8

Das Labyrinth, das Sianim als Verwaltungsgebäude diente, war zu dieser nächtlichen Stunde verwaist. Doch als Ren sein Arbeitszimmer betrat, wartete er, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, ehe er die Abschirmung von seiner Laterne entfernte.

Indem er einige Bücher auf seinem Schreibtisch zusammenschob, machte er Platz für die Leuchte. Bevor er am Nachmittag wie immer seinen Arbeitsplatz verlassen hatte, hatte er vorsorglich die schweren Vorhänge vor den Fenstern zugezogen, damit nun kein Lichtstrahl nach außen dringen konnte. Es ging ihm nicht wirklich um Geheimhaltung, sonst hätte er sich sein Dienstzimmer gar nicht erst für das nächtliche Treffen ausgesucht; Verschwiegenheit lag einfach in seiner Natur und war ihm im Rahmen seiner Tätigkeit in Fleisch und Blut übergegangen. Immerhin wurde er dafür bezahlt, so viele Informationen wie möglich für sich zu behalten.

Eine Irritation im Luftstrom sowie ein Hauch von süßlichem Parfüm ließen den Meisterspion wissen, dass ein Besucher zugegen war, noch bevor er sich zu ihm umdrehte.

Kisrah ae’Magi, einst ein unbedeutender rethischer Lord und nun Erzmagier, machte Eindruck auf jede Person, die ihm das erste Mal begegnete. Ren hatte Kisrah noch nie zuvor getroffen, aber genug über ihn gehört, um ob seiner außergewöhnlichen Erscheinung nicht sonderlich überrascht zu sein.

Des Erzmagiers Hut war von tiefvioletter Farbe, was einen charmanten Kontrast zu der flauschigen Feder in Hellrosa darstellte, die sich von der Krempe bis zu seinen Schultern herabkräuselte. Die Ärmel seines lavendelfarbenen Gewandes waren über und über mit Goldfäden bestickt, wie auch die Fußbekleidung und Handschuhe, die er trug. Eine goldene, mit Amethysten besetzte Preziose baumelte von seinem linken Ohr.

In Rens jadefarbenen Augen wirkte der Erzmagier noch recht jung – zu jung, um die Macht zu besitzen, die mit seinem Amt einherging, aber das war unter den mächtigen Zauberern nichts Ungewöhnliches. Jemand mit weniger geschultem Blick hätte den Mann nur für einen eitlen Gecken gehalten und die scharfe Intelligenz, die aus seinen dunklen Augen sprach, übersehen. Lord Kisrah hatte es verstanden, seine Macht während des Jahrzehnts seiner Amtszeit klug einzusetzen.

»Lord Kisrah«, hieß Ren ihn willkommen. »Es ist zu freundlich, dass Ihr diesem Treffen zugestimmt habt.«

»Meisterspion«, erwiderte Lord Kisrah nicht unamüsiert, »wie hätte ich einer so ungewöhnlichen Einladung fernbleiben können. Ich hatte ja keine Ahnung, dass der Gärtner meiner Mätresse ein Agent aus Sianim ist, bis er mich bat, mich hier mit Euch zu treffen. Nicht dass ich deswegen beleidigt gewesen wäre. Tatsächlich hatte ich mich schon gefragt, ob Ihr mich vielleicht für zu unbedeutend halten könntet, um mich auszuspionieren.«

Ren lächelte seinen Besucher an; eine ungewöhnlich offene Gefühlsregung, die sich auf dem Gesicht des Meisterspions zeigte. »Keine Sorge, ich habe noch andere Spione in Eurem Haushalt; andernfalls hätte ich mir eben einen anderen Weg gesucht, Euch eine Nachricht zukommen zu lassen. Der Magierrat hätte Euch nicht zum ae’Magi berufen, wenn man Euch so leicht übersehen oder gar übergehen könnte.«

»Ich fühle mich geschmeichelt«, erwiderte Kisrah und lächelte ebenfalls. »Aber ich schätze, ich bin aus einem anderen Grunde hier?«

Ren nickte und geleitete seinen Gast zu einem Stuhl, den er schon am Nachmittag von allem Gerümpel befreit hatte. Der Erzmagier ignorierte die Staubschicht auf der Sitzfläche und nahm Platz, bevor er die Beine ausstreckte und lässig übereinanderschlug. Ren zerrte seinen eigenen Stuhl hinter dem Schreibtisch hervor und setzte sich Kisrah gegenüber.

»Seid Ihr darüber informiert, was sich gerade jenseits des Großen Sumpfes abspielt?«, fragte er seinen Gast.

Kisrah nickte. »Ihr seid nicht der Einzige, der Späher aussendet. Leider wurde ich aber erst auf die Situation aufmerksam, nachdem jemand im Sumpf eine erhebliche Menge Magie zum Einsatz brachte, um die alte Überlandstraße frei zu machen.

Meine Quellen berichten auch«, fuhr Kisrah fort, »dass spätestens im nächsten Frühjahr ein Invasionsheer über die Straße gen Westen vorrücken wird. Es gab die Überlegung, dass die Magier der Sache Einhalt gebieten sollten, bevor die Straße ganz geräumt ist, aber ich stimmte dagegen.« Der Erzmagier beugte sich vor. »Ich erinnerte den Rat an die Magierkriege und die Zerstörung, die sie nach sich zogen. Wer auch immer sich gerade eine Passage durch die Sümpfe erschließt, besitzt große Macht. Ihn anzugreifen, ohne zu wissen, wozu er imstande ist, könnte verheerende Folgen haben.«

»Was wisst Ihr über diesen Zauberer im Osten?«, wollte Ren wissen.

Lord Kisrah schüttelte den Kopf. »Nur wenig. Er hat sich wohl zum Sprachrohr eines dieser alten Götter erhoben und benutzt die Religion, um sein Ziel zu verwirklichen.«

»Nun, ich glaube, ich könnte mich in dieser Sache als dienlich erweisen«, bot Ren an.

Lord Kisrah lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Und wie viel wird das kosten?«

»Nichts«, sagte Ren in leicht gekränktem Ton. »Wenn Ihr Euch um diesen Zauberer kümmert, werde ich Euch alle Hilfe zuteilwerden lassen, die ich geben kann.«

In einer Mischung aus Erstaunen und Skepsis hob der Erzmagier die Brauen. »Mir scheint, hier wird gerade einer neuen Politik der Weg bereitet, und wir werden Sianim auch für die nächsten fünfundzwanzig Jahre dafür bezahlen, dass es die Burg des ae’Magi von den Uriah säubert.«

Ren zuckte die Achseln. »Das war etwas anderes. Aber die Stimme von Altis ist eine Bedrohung für uns alle.«

»Und die Uriah nicht?«, murmelte der Erzmagier, aber dann lächelte er wieder. »Also, was wisst Ihr denn über diesen Mann?«

»Er kommt von diesseits des Sumpfes«, sagte Ren. »Das haben mir meine Informanten im Osten bestätigt. Ich habe mich mit Euch, als ich es erfuhr, noch nicht in Verbindung gesetzt, weil ich noch nicht wusste, wer er genau ist. Gestern jedoch kehrte einer meiner Leute von einer Mission in Darran zurück. Während seines Aufenthaltes dort gelangte er unfreiwillig an Informationen, die besagen, dass es sich bei dem gesuchten Zauberer um Lord Winterseine handelt.«

»Isslic?«, fragte Lord Kisrah ungläubig, dann nickte er nachdenklich. »Er ist mächtig genug, ja, und ich hörte Gerüchte darüber, dass er sich mit verbotener Magie beschäftigen soll. Was im Übrigen auch der Grund dafür war, warum er kein Mitglied im Rat geworden ist.«

»Ich habe gehört«, Ren hüstelte diskret; der Magierrat war bekannt für seine obsessiv betriebene Geheimhaltung –, »dass Ihr als Erzmagier einen abtrünnigen Zauberer, nun, kontrollieren könntet.«

»Ich frage mich wirklich, wo Ihr das gehört habt«, bemerkte Kisrah, doch er wirkte nicht wirklich indigniert. »Es tut mir allerdings leid, Euch sagen zu müssen, dass Eure Informationen in diesem Punkt falsch sind. Die Meisterzauber hätten es mir vielleicht erlaubt, ihn zu kontrollieren, aber sie … gingen verloren.«

Erschrocken sog Ren die Luft ein. »Was?« Schon lange hatte es niemand mehr geschafft, den Meisterspion aus der Fassung zu bringen.

