Irritiert schaute Lord Jarroh auf, als es zaghaft an der Tür seines Arbeitszimmers klopfte. Hatte er nicht klipp und klar gesagt, dass er keine Störungen wünschte? Er warf einen Blick aus dem Fenster und stellte fest, dass die Nacht hereingebrochen war, während er an seinen Geschäftsbüchern gearbeitet hatte.
Seufzend legte er die Bilanzaufstellung beiseite, ging um den Schreibtisch herum und öffnete die Tür. »Ja?«
Draußen im Gang war es dunkel, und so konnte er die Person, die ihn bei der Arbeit unterbrochen hatte, nicht genau erkennen.
»Ich bitte um Verzeihung, verehrter Herr, aber ich habe eine Information für Euch – eine Information rein privater Natur.«
Lord Jarroh erhielt viele private Botschaften. Was mit ein Grund dafür war, dass er stets ein dünnes Kettenhemd unter der Kleidung trug. Er trat vom Eingang zurück und winkte den Kurier herein. Dann schloss er die Tür.
»Um was geht es denn?«, fragte er.
»Um Lord Karstens Ermordung«, sagte Rialla und schlug die Kapuze ihres Umhangs zurück, damit er ihr Gesicht sehen konnte. »Ich hatte Euch geraten, darüber nachzudenken, warum Lord Laeth seinen Bruder aus dem Weg geräumt haben sollte. Habt Ihr dies getan?«
Instinktiv ging Lord Jarrohs Hand zu seinem Dolch, dessen Griff er umschloss, doch seine Miene verlor nichts von ihrer Gelassenheit. »Ja. Unabhängig davon, was ich sah, als Karsten starb, erscheint mir Lord Winterseine als der wahrscheinlichste Täter. Ich kannte sie beide, ihn und Lord Laeth, beinahe so lange, wie ich Karsten kannte. Wenn ich nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wie Laeth seinen Bruder erstach, hätte ich es niemals geglaubt. Leider wurde Lord Winterseine kürzlich von einer, ähm, Krankheit heimgesucht, die es mir unmöglich macht, ihn dazu zu verhören.«
Rialla ließ die Botentasche von der Schulter gleiten und holte ein dickes Buch daraus hervor, dazu einen Dolch und zwei Pergamentseiten. »Ich habe, mein Herr, einige Dinge mitgebracht, die ich Euch bitten möchte, einer Prüfung zu unterziehen.
Da wäre als Erstes Lord Winterseines Grimoire. Es wurde vom ae’Magi, Lord Kisrah, unschädlich gemacht. Ihr werdet bemerken, dass der Erzmagier einige Seiten sowie das Schloss entfernt hat.
Als zweites habe ich hier den Dolch, mit dem Lord Karsten getötet wurde. Wir entdeckten ihn auf einer kleinen Burg, in der Lord Winterseine Sklaven ausbildet.
Der dritte Gegenstand ist ein Brief von Lord Kisrah, in dem er seine Erkenntnisse zu dem Dolch niedergeschrieben hat. Des Weiteren ist er bereit zu schwören, dass Lord Winterseine ein so mächtiger Magier ist, dass er gut und gern für den Magierrat hätte tätig werden können. Ganz sicher jedoch hätte er eine Illusion erschaffen können, die Euch glauben machte, dass es Laeths Hand war, die den Dolch führte.«
Lord Jarroh schüttelte den Kopf. »Das spielt keine Rolle. Glaubst du wirklich, ein darranisches Gericht würde bei einer Angelegenheit von solcher Tragweite dem Wort eines Erzmagiers glauben?«
»Nein«, sagte Rialla. »Doch wir hatten gehofft, dass Ihr den Fall trotzdem noch einmal prüft.«
»Zu welchem Zweck?«
»Mein Herr«, sagte Rialla, »wir möchten, dass Ihr sicherstellt, dass Lord Winterseine und sein Sohn keinen Anspruch auf Lord Karstens Ländereien erheben. Und sofern Ihr noch immer nicht von Laeths Unschuld überzeugt seid, sollen Karstens Besitztümer an die Krone fallen.
Der vierte Gegenstand, den ich Euch bringe, mein Herr, ist ein Brief von Ren, dem Meisterspion von Sianim. Ren denkt, er beantwortet darin alle Fragen, die Ihr vielleicht hinsichtlich Sianims Interessen in dieser Angelegenheit haben könntet.«
Rialla trat einen Schritt ins Licht. »Lord Jarroh, Lord Karsten wurde ermordet, weil er auf ein Ende des Krieges hoffte, der sowohl Darran als auch Reth so unendlich viel gekostet hat. Er hatte den glorreichen Tag vor Augen, an dem in unseren Reichen der Frieden regieren würde. Winterseine war bei der Planung von Karstens Tod nicht allein; lasst bitte nicht zu, dass seine Mörder triumphieren. Wenn Ihr diesen Leuten Lord Karstens Macht und Rang verleiht, werdet Ihr seinen Traum damit auf immer zerstören.«
Lord Jarroh berührte Riallas Gesicht, drehte es so ins Licht der Öllampe, dass ihre Züge klar erkennbar wurden. »Du bist Laeths Sklavin.«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück. »Ich bin eine Freundin Laeths.«
Lord Jarroh ließ die Hand sinken und schürzte die Lippen, während er nachdachte. Dann schaute er Rialla wieder an, die seinem Blick standhielt. »Sag Laeth, ich werde mein Bestes tun, um seinen Namen wieder zu rehabilitieren. Und im Angedenken an seinen Bruder werde ich dafür sorgen, dass die Heirat zwischen unserer Prinzessin und König Myr von Reth wie geplant stattfindet.« Er machte eine Pause und betrachtete Riallas makelloses Gesicht, als er mit leiser Stimme hinzufügte: »Selbst wenn dies das Ende der Sklaverei bedeutet.«