Damals



Er hielt das Buch hoch. »Ich lese es dir vor. Zur Aufheiterung.«

»Kommt auch Sport drin vor?«

»Fechten. Ringkämpfe. Folter. Gift. Wahre Liebe. Haß.

Rache. Riesen. Jäger. Böse Menschen. Gute Menschen.

Bildschöne Damen. Schlangen. Spinnen. Schmerzen.

Tod. Tapfere Männer. Feige Männer. Bärenstarke Männer. Verfolgungsjagden. Entkommen. Lügen. Wahrheiten. Leidenschaften. Wunder.«

»Klingt gut«, sagte ich.

William Goldman, Die Brautprinzessin



Du warst gerade drei Jahre alt, Meggie«, begann Mo. »Ich erinnere mich noch, wie wir deinen Geburtstag gefeiert haben. Ich hatte dir ein Bilderbuch geschenkt. Das mit der Seeschlange, die Zahnschmerzen hat und sich um den Leuchtturm wickelt ...«

Meggie nickte. Es lag immer noch in ihrer Kiste und hatte schon zweimal ein neues Kleid bekommen. »Wir?«, fragte sie.

»Ich und deine Mutter.« Mo zupfte sich etwas Stroh von der Hose. »Ich konnte schon damals an keinem Buchladen vorbeigehen. Das Haus, in dem wir wohnten, war sehr klein - die Schuhschachtel nannten wir es, das Mäusehaus, wir gaben ihm viele Namen -, doch ich hatte an diesem Tag schon wieder eine ganze Kiste voll Bücher in einem Antiquariat gekauft. Elinor« - er warf ihr einen Blick zu und lächelte - »hätte ihre Freude an einigen gehabt. Capricorns Buch war auch dabei.«

»Es gehörte ihm?« Meggie sah Mo erstaunt an, doch der schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht, aber ... eins nach dem anderen. Deine Mutter seufzte, als sie die neuen Bücher sah, und fragte, wo wir die nun wieder lassen sollten, doch dann hat sie sie natürlich mit ausgepackt. Ich las ihr damals abends immer etwas vor.«

»Du hast vorgelesen?«

»Ja. Jeden Abend. Deiner Mutter gefiel es. An diesem Abend suchte sie sich Tintenherz aus. Sie mochte schon immer abenteuerliche Geschichten, Geschichten voller Glanz und Finsternis. Sie konnte dir alle Namen von König Artus' Rittern aufzählen und sie wusste alles über Beowolf und Grendel, über alte Götter und nicht ganz so alte Helden. Piratengeschichten mochte sie auch, aber am liebsten war es ihr doch, wenn wenigstens ein Ritter, ein Drache oder wenigstens eine Fee vorkam. Sie war übrigens immer auf der Seite der Drachen.Von denen schien es in Tintenherz keinen einzigen zu geben, aber dafür Glanz und Finsternis im Überfluss und Feen und Kobolde ... Kobolde mochte deine Mutter auch sehr: Brownies, Bucca Boos, Fenoderees, die Folletti mit ihren Schmetterlingsflügeln, sie kannte sie alle. Also gaben wir dir einen Stapel Bilderbücher, machten es uns auf dem Teppich neben dir bequem und ich fing an zu lesen.«

Meggie lehnte den Kopf gegen Mos Schulter und starrte die nackte Wand an. Sie sah sich selbst auf dem schmutzigen Weiß, so wie sie sich von alten Fotos kannte: klein, mit speckigen Beinen, die Haare weißblond (sie waren dunkler geworden seither), wie sie mit kurzen Fingern in großen Bilderbüchern blätterte. Wenn Mo erzählte, geschah das immer: Meggie sah Bilder, lebendige Bilder.

»Die Geschichte gefiel uns«, fuhr ihr Vater fort. »Sie war spannend, gut geschrieben und bevölkert mit den seltsamsten Wesen.

Deine Mutter liebte es, von einem Buch ins Unbekannte gelockt zu werden, und die Welt, in die Tintenherz sie lockte, war ganz nach ihrem Geschmack. Manchmal ging es sehr finster zu, und jedes Mal, wenn es allzu spannend wurde, legte deine Mutter den Finger an die Lippen und ich las leiser, auch wenn wir sicher waren, dass du viel zu beschäftigt mit deinen eigenen Büchern warst, um einer finsteren Geschichte zu lauschen, deren Sinn du ohnehin noch nicht verstanden hättest. Draußen war es längst dunkel, ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, es war Herbst, und es zog durch die Fenster. Wir hatten ein Feuer gemacht - die Schuhschachtel hatte keine Zentralheizung, aber einen Ofen in jedem Zimmer - und ich begann mit dem siebten Kapitel. Da passierte es ...«

Mo schwieg. Er blickte vor sich hin, als hätte er sich in den eigenen Gedanken verirrt.

