Ein Haus voller Bücher



»Mein Garten bleibt mein Garten«, sagte der Riese,

»alle verstehen das, und niemand soll darin spielen als ich.«

Oscar Wilde, Der selbstsüchtige Riese



Meggie wachte davon auf, dass es still war.

Das gleichmäßige Brummen des Motors, das sie in den Schlaf gelullt hatte, war verstummt, und der Fahrersitz neben ihr war leer. Meggie brauchte einige Zeit, bis sie sich erinnerte, warum sie nicht in ihrem Bett lag. An der Windschutzscheibe klebten winzige tote Fliegen, und der Bus parkte vor einem Eisentor. Es sah Furcht einflößend aus mit all den matt glänzenden Spitzen, ein Tor aus Spießen, das nur darauf wartete, dass jemand versuchte, sich hinüberzuschwingen, und zappelnd daran hängen blieb. Sein Anblick erinnerte Meggie an eine ihrer Lieblingsgeschichten, die vom selbstsüchtigen Riesen, der keine Kinder in seinem Garten haben wollte. Genau so hatte sie sich sein Tor immer vorgestellt.

Mo stand auf der Straße, zusammen mit Staubfinger. Meggie stieg aus und lief zu ihnen. Die Straße grenzte zur Rechten an einen dicht bewachsenen Abhang, der steil abfiel zum Ufer eines großen Sees. Die Hügel auf der anderen Seite ragten aus dem Wasser wie Berge, die darin ertrunken waren. Das Wasser war fast schwarz, am Himmel machte sich schon der Abend breit und spiegelte sich dunkel in den Wellen. In den Häusern am Ufer flammten die ersten Lichter auf, wie Glühwürmchen oder herabgefallene Sterne.

»Schön, nicht wahr?« Mo legte Meggie den Arm um die Schultern. »Du magst doch Räubergeschichten. Siehst du die Burgruine da? Auf der hat mal eine berüchtigte Räuberbande gehaust. Ich muss Elinor danach fragen. Sie weiß alles über diesen See.«

Meggie nickte nur und lehnte den Kopf gegen seine Schulter. Ihr war schwindlig vor Müdigkeit, aber Mos Gesicht war zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch nicht mehr dunkel vor Sorge. »Wo wohnt sie denn nun?«, fragte sie und verkniff sich ein Gähnen. »Doch wohl nicht hinter dem Stacheltor da, oder?«

»O doch. Das ist der Eingang zu ihrem Grundstück. Nicht sehr einladend, stimmt's?« Mo lachte und zog Meggie über die Straße. »Elinor ist sehr stolz auf dieses Tor. Sie hat es eigens anfertigen lassen, nach einem Bild in einem Buch.«

»Ein Bild vom Garten des selbstsüchtigen Riesen?«, murmelte Meggie, während sie durch die kunstvoll verschlungenen Eisenstäbe lugte.

»Der selbstsüchtige Riese?« Mo lachte. »Nein, ich glaube, es war eine andere Geschichte. Obwohl die sehr gut zu Elinor passen würde.«

An das Tor grenzten zu beiden Seiten hohe Hecken, die jede Sicht auf das, was hinter ihnen lag, mit dornigen Zweigen verwehrten. Aber auch durch die Eisenstäbe konnte Meggie außer ausladenden Rhododendronbüschen und einem breiten Kiesweg, der bald zwischen ihnen verschwand, nichts Verheißungsvolles entdecken.

»Das sieht nach reicher Verwandtschaft aus, nicht wahr?«, raunte Staubfinger ihr ins Ohr.

»Ja, Elinor ist ziemlich reich«, sagte Mo und zog Meggie von dem Tor zurück. »Aber vermutlich wird sie irgendwann arm wie eine Kirchenmaus enden, weil sie ihr ganzes Geld für Bücher ausgibt. Ich fürchte, sie würde ohne Zögern ihre Seele verkaufen, wenn der Teufel ihr dafür das richtige Buch böte.« Mit einem Ruck stieß er das schwere Tor auf.

