»Es hat keinen Zweck, ihn zu suchen«, knurrte der Biber.
»Was soll das heißen?«, fragte Suse. »Er kann doch nicht weit sein! Wir müssen ihn finden! Warum behaupten Sie, dass es keinen Zweck hat, ihn zu suchen?« »Weil es ganz klar ist, wo er ist«, antwortete der Biber. »Begreift ihr denn nicht? Er ist zu ihr gegangen, zur Weißen Hexe. Und er hat uns verraten!«
C. S. Lewis, Der König von Narnia
Meggie hatte sich Capricorns Gesicht hundertmal ausgemalt, von dem Moment an, in dem Staubfinger ihr von ihm erzählt hatte: auf der Fahrt zu Elinors Haus, als Mo noch neben ihr saß, in dem riesigen Bett, und schließlich auf der Fahrt hierher; hundertmal, ach was, tausendmal hatte sie versucht, es sich vorzustellen, und sich dabei alle Bösewichter zu Hilfe gerufen, die ihr in ihren Büchern begegnet waren: Hook, krummnasig und hager, Long John Silver, immer mit einem falschen Lächeln auf den Lippen, Indianer-Joe mit seinem Messer und dem fettigen schwarzen Haar, dem sie in so vielen bösen Träumen begegnet war ...
Doch Capricorn sah ganz anders aus.
Meggie gab es schnell auf, die Türen zu zählen, an denen sie vorbeikamen, bevor Basta endlich vor einer stehen blieb. Aber sie zählte die schwarz gekleideten Männer. Vier waren es, mit gelangweilten Gesichtern standen sie auf den Fluren herum. Neben jedem lehnte eine Flinte an der weiß verputzten Wand. Sie sahen aus wie Saatkrähen in ihren engen schwarzen Anzügen. Nur Basta trug ein weißes Hemd, blütenweiß, wie Staubfinger gesagt hatte, und am Kragen seiner Jacke steckte eine rote Blüte, wie eine Warnung.
Capricorns Morgenmantel war ebenso rot. Er saß in einem Sessel, als Basta mit den drei nächtlichen Besuchern eintrat, und vor ihm kniete eine Frau und schnitt ihm die Fußnägel. Der Sessel schien zu klein für ihn, Capricorn war ein großer Mann, hager, als hätte man ihm die Haut zu straff über die Knochen gezogen. Seine Haut war blass wie unbeschriebenes Papier, das Haar auf seinem Kopf bürstenkurz. Meggie hätte nicht sagen können, ob es grau oder weißblond war.
Er hob den Kopf, als Basta die Tür öffnete. Seine Augen waren fast ebenso blass wie der Rest von ihm, farblos und hell wie Silbermünzen. Auch die Frau zu seinen Füßen sah kurz auf, als sie hereinkamen, doch dann beugte sie sich wieder über ihre Arbeit.
»Entschuldigt, aber der erwartete Besuch ist da«, sagte Basta. »Ich dachte, Ihr wolltet vielleicht gleich mit ihnen reden.«
Capricorn lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und warf Staubfinger einen kurzen Blick zu. Dann wanderten seine ausdruckslosen Augen zu Meggie. Unwillkürlich drückte sie die Plastiktüte mit dem Buch noch fester gegen die Brust. Capricorn starrte die Tüte an, als wüsste er, was sich darin verbarg. Er gab der Frau zu seinen Füßen ein Zeichen. Unwillig richtete sie sich auf, strich ihr kohlschwarzes Kleid glatt und warf Elinor und Meggie einen wenig freundlichen Blick zu. Wie eine alte Elster sah sie aus mit ihrem streng zurückgesteckten grauen Haar und der spitzen Nase, die so gar nicht zu ihrem kleinen, faltigen Gesicht passen wollte. Mit einem Kopfnicken in Capricorns Richtung verließ sie das Zimmer.
