Das schwarze Pferd der Nacht



Er bückte sich und holte Sophiechen aus seiner Westentasche. Da stand sie nun in ihrem Nachthemdchen mit nackten Füßen. Sie zitterte und schaute um sich in die wirbelnden Nebelschwaden und gespensterhaft wogenden Dünste.

»Wo sind wir denn hier?«, fragte sie.

»Im Traumland sind wir«, sagte der GuRié. »Wir sind da, wo die Träume herkommen.«

Roald Dahl, Sophiechen und der Riese



Fenoglio lag auf dem Bett, als Basta Meggie durch die Tür stieß.

»Was habt ihr mit ihr angestellt?«, fuhr er Basta an, während er hastig auf die Füße kam. »Sie ist ja weiß wie die Wand!«

Doch Basta hatte die Tür längst wieder hinter sich zugezogen. »In zwei Stunden kommt deine Ablösung!«, hörte Meggie ihn zu dem Posten sagen. Dann war er fort.

Fenoglio legte ihr die Hände auf die Schultern und blickte ihr besorgt ins Gesicht. »Nun? Sag schon! Was wollten sie von dir? Ist dein Vater da?«

Meggie schüttelte den Kopf. »Sie haben Staubfinger gefangen«, antwortete sie. »Und eine Frau.«

»Was für eine Frau? Himmel, du bist ja völlig durcheinander.« Fenoglio zog sie zum Bett. Meggie setzte sich neben ihn.

»Ich glaub, sie ist meine Mutter«, flüsterte sie.

»Deine Mutter?« Fenoglio sah sie entgeistert an. Seine Augen waren blutunterlaufen von der schlaflosen Nacht.

Meggie strich abwesend ihr Kleid glatt. Der Stoff war schmutzig und zerknittert. Kein Wunder, sie schlief seit Tagen darin. »Ihr Haar ist dunkler«, stammelte sie. »Und das Foto, das Mo von ihr hat, ist mehr als neun Jahre alt ... Capricorn hat sie in ein Netz gesteckt, genau wie Staubfinger. In zwei Tagen will er sie beide hinrichten lassen, und ich soll dafür jemanden aus Tintenherz herauslesen, diesen Freund, wie Capricorn ihn nennt, ich hab es dir erzählt! Mo sollte ihn auch schon herlocken, du wolltest mir nicht erzählen, wer es ist, aber jetzt musst du es mir sagen!« Flehend sah sie Fenoglio an.

Der alte Mann schloss die Augen. »Grundgütiger!«, murmelte er.

Draußen war es immer noch dunkel. Der Mond hing genau vor ihrem Fenster. Eine Wolke trieb an ihm vorbei wie ein zerfetztes Kleid.

»Ich erzähl es dir morgen«, sagte Fenoglio. »Versprochen.«

»Nein! Erzähl es jetzt.«

Nachdenklich blickte er sie an. »Es ist keine Geschichte für die Nacht. Du wirst schlecht träumen danach.«

»Erzähl es mir!«, wiederholte Meggie.

Fenoglio seufzte. »Oje! Den Blick kenne ich von meinen Enkeln«, sagte er. »Also gut.« Er half ihr auf ihr Bett hinauf, schob ihr Mos Pullover unter den Kopf und zog ihr die Decke bis ans Kinn. »Ich erzähle es dir so, wie es in Tintenherz steht«, sagte er leise. »Ich kenne die Zeilen fast auswendig, ich war damals sehr stolz auf sie ... « Er räusperte sich, bevor er die Worte in die Nacht flüsterte: »Doch es gab einen, den die Menschen noch mehr fürchteten als Capricorns Männer. Man nannte ihn den Schatten. Er erschien nur, wenn Capricorn ihn rief. Mal war er rot wie das Feuer, mal grau wie die Asche, die es aus allem macht, was es frisst. Wie die Flamme aus dem Holz, so züngelte er aus der Erde. Seine Finger brachten den Tod, selbst sein Atem. Vor den Füßen seines Herrn erhob er sich, lautlos und ohne Gesicht, witternd, wie ein Hund auf der Fährte, und wartete darauf, dass sein Herr auf sein Opfer wies.« Fenoglio fuhr sich über die Stirn und sah zum Fenster. Es dauerte eine Weile, bis er weitersprach, als müsste er sich die Worte erst wieder ins Gedächtnis rufen, aus längst vergangenen Jahren. »Man sagte«, fuhr er schließlich leise fort, »Capricorn hätte den Schatten aus der Asche seiner Opfer erschaffen lassen, von einem Kobold oder den Zwergen, die sich auf alles verstehen, was Feuer und Rauch hervorbringen können. Ganz sicher war keiner, denn es hieß, Capricorn hätte die töten lassen, die den Schatten ins Leben gerufen hatten. Nur eins wusste jeder: dass er unsterblich und unverletzlich war und ohne Mitleid, wie sein Herr.«

Fenoglio schwieg.

