Der Schatten



Mein Himmel ist Messing

Meine Erde Eisen

Mein Mond ein Klumpen Lehm

Pestilenz meine Sonne

Brennend am Mittag

Und ein Dunst des Todes

Bei Nacht.

William Blake, Enions zweiter Klagegesang



In Büchern heißt es oft, dass Hass sich heiß anfühlt, aber auf Capricorns Fest lernte Meggie, dass er kalt war, eine eiskalte Hand, die das Herz erstarren lässt und es gegen die Rippen drückt wie eine geballte Faust. Der Hass ließ sie frieren trotz der milden Luft, die sie umschmeichelte, als wollte sie ihr weismachen, dass die Welt noch heil und gut war, trotz des blutigen Tuches, auf das Capricorn mit einem Lächeln seine beringte Hand legte.

»Gut, das wäre das!«, rief er. »Kommen wir zu dem, weshalb wir eigentlich hier sind. Heute Nacht wollen wir nicht nur ein paar Verräter bestrafen, sondern auch das Wiedersehen mit einem alten Freund feiern. Einige von euch erinnern sich wohl noch an ihn, und die anderen, das verspreche ich euch, werden ihn nie vergessen, wenn sie ihm erst einmal begegnet sind.«

Cockerell verzog das hagere Gesicht zu einem schmerzlichen Lächeln. Er freute sich offenbar nicht sonderlich auf dieses Wiedersehen und auch auf einigen anderen Gesichtern machte sich Furcht breit bei Capricorns Worten.

»Gut, genug geredet. Lassen wir uns etwas vorlesen.«

Capricorn lehnte sich in seinem Sessel zurück und nickte der Elster zu.

Mortola klatschte in die Hände und quer über den Platz kam Darius gehastet, mit der Schatulle, die Meggie zuletzt im Zimmer der Elster gesehen hatte. Offenbar wusste er von ihrem Inhalt. Sein Gesicht war noch spitzer als sonst, als er die Schatulle öffnete und sie der Elster mit demütig gesenktem Kopf hinhielt. Die Schlangen schienen schläfrig, denn diesmal streifte Mortola sich keinen Handschuh über, als sie sie heraushob. Sie hängte sie sich sogar über die Schulter, während sie das Buch aus der Schatulle nahm. Dann legte sie die Schlangen zurück, behutsam wie kostbares Geschmeide, schloss den Deckel und gab die Schatulle Darius zurück. Mit betretenem Gesicht blieb er auf dem Podest stehen. Meggie erhaschte einen mitfühlenden Blick von ihm, als die Elster sie auf den Stuhl zog und ihr das Buch auf den Schoß legte.

Da war es also wieder, das unglückselige Ding in seinem bunten Papierkleid. Welche Farbe es wohl darunter hatte? Meggie hob den Schutzumschlag mit dem Finger an und sah dunkelroten Stoff, rot wie die Flammen, die das schwarze Herz umgaben. Alles, was passiert war, hatte zwischen den Seiten dieses Buches begonnen, und nur von seinem Autor konnte nun Rettung kommen. Meggie strich über den Einband, so wie sie es immer tat, bevor sie ein Buch aufschlug. Das hatte sie Mo abgeschaut. Seit sie denken konnte, erinnerte sie sich an diese Bewegung - wie er ein Buch in die Hand nahm, fast zärtlich über den Einband strich und es dann aufschlug, so, als öffnete er eine Schachtel, die bis zum Rand mit nie gesehenen Kostbarkeiten gefüllt war. Natürlich kam es vor, dass hinter dem Einband nicht die Wunder warteten, auf die man gehofft hatte, dann schlug man das Buch wieder zu, ärgerlich über das nicht eingelöste Versprechen, doch so ein Buch war Tintenherz nicht. Schlechte Geschichten erwachen nicht zum Leben. Es gibt keinen Staubfinger in ihnen, nicht einmal einen Basta.

»Ich soll dir etwas ausrichten!« Das Kleid der Elster roch nach Lavendel. Der Duft umgab Meggie wie eine Drohung.

»Solltest du nicht tun, wofür du hier bist, solltest du auf die Idee kommen, dich absichtlich zu versprechen oder die Worte so zu verdrehen, dass der Gast nicht kommt, auf den Capricorn wartet, dann wird Cockerell« - Meggie spürte Mortolas Atem auf der Wange, so dicht beugte sie sich über sie - »dem alten Mann dort die Kehle durchschneiden. Vielleicht wird Capricorn es nicht befehlen, weil er dem Alten seine dummen Lügen glaubt, doch ich glaube sie nicht und Cockerell wird tun, was ich sage. Hast du mich verstanden, Engelchen?« Sie kniff Meggie mit ihren mageren Fingern in die Wange.