Lord Kisrah zuckte die Achseln, lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück und schloss halb die Augen. »Im Zauberbuch der ae’Magi gibt es Symbole, die kein weiteres Mal zu Papier gebracht werden können. Die sind aber nötig, um gewisse Zauber zu wirken. Nachdem Geoffrey, mein Vorgänger, tot war«, Kisrahs Stimme bebte leicht in Erinnerung an das traurige Ereignis, »fanden wir das Zauberbuch des Erzmagiers, aber jemand hatte die Seiten mit den Meisterzaubern herausgerissen.«

Der Erzmagier sah Ren nun direkt an. »Es ist möglich, dass Isslic, Lord Winterseine, sich der Seiten bemächtigt hat. Er war mit dem letzten Erzmagier befreundet und hätte wissen können, wo er suchen musste.«

Ren trommelte mit den Fingern auf der Armlehne seines Stuhls herum und fluchte leise. »Was Ihr also damit sagen wollt, ist, dass irgendjemand, möglicherweise Winterseine, diese Meisterzauber wirken und damit alle anderen Magier unter seine Kontrolle zwingen könnte?«

»Nein.« Kisrah schüttelte den Kopf. »Zumindest noch nicht zu diesem Zeitpunkt. Der Rat ist im Besitz der schriftlich niedergelegten Methode, nach der man diese Zauber wirken muss. Sie steht geschrieben in einem anderen Grimoire, und wir haben es an einem sicheren Ort verborgen, nachdem wir feststellten, dass die Seiten mit den Meisterzaubersymbolen fehlten. Niemand könnte das Grimoire in seinen Besitz bringen, ohne den Rat in Alarmbereitschaft zu versetzen. Zehn Jahre sind seitdem nun vergangen, und in der ganzen Zeit hat keine Person Hand an den Folianten zu legen versucht.«

»Und warum zerstört man nicht einfach dieses Buch?«, fragte Ren leise.

»Die Zauber wurden entwickelt, damit sich die Magier nicht gegenseitig an die Kehle gehen. Ohne diese Kontrolle gäbe es für die Zauberkundigen keinen Grund mehr, sich zu benehmen. Ich schätze, wir brauchen keine weitere Glaswüste, oder?«

Ren schnaubte verächtlich auf. »Ich denke, ihr Magier übertreibt es mit den Auswirkungen dieser Magierkriege. Es kann weitaus gefährlicher sein, wenn die falsche Person die absolute Kontrolle über alle Zauberkundigen hat, als wenn ein Scharmützel zwischen verfeindeten Zauberern stattfindet.«

»›Ihr Magier‹, sagt Ihr?«, fragte der Erzmagier mit weicher Stimme. »Meint Ihr nicht eher ›wir Magier‹?«

Ren starrte sein Gegenüber eine Weile an, dann lächelte er zögernd. »Darum also habt Ihr beschlossen, mir so viel zu erzählen. Wie habt Ihr es rausgefunden?«

Lord Kisrah schmunzelte. »Die alte Aurock hat schwer mit Euch angegeben. Sie sagte, Ihr wärt einer der wenigen Lehrlinge gewesen, die gewusst hätten, wann man aufhören muss. Wie dem auch sei, ich werde sehen, was ich tun kann, um Winterseines Beteiligung an dieser Krise zu bestätigen. Der Rat wird dann entscheiden, was wegen ihm zu unternehmen ist. Ich halte Euch auf dem Laufenden.«

Er verschwand, und die Luft wurde durch eine leichte Verzerrung in Bewegung versetzt, die stets die magische Teleportation begleitete.

Wieder allein starrte Ren noch lange in die Schatten seines Arbeitszimmers, bevor er es verließ und leise die Tür hinter sich schloss.

Rialla lag flach auf dem Rücken und wirkte atemloser, als sie war. Niemand würde sie ansprechen, wenn sie vorgab, eine Pause einzulegen. Und so konnte sie nach den sie umgebenden Emotionen greifen, ohne eine Störung fürchten zu müssen.

Sie war nun lang genug hier, dass einige der anderen Sklavinnen inzwischen freundschaftlicher auf sie zugingen, wenngleich nie so, dass es dem Tanzmeister auffallen könnte: hier ein Zwinkern, wenn der Lehrer ungeduldig schimpfte, dort eine helfende Hand, wenn Rialla im Badehaus nach ihrem Handtuch suchte. Sie hatte fast vergessen, wie herzerwärmend solch kleine Sympathiebekundungen sein konnten; kein Wunder, denn sie hatte nach ihrer Flucht alle Erinnerungen an das Sklavenleben aus ihrem Gedächtnis zu tilgen versucht.

In mancher Hinsicht war das Tanztraining nicht halb so schlimm wie erwartet, in anderer Hinsicht erwies es sich als schlimmer. Die übelste Erfahrung, die Rialla in der Sklaverei hatte machen müssen, war nicht die fehlende Freiheit gewesen, sondern der schwindende Drang nach Freiheit.

Nachdem sich Rialla ein Jahr lang in Sklaverei befunden hatte, hatte sie nur noch für den Tanz gelebt und bis spät in die Nacht hinein geübt. Sie hatte gewusst, dass sie jedem freien Mann zu Gehorsam verpflichtet war, aber unter ihresgleichen hatte sie bald eine besondere Stellung innegehabt. Sie hatte zu Isslics besten Tänzerinnen gezählt, und sie war stolz darauf gewesen.

Wie sie so dalag, während auf ihrer Haut der Schweiß in der Sommerhitze langsam trocknete, nahm Rialla an, dass sie Lord Jarroh wohl zu Dank verpflichtet war. Hätte sie in der Nacht vor ihrer Flucht nicht den grauenhaften Tod seiner Sklavin mitbekommen, würde sie wohl noch immer in einem von Winterseines Etablissements tanzen. Ein Lächeln umkräuselte ihre Lippen: Und jetzt tanzte sie als Kundschafterin auf Winterseines Stammsitz. Der Tanzmeister klatschte in die Hände, und sie sprang auf, noch bevor sie die Augen wieder aufschlug.

Der Lehrer übte derzeit mit ihnen einen der Standardtänze ein, den eine jede Sklavin zu beherrschen hatte. Er war recht weit verbreitet und konnte sogar vor darranischen Edelfrauen aufgeführt werden, ohne dass es ihnen die Schamesröte ins Gesicht trieb. Dennoch war es ein kunstvoller Tanz, der – im passenden Kostüm – auch ein Gutteil Erotik versprühte. Alles in allem eine nützliche Ergänzung des Repertoires einer Tänzerin. Die ganze Woche hatten die Sklavinnen damit zugebracht, und heute rief der Tanzmeister Sora auf, den Tanz von Anfang bis Ende zu präsentieren.

Sora erinnerte Rialla mehr als alle anderen Frauen hier an die Sklavin, die sie selbst einmal gewesen war. Wie sie besaß Sora den Vorteil, schlank und biegsam zu sein, wodurch sie sich ungleich eleganter bewegte als die anderen. Auch war sie eine hochtalentierte Tänzerin, die den Ehrgeiz besaß, immer besser zu werden. In ihrem Eifer versuchte sie Tag für Tag die schwierigsten Figuren zu tanzen, um ihren zukünftigen Meistern zu gefallen.

Rialla erschauderte, als die unerwünschten Erinnerungen sie heimsuchten. Sie versuchte zu vergessen, dass auch sie einmal so gewesen war: getrieben von dem einzigen Wunsch, eine gute Sklavin zu sein und die Erwartungen ihres Meisters zu erfüllen. Es machte sie fast körperlich krank, Sora dabei zu beobachten, wie sie wieder und wieder die perfekte Handhaltung probierte.

Sie war sorgsam darauf erpicht, keine Konkurrenz für Sora darzustellen; das arme Mädchen brauchte nicht noch weitere Herausforderungen in seinem Leben. Und so nahm sich Rialla die Anweisung des Tanzmeisters zu Herzen und schonte ihr Bein, wann immer es ging.

Rialla beherrschte den Tanz bereits, doch sie stellte sich zu den anderen und schaute zu, wie Sora ihn von Anfang bis Ende darbot. Die jüngere Sklavin war gut, aber nicht sonderlich schnell bei den Drehungen, und sie besaß auch nicht genug Lebenserfahrung, um bei ihrer Vorstellung die implizite Erotik nach außen zu tragen.

