Dieser Wald, jetzt so friedvoll, musste damals von den Todesschreien widergehallt haben, meinte ich. Und so eindringlich war diese Vorstellung, dass ich die Schreie auch jetzt zu hören glaubte.
Robert L. Stevenson, Die Schatzinsel
Meggie wachte davon auf, dass Mo stehen blieb. Der Weg hatte sie fast bis auf den Kamm des Hügels geführt. Es war immer noch dunkel, aber die Nacht war blass geworden und in der Ferne hob sie schon den Rock für einen neuen Morgen.
»Wir müssen rasten, Staubfinger«, hörte Meggie Mo sagen. »Der Junge taumelt bloß noch, Elinors Füße brauchen bestimmt auch etwas Ruhe, und dieser Platz ist nicht der schlechteste, wenn du mich fragst.«
»Was für Füße?«, fragte Elinor und ließ sich stöhnend auf den Boden sinken. »Meinst du die schmerzenden Klumpen am Ende meiner Beine?«
»Genau die«, sagte Mo, während er sie wieder auf die Füße zog. »Aber ein paar Schritte müssen sie noch hinter sich bringen. Wir rasten da drüben.«
Gut fünfzig Meter zu ihrer Linken, ganz oben auf dem Hügel, duckte sich ein Haus zwischen den Olivenbäumen, wenn man es ein Haus nennen wollte. Meggie rutschte von Mos Rücken, bevor sie hinaufstiegen. Die Mauern sahen aus, als hätte jemand eilig ein paar Steine aufgeschichtet, das Dach war eingestürzt und dort, wo früher eine Tür gehangen hatte, gähnte ein schwarzes Loch.
Mo musste sich tief bücken, als er sich hindurchschob. Zerbrochene Dachschindeln bedeckten den Boden, in einer Ecke lagen ein leerer Sack, Tonscherben, vielleicht von einem Teller oder einer Schüssel, und ein paar Knochen, säuberlich abgenagt ...
Mo seufzte. »Kein sehr gemütlicher Ort, Meggie«, sagte er. »Aber stell dir einfach vor, du wärst im Versteck der Verlorenen Jungs oder ...«
». im Fass von Huckleberry Finn.« Meggie sah sich um. »Ich glaube, ich schlaf trotzdem lieber draußen.«
Elinor kam herein. Ihr schien die Unterkunft auch nicht sonderlich zu gefallen.
Mo gab Meggie einen Kuss und ging wieder zur Tür. »Glaub mir, hier drinnen ist es sicherer!«, sagte er.
Meggie sah ihm beunruhigt nach. »Wo gehst du hin? Du musst doch auch schlafen.«
»Ach was, ich bin nicht müde.« Sein Gesicht strafte ihn Lügen. »Schlaf jetzt, ja?« Dann verschwand er nach draußen.
Elinor schob mit dem Fuß die zerbrochenen Schindeln zur Seite. »Komm!«, sagte sie, zog ihre Jacke aus und breitete sie auf dem Boden aus. »Wir versuchen, es uns zusammen gemütlich zu machen. Dein Vater hat Recht, wir stellen uns einfach vor, wir wären ganz woanders. Warum machen Abenteuer beim Lesen nur so viel mehr Spaß?«, murmelte sie, während sie sich auf dem Boden ausstreckte.
Meggie legte sich zögernd neben sie. »Immerhin regnet es nicht«, stellte Elinor mit einem Blick auf das eingestürzte Dach fest. »Und wir haben die Sterne über uns, auch wenn sie schon sehr blass sind. Vielleicht sollte ich mir zu Hause auch ein paar Löcher ins Dach klopfen lassen.« Mit einem ungeduldigen Nicken forderte sie Meggie auf, den Kopf auf ihren Arm zu legen. »Damit dir die Spinnen nicht beim Schlafen in die Ohren kriechen«, sagte sie und schloss die Augen. »Herrgott«, hörte Meggie sie noch murmeln. »Ich glaube, ich muss mir ein Paar neue Füße kaufen. Diese sind nicht zu retten.« Dann war sie eingeschlafen.
Meggie aber lag mit weit offenen Augen da und lauschte nach draußen. Sie hörte, wie Mo sich leise mit Staubfinger unterhielt, worüber, konnte sie nicht verstehen. Einmal glaubte sie Bastas Namen zu hören. Der Junge war auch draußen geblieben. Farid. Aber von ihm war kein Ton zu hören.