»Was?«, flüsterte Meggie. »Was passierte, Mo?«

Ihr Vater sah sie an. »Sie kamen heraus«, sagte er. »Plötzlich standen sie da, in der Tür zum Flur, als wären sie von draußen hereingekommen. Es knisterte, als sie sich zu uns umdrehten - so als entfaltete jemand ein Stück Papier. Ich hatte ihre Namen noch auf den Lippen: Basta, Staubfinger, Capricorn. Basta hielt Staubfinger am Kragen gepackt wie einen jungen Hund, den man schüttelt, weil er etwas Verbotenes getan hat. Capricorn trug schon damals gern Rot, aber er war neun Jahre jünger und noch nicht ganz so hager, wie er es heute ist. Er besaß ein Schwert, ich hatte noch nie eins aus der Nähe gesehen. Basta hatte auch eins am Gürtel hängen, ein Schwert und sein Messer, während Staubfinger ...« Mo schüttelte den Kopf.

»Nun, er hatte natürlich nichts als den gehörnten Marder dabei, mit dessen Kunststücken er sich seinen Lebensunterhalt verdiente. Ich glaube nicht, dass einer der drei begriff, was geschehen war. Ich begriff es ja auch erst viel später. Meine Stimme hatte sie aus ihrer Geschichte rutschen lassen wie ein Lesezeichen, das jemand zwischen den Seiten vergessen hat. Wie sollten sie das begreifen?

Basta stieß Staubfinger so grob von sich, dass er hinfiel, und wollte sein Schwert ziehen, doch seine Hände, bleich wie Papier, hatten offenbar noch keine Kraft. Das Schwert rutschte ihm aus den Fingern und fiel auf den Teppich. Die Klinge sah aus, als klebte getrocknetes Blut daran, aber vielleicht war es auch nur das Feuer, das sich darauf spiegelte. Capricorn stand da und sah sich um. Ihm schien schwindelig zu sein, er taumelte wie ein Tanzbär, der sich zu lange gedreht hat. Das hat uns vermutlich gerettet, zumindest hat Staubfinger das immer behauptet. Wären Basta und sein Herr schon ganz bei Kräften gewesen, so hätten sie uns vermutlich getötet. Aber sie waren noch nicht ganz angekommen in dieser Welt, und ich griff mir dieses abscheuliche Schwert, das zwischen meinen Büchern auf dem Teppich lag. Es war schwer, viel schwerer, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich muss furchtbar lächerlich ausgesehen haben mit dem Ding. Wahrscheinlich habe ich es wie einen Staubsauger oder einen Stock umklammert, doch als Capricorn taumelnd auf mich zukam und ich ihm die Klinge entgegenhielt, blieb er tatsächlich stehen. Ich stammelte herum, versuchte ihm klar zu machen, was passiert war, obwohl ich es selbst nicht verstand, aber Capricorn starrte mich bloß an mit seinen wasserblassen Augen, während Basta neben ihm stand, die Hand an seinem Messer, und darauf zu warten schien, dass sein Herr ihm befahl, uns allen die Kehle durchzuschneiden.«

»Und der Streichholzfresser?« Auch Elinors Stimme klang heiser.

»Der saß immer noch auf dem Teppich, wie betäubt und ohne einen Laut von sich zu geben. Um ihn machte ich mir keine Gedanken. Wenn du einen Korb öffnest und es kriechen zwei Schlangen und eine Eidechse heraus, dann kümmerst du dich zunächst nur um die Schlangen, oder?«

»Und meine Mutter?« Meggie konnte nur flüstern. Sie war es nicht gewohnt, das Wort auszusprechen.

