Knochen durchnässt. Er weiß, dass ich recht habe, aber das Knurren in unseren Bäuchen wird langsam quälend.

Der Tag zieht sich hin und es wird Abend, ohne dass das Wetter sich geändert hätte. Unsere einzige Hoffnung ist Haymitch, aber nichts geschieht, entweder aus Geldmangel - alles kostet jetzt Unsummen - oder weil er mit unserer Darbietung unzufrieden ist. Wahrscheinlich Letzteres. Ich würde sofort zugeben, dass wir heute nicht gerade atemberaubend sind. Hungrig, von Verletzungen geschwächt, immer darauf bedacht, dass die Wunden nicht wieder aufbrechen. Zwar sitzen wir aneinandergeschmiegt in unserem Schlafsack da, aber hauptsächlich, um uns warm zu halten. Das Aufregendste, was wir tun, ist ab und zu einzunicken.

Ich bin unsicher, wie wir die Romanze weitertreiben sollen: Der Kuss gestern Abend war schön, aber es wird einiger Vorbereitungen bedürfen, bis es zu einem zweiten kommt. Bei uns im Saum und auch bei den Kaufleuten gibt es Mädchen, die sich auf diesem Gebiet hervorragend auskennen. Ich dagegen hatte nie viel Zeit oder Verwendung dafür. Wie dem auch sei, ein Kuss ist eindeutig nicht mehr genug, denn wenn es so wäre, hätten wir gestern Abend Lebensmittel bekommen. Mein Instinkt sagt mir, dass Haymitch nicht nur Zärtlichkeiten will, er ist auf etwas Persönlicheres aus. So wie damals, als wir fürs Interview geprobt haben und er mich dazu bringen wollte, etwas über mich zu erzählen. Bei mir ist das vergebliche Liebesmüh, im Gegensatz zu Peeta. Vielleicht ist es deshalb das Beste, ihn zum Reden zu bringen.

»Peeta«, sage ich leichthin. »Im Interview hast du gesagt, du würdest schon immer für mich schwärmen. Wann hat das angefangen?«

»Mal überlegen. Am ersten Schultag, glaube ich. Da waren wir fünf. Du hattest ein rotes Karokleid an und deine Haare … waren zu zwei Zöpfen geflochten, nicht zu einem. Während wir darauf warteten, uns aufzustellen, zeigte mein Vater auf dich«, sagt Peeta.

»Dein Vater? Wieso?«, frage ich.

»Er sagte: >Siehst du das kleine Mädchen? Ich wollte ihre Mutter heiraten, aber sie ist mit einem Bergarbeiter durchgebrannt<«, sagt Peeta.

»Was? Das hast du dir ausgedacht!«, rufe ich.

»Nein, die Geschichte ist wahr«, sagt Peeta. »Und ich fragte: >Mit einem Bergarbeiter? Wieso wollte sie einen Bergarbeiter, wenn sie dich hätte haben können?< Und er sagte: >Weil … Wenn er singt, dann hören sogar die Vögel auf zu zwitschern und lauschen.<«

»Stimmt. Das tun sie. Taten sie, meine ich«, sage ich. Bei dem Gedanken, wie der Bäcker seinem Sohn dies erzählt, bin ich verblüfft und gerührt. Zum ersten Mal denke ich, dass meine Abneigung gegen das Singen und die Musik vielleicht gar nicht daher kommt, dass ich es für Zeitverschwendung halte. Vielleicht erinnert mich all das einfach zu sehr an meinen Vater.

»An dem Tag fragte die Lehrerin in der Aula, wer den Valley Song kenne. Sofort schoss deine Hand in die Höhe. Sie stellte dich auf einen Schemel und ließ dich singen. Und ich schwöre, draußen verstummten die Vögel«, sagt Peeta.

»Ich bitte dich«, sage ich lachend.

»Nein, echt. Und als du zu Ende gesungen hattest, da wusste ich, dass ich verloren war - so wie es deine Mutter bei deinem Vater gewusst hat«, sagt Peeta. »In den folgenden elf Jahren versuchte ich den Mut aufzubringen, dich anzusprechen.«

»Vergeblich«, füge ich hinzu.

»Vergeblich. So gesehen war es ein Glück, dass mein Name bei der Ernte gezogen wurde«, sagt Peeta.

Erst bin ich einen Augenblick lang auf törichte Weise glücklich, dann bin ich verwirrt. Wir sollen ja all solche Sachen erfinden und spielen, wir wären verliebt, obwohl wir es gar nicht sind. Aber Peetas Geschichte enthält ein paar Körnchen Wahrheit. Die Sache mit meinem Vater und den Vögeln. Und am ersten Schultag habe ich tatsächlich gesungen, obwohl ich mich an das Lied nicht mehr erinnern kann. Und was das rote Karokleid angeht … Es gab wirklich mal eins, das ich Prim später vererbt habe und das sie nach dem Tod meines Vaters so lange trug, bis es völlig zerlumpt war.

Das würde auch etwas anderes erklären. Warum Peeta Schläge in Kauf nahm, um mir an diesem schrecklichen Hungertag die Brote zu schenken. Aber wenn all diese Details wahr sind … was ist dann mit dem Rest?

»Du hast ein … bemerkenswertes Gedächtnis«, sage ich stockend.

»Ich erinnere mich an alles, was mit dir zu tun hat«, sagt Peeta und steckt mir eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Nur du hast nicht darauf geachtet.«

»Jetzt schon«, sage ich.

»Hier habe ich ja auch keine Konkurrenz«, sagt er.

Ich möchte weglaufen, die Läden wieder schließen, aber ich weiß, dass ich es nicht darf. Es ist, als würde ich Haymitchs Stimme hören, die mir ins Ohr flüstert: »Sag es! Sag es!«

Ich schlucke schwer und stoße die Worte hervor: »Du hast nirgendwo Konkurrenz.« Und diesmal beuge ich mich zu ihm hin.

Unsere Lippen haben sich kaum berührt, da lässt uns ein Plumps draußen auffahren. Ich reiße den Bogen hoch, mit schussbereitem Pfeil, aber alles bleibt still. Peeta lugt durch die Felsen und stößt einen Freudenschrei aus. Bevor ich ihn aufhalten kann, steht er draußen im Regen und reicht etwas zu mir herein. Einen silbernen Fallschirm, an dem ein Korb hängt. Ich reiße ihn sofort auf und entdecke ein wahres Festmahl: frische Brötchen, Ziegenkäse, Äpfel und - das Beste von allem - eine Terrine mit dem fantastischen Lammeintopf auf Wildreis. Jenes Gericht, über das ich Caesar Flickerman erzählt habe, es sei das Beeindruckendste, was das Kapitol zu bieten habe.

Peeta windet sich wieder herein, sein Gesicht strahlt wie die Sonne: »Schätze, Haymitch war es endlich leid, uns beim Hungern zuzusehen.«

»Schon möglich«, sage ich.

Aber insgeheim höre ich Haymitch selbstzufrieden, aber auch leicht genervt sagen: »Bravo, Süße, das war’s, was ich hören wollte.«


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