Meggie stieß ihre Hand weg und blickte zu Cockerell hinüber. Er trat hinter Fenoglio, lächelte ihr zu und zog ihm den Finger über die Kehle.

Fenoglio stieß ihn zurück und warf Meggie einen Blick zu, der alles in einem sein sollte: Aufmunterung und Trost zugleich und ein stummes Lachen über all die Schrecken, die sie umgaben. Es würde an ihm liegen, ob ihr Plan funktionierte, nur an ihm und seinen Wörtern.

Meggie spürte das Papier in ihrem Ärmel, es kratzte auf der Haut. Ihre Hände kamen ihr vor wie die einer Fremden, als sie in den Seiten blätterte. Die Stelle, an der sie beginnen sollte, war nicht länger nur durch eine umgeknickte Ecke gekennzeichnet. Zwischen den Seiten steckte ein Lesezeichen, schwarz wie verkohltes Holz. »Streich dir das Haar aus der Stirn!«, hatte Fenoglio gesagt. »Das ist mein Zeichen.« Aber gerade als sie die linke Hand hob, wurde es erneut unruhig auf den Bänken.

Flachnase kam zurück, Ruß im Gesicht. Er hastete an Capricorns Seite und raunte ihm etwas zu. Capricorn runzelte die Stirn und sah zu den Häusern hinüber. Meggie entdeckte zwei Rauchfahnen, gleich neben dem Kirchturm. Bleich stiegen sie in den Himmel.

Noch einmal erhob Capricorn sich aus seinem Sessel. Er versuchte gelassen zu klingen, spöttisch, wie ein Mann, der sich über einen Kinderstreich amüsiert, doch sein Gesicht sagte etwas anderes: »Es tut mir Leid, dass ich noch einigen von euch dieses Fest verderben muss, aber heute Nacht kräht auch bei uns der rote Hahn. Es ist ein schmächtiges Hähnchen, doch den Hals umdrehen muss man ihm trotzdem. Flachnase, nimm dir noch mal zehn Männer.«

Flachnase gehorchte und stapfte mit seinen neuen Helfern davon. Die Bänke sahen nun schon deutlich leerer aus. »Keiner von euch zeigt seine Nase wieder hier, bevor ihr den Brandstifter gefunden habt!«, rief Capricorn ihnen nach. »Wir werden ihm gleich hier und heute beibringen, was es heißt, beim Teufel selbst Feuer zu legen!«

Irgendjemand lachte. Doch die meisten der Zurückgebliebenen sahen beunruhigt zum Dorf hinüber. Einige der Mägde waren sogar aufgestanden, doch die Elster rief scharf ihre Namen und sie setzten sich schnell wieder zwischen die anderen, wie Schulkinder, denen man auf die Finger geschlagen hat. Trotzdem blieb es unruhig. Kaum einer sah zu Meggie, fast alle drehten ihr den Rücken zu, zeigten auf den Rauch, steckten die Köpfe zusammen. Am Kirchturm kroch ein rotes Leuchten empor, und über den Dächern ballte sich grauer Rauch.

»Was soll das? Was starrt ihr das bisschen Rauch an?« Nun war der Ärger in Capricorns Stimme nicht mehr zu überhören. »Etwas Rauch, ein paar Flammen. Na und? Wollt ihr euch davon etwa das Fest verderben lassen? Das Feuer ist unser bester Freund, habt ihr das schon vergessen?«

Meggie sah, wie sich die Gesichter zögernd wieder ihr zuwandten. Und dann hörte sie einen Namen. Staubfinger. Eine Frauenstimme hatte ihn gerufen.

»Was soll das?« Capricorns Stimme wurde so scharf, dass Darius fast die Schatulle mit den Schlangen aus den Armen rutschte. »Es gibt keinen Staubfinger mehr. Er liegt dort in den Hügeln, den Mund voll Erde und seinen Marder auf der Brust. Ich will seinen Namen nicht mehr hören. Er ist vergessen, als hätte es ihn nie gegeben ...«

»Das ist nicht wahr.«

Meggies Stimme schallte so laut über den Platz, dass sie selbst zusammenschrak. »Er ist hier!« Sie hielt das Buch hoch. »Egal, was ihr mit ihm macht. Jeder, der die Geschichte liest, wird ihn sehen, sogar seine Stimme kann man hören und wie er lacht und Feuer spuckt.«