Elinor begann schon nach ein paar Minuten zu schnarchen. Doch Meggie konnte nicht schlafen, sosehr sie es auch versuchte, und so stand sie schließlich leise auf und schlich wieder nach draußen. Mo war wach. Er saß da, den Rücken gegen einen Baum gelehnt, und sah zu, wie über den umliegenden Hügeln der Morgen die Nacht vertrieb. Ein paar Schritte entfernt saß Staubfinger. Er hob nur kurz den Kopf, als Meggie aus der Hütte kam. Ob er an die Feen dachte und an die Kobolde? Farid lag neben ihm, zusammengerollt wie ein Hund, und Gwin hockte zu seinen Füßen und fraß etwas, Meggie wandte schnell den Kopf ab.
Die Dämmerung zog über die Hügel, sie eroberte eine Kuppe nach der anderen. Meggie entdeckte Häuser in der Ferne, verstreut wie Spielzeug auf den grünen Hängen. Irgendwo dahinter musste das Meer liegen. Sie legte den Kopf auf Mos Schoß und sah hinauf in sein Gesicht.
»Hier finden sie uns nicht mehr, oder?«, fragte sie.
»Nein, bestimmt nicht!«, sagte er, doch sein Gesicht war nicht halb so unbekümmert wie seine Stimme. »Warum schläfst du nicht bei Elinor?«
»Sie schnarcht«, murmelte Meggie.
Mo lächelte. Dann blickte er mit gerunzelter Stirn wieder den Hang hinab, dorthin, wo, verborgen von Zistrosen, Ginster und hohem Gras, der Weg lag, der sie hergeführt hatte.
Auch Staubfinger ließ den Weg nicht aus den Augen. Der Anblick der beiden wachenden Männer beruhigte Meggie, und bald schlief sie ebenso tief wie Farid - als wäre die Erde vor dem verfallenen Haus nicht mit Dornen, sondern mit Daunenfedern bedeckt. Und sie hielt es zunächst nur für einen bösen Traum, als Mo sie wachrüttelte und ihr die Hand auf den Mund presste.
Warnend legte er einen Finger an die Lippen. Meggie hörte Gras rascheln, das Jaulen eines Hundes. Mo zog sie auf die Füße und schob sie und Farid in das schützende Dunkel der Hütte. Elinor schnarchte immer noch. Sie sah aus wie ein junges Mädchen in dem Licht, das der aufziehende Morgen ihr aufs Gesicht goss, aber sobald Mo sie geweckt hatte, war alles wieder da, die Müdigkeit, die Sorgen und die Furcht.
Mo und Staubfinger stellten sich neben die Türöffnung, der eine links, der andere rechts, den Rücken gegen die Mauer gepresst. Männerstimmen drangen durch die morgendliche Stille. Meggie glaubte die Hunde schnüffeln zu hören und sie wollte sich in Luft auflösen, in nichts als geruchlose, unsichtbare Luft. Farid stand neben ihr, die Augen weit aufgerissen. Meggie bemerkte zum ersten Mal, dass sie fast schwarz waren. Noch nie hatte sie so dunkle Augen gesehen, die Wimpern lang wie die eines Mädchens.
Elinor lehnte gegenüber an der Wand, sie zerbiss sich die Lippen vor Angst. Staubfinger gab Mo ein Zeichen, und bevor Meggie begriff, was die beiden vorhatten, schoben sie sich nach draußen. Die Olivenbäume, hinter denen sie sich versteckten, waren kurzstämmig, mit verfilzten Zweigen, die bis auf die Erde hingen, als würde ihnen die Last der Blätter zu viel. Ein Kind hätte sich leicht dahinter verbergen können, aber boten sie auch Schutz genug für zwei erwachsene Männer?
Meggie lugte aus der Türöffnung. Sie erstickte fast an ihrem eigenen Herzschlag. Draußen stieg die Sonne immer höher. In jedes Tal, unter jeden Baum drang das Tageslicht, und plötzlich wünschte Meggie sich die Nacht zurück. Mo war in die Knie gegangen, damit man seinen Kopf nicht über dem Gewirr der Zweige sah. Staubfinger presste sich dicht an den krummen Stamm und da, schrecklich nah, höchstens zwanzig Schritte entfernt von den beiden, stand Basta. Durch Disteln und kniehohes Gras schob er sich den Hang hinauf.