»Was tust du?«, fragte Meggie alarmiert. »Da können wir doch nicht einfach rein.« Das Schild neben dem Tor war immer noch deutlich zu lesen, auch wenn ein paar Buchstaben schon hinter den Zweigen der Hecke verschwanden. PRIVATBESITZ. ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE VERBOTEN. Für Meggie klang das wirklich nicht sehr einladend.

Doch Mo lachte nur. »Keine Sorge«, sagte er und stieß das Tor noch weiter auf. »Das Einzige, was bei Elinor mit einer Alarmanlage gesichert ist, ist ihre Bibliothek. Wer durch ihr Tor spaziert, ist ihr egal. Sie ist nicht gerade das, was man eine ängstliche Frau nennt. Und sehr viel Besuch bekommt sie ohnehin nicht.«

»Was ist mit Hunden?« Staubfinger lugte mit besorgtem Gesicht in den fremden Garten. »Dieses Tor sieht nach mindestens drei kälbergroßen bissigen Hunden aus.«

Aber Mo schüttelte nur den Kopf. »Elinor verabscheut Hunde«, sagte er, während er zurück zum Bus ging. »Und nun steigt ein.«

Das Grundstück von Meggies Tante glich eher einem Wald als einem Garten. Schon bald hinter dem Tor beschrieb der Weg eine Biegung, als wollte er Schwung holen, bevor er weiter den Hang hinaufführte, dann verlor er sich zwischen dunklen Tannen und Kastanienbäumen. Sie säumten ihn so dicht, dass ihre Zweige einen Tunnel bildeten, und Meggie glaubte schon, dass er nie ein Ende nehmen würde, als die Bäume plötzlich zurückwichen und der Weg in einen kiesbestreuten Platz, umgeben von sorgsam gepflegten Rosenbeeten, mündete.

Ein grauer Kombi stand auf dem Kies, vor einem Haus, das größer war als die Schule, die Meggie das letzte Jahr besucht hatte. Sie versuchte die Fenster zu zählen, doch sie gab es schnell auf. Es war ein sehr schönes Haus, aber es wirkte ebenso wenig einladend wie das Eisentor an der Straße. Vielleicht sah der ockergelbe Putz nur in der Abenddämmerung so schmutzig aus. Und vielleicht waren die grünen Fensterläden nur deshalb geschlossen, weil die Nacht schon hinter den umliegenden Bergen saß. Vielleicht. Aber Meggie hätte einiges darauf verwettet, dass sie sich auch tagsüber nur selten öffneten. Die Haustür aus dunklem Holz sah so abweisend aus wie ein zugekniffener Mund, und Meggie fasste unwillkürlich nach Mos Hand, als sie darauf zugingen.

Staubfinger folgte ihnen nur zögernd, den zerschlissenen Rucksack, in dem Gwin wohl immer noch schlief, über der Schulter. Als Mo mit Meggie vor die Tür trat, blieb er ein paar Schritte hinter ihnen stehen und musterte unbehaglich die verschlossenen Fensterläden, als verdächtigte er die Hausherrin, sie von irgendeinem der Fenster aus zu beobachten.

Neben der Haustür war ein kleines vergittertes Fenster, das einzige, das sich nicht hinter grünen Läden verbarg. Darunter hing wieder ein Schild.

SOLLTEN SIE MEINE ZEIT MIT NICHTIGKEITEN VERSCHWENDEN WOLLEN,

DANN GEHEN SIE BESSER GLEICH WIEDER

Meggie warf Mo einen besorgten Blick zu, aber der schnitt ihr nur aufmunternd eine Grimasse und klingelte.

Meggie hörte, wie die Glocke durch das große Haus schrillte. Dann passierte für eine ganze Weile nichts. Nur eine Elster flatterte schimpfend aus einem der Rhododendronbüsche, die um das Haus herum wuchsen, und ein paar fette Spatzen pickten hektisch im Kies nach unsichtbaren Insekten. Meggie warf ihnen gerade ein paar Brotkrümel zu, die sie noch in der Jackentasche hatte - von einem Picknick an einem längst vergessenen Tag -, als die Tür abrupt aufgerissen wurde.