Es war ein großer Raum. An Möbeln stand nicht viel darin, nur ein langer Tisch mit acht Stühlen, ein Schrank und eine schwere Anrichte. Es gab keine Lampe im ganzen Raum, nur Kerzen, Dutzende von Kerzen in schweren silbernen Leuchtern. Meggie kam es vor, als füllten sie den Raum mit Schatten statt mit Licht.
»Wo ist es?«, fragte Capricorn. Meggie machte unwillkürlich einen Schritt zurück, als er seinen Stuhl zurückschob. »Sagt mir nicht, diesmal habt ihr mir bloß das Mädchen gebracht.« Seine Stimme war eindrucksvoller als sein Gesicht. Schwer und dunkel war sie und Meggie hasste sie nach dem ersten Wort.
»Sie hat es mitgebracht. Es ist in der Tüte!« Staubfinger antwortete, bevor Meggie es tun konnte. Seine Augen wanderten unstet von einer Kerze zur anderen, während er sprach, als wären ihre tanzenden Flammen das Einzige, was ihn interessierte. »Ihr Vater wusste tatsächlich nicht, dass er das falsche Buch hatte. Diese so genannte Freundin von ihm« - Staubfinger zeigte auf Elinor - »hat es ausgetauscht, ohne dass er davon wusste! Ich glaube, sie ernährt sich von Buchstaben. Ihr ganzes Haus ist voll von Büchern. Sie zieht sie eindeutig der Gesellschaft von Menschen vor.« Die Worte kamen hastig über Staubfingers Lippen, als wollte er sie loswerden. »Ich konnte sie von Anfang an nicht leiden, aber ihr kennt ja unseren Freund Zauberzunge. Er denkt immer nur das Beste von den Menschen. Er würde dem Teufel höchstpersönlich trauen, wenn der ihn nur freundlich anlächelte.«
Meggie drehte sich zu Elinor um. Sie stand da, als hätte sie ihre Zunge verschluckt. Das schlechte Gewissen stand ihr deutlich auf die Stirn geschrieben.
Capricorn hatte nur ein Nicken für Staubfingers Erklärungen. Er zog den Gürtel seines Morgenmantels fester, verschränkte die Arme auf dem Rücken und kam langsam auf Meggie zu. Sie gab sich alle Mühe, nicht zurückzuweichen, fest und furchtlos in die farblosen Augen zu sehen, aber die Angst schnürte ihr den Hals zu. Was für ein Feigling sie doch war! Sie versuchte sich an irgendeinen Helden zu erinnern, aus einem ihrer Bücher, dessen Haut sie überstreifen konnte, um sich stärker, größer, furchtloser zu fühlen. Warum fielen ihr nur Geschichten über die Angst ein, während Capricorn sie musterte? Es fiel ihr doch sonst so leicht, an andere Orte zu verschwinden, in Tiere und Menschen zu schlüpfen, die es nur auf dem Papier gab, warum nicht jetzt? Weil sie Angst hatte. »Weil die Angst alles tötet«, hatte Mo irgendwann mal zu ihr gesagt, »den Verstand, das Herz und die Phantasie sowieso.«
Mo ... Wo war er? Meggie biss sich auf die Lippen, damit sie nicht zitterten, aber sie wusste, dass die Angst in ihren Augen saß und dass Capricorn sie dort sah. Ein Herz aus Eis wünschte sie sich und lächelnde Lippen statt der zitternden eines Kindes, dem man den Vater gestohlen hatte.
Capricorn stand jetzt dicht vor ihr. Er musterte sie. Noch nie hatte jemand sie so angesehen. Sie fühlte sich wie eine Fliege, die schon am Leim des Fliegenfängers klebt und nur noch darauf wartet, dass man sie totschlägt.
»Wie alt ist sie?« Capricorn sah sich zu Staubfinger um, als traute er Meggie nicht zu, die Antwort selbst zu kennen.
»Zwölf! «, sagte sie laut. Es war nicht leicht, mit zitternden Lippen zu sprechen. »Ich bin zwölf. Und ich will jetzt wissen, wo mein Vater ist.«
Capricorn tat, als hätte er den letzten Satz nicht gehört.