Es war still, ganz still auf dem leeren Fußballfeld. Nur ein paar Füße scharrten beunruhigt auf der roten Asche - und plötzlich hörte Meggie etwas in ihrem Rücken. Da war ein Ticken hinter ihr, wie das einer Uhr, und doch klang es anders, es klang wie eine menschliche Zunge, die das Ticken nachahmte: Tick-tack-tick-tack-tick-tack. Das Geräusch kam von den Autos, die hinter dem Drahtzaun parkten und sie mit ihrem Scheinwerferlicht blende-ten. Meggie konnte nicht anders, sie sah sich um, trotz der Elster und all der Blicke, die misstrauisch auf ihr ruhten. Sie hätte sich für ihre Dummheit ohrfeigen können. Was, wenn die anderen die Gestalt nun auch gesehen hatten, die schmale Gestalt, die sich zwischen den Autos aufrichtete und rasch wieder duckte. Aber niemand schien sie bemerkt zu haben, ebenso wenig wie das Ticken.

»Das war eine schöne Ansprache!«, sagte Capricorn langsam. »Doch du bist nicht hier, um Trauerreden auf verstorbene Verräter zu halten. Du sollst lesen. Und noch einmal sage ich das nicht!«

Meggie zwang sich ihn anzublicken. Nur nicht zu den Autos sehen. Was, wenn das wirklich Farid gewesen war? Was, wenn sie sich das Ticken nicht eingebildet hatte ...

Die Elster blickte sich misstrauisch um. Vielleicht hatte sie es ja nun auch gehört, das leise, harmlose Ticken, nichts als eine Zunge, die jemand gegen die Zähne stieß. Was bedeutete das schon? Außer man kannte die Geschichte von Captain Hook und seiner Angst vor dem Krokodil mit dem Ticken im Bauch. Die Elster kannte sie bestimmt nicht. Aber Mo wusste, dass Meggie sein Zeichen verstehen würde. Oft genug hatte er sie mit dem Ticken geweckt, ganz dicht an ihrem Ohr, so dicht, dass es kitzelte. »Frühstück, Meggie!«, hatte er geflüstert. »Das Krokodil ist da!«

Ja, Mo wusste, dass sie das Ticken erkennen würde, das Ticken, mit dem Peter Pan sich auf Hooks Schiff geschlichen hatte, um Wendy zu retten. Er hätte ihr kein besseres Zeichen geben können.

Wendy!, dachte Meggie. Wie war es dann weitergegangen? Für einen Moment vergaß sie fast, wo sie war, doch die Elster erinnerte sie daran. Mit der flachen Hand schlug sie ihr gegen den Kopf. »Fang endlich an, du kleine Hexe!«, zischte sie.

Und Meggie gehorchte.

Hastig schob sie das schwarze Lesezeichen von den Buchstaben. Sie musste sich beeilen, sie musste lesen, bevor Mo irgendeine Dummheit machte. Er wusste ja nicht, was sie und Fenoglio vorhatten.

»Ich werde jetzt anfangen, und ich will, dass mich keiner stört!«, rief sie. »Keiner! Verstanden?« Bitte, dachte sie, bitte unternimm nichts!

Ein paar von Capricorns übrig gebliebenen Männern lachten, Capricorn aber lehnte sich zurück und verschränkte erwartungsvoll die Arme. »Ja, merkt euch, was die Kleine gesagt hat!«, rief er. »Wer sie stört, wird dem Schatten als Begrüßungsgeschenk überreicht.«

Meggie schob zwei Finger in ihren Ärmel. Da waren sie, Fenoglios Worte. Sie sah die Elster an. »Sie stört mich!«, sagte sie laut. »Ich kann nicht lesen, wenn sie hinter mir steht.«

Capricorn gab der Elster ungeduldig ein Zeichen. Mortola verzog das Gesicht, als hätte er ihr befohlen, Seife zu essen, aber sie trat zurück, zwei, drei zögernde Schritte. Das musste reichen.

Meggie hob die Hand und strich sich das Haar aus der Stirn.

Fenoglios Zeichen.

Er begann auf der Stelle mit seiner Vorstellung. »Nein! Nein! Nein! Sie liest nicht!«, rief er und machte einen Schritt auf Capricorn zu, bevor Cockerell ihn zurückhalten konnte. »Ich kann das nicht zulassen! Ich bin der Erfinder dieser Geschichte und ich habe sie nicht geschrieben, damit sie für Mord und Totschlag missbraucht wird!«

Cockerell versuchte, ihm die Hand auf den Mund zu pressen, doch Fenoglio biss ihm in die Finger und wich ihm mit einer Behändigkeit aus, die Meggie dem alten Mann gar nicht zugetraut hätte.