»Die sind längst unten im Tal!«, hörte Meggie eine mürrische Stimme rufen, und im nächsten Moment tauchte Flachnase neben Basta auf. Sie hatten zwei übel aussehende Hunde mitgebracht. Meggie sah, wie sie die breiten Schädel schnuppernd durch das Gras stießen.
»Mit den beiden Kindern und der Dicken?« Basta schüttelte den Kopf und sah sich um. Farid lugte an Meggie vorbei - und fuhr zurück, als hätte ihn etwas gebissen, als er die beiden Männer sah.
»Basta?« Elinors Lippen formten lautlos seinen Namen. Meggie nickte, und Elinor wurde noch blasser, als sie ohnehin schon war.
»Verflucht, Basta, wie lange willst du noch hier herumstapfen?« Flachnases Stimme schallte weit in der Stille, die über den Hügeln lag. »Die Schlangen werden bald munter und ich habe Hunger. Lass uns einfach erzählen, dass sie mit dem Auto ins Tal gestürzt sind. Wir geben dem Ding noch einen Schubs, und schon wird keiner die kleine Lüge merken! Wahrscheinlich erledigen die Schlangen sie sowieso. Und wenn nicht, dann verirren sie sich, verhungern, fangen sich einen Sonnenstich ein, was weiß ich. Auf jeden Fall werden wir sie nie wiedersehen.«
»Er hat ihnen Käse gegeben!« Basta zerrte die Hunde wütend an seine Seite. »Der verfluchte Feuerfresser hat sie mit Käse gefüttert, um ihre Nasen zu ruinieren. Aber mir wollte ja keiner glauben. Kein Wunder, dass sie jedes Mal winseln vor Freude, wenn sie sein hässliches Gesicht sehen.«
»Du schlägst sie zu viel!«, brummte Flachnase. »Deshalb geben sie sich keine Mühe. Hunde mögen es nicht, wenn man sie schlägt.«
»Unsinn. Man muss sie schlagen, sonst beißen sie dich! Deshalb mögen sie den Feuerfresser, weil er genauso ist wie sie, winselnd, hinterhältig und bissig.« Einer der Hunde legte sich ins Gras und leckte sich die Pfoten. Wütend gab Basta ihm einen Tritt in die Seite und riss ihn hoch. »Du kannst ja ins Dorf zurückgehen!«, fuhr er Flachnase an. »Aber ich werde mir den Feuerfresser greifen und ihm jeden Finger einzeln abschneiden. Mal sehen, ob er dann immer noch so geschickt mit seinen Bällen spielt. Ich hab immer gesagt, dass man ihm nicht trauen kann, aber der Boss fand seine Feuerspielchen ja sooo unterhaltsam.«
»Ja, ja, schon gut. Jeder weiß, dass du ihn noch nie ausstehen konntest.« Flachnases Stimme klang gelangweilt. »Aber vielleicht hat er mit dem Verschwinden der anderen ja auch gar nichts zu tun. Du weißt doch, er ist immer schon gekommen und gegangen, wie es ihm gerade einfiel, vielleicht taucht er morgen wieder auf und weiß von nichts.«
»Ja, das wäre ihm zuzutrauen«, knurrte Basta. Er ging weiter. Jeder Schritt brachte ihn den Bäumen näher, hinter denen Mo und Staubfinger sich versteckten. »Und den Autoschlüssel von der Dicken hat Zauberzunge unter meinem Kissen hervorgelesen, was? Nein. Diesmal wird ihm die schönste Ausrede nichts nutzen. Weil er nämlich noch etwas mitgenommen hat, etwas, das mir gehört.«
Staubfinger legte unwillkürlich die Hand an seinen Gürtel, als fürchtete er, Bastas Messer könnte seinen Herrn herbeirufen. Einer der Hunde hob schnuppernd den Kopf und zerrte Basta weiter auf die Bäume zu.
»Er wittert was!« Basta senkte die Stimme. Sie klang heiser vor Erregung. »Das dumme Vieh hat tatsächlich was gerochen!«
Vielleicht zehn, vielleicht weniger Schritte noch und er würde zwischen den Bäumen stehen. Was sollten sie tun? Was sollten sie nur tun?