Und Meggie starrte mit klopfendem Herzen in die Nacht hinaus.

»Ja, Meggie«, sagte Fenoglio schließlich mit leiser Stimme. »Ich denke, du sollst ihm den Schatten herholen. Und gnade uns Gott wenn dir das gelingt. Es gibt viele Ungeheuer auf dieser Welt, die meisten davon sind menschlich, und sterblich sind sie alle. Ich möchte nicht schuld daran sein, dass künftig auch noch ein unsterbliches Monster auf diesem Planeten Angst und Schrecken verbreitet. Dein Vater hatte eine Idee, als er zu mir kam, ich habe dir schon einmal davon erzählt, vielleicht ist sie unsere einzige Chance, aber ich weiß noch nicht, ob und wie sie funktionieren wird. Ich muss nachdenken, es bleibt uns nicht viel Zeit, und du solltest jetzt schlafen. Was hast du gesagt? Übermorgen schon soll das Ganze stattfinden?«

Meggie nickte. »Sobald es dunkel wird!«, flüsterte sie.

Fenoglio fuhr sich müde mit der Hand übers Gesicht. »Wegen der Frau solltest du dir keine Sorgen machen«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob du es gern hörst, aber ich denke, sie kann unmöglich deine Mutter sein, sosehr du dir das vielleicht auch wünschst. Wie soll sie hergekommen sein?«

»Darius!« Meggie grub ihr Gesicht in Mos Pullover. »Der schlechte Vorleser. Capricorn hat es gesagt: Er hat sie hergeholt, und dabei hat sie ihre Stimme verloren. Sie ist zurück, ich bin ganz sicher, und Mo weiß nichts davon! Er denkt immer noch, sie steckt in dem Buch und ...«

»Nun, wenn du Recht hast, dann wünschte ich, sie steckte wirklich noch dort«, sagte Fenoglio, während er ihr mit einem Seufzer noch einmal die Decke über die Schultern zog. »Ich denke immer noch, dass du dich irrst, aber glaub, was du willst! Und jetzt schlaf.«

Doch Meggie konnte nicht schlafen. Mit dem Gesicht zur Wand lag sie da und lauschte in sich hinein. Sorge und Freude mischten sich in ihrem Herzen wie zwei Farben, die ineinander liefen. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie die Netze und hinter den Stricken die beiden Gesichter, Staubfingers und das andere, verschwommen wie ein altes Foto. Sosehr sie sich auch Mühe gab, es genauer zu sehen, es verschwamm immer wieder.

Draußen dämmerte schon der Morgen, als sie endlich einschlief, aber die bösesten Träume nimmt die Nacht nicht mit sich. In der grauen Zeit zwischen Nacht und Tag wachsen sie besonders schnell, und aus Sekunden spinnen sie eine Ewigkeit. Einäugige Riesen und Riesenspinnen schlichen sich in Meggies Schlaf, Höllenhunde, Kinder fressende Hexen, alle Schreckgestalten, die ihr je im Reich der Buchstaben begegnet waren. Sie krochen aus der Kiste, die Mo ihr gebaut hatte, und zwängten sich aus den Seiten ihrer Lieblingsbücher hervor. Selbst aus den Bilderbüchern, die Mo ihr geschenkt hatte, als Buchstaben für sie noch keinen Sinn ergaben, quollen die Ungeheuer. Grellbunt und zottig tanzten sie durch Meggies Traum, lächelten mit zu breiten Mündern und bleckten spitze kleine Zähne. Da war die Grinsekatze, vor der sie sich immer so gefürchtet hatte, und dort kamen die Wilden Kerle, die Mo so liebte, dass er ein Bild von ihnen in seiner Werkstatt hängen hatte. Wie groß ihre Zähne waren! Staubfinger würde zwischen ihnen verschwinden wie Knusperbrot. Aber gerade als einer von ihnen, der mit den tellergroßen Augen, die Krallen ausstreckte, kam aus dem grauen Nichts eine neue Gestalt, knisternd wie eine Flamme, aschgrau und gesichtslos, packte den Wilden Kerl und zerriss ihn in lauter papierne Fetzen.

»Meggie!«

Die Ungeheuer zerrannen, die Sonne schien Meggie ins Gesicht. Fenoglio stand neben ihrem Bett. »Du hast geträumt.«

Meggie setzte sich auf. Das Gesicht des alten Mannes sah aus, als hätte er die ganze Nacht kein Auge zugetan und dadurch noch ein paar Falten mehr bekommen. »Wo ist mein Vater, Fenoglio?«, fragte sie. »Warum kommt er denn bloß nicht?«

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