Nachdem Sora fertig war, nickte der Tanzmeister Rialla zu. Sie verstand, warum sie als Nächstes dran war. Obwohl sie den Tanz kannte, hatte sich Sora als die bessere Tänzerin präsentiert und würde den anderen als Vorbild dienen können.

Rialla begann mit ihrer Darbietung, achtete darauf, dass ihre Bewegungen ein wenig schlichter und die Drehungen etwas zögerlicher wirkten als bei Sora. Da sie sich bewusst zurückhielt, war sie schon weit im Tanz fortgeschritten, als sie sich zum ersten Mal im Rhythmus der Trommeln verlor. Und sie sah den Schlag nicht kommen, der sie von den Beinen riss.

»Wenn«, sagte Lord Winterseine, der mit kaltem Blick auf sie herabsah, »ich dich nicht in der Feste meines Neffen hätte tanzen sehen, könnte man meinen, du hättest in den sieben Jahren nach deiner Flucht jegliches Talent verloren. Dann hätte ich dir vielleicht abgekauft, dass du tatsächlich so steif und untrainiert bist, wie du tust. Steh auf!«

Teilnahmslos kam Rialla wieder auf die Füße. Sie wischte sich mit dem Handrücken das Blut von ihrer aufgeplatzten Lippe und ignorierte den Schweiß, der ihr über die Schläfen rann. Sie hatte das ungute Gefühl, dass ihr das, was nun folgte, nicht gefallen würde. Instinktiv verstärkte sie die Barriere, die sie für gewöhnlich errichtete, um Tris’ Geist auszusperren.

Lord Winterseine, der in der Reihe der Zuschauer gestanden hatte, schnappte sich eines der Mädchen und zerrte es mit sich, als er auf Rialla zuging.

»Du bist wertvoll«, gurrte er in Richtung Rialla, »und ich werde deine Haut nicht mit einer Peitsche verunstalten. Aber diese hier wird niemals eine gute Tänzerin werden.« Er hielt die Hand auf, und der Tanzmeister reichte Winterseine seinen Stock, mit dem er die Sklavinnen disziplinierte. Das Gesicht des Lehrers war so ausdruckslos wie das von Rialla, aber sie konnte seine Wut förmlich schmecken.

»Nur falls du denkst, dass es mir damit nicht ernst ist, werde ich mir diese kleine Demonstration erlauben.«

Er warf das Mädchen mit dem Gesicht nach unten auf die Matte und holte mit dem Stock aus. Die Sklavin schrie, als ihre Rippen unter dem Schlag brachen. Wohlweislich hatte Rialla einen Großteil ihrer Emotionen aus ihrem Geist verbannt, wie auch ihre Schmerzen.

Winterseine wandte sich zu dem Tanzmeister um. »Nimm sie und verbinde ihren Brustkorb, aber ich will, dass sie hierbleibt, bis diese hier«, er tätschelte Riallas Wange, »ihren Tanz zu meiner Zufriedenheit beendet hat. Ich hoffe, sie braucht nun keinen weiteren Ansporn mehr, aber ich bin diesbezüglich immer gern auf der sicheren Seite.«

Dass sie ihr verletztes Bein nicht mehr länger schonen konnte, stand außer Frage. Es war gut möglich, dass Winterseine das andere Mädchen zu Tode prügelte, egal, wie gut Rialla tanzte. Also gab sie ihr Bestes, nicht zuletzt, um nicht die Schuld für den Tod des Mädchens auf sich zu laden. Wenn sie eine tadellose Vorführung gab und Winterseine die Sklavin trotzdem tötete, würde er ganz allein dafür verantwortlich zu machen sein.

Und so gerieten ihre Drehungen noch eine Spur leichtfüßiger, was den Unterschied zwischen einer guten und einer ausgezeichneten Darbietung ausmachte. Doch sie wusste, der Meister verlangte nicht weniger als eine überragende Leistung. Sie betonte den erotischen Aspekt, legte mehr Feuer und weniger Anmut in ihre Bewegungen und schaffte es, das einfache Trainingskostüm in etwas weitaus Exotischeres zu verwandeln. Der Trommler war besser, als sie gedacht hatte; er verlieh seinem Spiel das zusätzliche Quäntchen Leidenschaft, das aus einer luftig-leichten Tanzdarbietung etwas machte, das man sonst nur im Schlafgemach oder in gewissen Etablissements zu sehen bekam.

Als Riallas Tanz endete, herrschte Stille im Übungssaal. Schwer atmend sah sie zu Winterseine und war erleichtert, als sie seinen zufriedenen Gesichtsausdruck wahrnahm.

»Ich will sie haben, Vater.« Terrans heisere Stimme durchbrach die Ruhe. Rialla war so auf Winterseine konzentriert gewesen, dass sie die Anwesenheit seines Sohns gar nicht bemerkt hatte.

»Nein«, erwiderte Winterseine. »Sie war wer weiß wie lange in Laeths Besitz. Du weißt genauso gut wie ich um die Loyalität, die zwischen einer Sklavin und ihrem Besitzer entstehen kann. Ich werde sie auf keinen Fall frei in der Burg herumlaufen lassen, solange ich mir ihrer uneingeschränkten Folgsamkeit nicht sicher sein kann.«

Terran wandte die Augen von Rialla ab und seinem Vater zu. »Ich will sie haben«, wiederholte er.

Rialla wagte einen unauffälligen Seitenblick zu Winterseine. Ein seltsamer Ausdruck trat in sein Gesicht, und es dauerte einige Sekunden, bevor sie begriff, dass es sich um nackte Angst handelte. Es war ein so ungewohnter Anblick, dass sie für einen Moment vergaß, worum es hier gerade ging.

Lord Winterseine fuhr zum Tanzmeister herum und sagte mit barscher Stimme: »Seht zu, dass sie nach dem Bad in die Gemächer meines Sohns geschafft wird.« Dann drehte er sich um und ging. Mit einem letzten Blick auf Rialla tat sein Sohn es ihm gleich.

Der Tanzmeister verbeugte sich leicht und bedeutete Rialla, bei den anderen zu warten. Dann sorgte er dafür, dass die verletzte Sklavin angemessen versorgt wurde.

Rialla stand da, wo er sie hatte haben wollen, und legte ihre zitternden Arme um den Oberkörper. Noch immer lief ihr der Schweiß in Strömen über das Gesicht, doch es kümmerte sie nicht. Im Moment hatte sie andere Sorgen. Sie hatte den Tanzmeister bloßgestellt und eine seiner Schülerinnen zu Schaden kommen lassen. Der Lehrer würde es ihr in den verbleibenden Stunden ganz sicher nicht einfach machen. Und Rialla versuchte nicht daran zu denken, was sie danach erwartete.

Als Rialla das Badehaus verließ, wurde sie schon von Tamas, Winterseines Adlatus, erwartet. Das dünne Seidengewand, das man ihr angelegt hatte, bedeckte nicht viel, und was es bedeckte, war durch den transparenten Stoff gut zu erkennen. In den sieben Jahren ihres Sklavendaseins hatte sie so ziemlich jedes Schamgefühl bei der Zurschaustellung von Blöße eingebüßt, doch unter Tamas’ Blicken wünschte sie sich nichts sehnlicher als eine Decke, unter der sie sich verstecken konnte.

Teilnahmslos ließ sie es geschehen, dass er ihren Arm umfasste, doch die damit einhergehenden Emotionen, die er ihr unfreiwillig aufzwang, verursachten ihr Übelkeit. Wie auch der Gedanke daran, was nun kommen würde.

Er führte sie in die Burg zurück und eine Hintertreppe hinauf. In der dritten Etage liefen sie einen langen Gang entlang, bis sie vor einer Tür standen, die Tamas mit einem vergoldeten Schlüssel öffnete.

Der Raum, in den sie geführt wurde, war groß und weitläufig, größer noch als das Gemach, das man ihr und Laeth auf Westholdt zugewiesen hatte. Auf dem Boden lagen weiche Webteppiche aus dunkler Wolle. Die Steinwände waren weiß gekalkt, wodurch der Raum noch größer wirkte.

»Bleib hier und warte auf seine Lordschaft.« Sie hörte, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde, bevor Tamas davonging.

Sich in ihr Schicksal ergebend wanderte Rialla ein wenig im Zimmer herum. Es schien eine Art Salon und kein Schlafgemach zu sein, denn nirgendwo war ein Bett oder etwas Ähnliches zu sehen. Zu beiden Seiten standen lange, mit gelbem Samt bezogene Bänke, die den Blick auf die dem Eingang gegenüberliegende Wand lenkten.