Flachnase stapfte Basta mit misstrauischer Miene hinterher. »Wahrscheinlich haben sie ein Wildschwein gewittert«, hörte Meggie ihn sagen. »Vor den Biestern muss man sich hüten, die rennen einen glatt über den Haufen. O verflucht, ich glaub, da ist eine Schlange. Eine von diesen schwarzen. Du hast doch das Gegengift im Auto, oder?«
Stocksteif stand er da, rührte sich nicht mehr von der Stelle, starrte nur vor seine Füße. Basta beachtete ihn nicht. Er folgte dem schnuppernden Hund. Ein paar Schritte noch, und Mo hätte nur die Hand ausstrecken müssen, um ihn zu berühren. Basta zog die Flinte von der Schulter, blieb stehen und lauschte. Die Hunde zerrten nach links und sprangen jaulend an einem der Baumstämme hoch.
Gwin hing zwischen den Zweigen.
»Was hab ich gesagt?«, rief Flachnase. »Sie haben einen Marder gerochen! Die Viecher stinken so sehr, dass selbst ich sie aufspüren könnte.«
»Das ist kein gewöhnlicher Marder!«, zischte Basta. »Erkennst du ihn nicht?« Er starrte die verfallene Hütte an. Er sah nichts anderes mehr.
Das nutzte Mo. Er sprang hinter dem Baum hervor, packte Basta und versuchte, ihm die Flinte aus den Händen zu winden.
»Fasst! Fasst ihn, ihr verfluchten Köter!«, brüllte Basta, und offenbar wollten die Hunde ihm diesmal tatsächlich gehorchen. Sie sprangen auf Mo zu, die gelben Zähne gebleckt.
Bevor Meggie auf ihn zulaufen konnte, um ihm zu helfen, hielt Elinor sie fest, wie damals, in ihrem Haus, sosehr Meggie sich auch sträubte.
Aber diesmal kam Mo trotzdem jemand zu Hilfe. Bevor die Hunde zubeißen konnten, war Staubfinger da. Meggie dachte, sie würden ihn zerreißen, als er sie an ihren Halsbändern zurückriss, doch stattdessen leckten sie ihm die Hände, sprangen ihn an wie einen alten Freund und warfen ihn fast um, während Mo Basta die Hand auf den Mund presste, bevor er noch einmal nach ihnen rufen konnte.
Doch da war ja noch Flachnase. Zum Glück war er nicht allzu schnell von Begriff. Das rettete sie - dieser kurze Moment, in dem er einfach nur dastand und Basta anstarrte, der sich in Mos Armen wand.
Staubfinger hatte die Hunde zum nächsten Baum gezerrt, er schlang gerade die Leinen um das borkige Holz, als Flachnase aus seiner Erstarrung erwachte.
»Lass ihn los!«, brüllte er und richtete die Flinte auf Mo.
Staubfinger ließ mit einem unterdrückten Fluch die Hunde los, aber schneller als er war der Stein, den Farid warf. Mitten auf die Stirn traf er Flachnase, nur ein unscheinbares kleines Ding, doch der Riesenkerl fiel ins Gras wie ein gefällter Baum, Staubfinger genau vor die Füße.
»Halt mir die Hunde vom Leib!«, rief Mo, während Basta immer noch versuchte, seine Flinte zu gebrauchen. Einer der Hunde hatte sich in Mos Ärmel verbissen, hoffentlich war es nur der Ärmel.
Ehe Elinor sie wieder festhalten konnte, rannte Meggie auf das Untier zu und griff nach dem schartigen Halsband. Der Hund ließ nicht los, sosehr sie auch zerrte, sie sah Blut an Mos Ärmel und bekam Bastas Flintenlauf fast an den Kopf.
Staubfinger versuchte, die Hunde zurückzurufen, und zunächst gehorchten sie ihm auch, zumindest ließen sie Mo los, doch gleichzeitig gelang es Basta, sich zu befreien. »Fasst!«, schrie er, und die Hunde standen knurrend da, unschlüssig, ob sie Basta oder Staubfinger gehorchen sollten.
»Verdammte Köter!«, schrie Basta und richtete die Flinte auf Mos Brust, aber im selben Moment drückte Elinor ihm die Mündung von Flachnases Gewehr an den Kopf. Ihre Hände zitterten, und ihr Gesicht war übersät mit roten Flecken, wie immer, wenn sie sich aufregte, doch sie sah mehr als entschlossen aus, die Waffe auch zu benutzen.
»Flinte runter«, sagte sie mit bebender Stimme, »und wehe, du sagst noch ein falsches Wort zu den Hunden! Ich hatte vielleicht noch nie ein Gewehr in der Hand, aber den Abzug drücken, das schaff ich bestimmt.«
»Macht Platz!«, befahl Staubfinger den Hunden. Sie warfen Basta einen unsicheren Blick zu, aber als der schwieg, legten sie sich ins Gras und ließen sich von Staubfinger an den nächsten Baum binden.