Die Frau, die heraustrat, war älter als Mo, ein gutes Stück älter -obwohl Meggie sich nie ganz sicher war, was das Alter Erwachsener betraf. Ihr Gesicht erinnerte Meggie an das einer Bulldogge, aber vielleicht lag das mehr am Ausdruck als an dem Gesicht selber. Sie trug einen mausgrauen Pullover über einem aschgrauen Rock, eine Perlenkette um den kurzen Hals und Filzpantoffeln an den Füßen, wie Meggie sie mal in einem Schloss hatte anziehen müssen, das Mo und sie besichtigten. Elinors Haar wurde schon grau, sie hatte es hochgesteckt, doch überall hingen Strähnen heraus, als hätte sie es hastig getan und voll Ungeduld. Elinor sah nicht so aus, als verbrächte sie allzu viel Zeit vor dem Spiegel.

»Herrgott, Mortimer! Na, wenn das keine Überraschung ist!«, sagte sie, ohne Zeit an eine Begrüßung zu verschwenden. »Wo kommst du denn her?« Ihre Stimme klang barsch, aber ihr Gesicht konnte nicht ganz verbergen, dass sie sich über Mos Anblick freute.

»Hallo, Elinor«, sagte Mo und legte Meggie die Hand auf die Schulter. »Erinnerst du dich an Meggie? Sie ist ziemlich groß geworden, wie du siehst.«

Elinor warf Meggie einen kurzen irritierten Blick zu. »Ja, das sehe ich«, sagte sie. »Aber Kinder haben es schließlich an sich, zu wachsen, nicht wahr? Und soweit ich mich erinnere, habe ich weder dich noch deine Tochter in den letzten Jahren zu Gesicht bekommen. Was verschafft mir ausgerechnet heute die unerwartete Ehre deines Besuches? Willst du dich doch endlich meiner armen Bücher erbarmen?«

»Ganz genau.« Mo nickte. »Einer meiner Aufträge hat sich verschoben, ein Bibliotheksauftrag, du weißt ja, den Bibliotheken fehlt es immer an Geld.«

Meggie musterte ihn beunruhigt. Sie hatte nicht gewusst, dass er so überzeugend lügen konnte.

»Durch die Eile«, fuhr Mo fort, »konnte ich Meggie so schnell nirgendwo anders unterbringen, deshalb habe ich sie mitgebracht. Ich weiß, du magst keine Kinder, aber Meggie schmiert keine Marmelade in Bücher und sie reißt auch keine Seiten heraus, um tote Frösche damit einzuwickeln.«

Elinor ließ ein missbilligendes Brummen hören und musterte Meggie, als würde sie ihr jede Schandtat zutrauen, gleichgültig, was ihr Vater über sie sagte. »Als du sie das letzte Mal mitgebracht hast, konnten wir sie wenigstens in einen Laufstall sperren«, stellte sie mit kalter Stimme fest. »Das dürfte inzwischen wohl nicht mehr möglich sein.« Noch einmal betrachtete sie Meggie von Kopf bis Fuß - wie ein gefährliches Tier, das sie in ihr Haus lassen sollte.

Meggie spürte, wie ihr das Blut vor Ärger ins Gesicht schoss. Sie wollte nach Hause oder zurück in den Bus, irgendwohin, nur nicht im Haus dieser abscheulichen Frau bleiben, die ihr mit ihren kalten Kieselaugen Löcher ins Gesicht starrte.