Mo sah sie an. »Ich konnte sie nirgends entdecken! Du knietest immer noch zwischen deinen Büchern und starrtest mit großen Augen die fremden Männer an, wie sie da standen mit ihren schweren Stiefeln und ihren Waffen. Ich hatte furchtbare Angst um euch, aber zu meiner Erleichterung schenkten weder Basta noch Capricorn dir irgendwelche Beachtung. >Schluss mit dem Gerede !<, sagte Capricorn schließlich, als ich mich immer mehr in meinen eigenen Worten verhaspelte. >Es interessiert mich nicht, wie ich an diesen armseligen Ort gekommen bin, bring uns auf der Stelle zurück, du verfluchter Zauberer, oder Basta schneidet dir deine geschwätzige Zunge aus dem Mund.< Das klang nicht gerade beruhigend und ich hatte in den ersten Kapiteln genug über die zwei gelesen, um zu wissen, dass Capricorn meinte, was er sagte. Mir wurde schwindelig, so verzweifelt überlegte ich, wie ich diesen Alptraum beenden könnte. Ich hob das Buch auf, vielleicht, wenn ich die Stelle noch mal las ... ich versuchte es. Ich stolperte durch die Worte, während Capricorn mich anstarrte und Basta das Messer aus dem Gürtel zog. Nichts passierte. Die beiden standen da, in meinem Haus, und machten keine Anstalten, in ihre Geschichte zurückzuschlüpfen. Und plötzlich war ich ganz sicher, dass sie uns töten würden. Und ich ließ das Buch fallen, dieses unglückselige Buch, und hob das Schwert auf, das ich auf den Teppich geworfen hatte. Basta versuchte mir zuvorzukommen, doch ich war schneller. Ich musste das verdammte Ding mit beiden Händen halten, ich erinnere mich immer noch, wie kalt das Heft sich anfühlte. Frag mich nicht, wie es mir gelang, aber ich schaffte es, Basta und Capricorn auf den Flur hinauszutreiben. Es ging etliches zu Bruch dabei, so heftig habe ich mit dem Schwert herumgefuchtelt, du fingst an zu weinen und ich wollte mich zu dir umdrehen und dir sagen, dass das alles nur ein böser Spuk sei, aber ich hatte alle Hände voll damit zu tun, Bastas Messer und Capricorns Schwert von mir fern zu halten. Jetzt ist es passiert, musste ich immer wieder denken, jetzt steckst du mitten in einer Geschichte, so wie du es dir immer gewünscht hast, und es ist schrecklich. Die Angst schmeckt ganz anders, wenn man nicht nur über sie liest, Meggie, und es machte nicht halb so viel Spaß, den Helden zu spielen, wie ich gedacht hatte. Die beiden hätten mich bestimmt getötet, wenn sie nicht immer noch etwas schwach auf den Beinen gewesen wären. Capricorn brüllte mich an, die Augen quollen ihm fast aus dem Kopf vor Zorn. Basta fluchte und drohte und verpasste mir einen bösen Schnitt am Oberarm, doch dann stand die Haustür plötzlich auf und die beiden verschwanden in der Nacht, taumelnd wie Betrunkene. Ich schaffte es kaum, die Riegel vorzuschieben, so sehr zitterten meine Finger. Ich lehnte mich gegen die Tür, lauschte nach draußen, aber alles, was ich hörte, war mein eigenes rasendes Herz. Und dann hörte ich dich im Wohnzimmer weinen und erinnerte mich daran, dass da ja noch ein Dritter war. Ich stolperte zurück, das Schwert immer noch in der Hand, und da stand Staubfinger, mitten im Raum. Er hatte keine Waffe, nur den Marder auf seinen Schultern, und er wich zurück, das Gesicht bleich wie der Tod, als ich auf ihn zukam. Ich muss furchtbar ausgesehen haben, das Blut lief mir den Arm herunter und ich zitterte am ganzen Leib, ob mehr vor Angst oder Zorn, hätte ich nicht sagen können. >Bitte!<, flüsterte er. >Töte mich nicht! Ich habe nichts mit den beiden zu schaffen. Ich bin nur ein Gaukler, ein harmloser Feuerspucker. Ich kann es dir beweisen.< Und ich antwortete: >Ja, ja, schon gut. Ich weiß, du bist Staubfinger! < Und er duckte sich ehrfurchtsvoll vor mir, dem allwissenden Zauberer, der alles über ihn wusste und ihn aus seiner Welt gepflückt hatte wie einen Apfel aus einem Baum. Der Marder kletterte an seinem Arm hinunter, sprang auf den Teppich und lief auf dich zu. Du hörtest auf zu weinen und strecktest die Hand nach ihm aus. > Vorsicht, er beißt<, sagte Staubfinger und scheuchte ihn von dir weg. Ich achtete nicht auf ihn. Ich spürte plötzlich nur, wie still das Zimmer war. Wie still und leer. Ich sah das Buch auf dem Teppich liegen, aufgeschlagen, so wie ich es hatte fallen lassen, und das Kissen, auf dem deine Mutter gesessen hatte. Sie war nicht da. Wo war sie? Ich rief ihren Namen, ich rief ihn immer wieder. Ich lief in alle Zimmer. Aber sie war fort.«

Elinor saß kerzengerade da und starrte ihn an. »Was redest du denn da, um Gottes willen?«, stieß sie hervor. »Sie ist fortgegangen, hast du mir erzählt, auf irgend so eine dumme Abenteuerreise, und nicht zurückgekommen!«