Aus Mos Ärmel sickerte das Blut, Meggie spürte, wie ihr schwindelig wurde bei dem Anblick.
Staubfinger verband die Wunde mit einem roten Seidentuch, das das Blut schluckte und es verschwinden ließ. »Ist nicht halb so schlimm, wie es aussieht«, sagte er zu Meggie, als sie mit weichen Knien näher trat.
»Hast du in deinem Rucksack auch etwas, mit dem wir den verschnüren können?«, fragte Mo und wies mit dem Kopf auf den immer noch ohnmächtigen Flachnase.
»Der Messermann hier braucht auch noch eine Verpackung!«, sagte Elinor. Basta starrte sie mit hasserfülltem Gesicht an. »Starr mich nicht so an!«, sagte sie und stieß ihm den Flintenlauf vor die Brust. »So ein Gewehr kann bestimmt genauso viel Schaden anrichten wie ein Messer, und glaub mir, es bringt mich auf ein paar sehr böse Ideen.«
Basta verzog verächtlich den Mund, doch er ließ Elinors Zeigefinger, der immer noch am Abzug lag, nicht aus den Augen.
In Staubfingers Rucksack fand sich ein Strick, nicht besonders dick, aber haltbar. »Für beide wird er nicht reichen«, stellte Staubfinger fest.
»Wozu wollt ihr sie fesseln?«, fragte Farid. »Warum tötet ihr sie nicht? Das hatten sie mit uns doch auch vor! «
Meggie sah ihn entgeistert an, doch Basta lachte auf. »Na so was!«, spottete er. »Den Jungen hätten wir brauchen können! Aber wer sagt, dass wir euch töten wollten? Capricorn will euch lebend. Tote können nicht lesen.«
»Ach ja? Wolltest du mir nicht ein paar Finger abschneiden?«, fragte Staubfinger, während er Flachnase das Seil um die Beine schlang.
Basta zuckte die Achseln. »Seit wann stirbt man von so was?«
Dafür stieß Elinor ihm den Flintenlauf so heftig in die Rippen, dass er zurückstolperte. »Habt ihr das gehört? Ich finde, der Junge hat Recht. Vielleicht sollten wir die Kerle wirklich erschießen.«
Aber sie taten es nicht, natürlich nicht.
Sie fanden noch ein Seil in dem Rucksack, den Flachnase dabeigehabt hatte, und Staubfinger machte sich mit sichtlichem Vergnügen daran, auch Basta zu verschnüren. Farid half ihm dabei, er verstand offenbar einiges vom Fesseln.
Sie brachten ihre beiden Gefangenen in das verfallene Haus. »Nett von uns, nicht wahr? Da werden die Schlangen euch fürs Erste in Ruhe lassen«, sagte Staubfinger, während sie Basta durch die enge Tür trugen. »Zur Mittagszeit wird es natürlich auch hier ziemlich heiß, doch vielleicht hat euch bis dahin ja jemand gefunden. Die Hunde werden wir freilassen. Wenn sie klug sind, laufen sie nicht ins Dorf zurück, aber Hunde sind selten klug - und so wird euch die ganze Bande wohl spätestens heute Nachmittag suchen.«
Flachnase wachte erst auf, als er neben Basta unter dem löchrigen Dach lag. Er rollte wütend mit den Augen und verfärbte sich purpurrot, aber er konnte ebenso wenig einen Ton herausbringen wie Basta, denn Farid hatte die beiden geknebelt, auch das sehr fachmännisch.
»Einen Moment noch«, sagte Staubfinger, bevor sie die zwei ihrem Schicksal überließen. »Eine Sache gibt es da noch zu erledigen, etwas, das ich immer schon tun wollte.« Und zu Meggies
Schreck zog er Bastas Messer aus dem Gürtel und trat damit auf die Gefangenen zu.