Elinors Blick ließ von ihr ab und wanderte zu Staubfinger, der immer noch verlegen im Hintergrund stand. »Und das?« Fragend sah sie Mo an. »Kenne ich den auch schon?«

»Das ist Staubfinger, ein ... Freund von mir.« Vielleicht fiel nur Meggie Mos Zögern auf. »Er will weiter nach Süden, aber vielleicht könntest du ihn eine Nacht in einem deiner zahllosen Zimmer unterbringen?«

Elinor verschränkte die Arme. »Nur unter der Bedingung, dass sein Name keinerlei Bezug dazu hat, wie er mit Büchern umgeht«, sagte sie. »Allerdings wird er sich mit einer recht notdürftigen Unterkunft unter dem Dach zufrieden geben müssen, denn meine Bibliothek ist in den letzten Jahren sehr gewachsen und hat fast all meine Gästezimmer verschlungen.«

»Wie viele Bücher haben Sie denn?«, fragte Meggie. Sie war aufgewachsen zwischen Bücherstapeln, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich hinter all den Fenstern dieses großen, großen Hauses Bücher verbargen.

Elinor musterte sie noch einmal, diesmal mit unverhohlener Verachtung. »Wie viele?«, wiederholte sie. »Glaubst du etwa, ich zähle sie wie Knöpfe oder Erbsen? Es sind viele, sehr viele. Vermutlich stehen in jedem Zimmer dieses Hauses mehr Bücher, als du jemals lesen wirst - und einige sind so wertvoll, dass ich dich ohne zu zögern erschießen würde, solltest du es wagen, sie anzufassen. Aber da du ja, wie dein Vater versichert, ein kluges Mädchen bist, wirst du das natürlich ohnehin nicht tun, oder?«

Meggie antwortete nicht. Stattdessen malte sie sich aus, wie sie sich auf die Zehenspitzen stellte und der alten Hexe dreimal auf den Kopf spuckte.

Mo aber lachte. »Du hast dich nicht verändert, Elinor«, stellte er fest. »Eine Zunge so scharf wie ein Papiermesser. Doch ich warne dich: Wenn du Meggie erschießt, mache ich dasselbe mit deinen Lieblingsbüchern.«

Elinors Lippen kräuselten sich zu einem käferkleinen Lächeln. »Gute Antwort«, sagte sie und trat zur Seite. »Du hast dich offenbar auch nicht verändert. Kommt rein. Ich werde dir die Bücher zeigen, die deine Hilfe brauchen. Und noch ein paar andere.«

Meggie hatte immer geglaubt, dass Mo viele Bücher besaß. Nachdem sie Elinors Haus betreten hatte, glaubte sie das nie wieder.

Es gab keine herumliegenden Stapel wie bei Meggie zu Hause. Jedes Buch hatte offenbar seinen Platz. Doch wo andere Menschen Tapeten haben, Bilder oder einfach ein Stück leere Wand, hatte Elinor Bücherregale. In der Eingangshalle, durch die sie sie zuerst führte, waren es weiße Regale, die sich bis zur Decke streckten, in dem Zimmer, das sie danach durchquerten, waren sie schwarz wie die Fliesen auf dem Boden, ebenso wie in dem Flur, der darauf folgte.

»Diese da«, verkündete Elinor mit wegwerfender Geste, während sie an den dicht gedrängt stehenden Bücherrücken vorbeischritt, »haben sich im Laufe der Jahre angesammelt. Sie sind nicht weiter wertvoll, meist von minderer Qualität, nichts Außergewöhnliches. Sollten sich gewisse Finger nicht beherrschen können und irgendwann eins davon herausziehen«, sie warf Meggie einen kurzen Blick zu, »so wird das keine ernsthafteren Folgen haben. Solange diese Finger, nachdem ihre Neugier befriedigt ist, jedes Buch wieder an seinen Platz stellen und keine unappetitlichen Lesezeichen darin hinterlassen.« Bei diesen Worten drehte Elinor sich zu Mo um. »Glaub es oder glaub es nicht!«, sagte sie. »In einem der letzten Bücher, die ich gekauft habe, einer wunderschönen Erstausgabe aus dem neunzehnten Jahrhundert, habe ich doch tatsächlich eine eingetrocknete Salamischeibe als Lesezeichen gefunden.«