»Zwölf?«, wiederholte er mit seiner dunklen Stimme, die sich schwer auf Meggies Ohren legte. »Zwei, drei Jahre noch und sie ist ein brauchbares, hübsches Ding. Allerdings müsste man sie etwas besser füttern.« Er drückte ihren Arm mit seinen langen Fingern. Goldene Ringe trug er, gleich drei an einer Hand. Meggie versuchte sich loszureißen, aber Capricorn hielt sie fest, während er sie mit seinen blassen Augen musterte. Wie einen Fisch. Einen armen zappelnden Fisch.
»Lassen Sie das Mädchen los!« Zum ersten Mal war Meggie froh, dass Elinors Stimme so barsch klingen konnte. Und Capricorn ließ ihren Arm tatsächlich los.
Elinor trat schützend hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Ich weiß nicht, was hier vorgeht!«, fuhr sie Capricorn an. »Ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie und all diese Flintenmänner in diesem gottverlassenen Dorf treiben, es interessiert mich auch nicht. Ich bin hier, damit dieses Mädchen seinen Vater zurückbekommt. Wir werden Ihnen das Buch, an dem Ihnen so viel liegt, überlassen - auch wenn es mir in der Seele wehtut, aber Sie werden es bekommen, sobald Meggies Vater in meinem Wagen sitzt. Und sollte er aus irgendeinem Grund noch hier bleiben wollen, so möchten wir das aus seinem Mund hören.«
Capricorn wandte ihr ohne ein Wort den Rücken zu. »Warum hast du die Frau mitgebracht?«, fragte er Staubfinger. »Das Mädchen und das Buch, habe ich gesagt. Was soll ich mit der Frau anfangen?«
Meggie sah Staubfinger an.
Das Mädchen und das Buch. Die Worte echoten in ihrem Kopf, immer wieder. Das Mädchen und das Buch, habe ich gesagt. Meggie versuchte, Staubfinger in die Augen zu sehen, aber er wich ihrem Blick aus, als könnte er sich daran verbrennen. Es tat weh, sich so dumm zu fühlen. So furchtbar, furchtbar dumm.
Staubfinger hockte sich auf die Kante des Tisches und drückte eine der brennenden Kerzen aus, ganz sacht, ganz langsam, als wartete er auf den Schmerz, den kleinen Biss der Flamme. »Ich habe es Basta schon erklärt: Die liebe Elinor ließ es sich nicht ausreden mitzukommen«, sagte er. »Sie wollte das Mädchen nicht mit mir allein fahren lassen, und das Buch hat sie auch nur sehr widerstrebend wieder herausgerückt.«
»Und? Hatte ich nicht Recht?« Elinors Stimme wurde so laut, dass Meggie zusammenfuhr. »Hör ihn dir an, Meggie, diesen doppelzüngigen Streichholzfresser! Die Polizei hätte ich rufen sollen, als er wieder auftauchte. Er ist nur wegen des Buches zurückgekommen, nur deshalb.«
Und wegen mir, dachte Meggie. Das Mädchen und das Buch.
Staubfinger tat, als wäre er angestrengt damit beschäftigt, einen losen Faden aus dem Ärmel seines Mantels zu zupfen. Aber seine sonst so geschickten Hände zitterten.
»Und Sie!« Elinor stieß Capricorn den Zeigefinger vor die Brust.
Basta machte einen Schritt vorwärts, aber Capricorn winkte ihn zurück.
»Ich habe wirklich schon viel erlebt, wenn es um Bücher geht. Mir selbst wurde schon so manches Buch gestohlen, und ich kann nicht behaupten, dass alle Bücher in meinen Regalen auf rechtmäßigem Weg dorthin gelangt sind - vielleicht kennen Sie das Zitat >Alle Büchersammler sind Geier und Jäger -, aber Sie scheinen wirklich der verrückteste von allen zu sein. Es wundert mich, dass ich noch nie von Ihnen gehört habe. Wo ist Ihre Sammlung?« Suchend sah sie sich in dem großen Raum um. »Ich sehe nicht ein einziges Buch.«
Capricorn schob die Hände in die Taschen seines Morgenmantels und gab Basta ein Zeichen.