Auf ihr war eine stilisierte Katze abgebildet; das Bild reichte von der Decke bis zum Boden und war in einem so dunklen Blau ausgeführt, dass es fast schwarz wirkte. Es wurde von zwei Türen in derselben Farbe flankiert. Vor dem Katzenbildnis gab es eine Art Empore, die von Türrahmen zu Türrahmen reichte. Darauf ein Altar aus rosafarbenem Marmor, der hinter einem kleinen Gebetsteppich im Zentrum der Plattform stand. Terran nahm, wie es schien, die Verehrung von Altis relativ ernst.

Neben der Ruhebank zu Riallas Rechten befand sich ein niedriger Tisch, auf dem zwischen zwei Stützen eine Reihe Bücher stand. Rialla kniete vor dem Tischchen auf dem Boden nieder, nahm eines der dünneren Bücher zur Hand und öffnete es. Das Darranische in seiner Schriftform fiel ihr schwer zu entschlüsseln, doch sie konnte genug entziffern, um festzustellen, dass sie ein Tagebuch vor sich hatte.

Plötzlich drang eine Männerstimme aus dem Gang vor dem Zimmer an ihr Ohr: »… scheint mir Wichtigeres zu geben.«

»Mit den Magiern an unserer Seite wird es einfacher werden.«

»Ich hab dir doch gesagt, dass es völlig einerlei ist, ob sich die Magier unserem Willen beugen oder nicht. Es gibt Dringenderes zu tun, und ich werde mich nicht mit Nebensächlichkeiten aufhalten.«

Rialla stellte das Tagebuch wieder an seinen Platz zurück und eilte zur Tür. Die Lautverzerrung im Gang war so stark, dass sie nicht ausmachen konnte, wer da mit wem sprach, aber sie erkannte das Schema von Winterseines Geist wieder. Da sie die andere Person in keinster Weise erfassen konnte, nahm sie an, dass es sich bei ihr um Terran handelte.

Als der Sohn des Lords seine Gemächer betrat, saß Rialla mit vorschriftsmäßig gebeugtem Haupt auf dem Boden. Zuerst schenkte er ihr keine Beachtung, ging geradewegs auf die Empore vor dem Altar zu. Er kniete sich auf den Teppich, senkte den Kopf zum Gebet. Rialla bekam einen steifen Hals, während sie wartete und wartete.

Schließlich sprang Terran leichtfüßig auf und kam auf sie zu. »Steh auf«, befahl er.

Rialla erhob sich. Terran umrundete sie einmal, dann hielt er wieder vor ihr an.

»Ich erinnere mich an dich aus der Zeit, als Vater dich zum ersten Mal herbrachte. Du hattest Angst vor allem und jedem.« Er berührte ihr Kinn.

Sie erschauderte sichtlich. Selbst zu der Zeit, da ihre Empathie nur eingeschränkt funktioniert hatte, hatte sie die schiere Präsenz anderer Kreaturen zumindest wahrnehmen können. Nicht so im Fall von Terran. Von jemandem angefasst zu werden, dessen Vorhandensein sich nur auf der rein körperlichen Ebene bestätigte, war, als würde man von einer Leiche berührt. Sie spürte Verzweiflung in sich aufsteigen, den fast unbändigen Wunsch zu fliehen.

»Ganz ruhig«, sagte er mit sanfter Stimme. »Ich weiß, du bist sehr lange bei Laeth gewesen, aber ich werde dir die Zeit geben, dich einzuleben. Komm mit, ich weiß einen besseren Ort dafür.«

Der tiefblaue Teppich fühlte sich weich an unter Riallas schwieligen Füßen, als sie sich aus dem Bett schwang. Schweigend warf sie sich das Gewand über, das sie auf dem Weg hierher getragen hatte. Ohne einen Blick auf den neben ihr schlafenden Mann zu werfen, verließ Rialla das Schlafgemach und schlüpfte hinaus in den Wohnraum. Sie kam direkt neben der Plattform mit dem Altar heraus.

Rasch ging Rialla zu dem Tischchen mit den Büchern, wobei sie der Katze auf der Wand einen argwöhnischen Blick zuwarf. Wenn irgendjemand wusste, was Winterseine im Schilde führte, dann Terran. Und vielleicht hatte er sich dazu ja auch seinem Tagebuch anvertraut. Tatsächlich hätte Rialla lieber den Dolch gehabt, um Winterseines Schuld an Karstens Tod zu beweisen, aber sie konnte das alles nicht noch einmal durchmachen, nicht einmal um der Beendigung der Sklaverei in Darran willen.

Sie warf einen Blick auf die Tagebücher, wusste aber von ihrer ersten Lektüre, dass die Einträge nicht datiert zu sein schienen. Während sie noch zögerte, vernahm sie aus dem Schlafzimmer ein gedämpftes Rascheln.

Sie schnappte sich das erste Buch, das in der Reihe ganz links stand, und hoffte, dass es sich dabei um das aktuellste handelte. Dann huschte sie nach draußen. Zu ihrer großen Erleichterung erwartete sie im Gang ein Wachmann und nicht Tamas, um sie wieder zurück in ihre Zelle zu bringen.

Mithilfe ihres Talents, das sie schon fast vergessen hatte, gelang es Rialla, die Aufmerksamkeit des Mannes von dem Buch abzulenken, das sie bei sich trug. Ja, er fand nicht einmal etwas dabei, dass eine Sklavin mit einem Buch aus Terrans Gemächern zurückkehrte. Wenn niemand ihn in den nächsten Stunden darauf ansprach, würde er diese Sache schon bald vergessen haben.

Ruhelos ging Tris in der Zelle auf und ab. Sie war spät dran. Viel später, als dass es sich noch mit einer der üblichen Verzögerungen erklären ließe. Er hatte das Badehaus nach ihr abgesucht, doch es war verwaist gewesen. Seit dem Vormittag hatte sie ihren Geist für ihn gesperrt, und er hatte nicht mehr zu ihr durchdringen können. Er blieb stehen, lauschte, als sich aus dem Gang Schritte näherten. Rasch schlüpfte er zurück in die Schatten, bevor sich der Schlüssel in der Tür drehte.

Stumm und mit gesenktem Kopf trat Rialla ein und ging zur Mitte der Zelle. Das Licht, das durch das Fenster fiel, überraschte, ja, verdross sie. Es schien ihr, als wären seit diesem Morgen nicht Stunden, sondern Tage vergangen; es hätte draußen zumindest dunkel sein können …

Sie wusste, dass Tris im Schatten stand, aber er schwieg. Sie hatte keine Ahnung, ob die Anwesenheit des Wachmanns oder ihr Gesichtsausdruck der Grund für seine Zurückhaltung war. Als sich hinter ihr die Tür wieder schloss, tauschte sie das Seidengewand gegen die saubere weiße Tunika aus, die man ihr zurechtgelegt hatte. Sie legte das Seidenhemd über das Buch; mochte sich Tris in den nächsten Stunden damit beschäftigen. Als es nichts mehr zu tun gab, ließ sie sich auf dem Strohlager nieder.

Nach einer ganzen Weile zog sie die Beine gegen ihre Brust und legte den Kopf an die Knie. Der Heiler war sehr geduldig; sie konnte ihn atmen hören und wusste, dass er sich seit ihrer Rückkehr nicht mehr vom Fleck bewegt hatte. Rialla wusste auch, dass sie ihm hätte erzählen sollen, wo sie gewesen war, aber sie hatte Angst, dass schon das leiseste Wort sie in Tränen ausbrechen lassen würde,

Stattdessen lockerte sie die Barriere, die sie um den Teil ihrer selbst errichtet hatte, der mit Tris verbunden war.

Tris, ich … Selbst in Gedanken konnte sie die Worte nicht formulieren, weshalb sie ihn stattdessen an ihren Erinnerungen teilhaben ließ.

Wie betäubt wartete sie danach auf eine Antwort von ihm – obwohl sie nicht wusste, ob die je erfolgen würde. Ärger vielleicht, oder gar Abscheu oder Mitleid, dies alles waren denkbare Reaktionen auf eine Vergewaltigung, wenngleich das Opfer dieser zugestimmt hatte.