Mo lehnte den Kopf gegen die Mauer. »Irgendetwas musste ich mir doch ausdenken, Elinor«, sagte er. »Die Wahrheit konnte ich jawohl kaum erzählen, oder?«

Meggie strich mit der Hand über seinen Arm, dort, wo sich die lange, blasse Narbe unter Mos Hemd verbarg. »Du hast mir immer gesagt, du hast dir den Arm aufgeschnitten, als du durch ein zerbrochenes Fenster geklettert bist.«

»Sicher. Die Wahrheit war einfach zu verrückt. Nicht wahr?«

Meggie nickte. Er hatte Recht, sie hätte es nur für eine weitere seiner Geschichten gehalten. »Sie ist nie zurückgekommen?«, flüsterte sie, obwohl sie die Antwort wusste.

»Nein«, antwortete Mo. »Basta, Capricorn und Staubfinger sind aus dem Buch herausgekommen und sie ist hineingegangen, zusammen mit unseren zwei Katzen, die wie immer auf ihrem Schoß saßen, als ich vorlas. Vermutlich ist für Gwin auch irgendjemand verschwunden, eine Spinne vielleicht oder eine Fliege oder irgendein Vogel, der gerade ums Haus flatterte ...« Mo schwieg.

Manchmal, wenn er eine Geschichte erfunden hatte, die so gut war, dass Meggie sie für die Wahrheit hielt, lächelte er plötzlich und sagte: »Reingefallen, Meggie.« Wie damals an ihrem siebten Geburtstag, als er ihr erzählt hatte, dass er draußen zwischen den Krokussen ein paar Feen entdeckt hätte. Aber diesmal kam das Lächeln nicht.

»Als ich deine Mutter vergebens im ganzen Haus gesucht hatte«, fuhr er fort, »und zurück ins Wohnzimmer kam, war Staubfinger verschwunden, samt seinem gehörnten Freund. Nur das Schwert war immer noch da und fühlte sich so wirklich an, dass ich beschloss, nicht an meinem Verstand zu zweifeln. Ich brachte dich zu Bett, ich glaube, ich erzählte dir, dass deine Mutter schon schlafen gegangen sei, und dann begann ich noch einmal damit, Tintenherz zu lesen. Ich las das ganze verfluchte Buch, bis ich heiser war und draußen die Sonne aufging, aber alles, was herauskam, waren eine Fledermaus und ein seidener Umhang, mit dem ich später deine Bücherkiste ausschlug. In den nächsten Tagen und Nächten versuchte ich es immer wieder, bis mir die Augen brannten und die Buchstaben wie betrunken über die Seiten tanzten. Ich aß nicht, ich schlief nicht, ich erfand für dich immer neue Geschichten über den Aufenthaltsort deiner Mutter und ich achtete darauf, dass du nie im selben Zimmer warst, wenn ich las, aus Angst, du könntest auch noch verschwinden. Um mich machte ich mir keine Gedanken, ich hatte seltsamerweise das Gefühl, als Vorleser sicher davor zu sein, zwischen den Seiten zu verschwinden. Ob das wirklich so ist, weiß ich bis heute nicht.« Mo scheuchte eine Mücke von seiner Hand. »Ich las laut, bis ich meine eigene Stimme nicht mehr hören konnte«, erzählte er weiter. »Aber deine Mutter kam nicht zurück, Meggie. Dafür stand am fünften Tag ein seltsamer kleiner Mann, durchsichtig, als wäre er aus Glas, in meinem Wohnzimmer, und der Postbote, der gerade ein paar Briefe in unseren Briefkasten schob, verschwand. Ich fand sein Fahrrad draußen auf dem Hof. Von da an wusste ich, dass weder Wände noch verschlossene Türen dich sicher davor bewahren würden, auch noch zu verschwinden, dich nicht und niemanden sonst. Und ich beschloss, nie wieder aus einem Buch vorzulesen. Weder aus Tintenherz noch aus einem anderen.«

»Was ist aus dem Glasmann geworden?«, fragte Meggie.

Mo seufzte. »Er ist zersplittert, nur wenige Tage später, als ein Laster an unserem Haus vorbeifuhr. Offenbar bekommt es den wenigsten, einfach die Welt zu wechseln. Wir wissen beide, wie glücklich es machen kann, in ein Buch zu schlüpfen und für eine Weile darin zu leben, doch aus einer Geschichte herauszurutschen und sich plötzlich in unserer Welt wiederzufinden scheint nicht sonderlich glücklich zu machen. Staubfinger hat es das Herz gebrochen.«

»Der hat ein Herz?«, fragte Elinor bitter.