Meggie musste kichern, was ihr natürlich auf der Stelle einen weiteren wenig freundlichen Blick eintrug. »Das ist nicht zum Lachen, junge Dame«, sagte Elinor. »Einige der wunderbarsten Bücher, die je gedruckt wurden, gingen verloren, weil irgendein Hohlkopf von Fischhändler sie zerpflückt hat, um in die Seiten seine stinkenden Fische zu wickeln. Im Mittelalter wurden Tausende von Büchern vernichtet, weil man aus ihren Einbänden Schuhsohlen schnitt oder Dampfbäder mit ihrem Papier beheizte.« Die Erinnerung an so unglaubliche, wenn auch schon viele Jahrhunderte zurückliegende Schandtaten ließ Elinor nach Luft schnappen. »Gut, lassen wir das!«, stieß sie hervor. » Sonst rege ich mich zu sehr auf, mein Blutdruck ist eh viel zu hoch.«

Sie war vor einer Tür stehen geblieben. Auf das weiße Holz war ein Anker gemalt, um den sich ein Delphin wand. »Das ist das Zeichen eines berühmten Druckers«, erklärte Elinor und strich mit dem Finger über die spitze Delphinnase. »Genau das Richtige für den Eingang zu einer Bibliothek, oder?«

»Ich weiß«, sagte Meggie. »Aldus Manutius. Er lebte in Venedig. Er hat Bücher gedruckt, die gerade so groß waren, dass sie gut in die Satteltaschen seiner Auftraggeber passten.«

»Ach ja?« Elinor runzelte irritiert die Stirn. »Das wusste ich nicht. Auf jeden Fall bin ich die glückliche Besitzerin eines Buches, das er eigenhändig gedruckt hat. Und zwar im Jahre 1503.«

»Sie meinen, es stammt aus seiner Werkstatt«, korrigierte Meggie.

»Natürlich meine ich das.« Elinor räusperte sich und musterte Mo so vorwurfsvoll, als könnte nur er daran schuld sein, dass seine Tochter so extravagante Dinge wusste. Dann legte sie ihre Hand auf die Klinke. »Durch diese Tür«, sagte sie, während sie die Klinke mit fast weihevoller Andacht herunterdrückte, »ist noch nie ein Kind gegangen, aber da dein Vater dir vermutlich einen gewissen Respekt vor Büchern beigebracht hat, mache ich eine Ausnahme. Jedoch nur unter der Bedingung, dass du von den Regalen mindestens drei Schritte Abstand hältst. Akzeptierst du diese Bedingung?«

Einen Augenblick lang wollte Meggie ablehnen. Zu gern hätte sie Elinor dadurch verblüfft, dass sie ihre kostbaren Bücher mit Verachtung strafte. Aber sie konnte nicht. Ihre Neugier war einfach zu stark. Fast kam es ihr vor, als könnte sie die Bücher durch die halb offene Tür flüstern hören. Tausend unbekannte Geschichten versprachen sie ihr, tausend Türen zu tausend nie geschauten Welten. Die Versuchung war stärker als Meggies Stolz.

»Akzeptiert«, murmelte sie und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Drei Schritte.« Ihre Finger kribbelten vor Begierde.

»Kluges Kind«, sagte Elinor in so herablassendem Ton, dass Meggie ihre Entscheidung beinahe rückgängig gemacht hätte. Dann betraten sie Elinors Allerheiligstes.

»Du hast sie renovieren lassen!«, hörte Meggie Mo sagen. Er sagte noch etwas, aber sie hörte nicht mehr zu. Sie starrte nur die Bücher an. Die Regale, in denen sie standen, dufteten nach frisch geschlagenem Holz. Sie reichten bis hinauf zu einer himmelblauen Decke, von der winzige Lampen wie angebundene Sterne hingen. Schmale Holztreppen, versehen mit Rollen, standen vor den Regalen, bereit, jeden begierigen Leser hinauf zu den oberen Borden zu tragen. Es gab Lesepulte, auf denen aufgeschlagene Bücher lagen, angekettet mit messinggoldenen Ketten. Es gab Glasvitrinen, in denen Bücher mit altersfleckigen Seiten jedem, der näher trat, die wunderbarsten Bilder zeigten. Meggie konnte nicht anders. Ein Schritt, ein hastiger Blick zu Elinor, die ihr zum Glück den Rücken zukehrte, und sie stand vor der Vitrine. Tiefer und tiefer beugte sie sich über das Glas, bis sie sich die Nase daran stieß.