Bevor Meggie wusste, wie ihr geschah, hatte er ihr die Plastiktüte aus den Händen gerissen. Er öffnete sie, lugte misstrauisch hinein, als vermutete er eine Schlange oder sonst etwas Bissiges darin, und zog dann das Buch heraus.
Capricorn nahm es entgegen. Meggie konnte auf seinem Gesicht nichts von der Zärtlichkeit entdecken, mit der Elinor oder Mo ein Buch betrachteten. Nein, auf Capricorns Gesicht war nichts als Abscheu zu finden - und Erleichterung.
»Die beiden wissen von nichts?« Capricorn klappte das Buch auf, blätterte darin - und schlug es wieder zu. Es war das richtige, Meggie sah es seinem Gesicht an. Es war genau das Buch, das er gesucht hatte.
»Nein, sie wissen nichts. Auch das Mädchen nicht.« Staubfinger sah so angestrengt aus dem Fenster, als gäbe es dort mehr zu sehen als die pechschwarze Nacht. »Ihr Vater hat ihr nichts erzählt. Warum sollte ich es also tun?«
Capricorn nickte.
»Bring die zwei nach hinten!«, befahl er Basta, der immer noch mit der leeren Tüte in der Hand neben ihm stand.
»Was soll das heißen?«, begann Elinor, aber da zerrte Basta sie und Meggie auch schon mit sich.
»Das heißt, dass ich euch zwei hübschen Vögel für die Nacht in einen unserer Käfige sperre«, sagte Basta, während er ihnen die Flinte unsanft in den Rücken stieß.
»Wo ist mein Vater?«, schrie Meggie. Die eigene Stimme schrillte ihr in den Ohren. »Das Buch haben Sie doch jetzt! Was wollen Sie noch von ihm?«
Capricorn schlenderte zu der Kerze, die Staubfinger ausgedrückt hatte, strich mit dem Zeigefinger über den Docht und betrachtete den Ruß auf seiner Fingerkuppe. »Was ich von deinem Vater will?«, sagte er, ohne sich zu Meggie umzudrehen. »Ich will ihn hier behalten, was sonst? Du scheinst nicht zu wissen, über welch außerordentliches Talent er verfügt. Bisher wollte Zauberzunge es nicht in meine Dienste stellen, sosehr Basta auch versucht hat, ihn zu überreden. Aber jetzt, nachdem Staubfinger dich hergebracht hat, wird er tun, was ich von ihm verlange. Da bin ich ganz sicher.«
Meggie versuchte Bastas Hände wegzustoßen, als er nach ihr griff, aber er packte sie am Nacken wie ein Huhn, dem er den Hals umdrehen wollte. Als Elinor ihr zu Hilfe kommen wollte, richtete er den Flintenlauf lässig auf ihre Brust und stieß Meggie auf die Tür zu.
Als sie sich noch einmal umdrehte, sah sie, dass Staubfinger immer noch an dem großen Tisch lehnte. Er blickte sie an, aber diesmal lächelte er nicht. Verzeih!, schienen seine Augen zu sagen. Ich musste es tun. Ich kann das alles erklären!
Aber Meggie wollte nichts verstehen. Und verzeihen wollte sie schon gar nicht. »Ich hoffe, du fällst tot um!«, schrie sie, als Basta sie aus dem Zimmer zerrte. »Ich hoffe, du verbrennst! Ich hoffe, du erstickst an deinem eigenen Feuer!«
Basta lachte, als er die Tür zuzog. »Nun hör sich einer diese kleine Katze an!«, sagte er. »Ich glaube, ich sollte mich vor dir in Acht nehmen.«