Doch alles, was Tris fühlte, war kochendheiße, rasende Wut. Das erschien ihr so seltsam, dass Rialla den Kopf hob, um ihn anzublicken. Mit unbeweglicher Miene stand er noch immer dort, wo er seit geraumer Zeit gestanden hatte. Ohne ihre Geistverbindung hätte sie nicht mal sagen können, ob er in diesem Moment tatsächlich etwas fühlte.

Angesichts dieser Weißglut, die in ihm loderte, wusste sie nichts zu sagen. Und es überraschte sie, dass sie überhaupt in Erwägung zog, etwas zu sagen. Hätte Laeth jetzt dort schweigend in der Dunkelheit gestanden, hätte sie sich in die andere Ecke verzogen und beschämt zusammengekauert.

»Ich habe Terrans Tagebücher gefunden«, sagte sie schließlich und freute sich, wie ruhig ihre Stimme klang. »Ich dachte, er weiß vielleicht etwas über Karstens Ermordung und hat es aufgezeichnet. Ich bin nicht sicher, in welchem Zeitraum die Einträge in dem Buch entstanden sind, das ich habe mitgehen lassen. Ich konnte es auf die Schnelle nicht nachprüfen.«

»Du hast es in Terrans Zimmer gefunden?« Sie spürte, wie sich sein Zorn fokussierte, und begriff, dass er in ihren Erinnerungen nicht hatte sehen können, wer genau ihr Gewalt angetan hatte.

Es war zu viel, ich konnte nicht jedes Detail erfassen, sagte er ihr jetzt, denn er hatte offenbar ihren Gedanken gelesen.

»Ja«, sagte sie, »in Terrans Zimmer.«

»Und er hat es dich einfach so mitnehmen lassen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, er hat im anderen Zimmer geschlafen. Ich denke, niemand wird bemerken, dass es fehlt, bis Terran wieder etwas darin niederschreiben will. Ich hab dem Wachmann, der mich zurückgebracht hat, ähm, versichert, dass es völlig in Ordnung ist, wenn sich eine Sklavin eines von Terrans Büchern ausleiht.«

Tris knurrte.

»Selbst wenn ich mir das falsche unter den Nagel gerissen haben sollte, steht vielleicht etwas über Winterseine und seine Magie drin«, fügte sie hinzu.

Die Schatten in der Zelle wurden dunkler, je länger das Schweigen zwischen ihnen andauerte, bis der kleine Raum nur mehr durch das Licht der Sterne erhellt wurde, das durch das Fenster fiel.

Rialla räusperte sich unbehaglich, weil Tris’ Zorn einfach nicht abflauen wollte. »Was geschehen ist, gehört zum Sklavendasein dazu, und es ist nicht mal das Schlimmste, was einem widerfahren kann. Er war sauber und hat mir nicht über die Maßen wehgetan. Ich bezweifle, dass meine, ähm, Leistung ihn so sehr beeindruckt hat, dass er auf einer Wiederholung besteht.« Inzwischen wusste sie, dass sie nicht in Tränen ausbrechen würde, weil eine Sklavin das nun mal nicht tat. Und im Moment fühlte sie sich mehr denn je wie eine Sklavin und kein bisschen wie eine Pferdeausbilderin oder Agentin.

»Ist die Abschaffung der Sklaverei in Darran dir noch wichtig?«, fragte er mit abgewandtem Blick. »Die Sklavinnen hier scheinen mir nicht halb so entschlossen gegen ihr Schicksal anzukämpfen wie du.«

Rialla nickte müde.

»Auch nach diesem Vorfall?«

»Ja.«

»Dann werden wir morgen von hier verschwinden«, sagte Tris entschlossen.

Trotzig schüttelte Rialla den Kopf. »Aber das Tagebuch wird nicht ausreichen. Wir brauchen etwas –« Sie dachte kurz nach. »Wir brauchen Winterseines Zauberbuch. Alle Magier haben eins … Glaube ich zumindest. Konntest du herausfinden, wo sein Arbeitszimmer ist?«

Langsam nickte Tris. »Es befindet sich irgendwo in den oberen Etagen der Burg. Ich versuche morgen, dort einzudringen.«

»Und danach gehen wir«, sagte Rialla und spürte eine Welle der Erleichterung bei der Vorstellung, diesen Ort auf immer zu verlassen.

Sie redeten noch eine Weile, besprachen die diversen Fluchtmöglichkeiten. Es gab verschiedene denkbare Szenarien, abhängig davon, um welche Zeit sie flohen und wie viele Wachen sich ihnen in den Weg stellen würden. Schließlich verfielen sie wieder in Schweigen.

Es war seltsam, wie sehr Terrans Begierde sie noch immer beschäftigte. Der körperliche Akt war nie etwas gewesen, was sie genossen hatte, aber es gehörte zum Sklavendasein dazu. Wiewohl es ihr nie auch nur im Geringsten gefallen hatte, war kein einziges Mal der dabei empfundene Ekel so stark gewesen wie heute.

Der Zeitpunkt, in dem Tris sie für gewöhnlich allein ließ, verstrich, und er war noch immer da. Sie errichtete wieder einen Teil ihrer Barriere, doch es war schwieriger als beim letzten Mal. Sie empfand seine Anwesenheit als angenehm und tröstlich.

Rialla rollte sich auf dem Strohbett zusammen und schloss die Augen. Sie war erschöpft, konnte aber nicht einschlafen. Nach dem vierten oder fünften Versuch, eine bequeme Position zu finden, vernahm sie ein feines Raunen an den Rändern ihrer Wahrnehmung.

Liebes.

Sie zögerte, wollte jeden vertraulichen Kontakt wenn möglich vermeiden und antwortete deshalb laut: »Was ist denn?«

Komm doch mit mir, lud Tris sie ein, während sein Geist sachte an ihr zupfte.

Und wohin?, fragte sie, nun neugierig geworden.

Hierhin, erwiderte er und zog sie hinein in seine Träume.

Sie stand auf einem Felsvorsprung und schaute hinab auf den gigantischen Wasserfall, dessen Donnern den Untergrund zu ihren Füßen erbeben ließ. Der kühle Sprühnebel, der von den Kaskaden aufstieg, legte sich auf ihre Kleidung und bestrich den Stein, auf dem sie standen, mit einem dunklen Glanz. Sie hob den Kopf, erblickte Berge zu allen Seiten; auf den Gipfeln lag frisch gefallener Schnee, doch die Hänge waren über und über mit blaugrünen Nadelhölzern bewachsen.

Das Getöse, mit dem das Wasser über die weiter unten liegenden Felsen rauschte, war ohrenbetäubend. Sie versuchte, in die Tiefe zu schauen, doch der aufsteigende Nebel verschleierte ihre Sicht. Sie holte tief Luft und fühlte sie erneut – diese Störung, die sie hierhergebracht hatte.

Ein enger Pfad verlief am Rand des feucht glänzenden Felsens, und schon spazierte sie auf ihm talwärts, als befände sie sich auf einer breiten Überlandstraße. Als sie ihre Hand auf die raue Rinde einer Zeder legte, die sich am Wegessaum gen Himmel reckte, spürte sie die gemächliche Wanderung der Mineralien von den Wurzeln bis in den Stamm hinauf wie auch das Einsickern des nährenden Sonnenlichts von oben. Sie hielt einen Moment inne, konnte den friedlichen Triumph des knorrigen Baums mitfühlen. Und während sie so dastand, wuchs die Erkenntnis, und sie umfasste alles Werden und Gedeihen und Vergehen um sie herum in seiner ganzen Schönheit.

Die Erkenntnis blieb ihr, als sie ihren Abstieg fortsetzte. Dort unten im Nebel wartete etwas auf sie, etwas ganz Besonderes. Rialla konnte das Prickeln von fließender Magie in den Steinen wie in der Luft körperlich spüren.

Der Weg, dem sie folgte, endete plötzlich, da der Fels sich bis ins Wasser hinabschlängelte, das jetzt nur einen Steinwurf von ihr entfernt lag. Sie blinzelte, konnte aber nichts durch den Sprühnebel des herabstürzenden Katarakts erkennen. Das bewegte Wasser erschuf mächtige magische Strömungen; es gab genug Magie in dieser Schlucht, um ein Unwetter über der Wüste zu entfesseln. Mit einer Handbewegung machte sich Rialla einen Teil dieser Magie zunutze, um den Nebel zu vertreiben.