»Ich habe dich erfunden!«, brüllte er, während Cockerell ihn um Capricorns Sessel jagte. »Und ich bereue es, du schwefelstinkender Schuft.« Dann rannte er auf den Platz hinaus. Erst vor dem Käfig mit den Gefangenen holte Cockerell ihn ein. Für den Spott, den er dafür von den Bänken erntete, drehte er Fenoglio den Arm so fest auf den Rücken, dass der alte Mann einen Schmerzensschrei ausstieß. Doch er sah zufrieden aus, als Cockerell ihn zurück an Capricorns Seite zerrte, sehr zufrieden, denn er wusste, dass er Meggie genug Zeit verschafft hatte. Sie hatten es oft genug geübt. Ihre Finger hatten gezittert, als sie das Blatt aus ihrem Ärmel zog, aber niemand bemerkte etwas, als sie es zwischen die Buchseiten schob. Nicht einmal die Elster.

»Was ist dieser Alte doch für ein Aufschneider!«, rief Capricorn. »Sehe ich vielleicht aus, als hätte mich so einer erfunden?«

Wieder erhob sich Gelächter. Der Rauch über dem Dorf schien vergessen. Cockerell presste Fenoglio die Hand auf den Mund.

»Noch einmal, und diesmal hoffentlich zum letzten Mal!«, rief Capricorn Meggie zu. »Fang an! Die Gefangenen haben lange genug auf den Henker gewartet.«

Stille machte sich noch einmal breit, wieder roch sie nach Angst.

Meggie beugte sich über das Buch auf ihrem Schoß.

Die Buchstaben schienen auf den Seiten zu tanzen.

Komm heraus!, dachte Meggie. Komm heraus und rette uns. Rette uns alle: Elinor und meine Mutter, Mo und Farid. Rette Staubfinger, wenn er noch da ist, und von mir aus sogar Basta.

Ihre Zunge fühlte sich an wie ein kleines Tier, das in ihrem Mund Zuflucht gefunden hatte und sich nun den Kopf an den Zähnen stieß.

»Capricorn hatte viele Männer«, begann sie. »Und jeder von ihnen war gefürchtet in den umliegenden Orten. Nach kaltem Rauch stanken sie, nach Schwefel und all dem, was einem Feuer schmeckt. Wenn einer von ihnen auf den Feldern oder in den Gassen auftauchte, verschlossen die Menschen die Türen und versteckten ihre Kinder. Feuerfinger nannten sie sie, Bluthunde. Capricorns Männer hatten viele Namen. Man fürchtete sie am Tage und nachts schlichen sie sich in die Träume und vergifteten sie. Doch es gab einen, den die Menschen noch mehr fürchteten als Capricorns Männer.« Meggie schien es, als würde ihre Stimme mit jedem Wort größer. Sie schien zu wachsen, bis sie überall war. »Man nannte ihn den Schatten.«

Zwei Zeilen noch tief unten auf der Seite, dann umblättern. Fenoglios Buchstaben warteten. »Sieh dir das an, Meggie!«, hatte er geflüstert, als er ihr das Blatt zeigte. »Bin ich nicht ein Künstler? Gibt es etwas Schöneres auf der Welt als Buchstaben? Zauberzeichen, Stimmen der Toten, Bausteine für wundersame Welten, besser als diese, Trostspender, Vertreiber der Einsamkeit. Hüter von Geheimnissen, Verkünder der Wahrheit ...«

Schmeck jedes Wort, Meggie, flüsterte Mos Stimme in ihr, lass es dir auf der Zunge zergehen. Schmeckst du die Farben? Schmeckst du den Wind und die Nacht? Die Angst und die Freude? Und die Liebe. Schmeck sie, Meggie, und alles erwacht zum Leben.

»Man nannte ihn den Schatten. Er erschien nur, wenn Capricorn ihn rief«, las sie. Wie das Sch ihr über die Lippen zischte, wie dunkel das o sich im Mund formte. »Mal war er rot wie das Feuer, mal grau wie die Asche, die es aus allem macht, was es frisst. Wie die Flamme aus dem Holz, so züngelte er aus der Erde. Seine Finger brachten den Tod, selbst sein Atem. Vor den Füßen seines Herrn erhob er sich, lautlos und ohne Gesicht, witternd wie ein Hund auf der Fährte, und wartete darauf, dass sein Herr auf sein Opfer wies. Man sagte, Capricorn hätte den Schatten aus der Asche seiner Opfer erschaffen lassen, von einem Kobold oder den Zwergen, die sich auf alles verstehen, was Feuer und Rauch hervorbringen. Ganz sicher war keiner, denn es hieß, Capricorn hätte die töten lassen, die den Schatten ins Leben gerufen hatten. Nur eines wusste jeder, dass er unsterblich war, unverletzlich und ohne Mitleid, wie sein Herr.«

Meggies Stimme verschwand, als hätte der Wind sie ihr von den Lippen gewischt.