Stachlige Blätter rankten sich um blassbraune Buchstaben. Ein winziger roter Drachenkopf spuckte Blüten auf das fleckige Papier. Reiter auf weißen Pferden blickten Meggie an, als wäre kaum ein Tag vergangen, seit jemand sie mit winzigen Pinseln aus Marderhaar gemalt hatte. Neben ihnen stand ein Paar, vielleicht war es ein Brautpaar. Ein Mann mit feuerrotem Hut musterte die beiden feindselig.

»Das sollen drei Schritte sein?«

Meggie fuhr erschrocken herum, aber Elinor schien nicht allzu verärgert zu sein. »Ja, die Kunst der Buchmalerei!«, sagte sie. »Früher konnten nur die Reichen lesen. Deshalb gab man den Armen Bilder zu den Buchstaben, damit sie die Geschichten verstehen konnten. Natürlich dachte man nicht an ihr Vergnügen, die Armen waren zum Arbeiten auf der Welt, nicht, um glücklich zu sein oder sich schöne Bilder anzusehen. Das war den Reichen vorbehalten. Nein. Man wollte sie belehren. Meistens waren es Geschichten aus der Bibel, die ohnehin jeder kannte. Die Bücher lagen in den Kirchen aus, und jeden Tag wurde eine Seite umgeblättert, um ein anderes Bild zu zeigen.«

»Und dieses Buch?«, fragte Meggie.

»Oh, ich denke, das lag nie in der Kirche«, antwortete Elinor. »Das diente wohl eher dem Vergnügen eines sehr reichen Mannes, aber es ist fast sechshundert Jahre alt.« Der Stolz in ihrer Stimme war nicht zu überhören. »Wegen eines solchen Buches hat es schon Mord und Totschlag gegeben. Ich brauchte es zum Glück nur zu kaufen.«

Bei den letzten Worten drehte sie sich abrupt um und musterte Staubfinger, der ihnen lautlos wie eine Katze auf der Jagd gefolgt war. Für einen Moment dachte Meggie, Elinor würde ihn auf den Flur zurückschicken, doch Staubfinger stand mit so ehrfürchtiger Miene vor den Regalen, die Hände auf dem Rücken verschränkt, dass er ihr keinen Anlass bot, und so warf sie ihm nur einen letzten missbilligenden Blick zu und kehrte zu Mo zurück.

Er stand vor einem der Lesepulte und hielt ein Buch in der Hand, dessen Rücken nur noch an ein paar Fäden hing. Ganz vorsichtig hielt er es, wie einen Vogel, der sich den Flügel gebrochen hatte.

»Nun?«, fragte Elinor besorgt. »Kannst du es retten? Ich weiß, es ist in furchtbarem Zustand, und die anderen sind, fürchte ich, nicht viel besser dran, aber ...«

»Das lässt sich alles beheben.« Mo legte das Buch zur Seite und begutachtete ein weiteres. »Aber ich denke, ich werde mindestens zwei Wochen brauchen. Wenn ich nicht zusätzliches Material besorgen muss. Das könnte die Sache noch um einiges verlängern. Erträgst du unsere Gegenwart so lange?«

»Selbstverständlich.« Elinor nickte, doch Meggie bemerkte den Blick, den sie in Staubfingers Richtung warf. Er stand immer noch vor den Regalen gleich neben der Tür und schien vollkommen in die Betrachtung der Bücher versunken zu sein, doch Meggie hatte den Eindruck, dass ihm nichts von dem entging, was hinter seinem Rücken gesprochen wurde.