In der Mitte des aufgewühlten Wassers ragte ein großer schwarzer, buckliger Stein in die Höhe; das seltsame Wispern der gewonnenen inneren Einsicht sagte ihr, dass es sich um einen Feuerstein handelte, der tief im geschmolzenen Herzen der Erde geformt worden war. Und auf diesem Stein schlief etwas. Wäre da nicht das schwache Geräusch seines Ein- und Ausatmens gewesen, Rialla hätte es gar nicht bemerkt. Je länger sie die Kreatur anstarrte, umso mehr verdichtete sich der Eindruck, dass ein Großteil der unebenen Steinoberfläche in Wahrheit der Körper einer riesigen schwarzen Echse war.

Das Wesen war wunderschön. Rialla griff nach dem inneren Wissen, das ihr gesagt hatte, dass der Baum eine Zeder war und dem Fluss Magie innewohnte – aber sie konnte es nicht mehr finden.

Ich hatte noch nie zuvor einen gesehen, wandte sich Tris in seiner bescheidenen Art an sie. Ich ging im Wald spazieren, als ich diese … atmosphärische Störung wahrnahm.

Das ist aber kein richtiger Drache, oder?, meinte Rialla und starrte die Kreatur weiterhin unverwandt an. Sie wollte nicht weiterspekulieren aus Angst, vielleicht falsch zu liegen.

Was, glaubst du, ist es dann?, fragte Tris, und es schwang Belustigung in seiner Stimme mit. Ich dachte nicht, dass ich mich mit meiner Schnitzerei so weit vom Original entfernt hätte. Ein Bild wurde für Rialla geformt, das die aufwändig geschnitzte Spielfigur zeigte, die eine schlafende Echse darstellte.

In diesem Moment öffnete die Kreatur zögernd eines ihrer smaragdgrünen Augen und hob anmutig den Kopf, bis sie einen guten Blick auf Rialla und sie auf die Echse hatte. Wie sie sich bewegte, veränderte sich das Farbspektrum ihrer Schuppen, sodass sie die weiße und blaue Vielfalt des herabrauschenden Wasserfalls widerspiegelten, um dann tausend weitere Töne zurückzuwerfen.

»Ah«, sagte der Drache mit einer Stimme, die sowohl melodisch als auch vom Rasseln der Schuppen begleitet war. »Und ich dachte, alle Kinder des Waldes wären fort.«

Tris wartete, bis sie eingeschlafen war. Er schob ihre Kleider beiseite und nahm das Buch an sich, das sie mitgebracht hatte. Wenn man es bei ihr fand, würde Winterseines Strafe fürchterlich sein, dessen war er sich sicher.

Durch die Steinwand wieder zu verschwinden war schwieriger, als durch sie hierher zu gelangen, wenn die Schwerkraft seinen Abstieg unterstützte. Er kam außerhalb der Burg wieder zum Vorschein, wobei er auf Händen und Füßen im Dreck kniete.

Er erhob sich und klopfte sich so gut es ging den Schmutz aus den Sachen. Mithilfe seiner Magie rief er noch mehr Schatten herbei und dämpfte die Geräusche seiner Schritte. So getarnt, war es ein Leichtes, ungesehen zu seinem kleinen Unterschlupf zu gelangen, der irgendwo jenseits des Burghofs lag, wie so viele andere Rückzugsorte inmitten der freien Natur. Man hatte ihm eine Unterkunft im Trakt der Dienerschaft angeboten, aber er hatte ein etwas abgeschiedeneres Domizil vorgezogen – selbst wenn es nicht ganz so wetterfest war.

Vergewaltigung in jeder Form hatte ihn schon immer zur Raserei gebracht. Sie stellte einen Missbrauch der männlichen Beschützerrolle dar – selbst unter den Menschen –, aber sein Zorn ging noch tiefer. Rialla gehörte ihm, auch wenn sie es vielleicht noch nicht wusste.

Er hatte ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken. Rialla war sein, doch sie verstand nicht, was das Band zwischen ihnen wirklich bedeutete.

Trotz seiner nach außen getragenen Gleichmut, die seine schiere Größe, aber auch sein ganzes Auftreten ihm verlieh, war Tris schon immer impulsiv, ja, unbesonnen gewesen. Er reagierte spontan, ohne sich um die Konsequenzen zu scheren, doch nur sehr selten hatte er seine Handlungen im Nachhinein bereut. Selbst als die Enklave ihn verstoßen hatte, hatte er es nicht bedauert, dem Mädchen geholfen zu haben. Aber das hier … das war anders. Diesmal würde er nicht der Einzige sein, der unter seinem Ungestüm zu leiden hatte.

Er hatte es ganz impulsiv getan: das Band zwischen der Tänzerin mit dem feuerroten Haar und sich geknüpft. Er hätte, wenn es ihm nur darum gegangen wäre, auch einen besseren Weg finden können, um mit ihr in Kontakt zu bleiben, aber er wollte sie … eine Menschenfrau. Nie hatte er vorgehabt, sich je an einen Menschen zu binden, obwohl er ihnen gegenüber toleranter eingestellt war als die meisten aus seinem Volk. Selbst als ihm klar geworden war, dass sie diejenige sein musste, welche die alte Trenna in ihrer Vision beschrieben hatte, hatte er sich auf keinen Fall mit ihr verbinden wollen. Tris war niemand, der an so etwas wie das Schicksal glaubte. Aber er hatte erkannt, dass sie sein Schicksal war. Und das hätte er auch ohne Trennas Prophezeiung begriffen.

Sie hatte ihn vom ersten Moment an fasziniert, nicht nur aufgrund ihrer Erscheinung, so spektakulär sie auch war. Er schätzte ihren Humor, ihren widerstrebenden Mut und dass sie das Drachenspiel beherrschte und dabei gewann, sei es in ehrlicher Weise oder indem sie ihn austrickste. Nicht lange nach ihrem Kennenlernen war ihm klar geworden, dass der einzige Weg, ihr Vertrauen zu gewinnen, darin bestand, dass er das Errichten jeglicher Barrieren zwischen ihnen ablehnte.

Es gab nicht mehr viele in seinem Volk, die noch auf jene Weise mit jemandem verbunden waren. Die meisten gaben sich mit der einfachen Hochzeitszeremonie zufrieden, wie sie unter den Menschen üblich war. Doch zu oft konnte der perfekte Partner nicht gefunden werden, und die Verbindung wurde mit der Zeit schwächer, nicht stärker. Doch er hatte gewusst, dass es mit Rialla anders sein würde, hatte es gewusst, noch bevor er das Band zwischen ihnen geknüpft hatte.

Tatsächlich war die Verbindung zwischen ihnen inzwischen so stark, dass er sie nicht mehr zu lösen vermochte. Diese Linie war überschritten worden, als sie seine Magie ohne Absicht dazu benutzt hatte, auf dem Folterrad das herannahende Wasser zu erspüren. Seufzend schloss er die Augen.

Beim Geräusch des Schlüssels im Schloss ihrer Zellentür erwachte Rialla. Es war der nächste Morgen, und Tris war fort. Natürlich. Dennoch wäre es nett gewesen, wenn er sie in seine Pläne eingeweiht hätte, bevor er verschwand. Ihr Blick fiel auf die Kleider von gestern, aber auch das Tagebuch, das sie gestohlen hatte, war weg. Sie hoffte, dass Tris es genommen hatte. Mit einem leichten Achselzucken folgte sie der Wache in den Übungssaal.

Die Plattform, die als Tanzboden diente, konnte auch als Kampfplatz genutzt werden. Schon als Rialla sich warm machte, um die Gliedersteife der Nacht abzuschütteln, konnte sie die Feindseligkeit der anderen Sklavinnen spüren.

Natürlich machte man sie für die Bestrafung der anderen Sklavin verantwortlich. Das verletzte Mädchen war eine Kameradin gewesen; Rialla war die Außenseiterin. Man konnte auch nicht von ihnen verlangen, dass sie Winterseine die Schuld für den Vorfall gaben. Sie waren zu gut gedrillt, um die Entscheidungen ihres Herrn in Frage zu stellen. Rialla hatte sich vor ihren Pflichten gedrückt, etwas, das eine gute Sklavin einfach nicht tat, und eine von ihnen hatte den Preis dafür gezahlt.

Die offene Ablehnung der anderen machte Rialla nichts aus, aber es rief ihr unerfreulicherweise in Erinnerung, dass sie sich einst genauso verhalten hatte.