Etwas erhob sich aus dem Schotter, der den Platz bedeckte, wuchs in die Höhe, streckte aschfarbene Glieder. Die Nacht stank nach Schwefel. Der Geruch brannte Meggie so sehr in den Augen, dass die Buchstaben verschwammen, aber sie musste weiterlesen, während das unheimliche Wesen wuchs, höher und höher, als wollte es den Himmel mit seinen schwefligen Fingern berühren.

»Doch eines Nachts, eine milde, sternenreiche Nacht war es, hörte der Schatten nicht Capricorns Stimme, als er erschien, sondern die eines Mädchens, und als es seinen Namen rief, erinnerte er sich: an all die, aus deren Asche er geformt war, an all den Schmerz und all die Traurigkeit ...«

Die Elster griff über Meggies Schulter. »Was ist das? Was liest du da?«

Aber Meggie sprang auf und wich vor ihr zurück, bevor sie ihr das Blatt entreißen konnte. »Er erinnerte sich«, las sie mit lauter Stimme weiter, »und er beschloss Rache zu nehmen, Rache an denen, die Ursache all dieses Unglücks waren, die die Welt vergifteten mit ihrer Grausamkeit.«

»Sie soll aufhören!«

War das Capricorns Stimme? Meggie stolperte fast über den Rand des Podestes, als sie versuchte der Elster auszuweichen. Darius stand da und starrte sie entgeistert an, mit der Schatulle in der Hand. Und plötzlich, ganz bedächtig, als habe er alle Zeit der Welt, stellte er die Schatulle ab und schlang der Elster von hinten seine dünnen Arme um die Brust. Und er ließ nicht los, sosehr sie auch strampelte und schimpfte. Und Meggie las weiter, den Blick auf den Schatten gerichtet, der da stand und zu ihr herübersah. Er hatte wirklich kein Gesicht, aber er hatte Augen, furchtbare Augen, rot wie das Leuchten, das drüben zwischen den Häusern glomm, wie die Glut eines verborgenen Feuers.

»Nehmt ihr das Buch weg!«, schrie Capricorn. Er stand vor seinem Sessel, gebeugt, als hätte er Angst, seine Beine würden ihm den Dienst verweigern, wenn er auch nur einen Schritt auf den Schatten zutat. »Nehmt es ihr weg!«

Aber keiner seiner verbliebenen Männer rührte sich, keiner der Jungen, keine der Frauen kam ihm zu Hilfe. Sie alle sahen nur den Schatten an, wie er reglos dastand und Meggies Stimme lauschte, als erzählte sie ihm eine lange vergessene Geschichte.

»Ja, Rache wollte er nehmen«, las Meggie weiter. Wenn ihre Stimme doch bloß nicht so gezittert hätte, aber es war nicht leicht zu töten, auch wenn es ein anderer für sie tun würde. »Und so trat der Schatten auf seinen Herrn zu und streckte die aschfahlen Hände nach ihm aus ...«

Wie lautlos sie sich bewegte, die riesige schreckliche Gestalt!

Meggie starrte Fenoglios nächsten Satz an: Und Capricorn fiel auf sein Gesicht, und sein schwarzes Herz stand still ...

Sie konnte es nicht sagen, sie konnte nicht.

Es war alles umsonst gewesen.

Dann stand plötzlich jemand hinter ihr, sie hatte gar nicht bemerkt, dass er auf das Podest gestiegen war. Der Junge war bei ihm, er hatte eine Flinte dabei und zielte damit drohend auf die Bänke - doch niemand dort rührte sich. Niemand rührte auch nur einen Finger, um Capricorn zu retten. Und Mo nahm Meggie das Buch aus der Hand, flog mit den Augen die Zeilen entlang, die Fenoglio hinzugefügt hatte, und las mit fester Stimme zu Ende, was der alte Mann geschrieben hatte: »Und Capricorn fiel auf sein Gesicht, und sein schwarzes Herz stand still, und alle, die mit ihm ge-brandschatzt und gemordet hatten, verschwanden - wie Asche, die der Wind verweht.«



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