In Elinors Küche gab es keine Bücher, nicht ein einziges, aber sie bekamen dort ein ausgezeichnetes Abendessen, an einem Holztisch, der, wie Elinor versicherte, aus der Schreibstube eines Klosters in Italien stammte. Meggie bezweifelte das. Soweit sie wusste, hatten die Mönche in den Skriptorien der Klöster an Tischen mit schrägen Schreibflächen gearbeitet, doch sie beschloss, dieses Wissen besser für sich zu behalten. Stattdessen nahm sie sich noch ein Stück Brot und fragte sich gerade, ob der Käse genießbar war, der auf dem angeblichen Schreib-Tisch stand, als sie sah, wie Mo Elinor etwas zuraunte. Elinors Augen weiteten sich begierig, woraus Meggie schloss, dass es nur um ein Buch gehen konnte, und sie musste sofort an Packpapier denken, an einen blassgrünen Leineneinband und den Zorn in Mos Stimme.

Neben ihr ließ Staubfinger unauffällig ein Stück Schinken in seinem Rucksack verschwinden: Gwins Abendbrot. Meggie sah, wie sich eine runde Nase schnuppernd aus dem Rucksack schob, in der Hoffnung auf noch mehr Köstlichkeiten. Staubfinger lächelte Meggie zu, als er ihren Blick bemerkte, und steckte Gwin noch etwas Schinkenspeck zu. An Mos und Elinors Getuschel schien er nichts zu finden, doch Meggie war sich sicher, dass die beiden einen geheimen Handel vorhatten.

Nach einer kleinen Weile stand Mo auf und ging hinaus. Meggie fragte Elinor, wo die Toilette sei - und folgte ihm.

Es war ein seltsames Gefühl, Mo nachzuspionieren. Sie konnte sich nicht erinnern, es jemals zuvor getan zu haben - außer in der Nacht, in der Staubfinger gekommen war. Und damals, als sie versucht hatte herauszufinden, ob Mo der Weihnachtsmann war. Sie schämte sich, so hinter ihm herzuhuschen. Aber er war selbst schuld. Warum versteckte er dieses Buch vor ihr? Und jetzt wollte er es womöglich dieser Elinor geben - ein Buch, das sie nicht sehen durfte! Seit Mo es so hastig hinter seinem Rücken verborgen hatte, ging es Meggie nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatte sogar schon danach gesucht, in der Tasche mit Mos Sachen, bevor er sie in den Bus gebracht hatte, aber es war nicht zu entdecken gewesen.

Sie musste es einfach sehen, bevor es womöglich in einer von Elinors Vitrinen verschwand! Sie musste wissen, warum es Mo so viel wert war, dass er sie dafür hierher schleppte ...

In der Eingangshalle sah er sich noch einmal um, bevor er das Haus verließ, aber Meggie duckte sich rechtzeitig hinter eine Truhe, die nach Mottenkugeln und Lavendel roch. Sie beschloss, in ihrem Versteck zu bleiben, bis Mo zurückkam. Draußen auf dem Hof hätte er sie bestimmt entdeckt. Die Zeit verging quälend langsam, so wie sie es immer tut, wenn man mit pochendem Herzen auf etwas wartet. Die Bücher in den weißen Regalen schienen Meggie zu beobachten, doch sie schwiegen, als spürten sie, dass Meggie im Moment nur an ein einziges Buch denken konnte.

Schließlich kam Mo zurück, in der Hand ein in braunes Papier eingeschlagenes Päckchen. Vielleicht will er es hier auch nur verstecken!, dachte Meggie. Wo konnte man ein Buch besser verstecken als zwischen zehntausend anderen? Ja. Mo würde es hier lassen und sie würden wieder nach Hause fahren. Aber ich möchte es einmal sehen, dachte Meggie, nur einmal, bevor es in einem Regal steht, dem ich mich nur auf drei Schritte nähern darf.