Als sie die ersten Schritte des Tanzes vollführten, wartete das Mädchen neben Rialla, bis der Lehrer wegschaute, und versuchte ihr dann unauffällig ein Bein zu stellen. Rialla machte einen Ausfallschritt und vermied den Sturz, da sie die Absicht des Mädchens erahnt hatte. Danach nutzte sie ganz bewusst ihre Empathie, um ähnlichen »Missgeschicken« aus dem Wege zu gehen, und ignorierte ansonsten alles andere um sich herum.

Der Tanzmeister war nicht dumm; er bemerkte, was sich hier abspielte und separierte Rialla von den anderen; zu viel Zank würde nur das Training stören. Rialla lächelte böse und konzentrierte sich wieder auf ihren Tanz.

In der Pause wurde sie von Tamas erwartet. Er packte sie grob am Arm, als sie sich gerade mit einem Baumwolllappen die Stirn trockenrieb. Rialla versteifte sich erschrocken; nicht wegen Tamas, sondern wegen des wütenden Knurrens, das sie von Tris empfing. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie nah er war. Sie wandte den Kopf, empfing ein Bild von ihm – er saß in der Nähe der Burg in des Schatten und ölte ein kleines Holzstück ein.

»He!« Tamas schüttelte sie leicht. »Wie es scheint, hast du die Aufmerksamkeit des jungen Herrn erregt. Er will, dass du mitkommst.«

Einen Moment lang starrte sie ihn entsetzt an, bevor sie den Blick senkte. Dann ließ sie sich von ihm über den Innenhof und in die dunkle Burg hinein mitziehen.

Widerspruchslos folgte sie Tamas durch die verschlungenen Gänge und die zwei Etagen hinauf in die Privatgemächer der Burgherren. Als sie eine Stelle erreichten, die ihr für ihren Zweck geeignet erschien, schlug Rialla zu.

Ihr Ellbogen traf Tamas genau an der Brust. Während er taumelte und nach Luft schnappte, knallte sie seinen Hinterkopf gegen die Wand.

»Bravourös«, bemerkte Tris hinter ihr. Er machte keine Anstalten, ihr zu helfen, als Rialla den leblosen Körper des Dieners sorgfältig auf dem Boden ablegte.

»Hast du Winterseines Arbeitszimmer gefunden?«, fragte Rialla, die noch immer neben Tamas hockte.

»Ja.« Tris nickte. »Einer der Bediensteten hat es ausgeplaudert. Obwohl ich allerdings annahm, dass wir ihm erst in der Nacht einen Besuch abstatten. Tagsüber ungesehen durch die Burg zu schleichen, wird schwierig werden.«

Rialla berührte das Gesicht des bewusstlosen Dieners und verfluchte gleichzeitig die Tatsache, dass ein körperlicher Kontakt die mentale Berührung so viel einfacher machte.

Das Zusammenprallen mit den äußeren Rändern von Tamas’ Geist war halb so schlimm, doch als sie tiefer grub, war es, als wühle man sich durch Filz. Sie sorgte dafür, dass er noch ein Weilchen länger schlafen würde, und zog sich dann aus seinem Bewusstsein zurück. Als sie sich wieder erhob, schwitzte sie. Rasch schleifte sie den leblosen Körper ins Zwielicht unter den Treppenaufgang. Sie zitterte; es war mühevoll gewesen, den Kontakt zu Tamas’ verzerrtem Bezugsrahmen aufrechtzuerhalten. Tris’ warme Hände auf ihren Schultern brachten ihr ein wenig Frieden zurück.

»Mit manchen Leuten ist es schwieriger, Verbindung aufzunehmen, als mit anderen«, meinte Rialla heiser, während sie sich den Schweiß mit dem Stofftuch aus dem Nacken wischte, das sie schon im Tanzsaal benutzt hatte. »Ich hoffe, ich muss das nie wieder bei ihm machen.«

»Wenn wir es hier rausschaffen, sicher nicht«, sagte Tris. »Folge mir, sei auf der Hut und lass mich rechtzeitig wissen, ob wir womöglich jemandem in die Arme laufen.«

Leise schlichen sie weiter den Gang entlang, bis sie eine weitere, schmalere Treppe erreichten, die sich bis zu einer Eichentür hinaufschlängelte. Anhand der Form der Wände nahm Rialla an, dass sie sich in einem der Burgtürme befanden.

Die in die Tür geschnitzte Katze von Altis beäugte sie von oben herab. Tris zeigte auf die Tür. Rialla versuchte hastig, mit ihrer Gabe herauszufinden, ob der Raum dahinter leer war oder nicht.

Tris wartete, bis Rialla erleichtert nickte; dann gingen sie hinauf. Lautlos schwang die Tür nach innen auf. Auf der Innenseite steckte ein goldener Schlüssel im Schloss; Rialla drehte ihn vorsorglich herum und sperrte sich und Tris damit in Winterseines Arbeitszimmer ein.

Schwere Vorhänge hielten das meiste Tageslicht draußen, und als Rialla sich nach rechts wandte, stieß sie mit der Schulter gegen ein Bücherregal. Es war fast so hoch, wie Rialla groß war, und von oben bis unten mit Folianten bestückt. Es wirkte so massiv, dass ein Pferd es nicht hätte umreißen können.

Umso erstaunter war sie, als das Regal ins Wanken geriet und umzufallen drohte. Tris griff im letzten Moment danach und drückte es wieder an die Wand.

»Ich dachte, du bist die Anmut in Person«, neckte er sie, während sie begannen, die Bücher, die herausgerutscht waren, wieder an ihren Platz zu stellen.

»Das bin ich, aber Tänzerinnen müssen nicht über Nachtsicht verfügen, um ihre Aufgabe zu erfüllen.« Während sie sprach, hob sie ein dicken Wälzer vom Boden auf, der aus dem obersten Regalbrett gefallen war. Er war kunstvoll in Leder eingebunden und verfügte über eine Messingschließe, um die Seiten zusammenzuhalten. Ansonsten unterschied er sich kaum von den anderen Büchern hier, außer dass irgendetwas darin klapperte.

»Tris, könntest du ein wenig Licht machen?«, fragte Rialla, die sich an dem Messingschloss zu schaffen machte.

Flackernd entstand eine Lichtquelle. Rialla öffnete das Buch, und sie stellten fest, dass es innen ausgehöhlt worden war. In der Vertiefung lag ein schlichter Silberring mit einem einfachen blauen Stein; er war beim Sturz aus dem Tuch gerutscht, in das man ihn eingeschlagen hatte. Der Edelstein war sorgfältig poliert, und das nachtdunkle Blau glitzerte auf höchst seltsame Weise im Schein von Tris’ Magierlicht. Rialla erschauderte unter dem Eindruck, dass der Ring sie betrachtete, genau wie sie gerade ihn.

»Es liegt Magie darin«, bemerkte Tris leise. »Alte Magie.« Er verschloss den Ring wieder in dem Buch, ohne ihn zu berühren, und stellte den Folianten wieder an seinen Platz.

Nun nahm er das nächste Buch vom Boden auf und öffnete es. Es war ebenfalls innen hohl. Den Dolch mit seinem unverwechselbaren Griff fanden sie im übernächsten Buch. Für einen Moment funkelten ihnen beim Betrachten die Rubinaugen der Schlange entgegen, dann verstaute Tris die Waffe in seinem Lederbeutel, den jeder Schreiner bei sich trug.

Auch dieses Buch stellte er wieder ins Regal zurück. Hastig brachten sie noch die letzten Regalreihen in Ordnung, bis das Möbelstück so unangetastet wirkte wie alle anderen im Raum.

Rialla seufzte. »Kannst du dir vorstellen, was diese Bücher wert waren, bevor er sie ruiniert hat?«

Tris schnaubte auf. »Das waren niemals Bücher, auf den Seiten findet sich nicht die geringste Spur von Tinte. Ich schätze, er hat sich einen Haufen leere Blätter binden lassen, nur um den Buchblock dann als Geheimversteck zu nutzen.«

»Daran hab ich nicht gedacht«, gab Rialla zu. Sie sah sich in dem Arbeitszimmer um.

Der Läufer auf dem Boden war fast genauso kostbar wie die Teppiche in Terrans Gemächern. Tris’ Magierlicht offenbarte die reichen Rot- und Goldtöne der kunstvoll gewebten Muster. Der Raum war klein, doch in ihm befanden sich noch zwei weitere Regale sowie ein großer Schreibtisch.