»Es würde ihm besser gehen, wenn er keins hätte«, antwortete Mo. »Es verging mehr als eine Woche, bis er wieder vor meiner Tür stand. Es war Nacht, natürlich, seine liebste Tageszeit. Ich packte gerade. Ich hatte beschlossen, dass es sicherer war fortzugehen, denn ich wollte Basta und Capricorn nicht noch einmal mit einem Schwert aus meinem Haus treiben müssen. Staubfinger bestätigte meine Sorge. Es war weit nach Mitternacht, als er auftauchte, aber ich konnte sowieso nicht schlafen.« Mo strich Meggie übers Haar. »Du schliefst damals auch nicht gut. Du hattest schlimme Träume, sosehr ich auch versuchte, sie mit meinen Geschichten zu vertreiben. Ich packte gerade das Werkzeug in meiner Werkstatt ein, als es an der Haustür klopfte, leise, fast verstohlen. Staubfinger tauchte ebenso plötzlich aus der Dunkelheit auf, wie er es vor vier Tagen getan hat, als er nachts wieder vor unserem Haus stand. Ist das wirklich erst vier Tage her? Als er damals wieder auftauchte, sah er aus, als hätte er zu lange nichts gegessen, mager wie eine streunende Katze, die Augen ganz trüb. >Bring mich zurück!<, stammelte er. >Bring mich zurück, bitte! Diese Welt bringt mich um. Sie ist zu schnell, zu voll und zu laut. Wenn ich nicht vor Heimweh sterbe, dann werde ich verhungern. Ich weiß nicht, wovon ich leben soll. Ich weiß gar nichts. Ich bin wie ein Fisch ohne Wasser. < Er wollte mir einfach nicht glauben, dass ich es nicht konnte. Er wollte das Buch sehen, wollte es selbst versuchen, obwohl er kaum lesen konnte, aber ich konnte es ihm natürlich nicht geben. Es wäre so gewesen, als hätte ich das Letzte fortgegeben, was ich noch von deiner Mutter besaß. Zum Glück hatte ich es gut versteckt. Ich erlaubte Staubfinger auf dem Sofa zu schlafen, und als ich am nächsten Morgen herunterkam, durchwühlte er immer noch die Regale. In den nächsten zwei Jahren tauchte er immer wieder auf, folgte uns, egal, wo ich hinzog, bis ich es leid war und mich bei Nacht und Nebel mit dir davonmachte.

Danach habe ich nichts mehr von ihm gesehen. Bis vor vier Tagen.«

Meggie sah ihn an. »Er tut dir immer noch Leid«, sagte sie.

Mo schwieg. »Manchmal«, sagte er schließlich.

Elinor kommentierte das mit einem verächtlichen Schnauben. »Du bist noch verrückter, als ich dachte«, sagte sie. »Dieser Bastard ist schuld, dass wir in diesem Loch stecken, wegen ihm schneiden sie uns vielleicht die Hälse durch, und dir tut er Leid?«

Mo zuckte die Achseln und sah hinauf zur Decke, wo ein paar Motten um die kahle Glühbirne flatterten. »Bestimmt hat Capricorn ihm versprochen, dass er ihn zurückbringt«, sagte er. »Im Gegensatz zu mir hat er erkannt, dass Staubfinger für solch ein Versprechen alles tun würde. Zurückzukehren in seine Geschichte, das ist das Einzige, was er sich wünscht. Er fragt nicht mal, ob die Geschichte für ihn ein gutes Ende nimmt!«

»Nun, das ist im richtigen Leben nicht anders«, stellte Elinor mit düsterer Miene fest. »Da weiß man auch nicht, ob es gut ausgeht. In unserem Fall spricht zurzeit mehr für ein schlechtes Ende.«

Meggie saß da, die Arme um ihre Beine geschlungen, das Gesicht an ihre Knie gelehnt, und starrte Löcher in die schmutzig weißen Wände. Sie sah das K vor sich, das K, auf dem der gehörnte Marder hockte, und ihr war, als blickte ihre Mutter hinter dem großen Buchstaben hervor, ihre Mutter, wie sie sie von dem blassen Foto unter Mos Kissen kannte. Sie war also doch nicht fortgelaufen. Wie es ihr wohl ging, dort in der anderen Welt? Ob sie sich noch an ihre Tochter erinnerte? Oder waren Meggie und Mo für sie auch nur noch ein verblassendes Bild? Hatte sie auch Sehnsucht nach ihrer eigenen Welt, so wie Staubfinger?

Hatte Capricorn Sehnsucht? War es das, was er von Mo wollte?

Dass er ihn zurücklas? Was passierte, wenn Capricorn merkte, dass Mo gar nicht wusste, wie? Meggie schauderte.