»Was soll das?«, fragte Mo und stellte sich ihm in den Weg. Offenbar hatte er dasselbe gedacht wie Meggie, doch Staubfinger lachte nur. »Keine Sorge, ich will ihm nicht dasselbe Muster ins Gesicht schnitzen, mit dem er meins verschönert hat«, sagte er. »Ich will ihm bloß etwas Angst machen.«
Und schon bückte er sich und durchtrennte mit einem Schnitt das Lederband, das Basta um den Hals trug. Ein kleiner Beutel hing daran, zugezurrt mit einem roten Band. Staubfinger beugte sich über Basta und ließ den Beutel über seinem Gesicht hin-und herschwingen. »Ich nehme dein Glück mit, Basta!«, sagte er leise, während er sich aufrichtete. »Nun schützt dich nichts mehr vor dem bösen Blick, vor Geistern und Dämonen, vor Flüchen, schwarzen Katzen und wovor du sonst noch Angst hast.«
Basta versuchte mit den gefesselten Beinen nach ihm zu treten, aber Staubfinger wich ihm ohne Mühe aus. »Auf Nimmerwiedersehen, Basta!«, sagte er. »Und sollten sich unsere Wege doch noch einmal kreuzen, dann hab ich ja jetzt das hier.« Er knotete das Lederband in seinem Nacken zusammen. »Bestimmt ist eine Haarsträhne von dir drin, oder? Nein? Vielleicht sollte ich mir lieber noch eine mitnehmen. Hat es nicht eine ganz und gar grässliche Wirkung, wenn man das Haar eines anderen ins Feuer hält?«
»Schluss jetzt!«, sagte Mo und zog ihn mit sich. »Lass uns machen, dass wir fortkommen. Wer weiß, wann Capricorn die zwei vermisst. Hab ich dir eigentlich schon erzählt, dass er nicht alle Bücher verbrannt hat? Ein Exemplar von Tintenherz gibt es noch.«
Staubfinger blieb so abrupt stehen, als hätte ihn eine Schlange gebissen.
»Ich dachte, ich muss es dir sagen.« Mo sah ihn nachdenklich an. »Auch wenn es dich vielleicht auf dumme Ideen bringt.«
Staubfinger nickte nur. Dann ging er ohne ein Wort weiter.
»Warum nehmen wir nicht ihren Wagen?«, schlug Elinor vor, als sie zu dem Pfad zurückkehrten, auf dem sie gekommen waren. »Sie haben ihn bestimmt an der Straße stehen lassen.«
»Zu gefährlich«, antwortete Staubfinger. »Wer weiß, wer an der Straße auf uns wartet. Zurück würden wir außerdem länger brauchen als zum nächsten Ort. Und so ein Auto ist leicht zu finden. Wollen Sie Capricorn auf unsere Spur locken?«
Elinor seufzte. »War ja nur so eine Idee«, murmelte sie und massierte ihre schmerzenden Knöchel.
Sie blieben auf dem Weg, denn im hohen Gras regten sich wirklich bereits die Schlangen. Einmal kroch eine schwarz und schmal vor ihnen über die gelbe Erde, und Staubfinger schob ihr einen Stock unter den schuppigen Leib und warf sie zurück in das Dor-nengestrüpp, aus dem sie gekrochen war. Meggie hatte sich die Schlangen größer vorgestellt, doch Elinor versicherte ihr, dass die kleinsten auch die gefährlichsten waren. Elinor humpelte, aber sie tat ihr Bestes, die anderen nicht aufzuhalten. Auch Mo ging langsamer als sonst. Er versuchte es zu verbergen, aber der Hundebiss machte ihm zu schaffen.
Meggie ging dicht neben ihm, den Blick immer wieder besorgt auf das rote Tuch geheftet, das Staubfinger um die Wunde geschlungen hatte. Irgendwann stießen sie auf eine befestigte Straße. Ein Laster kam ihnen darauf entgegen, beladen mit rostigen Gasflaschen. Sie waren zu müde, sich zu verstecken, außerdem kam er ja nicht aus Capricorns Richtung; Meggie sah, wie verwundert der Mann hinter dem Steuer sie musterte, als er an ihnen vorbeifuhr. Sie mussten einen abenteuerlichen Anblick bieten in ihren verschmutzten Sachen, schweißnass und zerrissen von all den Dornbüschen, durch die sie sich gekämpft hatten.
Kurz darauf kamen sie an den ersten Häusern vorbei, immer mehr klebten an den Hängen, bunt verputzt, Blumen vor der Tür. Bald stießen sie auf die Ausläufer eines größeren Ortes. Meggie sah mehrstöckige Häuser, Palmen mit staubigen Blättern und plötzlich, noch weit entfernt und silbern von der Sonne, das Meer.
»Herrgott, ich hoffe, sie lassen uns in irgendeine Bank hinein«, sagte Elinor. »Wir sehen aus, als wären wir unter die Räuber gefallen.«
»Na, das sind wir ja auch«, sagte Mo. »Oder?«