»Hier«, sagte Tris, der nun an eben diesem Schreibtisch stand. Er schenkte den Kontenbüchern, die obenauf lagen, keine Beachtung, und fuhr mit seinen Händen über die Außenseiten der abgeschlossenen Schubladen. Plötzlich hielt er inne.

»Diese hier enthält etwas sehr Mächtiges«, meinte er. Er holte den Ring mit den Dietrichen und Hauptschlüsseln aus seiner Gürteltasche und machte sich am Schloss der Schublade zu schaffen.

»Sind das Clan-Schlüssel? Woher hast du sie?«, wollte Rialla wissen.

»Ich glaube, jemand hat sie als eine Art Honorar bei mir zurückgelassen«, erwiderte Tris, während er den Generalschlüssel vorsichtig drehte.

Das Schloss klickte, und er zog die Schublade auf. Darin lag ein dickes Buch mit Silberschnalle. In den teuren weißen Ledereinband war ein Symbol geprägt worden, das Rialla nur zu gut kannte.

Tris’ Blick wanderte von dem Buch zu Rialla. »Das ist das gleiche Zeichen, das er auch für deine Tätowierung benutzt hat.«

»Ja, Winterseines Wappenzeichen«, stimmte Rialla zu. »Aber das hier ist doch ein Grimoire, oder?«

»Gut möglich, und ich werde es nicht öffnen«, sagte Tris bestimmt. »So wie es sich anfühlt, enthält dieses Buch genug Magie, um diese Burg und die Hälfte aller dazugehörigen Ländereien in Schutt und Asche zu legen.«

»Es ist Magie, und es trägt Winterseines persönliches Zeichen«, sagte Rialla. »Das reicht mir.«

Tris nahm das Buch heraus, machte die Lade wieder zu und verschloss sie. Er löste seinen Gürtel und schob das Zauberbuch unter sein locker sitzendes Wams, bis es in der natürlichen Vertiefung unter seinem Rippenbogen lag. Dann zurrte er seinen Gürtel ein bisschen fester um seine Taille. Unter dem groben, schweren Stoff seiner Schreinerjacke war das Buch nun kaum mehr zu erkennen.

»Kannst du überprüfen, ob irgendjemand in der Nähe ist?«

Rialla entspannte sich kurz und konzentrierte sich. »Nein, niemand, es sei denn, Terran ist hier.«

Tris zog eine Augenbraue hoch: »Was soll das heißen?«

»Terran könnte uns auf der anderen Seite der Tür auflauern, und ich würde es nicht wissen. Aus irgendeinem Grund kann meine Empathie ihn nicht erfassen. Wie dem auch sei«, fügte sie hinzu, »ich denke, wir können es wagen.«

Ohne besondere Vorkommnisse stiegen sie die Wendeltreppe wieder hinab. Als sie die große Steintreppe erreichten, die sie weiter nach unten bringen sollte, hielt Rialla ihren Begleiter an seinem Wams fest.

Man hat Tamas gefunden, ließ sie ihn wissen, und eine Suche eingeleitet. Sie blockieren die Treppenaufgänge und durchkämmen gerade das Erdgeschoss, bevor sie sich nach oben vorarbeiten.

Dann müssen wir hier irgendwo ein Fenster finden, meinte Tris leichthin.

Das Ganze scheint dir wohl auch noch Spaß zu machen!, unterstellte ihm Rialla aufgebracht.

Er grinste sie ohne Reue an und rannte zurück in den Gang, aus dem sie gekommen waren. Rialla folgte ihm kopfschüttelnd.

Die erste Tür, die Tris öffnete, gehörte zu einem Gästezimmer, das mit zwei hübschen Fensterflügeln aufwartete. Winterseine hatte keine Kosten und Mühen gescheut, sie zu verglasen, und als die beiden sie öffneten, sahen sie sich mit lediglich zwei Hindernissen auf ihrer Flucht aus der Burg konfrontiert: möglichen Wachen und der Schwerkraft.

Rialla schaute vorsichtig nach unten, doch niemand schien an der Rückseite der Feste zu patrouillieren. Dafür gab es einen guten Grund, denn die ersten Fenster auf dieser Seite des Gebäudes befanden sich erst im dritten Stock. Jeder, der dumm genug war, den Sprung aus dieser Höhe zu wagen, würde hart auf dem zusammengebackenen Boden hinter der Burg aufschlagen, was eine jede Flucht auf tragische Weise beendete.

Argwöhnisch betrachtete sie die efeubewachsene Außenwand. Ich weiß nicht, Tris. Sieht mir nach einem ziemlich langen Abstieg aus.

Hör auf, dir ständig Sorgen zu machen. Tris griff durch das Fenster nach einem Strang des Efeus.

Rialla sah genau hin, konnte aber keinen Unterschied an der Pflanze erkennen, nachdem er sie berührt hatte.

Ich will, dass du mir nachfolgst. Die Ranken werden unser Gewicht nur dann tragen, wenn wir schnurgerade an ihnen herabklettern. Ohne ihr Gelegenheit zu geben, Protest einzulegen, schwang er sich aus dem Fenster.

Beklommen blickte Rialla an dem Mauerbewuchs nach unten. Andererseits war alles, was dazu imstande war, Tris’ Gewicht zu tragen, auch dazu geeignet, sie zu halten. Sie wartete, bis ihr Gefährte schon ein Stück herabgeklettert war, bevor sie ihm folgte.

Der Efeuteppich fühlte sich unnatürlich steif an, bot aber guten Halt.

Die Blattränder waren scharf, als wären sie aus gewalztem Metall, und sie zog sich ein paar Schnitte zu, ehe sie heraushatte, wie man durch das Blattwerk greifen musste, um die Ranken darunter zu packen. Als sie sich dem Boden näherte, packte Tris sie um die Taille und hob sie kurzerhand herunter. Danach berührte er das Efeu erneut und verwandelte es wieder in seinen natürlichen Zustand zurück.

Rialla sah sich nervös um, doch auch jetzt schien niemand diesen Bereich hinter der Feste zu kontrollieren. Sie ließ ihre Empathiebarriere fallen, um Hinweise darauf zu erhalten, ob sie durch jemanden entdeckt worden waren, und hoffte inständig, dass Tamas weit genug entfernt war. Nie wieder wollte sie in Kontakt mit ihm treten müssen.

Also gut, sagte Tris. Lass mich deine Haarfarbe in einen etwas unauffälligeren Ton ändern. Die Torwachen suchen eine einzelne Sklavin mit rotem Haar. Angesichts der vielen Sklavinnen hier werden sie wohl nicht misstrauisch werden, wenn eine von ihnen mit einem Freien hier herumspaziert.

Es ist bekannt, dass Winterseine es durchaus schätzt, wenn auch seine älteren, weniger wertvollen Sklavinnen nicht völlig aus der Übung kommen, stimmte Rialla zu. Wenn du also etwas Grau ins Braun zaubern könntest, würde das glaubwürdiger aussehen.

Er berührte kurz ihr Haar und zog dann die Hände zurück. Fertig.

Ohne sich noch länger aufzuhalten, schlenderten sie gemächlich um die Burg herum und auf das Tor in der Außenmauer zu. Tris blieb für einen Moment stehen, wo er schon zuvor an der Pforte gearbeitet hatte, und nahm den schweren Werkzeugranzen an sich, den er hier abgestellt hatte. Niemand behelligte sie, bis sie das Fallgitter erreichten.

»Stopp«, rief dort die ältere der beiden Mauerwachen. »Was wollt ihr?«

»Ich bin Jord Schreiner. Dem Lagerhaus geht das Kirschholz aus. Diese Sklavin weiß, wo man so große Kirschbäume findet, dass man nach der Ernte Möbel daraus machen kann.«

Der Wachmann sah stirnrunzelnd zu Rialla. »Die kenne ich aber nicht.«

Tris nickte. »Sie ist Küchensklavin und muss des Öfteren Feuerholz suchen, also weiß sie auch, wo die besten Bäume stehen. Und wenn nicht, finde ich sie auch allein, aber sie kann mir dann trotzdem von Nutzen sein …«, fügte er mit einem anzüglichen Grinsen hinzu.

Der andere Mann lachte dreckig und zog das Fallgitter so weit in die Höhe, dass Tris und Rialla geduckt hindurchschlüpfen und das Tor passieren konnten. Rialla marschierte los und schlug den offenbar vielgenutzten Trampelpfad in den burgeigenen Forst ein.

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