»Capricorn soll da noch einen anderen Vorleser haben«, fuhr Mo fort, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Basta hat mir von ihm erzählt, wahrscheinlich, um mir klar zu machen, dass ich keinesfalls unentbehrlich bin. Er soll für Capricorn schon mehr als einen nützlichen Helfer aus einem Buch herausgelesen haben.«

»Ach ja? Und was will er dann von dir?« Elinor richtete sich auf und rieb sich ächzend das Hinterteil. »Ich verstehe gar nichts mehr. Ich hoffe nur, dass das alles hier einer dieser Träume ist, aus denen man mit Nackenschmerzen und einem schlechten Geschmack im Mund erwacht.«

Meggie bezweifelte, dass Elinor tatsächlich diese Hoffnung hegte. Das feuchte Stroh fühlte sich zu wirklich an und die kalte Mauer in ihrem Rücken auch. Sie lehnte sich wieder gegen Mos Schulter und schloss die Augen. Sie bereute so sehr, dass sie kaum eine Zeile von Tintenherz gelesen hatte. Nichts wusste sie über die Geschichte, in der ihre Mutter verschwunden war. Sie kannte nur Mos Geschichten, all die Geschichten, die er ihr in den Jahren, die sie allein waren, über das erzählt hatte, was ihre Mutter fern hielt, Geschichten von Abenteuern, die sie in fernen Ländern erlebte, von furchtbaren Feinden, die immer wieder ihre Heimkehr verhinderten, und von einer Kiste, die sie nur für Meggie füllte, indem sie an jedem verwunschenen Ort etwas Neues, ganz und gar Wundervolles hineinlegte.

»Mo?«, fragte sie. »Glaubst du, es gefällt ihr in dieser Geschichte?«

Mo brauchte lange für seine Antwort. »Die Feen gefallen ihr bestimmt«, sagte er schließlich, »obwohl es launische kleine Dinger sind, und die Kobolde wird sie, so wie ich sie kenne, mit Milch füttern. Ja, ich glaube, das alles wird ihr gefallen ...«

»Und ... was wird ihr nicht gefallen?« Meggie sah ihn besorgt an.

Mo zögerte. »Das Böse«, sagte er schließlich, »es passieren viele schlimme Dinge in diesem Buch und sie hat nie erfahren, dass alles ein halbwegs gutes Ende nimmt, schließlich habe ich ihr die Geschichte nie zu Ende vorgelesen ... Das wird ihr nicht gefallen.«

»Nein, das wird es gewiss nicht«, sagte Elinor. »Aber woher willst du wissen, dass die Geschichte sich nicht ohnehin verändert hat? Schließlich hast du Capricorn und seinen Messerfreund herausgelesen. Die zwei haben wir jetzt am Hals.«

»Ja«, sagte Mo, »aber im Buch sind sie vielleicht trotzdem noch! Glaub mir, ich habe es oft genug gelesen, seit sie herausgekommen sind. Die Geschichte handelt immer noch von ihnen - von Staubfinger, Basta und Capricorn. Heißt das nicht, es ist alles so geblieben, wie es war? Dass Capricorn noch dort ist und wir uns hier nur mit seinem Schatten herumschlagen?«

»Für einen Schatten ist er reichlich furchteinflößend«, sagte Elinor.

»Ja, das stimmt«, sagte Mo und seufzte. »Vielleicht hat sich doch alles geändert. Vielleicht gibt es hinter der gedruckten Geschichte eine andere, viel größere Geschichte, die sich ebenso wandelt, wie unsere Welt es tut? Und die Buchstaben verraten uns darüber gerade so viel wie ein Blick durch ein Schlüsselloch. Vielleicht sind sie nicht mehr als der Deckel zu einem Topf, der viel mehr enthält, als wir lesen können.«

Elinor stöhnte auf. »Himmel, Mortimer!«, sagte sie. »Hör auf, ich bekomme Kopfschmerzen.«

»Glaub mir, die habe ich auch bekommen, als ich anfing, darüber nachzudenken«, antwortete Mo.

Danach schwiegen sie eine ganze Weile, alle drei, jeder von ihnen gefangen in seinen eigenen Gedanken.

Elinor war die Erste, die wieder sprach, doch es klang fast, als redete sie mit sich selbst. »Du meine Güte«, murmelte sie, während sie sich die Schuhe von den Füßen streifte. »Wenn ich mir überlege, wie oft ich mir gewünscht habe, in eins meiner Lieblingsbücher zu schlüpfen. Dabei ist das doch gerade das Gute an Büchern - dass man sie zuklappen kann, wann immer man will.«

Stöhnend bewegte sie ihre Zehen und begann auf und ab zu gehen. Meggie musste sich ein Kichern verkneifen. Elinor sah einfach zu komisch aus, wie sie mit ihren schmerzenden Zehen von der Wand zur Tür und zurück wankte, hin und her, wie ein aufgedrehtes Spielzeug.

