Kein Dunst kam in dieser Nacht; der Nebel glitt von den Hügeln herab, doch er hing hinten unter den Bäumen und kroch nicht hinaus auf die Ebene. In der großen Halle des Rothgar ward ein gewaltiges Gelage abgehalten, und Buliwyf und alle seine Krieger beteiligten sich in großer Feierlaune. Zwei große gehörnte Schafe (Dahlmann (1924) schreibt, daß »bei feierlichen Anlassen Widder zum Steigern der Potenz verzehrt wurden, da das gehörnte männliche Tier dem weiblichen als überlegen galt« Tatsächlich trugen zu jener Zeit sowohl die Widder als auch die Mutterschafe Hörner) wurden geschlachtet und verspeist; ein jeglicher Mann trank riesige Mengen von Met; Buliwyf selbst ergötzte sich an einem halben Dutzend junger Sklavinnen und vielleicht auch mehr; doch trotz aller Witzeleien waren weder er noch seine Krieger wahrhaft fröhlich. Von Zeit zu Zeit sah ich sie zu den Tauen aus Robbenhaut und den Zwergendolchen schielen, welche an der Seite abgelegt waren.
Nun schloß ich mich dem allgemeinen Zechen an, denn ich fühlte mich wie einer der Ihren, nachdem ich, wie es mir schien, viel Zeit in ihrer Gesellschaft zugebracht hatte. Tatsächlich fühlte ich mich in dieser Nacht, als wäre ich ein gebürtiger Nordmann.
Herger, mächtig berauscht, erzählte mir bereitwillig von der Mutter der Wendol. Er sagte dies: »Die Mutter der Wendol ist sehr alt, und sie lebt in den Höhlen des Donners. Diese Donnerhöhlen liegen nicht weit von hier in den Felsenhängen der Klippen. Die Höhlen besitzen zwei Öffnungen, eine vom Land und eine weitere von der See. Doch der Eingang vom Land wird von den Wendol bewacht, welche ihre alte Mutter behüten; darum können wir sie nicht von der Landseite her angreifen, denn auf diese Weise würden wir alle getötet. Daher werden wir von der See angreifen. Ich erkundigte mich bei ihm: »Von welcher Gestalt ist diese Mutter der Wendol?« Herger sagte, daß kein Nordmann darum wisse, doch heiße es unter ihnen, daß sie alt sei, älter denn das alte Weib, welches sie Engel des Todes nennen; und daß sie überdies furchtbar anzuschauen sei; und daß sie überdies auf ihrem Haupte einen Kranz aus Schlangen trage; und daß sie obendrein über alle Maßen stark sei. Und er sagt am Ende, daß die Wendol sie anriefen, auf daß diese sie anleite in allen Angelegenheiten des Lebens (Joseph Cantrell stellt fest, daß es »in der germanischen und nordischen Mythologie eine Eigenart gibt, der zufolge Frauen besondere Kräfte und magische Fähigkeiten besitzen, weshalb Männer sie fürchten und ihnen mißtrauen sollten Die obersten Götter sind allesamt Männer, doch die Walkyren, was wörtlich >Wählerin der Erschlagenen< heißt, sind Frauen, welche die toten Krieger ins Paradies bringen Man glaubte, daß es drei Walkyren gab, so wie es auch drei Nornen oder Schicksalsgöttinnen gab, die bei der Geburt eines jeden Menschen zugegen waren und den Verlauf seines Lebens bestimmten Die Nornen hießen Urth für die Vergangenheit, Verthandi für die Gegenwart und Skuld für die Zukunft Die Nornen >spannen< den Lebensfaden des Menschen, und das Spinnen war Frauenarbeit In populären Darstellungen wurden sie als Jungfern abgebildet Wyrd, eine angelsächsische Gottheit, welche über das Schicksal gebot, war ebenfalls eine Göttin Vermutlich handelt es sich bei der Assoziation von Frauen mit dem menschlichen Schicksal um eine Permutation früherer Vorstellungen von der Frau als Fruchtbarkeitssymbol, die für die Fruchtbarkeit zuständigen Gottheiten herrschten über das Wachstum und Gedeihen der Feldfrüchte sowie allen Lebens auf der Erde «) Darauf wandte sich Herger von mir ab und schlief.
Nun trug sich dieses Ereignis zu: Tief in der Nacht, als sich die Feierlichkeiten dem Ende zuneigten und die Krieger in Schlaf sanken, suchte mich Buliwyf auf. Er setzte sich neben mich und trank Met aus einem Trinkhorn. Er war, so erkannte ich, nicht berauscht, und er sprach langsam in nordischer Zunge, damit ich seine Aussage verstehen sollte. Zuerst sagte er zu mir: »Habt Ihr die Worte des Zwergentengol verstanden?« Ich erwiderte, dies hatte ich mit Hilfe Hergers, welcher nun neben uns schnarchte.
Buliwyf sagte zu mir: »Dann wißt Ihr, daß ich sterben werde.« Er sprach dergestalt mit klarem Auge und festem Blick. Ich wußte nicht, welche Erwiderung oder Entgegnung ich vorbringen sollte, sondern sagte schließlich nach nordischer Sitte zu ihm: »Glaube keine Weissagung, ehe sie Frucht trägt.« (Dies ist die Umschreibung eines Lebensgefühls unter den Nordmännern, das sich insgesamt so ausdrückt »Lobe den Tag nicht, bevor der Abend anbricht, eine Frau, bevor sie verbrannt, ein Schwert, bevor es geführt, eine Jungfer, bevor sie vermählt, Eis, bevor es überschritten, Bier, bevor es getrunken « Diese weise, realistische und gewissermaßen zynische Betrachtungsweise der menschlichen Natur und der Welt war etwas, was die Skandinavier und die Araber gemein hatten Und ebenso wie die Skandinavier verleihen dieser Betrachtungsweise auch die Araber häufig in weltlichen oder satirischen Begriffen Ausdruck Es gibt eine Sufi-Erzählung über einen Mann, der einen Weisen fragte »Angenommen, ich reise aufs Land und muß meine Waschung im Fluß vollziehen In welche Richtung muß ich blicken, wenn ich das Ritual vollziehe?« Darauf erwidert der Weise »In die Richtung deiner Kleidungsstücke, damit sie dir nicht gestohlen werden «) Buliwyf entgegnete: »Ihr habt auf Euren Wegen allerhand gesehen. Sagt mir, was wahrhaft ist. Könnt Ihr Töne zeichnen?« Ich antwortete, dies könne ich. »Dann achtet auf Eure Sicherheit, und seid nicht über die Maßen tapfer. Ihr kleidet Euch und sprecht nun wie ein Nordmann und nicht wie ein Fremdling. Seht zu, daß Ihr überlebt.« Ich legte meine Hand auf seine Schulter, so wie ich seine Kampfgefährten ihn hatte begrüßen sehen. Darob lächelte er. »Ich fürchte nichts«, sagte er, »und bedarf keines Trostes. Um Euretwillen heiße ich Euch auf Eure Sicherheit achten. Nun sollten wir am klügsten schlafen.« Mit diesen Worten wandte er sich von mir ab und widmete seine Aufmerksamkeit einem Sklavenmädchen, mit welchem er sich keine Dutzend Schritte von meinem Sitzplatze aus vergnügte, und ich wandte mich ab, derweil ich das Stöhnen und Lachen dieser Frau vernahm. Und endlich fiel ich in Schlaf.