Mo ging so dicht an ihr vorbei, dass sie ihn hätte berühren können, doch er bemerkte sie nicht. »Meggie, sieh mich nicht so an!«, sagte er manchmal. »Du liest wieder meine Gedanken.« Jetzt sah er besorgt aus - als wäre er nicht sicher, ob das, was er vorhatte, richtig war. Meggie zählte langsam bis drei, bevor sie ihm folgte, doch ein paar Mal blieb Mo so abrupt stehen, dass sie fast in ihn hineinlief. Er kehrte gar nicht erst in die Küche zurück, er ging gleich zur Bibliothek. Ohne sich noch einmal umzublicken öffnete er die Tür mit dem Zeichen des venezianischen Druckers und zog sie leise hinter sich zu.

Da stand Meggie nun, zwischen all den schweigenden Büchern, und fragte sich, ob sie ihm nachgehen sollte ... ob sie ihn bitten sollte, ihr das Buch zu zeigen. Würde er sehr böse sein? Sie wollte gerade ihren ganzen Mut zusammennehmen und ihm folgen, als sie Schritte hörte - schnelle, entschlossene Schritte, hastig vor Ungeduld. Das konnte nur Elinor sein. Was nun?

Meggie öffnete die nächste Tür und schlüpfte hinein. Ein Himmelbett, ein Schrank, Fotos in silbernen Rahmen, ein Stapel Bücher auf dem Nachttisch, auf dem Teppich ein aufgeschlagener Katalog, die Seiten bedeckt mit Abbildungen alter Bücher. Sie war in Elinors Schlafzimmer geraten. Mit klopfendem Herzen lauschte sie nach draußen, hörte Elinors energische Schritte und dann, wie die Tür zur Bibliothek sich ein zweites Mal schloss. Vorsichtig schob sie sich wieder auf den Flur hinaus. Sie stand noch unschlüssig vor der Bibliothek, als sich von hinten plötzlich eine Hand auf ihre Schulter legte. Eine zweite erstickte ihren Schreckensschrei.

»Ich bin's!«, raunte Staubfinger ihr ins Ohr. »Ganz ruhig, sonst haben wir beide Ärger, verstehst du?«

Meggie nickte, und Staubfinger nahm langsam die Hand von ihrem Mund. »Dein Vater will dieser Hexe das Buch geben, stimmt's?«, flüsterte er. »Hat er es aus dem Bus geholt? Sag schon. Er hatte es dabei, oder?«

Meggie stieß ihn von sich weg. »Ich weiß nicht!«, zischte sie. »Außerdem - was geht Sie das an?«

»Was mich das angeht?« Staubfinger lachte leise. »Nun, vielleicht erzähle ich dir irgendwann, was mich das angeht. Aber jetzt will ich nur wissen, ob du es gesehen hast.«

Meggie schüttelte den Kopf. Sie wusste selbst nicht, warum sie Staubfinger anlog. Vielleicht, weil seine Hand sich etwas zu fest auf ihren Mund gepresst hatte.

»Meggie! Hör mir zu!« Staubfinger blickte ihr eindringlich ins Gesicht. Seine Narben sahen aus wie blasse Striche, die ihm jemand auf die Wangen gezeichnet hatte, zwei Striche auf die linke, leicht geschwungen, ein dritter auf die rechte, noch länger, vom Ohr bis zum Nasenflügel. »Capricorn wird deinen Vater töten, wenn er das Buch nicht bekommt!«, raunte Staubfinger. »Er wird ihn töten, verstehst du? Habe ich dir nicht erklärt, wie er ist? Er will das Buch haben, und er bekommt immer, was er will. Es ist lächerlich zu glauben, dass es hier sicher vor ihm ist.«

»Mo denkt das nicht!«

Staubfinger richtete sich auf und starrte auf die Tür der Bibliothek. »Ja, ich weiß«, murmelte er. »Das ist ja das Problem. Und deshalb -«, er legte Meggie beide Hände auf die Schultern und schob sie auf die verschlossene Tür zu, »- deshalb gehst du jetzt ganz unschuldig dahinein und findest heraus, was die beiden mit dem Buch vorhaben. Ja?«

Meggie wollte protestieren. Doch ehe sie sich versah, hatte Staubfinger die Tür geöffnet und sie in die Bibliothek geschoben.



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