»Elinor, du machst mich ganz verrückt! Setz dich wieder hin«, sagte Mo.

»Tue ich nicht!«, fuhr sie ihn an. »Weil ich nämlich verrückt werde, wenn ich sitze.«

Mo verzog das Gesicht und legte Meggie den Arm um die Schultern. »Gut, lassen wir sie laufen!«, raunte er ihr zu. »Wenn sie erst mal zehn Kilometer hinter sich hat, wird sie schon umfallen. Aber du solltest jetzt schlafen. Ich überlasse dir auch mein Bett. Es ist gar nicht so schlecht, wie es aussieht. Wenn du die Augen fest schließt, kannst du dir vorstellen, dass du Wilbur, das Schwein bist, das gemütlich in seinem Stall liegt ...«

». oder Wart, der mit den Wildgänsen im Gras schläft.« Meggie musste gähnen. Wie oft hatten sie und Mo schon dieses Spiel gespielt: »Welches Buch fällt dir ein, welches haben wir vergessen? O ja, das! An das habe ich lange nicht mehr gedacht ...!« Müde streckte sie sich auf dem piksenden Stroh aus.

Mo zog sich den Pullover über den Kopf und deckte sie damit zu. »Eine Decke brauchst du natürlich trotzdem«, sagte er. »Auch wenn du ein Schwein oder eine Gans bist.«

»Aber du wirst frieren.«

»Unsinn.«

»Und wo wollt ihr schlafen, du und Elinor?« Meggie musste schon wieder gähnen. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie müde sie war.

Elinor tapste immer noch von Wand zu Wand. »Wer redet denn von Schlafen?«, sagte sie. »Wir halten natürlich Wache.«

»Gut«, murmelte Meggie und drückte die Nase in Mos Pullover. Er ist wieder da, dachte sie, während der Schlaf ihr die Augenlider schwer machte. Alles andere ist egal. Und dann dachte sie: Wenn ich doch nur das Buch endlich lesen könnte. Aber Tintenherz war bei Capricorn - und an den wollte sie jetzt nicht denken, denn sonst würde der Schlaf niemals kommen. Niemals ...

Sie wusste später nicht, wie lange sie geschlafen hatte. Vielleicht weckten sie ihre kalten Füße oder das stachlige Stroh unter ihrem Kopf. Auf ihrer Armbanduhr war es vier Uhr. Nichts in dem fensterlosen Raum verriet, ob es Tag oder Nacht war, aber Meggie konnte sich nicht vorstellen, dass die Nacht schon vorbei war. Mo saß mit Elinor neben der Tür. Sie sahen beide müde aus, müde und besorgt, und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen.

»Ja, sie halten mich immer noch für einen Zauberer«, sagte Mo gerade. »Sie haben mir diesen lächerlichen Namen gegeben - Zauberzunge. Und Capricorn ist der festen Überzeugung, dass ich es wiederholen kann, jederzeit, mit jedem beliebigen Buch.«

»Und - kannst du?«, fragte Elinor. »Du hast vorhin doch nicht alles erzählt, oder?«

Mo antwortete eine ganze Weile nicht. »Nein!«, sagte er schließlich. »Weil ich nicht will, dass Meggie mich auch für so etwas wie einen Zauberer hält.«

»Es ist also schon öfter passiert, dass du etwas ... herausgelesen hast?«

Mo nickte. »Ich habe immer schon gern vorgelesen, schon als Junge, und einmal, als ich einem Freund Tom Sawyer vorlas, lag plötzlich eine tote Katze auf dem Teppich, steif wie ein Brett. Dass dafür eins meiner Stofftiere verschwunden war, habe ich erst später gemerkt. Ich glaube, uns ist beiden fast das Herz stehen geblieben, und wir haben uns geschworen und den Schwur mit Blut besiegelt, wie Tom und Huck, dass wir niemandem je von der Katze erzählen würden. Danach habe ich es natürlich immer wieder versucht, heimlich, ohne Zeugen, aber es schien nie zu passieren, wenn ich es wollte. Es schien überhaupt keine Regel zu geben, höchstens die, dass es nur bei Geschichten passierte, die mir gefielen. Natürlich habe ich alles aufbewahrt, was herauskam, bis auf die Kotzgurke, die mir das Buch über den freundlichen Riesen bescherte. Sie stank einfach zu furchtbar. Als Meggie noch sehr klein war, ist manchmal etwas aus ihren Bilderbüchern gekommen, eine Feder, ein winziger Schuh ... wir haben die Sachen immer in ihre Bücherkiste gelegt, aber ihr nicht gesagt, woher sie stammten. Womöglich hätte sie sonst nie wieder ein Buch angefasst, aus Angst, die Riesenschlange mit Zahnweh könnte herauskommen oder sonst jemand Bedrohliches! Aber nie, Elinor, nie, wirklich niemals ist etwas Lebendiges aus einem Buch gekommen. Bis zu jener Nacht.« Mo betrachtete seine Handflächen, als sähe er dort all die Dinge, die seine Stimme den Büchern entlockt hatte. »Warum konnte es nicht jemand Nettes sein, wenn es schon passieren musste, jemand wie ... Babar, der Elefant? Meggie wäre entzückt gewesen.«

