Mir, mir Armem war mein Büchersaal Als Herzogtum genug.
William Shakespeare, Der Sturm
Es war schon fast Mitternacht, als Elinor endlich ihr Tor am Straßenrand auftauchen sah. Unten am Seeufer reihten sich die Lichter aneinander wie eine Karawane von Glühwürmchen, zitternd spiegelten sie sich auf dem schwarzen Wasser. Es war schön, wieder zu Hause zu sein. Selbst der Wind, der Elinor übers Gesicht strich, als sie ausstieg, um das Tor zu öffnen, fühlte sich vertraut an. Alles war vertraut, der Duft der Hecken und der Erde und die Luft, die so viel kühler und feuchter war als im Süden. Sie schmeckte auch nicht länger salzig. Vielleicht werde ich den Geschmack vermissen, dachte Elinor. Das Meer erfüllte sie immer mit Sehnsucht, sie wusste selbst nicht, wonach.
Das eiserne Tor quietschte leise, als sie es aufstieß, fast als hieße es sie willkommen. Es würde keine andere Stimme zu ihrer Begrüßung geben. »Was für ein alberner Gedanke, Elinor!«, murmelte sie ärgerlich, während sie wieder ins Auto stieg. »Deine Bücher werden dich begrüßen. Das reicht doch wohl.«
Schon auf der Fahrt hatte sie solch eine seltsame Anwandlung gehabt. Sie hatte sich Zeit gelassen für den Heimweg, war abseits der großen Straßen gefahren und hatte in einem winzigen Ort in den Bergen übernachtet, dessen Namen sie schon wieder vergessen hatte. Sie hatte es sehr genossen, wieder allein zu sein, schließlich war das der Zustand, den sie gewohnt war, doch dann hatte sie die Stille in ihrem Auto plötzlich gestört und sie hatte sich in einem verschlafenen Städtchen, das nicht mal einen Buchladen hatte, ins Cafe gesetzt, nur um ein paar Stimmen zu hören. Sie hatte nicht lange dort gesessen, nur für einen hastig hinuntergeschlürften Kaffee, denn sie hatte sich über sich selbst geärgert. »Was soll das, Elinor?«, hatte sie gemurmelt, als sie wieder im Wagen saß. »Seit wann hast du Sehnsucht nach menschlicher Gesellschaft? Es wird wirklich Zeit, dass du wieder nach Hause kommst, bevor du vollends wunderlich wirst.«
Ihr Haus lag so dunkel und verlassen da, als sie darauf zufuhr, dass es ihr eigenartig fremd vorkam. Nur der Duft ihres Gartens verscheuchte das Unwohlsein ein wenig, als sie die Stufen zur Haustür hinaufstieg. Die Lampe über der Tür, die nachts gewöhnlich brannte, war aus, und Elinor musste lächerlich viel Zeit darauf verwenden, mit dem Schlüssel das Türschloss zu finden. Während sie die Tür aufstieß und in die stockfinstere Eingangshalle stolperte, schimpfte sie leise auf den Mann, der gewöhnlich in ihrer Abwesenheit nach dem Haus und dem Garten sah. Dreimal hatte sie vor ihrer Abreise versucht ihn anzurufen, aber vermutlich war er schon wieder zu seiner Tochter gefahren. Warum verstand keiner, welche Schätze sich in diesem Haus verbargen? Ja, wenn sie aus Gold wären, aber sie bestanden eben nur aus Papier, aus Druckerschwärze und Papier ...
Es war still, sehr still, und für einen Augenblick glaubte Elinor Mortimers Stimme zu hören, wie sie die rot getünchte Kirche mit Leben erfüllt hatte. Hundert Jahre hätte sie ihm zuhören können, ach was, zweihundert. Mindestens. »Er wird mir vorlesen müssen, wenn er herkommt!«, murmelte sie, während sie sich die Schuhe von den müden Füßen streifte. »Irgendein Buch wird sich schon finden, das er ohne Gefahr in die Finger nehmen kann.«
Wieso war ihr noch nie aufgefallen, wie still es in ihrem Haus werden konnte? Totenstill war es, und die Freude, die Elinor erwartet hatte, sobald sie endlich wieder in ihren eigenen vier Wänden war, stellte sich nur zögernd ein.
»Hallooo, da bin ich wieder!«, rief sie in das Schweigen hinein, während sie an der Wand nach dem Lichtschalter tastete. »Jetzt werdet ihr wieder abgestaubt und zurechtgerückt, meine Schätzchen!«
Das Licht an der Decke flammte auf und Elinor stolperte so erschrocken zurück, dass sie über die eigene Handtasche fiel, die sie auf den Boden gestellt hatte. »Himmel!«, flüsterte sie, während sie wieder auf die Füße kam. »Oh, du lieber Himmel. Nein!«
Die Regale an den Wänden, Sonderanfertigung, handgetischlert, waren leer, und die Bücher, die so wohl verwahrt, Rücken neben Rücken, auf den Brettern gestanden hatten, lagen in wüsten Haufen auf dem Boden, zerknickt, verschmutzt, zertreten, als hätten schwere Stiefel auf ihnen einen wilden Tanz getanzt. Elinor begann zu zittern, am ganzen Körper. Sie stolperte durch ihre geschändeten Schätze wie durch einen morastigen Teich, schob sie zur Seite, hob eins auf und ließ es wieder sinken, stolperte weiter, den langen Flur entlang, der zu ihrer Bibliothek führte.
Auf dem Flur sah es nicht besser aus. Die Bücher stapelten sich so hoch, dass es Elinor kaum gelang, sich einen Weg durch die Zerstörung zu bahnen. Dann stand sie vor der Tür der Bibliothek. Sie war nur angelehnt, und Elinor stand eine endlose Ewigkeit mit zitternden Knien davor, bis sie sich endlich traute, die Tür aufzustoßen.
Ihre Bibliothek war leer.
Kein Buch, nicht ein einziges, weder in den Regalen noch in den Vitrinen, deren Glas zerschlagen war. Auch auf dem Boden lag keins. Sie waren alle fort. Und von der Decke baumelte ein toter roter Hahn.
Elinor presste die Hand auf den Mund, als sie ihn sah. Sein Kopf hing herunter, der Kamm bedeckte die starren Augen. Seine Federn schimmerten immer noch, als habe sich das Leben dorthin geflüchtet, in die feinen rostroten Brustfedern, die dunkel gescheckten Flügel und die langen Schwanzfedern, dunkelgrün und schimmernd wie Seide.
Eins der Fenster stand offen. Ein schwarzer Pfeil war mit Ruß auf das weiß lackierte Fensterbrett gemalt. Er zeigte nach draußen. Elinor stolperte auf das Fenster zu, die Füße taub vor Angst. Die Nacht war nicht dunkel genug, um zu verbergen, was da draußen auf dem Rasen lag: ein formloser Aschehügel, weißlich grau im Mondlicht, grau wie Mottenflügel, grau wie verbranntes Papier.
Da waren sie. Ihre kostbarsten Bücher. Oder das, was von ihnen übrig war.
Elinor kniete sich hin, auf die Fußbodendielen, für die sie selbst das Holz so sorgsam ausgesucht hatte. Durch das offene Fenster über ihr strich der Wind herein, der vertraute Wind, und roch fast ebenso wie die Luft in Capricorns Kirche. Elinor wollte schreien, sie wollte fluchen, schimpfen, toben, doch es kam kein Laut aus ihrem Mund. Sie konnte nur weinen.