O ja, das wäre ich bestimmt gewesen, dachte Meggie. Sie erinnerte sich an den kleinen Schuh und auch an die Feder. Smaragdgrün war sie gewesen, wie die Federn von Polynesia, Doktor Dolittles Papagei.

»Nun ja, ich sag dir, es hätte auch schlimmer kommen können.« Das war typisch Elinor. Als ob es nicht schlimm genug wäre, fern der Welt in einem verfallenen Haus eingesperrt zu sein, umgeben von schwarz gekleideten Männern mit Raubvogelgesichtern und Messern im Gürtel. Aber Elinor konnte sich offenbar tatsächlich Schlimmeres vorstellen. »Stell dir vor, Long John Silver hätte plötzlich in deinem Wohnzimmer gestanden und mit seiner tödlichen Holzkrücke ausgeholt«, raunte sie. »Ich glaube, da ziehe ich diesen Capricorn doch vor. Weißt du was? Wenn wir wieder zu Hause sind, ich meine, in meinem Haus, dann werde ich dir eins dieser netten Bücher geben - Pu der Bär zum Beispiel oder vielleicht auch Wo die wilden Kerle wohnen. Gegen so ein Monster hätte ich eigentlich nichts einzuwenden. Ich werde dir meinen bequemsten Sessel überlassen, dir einen Kaffee kochen, und dann liest du vor. Ja?«

Mo lachte leise und für einen Moment sah sein Gesicht nicht mehr ganz so sorgenvoll aus. »Nein, Elinor, das werde ich nicht. Obwohl es sehr verlockend klingt. Aber ich habe mir geschworen, nie wieder vorzulesen. Wer weiß, wer das nächste Mal verschwindet, und vielleicht gibt es selbst bei Pu dem Bären einen Bösewicht, den wir übersehen haben. Oder was ist, wenn ich Pu selbst herauslese? Was soll er hier anfangen ohne seine Freunde und ohne den Hundertsechzig-Morgen-Wald? Sein dummes Herz wird ihm brechen, so wie das von Staubfinger zerbrochen ist.«

»Ach was!« Elinor winkte ungeduldig ab. »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass dieser Bastard gar kein Herz hat? Aber gut. Kommen wir zu einer weiteren Frage, deren Antwort mich sehr interessiert.« Elinor senkte die Stimme, und Meggie musste sich große Mühe geben, sie noch zu verstehen. »Wer war dieser Capricorn eigentlich in seiner Geschichte? Vermutlich der Bösewicht, gut, aber könnte ich vielleicht noch etwas mehr über ihn erfahren?«

Ja, auch Meggie hätte gern mehr über Capricorn gewusst, aber Mo wurde plötzlich sehr schweigsam. »Je weniger ihr über ihn wisst, desto besser«, sagte er nur. Und dann schwieg er. Elinor bohrte noch eine Weile nach, aber Mo wich all ihren Fragen aus. Er schien einfach keine Lust zu haben, über Capricorn zu sprechen. Seine Gedanken waren ganz woanders, Meggie sah es seinem Gesicht an. Irgendwann nickte Elinor ein, zusammengerollt auf dem kalten Boden, als wollte sie sich an sich selbst wärmen. Mo aber saß weiter da, den Rücken gegen die Mauer gelehnt.

Sein Gesicht verfolgte Meggie in den Schlaf, als sie wieder einnickte. Es tauchte in ihren Träumen auf wie ein dunkler Mond. Er öffnete den Mund und heraus sprangen Gestalten, dicke, dünne, große, kleine, sie hüpften in einer langen Reihe davon. Auf der Nase des Mondes aber, kaum mehr als ein Schatten, tanzte die Gestalt einer Frau - und plötzlich begann der Mond zu lächeln.

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