»Hattest du nicht gesagt, du wolltest in den Quartieren übernachten?« Laeth sprach leise, doch Rialla schrak trotzdem zusammen.
Sie hatte an nichts Besonderes gedacht, einfach nur in die Schatten der Zimmerecke gestarrt; Laeths Stimme wie auch das erste Licht des Tages, das nun durch das Fenster fiel, hatten sie überrascht. Sie musste wohl länger hier gehockt haben, als ihr Zeitgefühl ihr sagte.
Laeth setzte sich schwerfällig auf, schloss dann aber noch einmal die Augen, bevor er sich über das Gesicht rieb, um richtig wach zu werden. Er war nun mal kein Frühaufsteher.
Rialla musste unwillkürlich schmunzeln angesichts des vertrauten Anblicks. Als sie seine Frage beantwortete, erstarb ihr Lächeln jedoch bald. »Das habe ich auch, zumindest eine Weile.«
Er warf ihr einen alarmierten Blick zu, die seine Verschlafenheit Lügen strafte. »Was ist passiert?«
»Da war eine neue Sklavin. Ein Mädchen aus dem Osten. Heute Morgen hat es sich mit einem Speisemesser getötet. Ich dachte, ich bin besser nicht dort, wenn man die Leiche findet – unerwünschtes Interesse ist das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können.« Rialla spielte mit der inzwischen wohlvertrauten Gobelinstickerei an der Rückenlehne des Sofas.
Sie konnte Laeths Blick auf sich spüren, wie er geduldig darauf wartete, dass sie weitersprach. Sie betrachtete weiterhin ihre Hände, als sie fortfuhr: »Vor allem deshalb, weil der Besitzer des Mädchens auch mein Besitzer gewesen ist, bevor ich fliehen konnte.«
Überrascht schnappte Laeth nach Luft. »Der Sklavenabrichter? Bist du sicher?«
Rialla nickte, ohne aufzusehen. »Er ist hier, ja. Zwar hab ich ihn nicht gesehen, hörte nur seine Stimme … Da war ich mir schon ziemlich gewiss, aber ich hab mir später die Tätowierung des toten Mädchens angesehen. Zur Sicherheit. Auch sie trug sein Zeichen.«
»Nun denn«, meinte Laeth. »Dann werde ich mir wohl einige schlaue Maßnahmen überlegen müssen, um ihm sein ehemaliges Eigentum zu verweigern.«
Rialla hob den Kopf, grinste ihn an. »Ich hab mir eigentlich keine Sorgen darüber gemacht, dass du mich ihm ausliefern könntest.«
»Nein?«, fragte er allen Ernstes. »Und worüber machst du dir dann Sorgen?«
Rialla hob die Schultern. »Über nichts.« Als er ungläubig aufschnaubte, fügte sie hinzu: »Ich war wohl einfach nicht darauf vorbereitet, ihn jemals wiederzusehen. Und der Tod der Sklavin war ausgesprochen … unerfreulich. Ein Speisemesser wäre nicht unbedingt die Waffe meiner Wahl gewesen …« Sie wandte wieder den Blick ab und schluckte hart. Immerhin hatte das Mädchen aus dem Osten den Mut gefunden, diese Entscheidung zu treffen.
Rialla erinnerte sich noch gut daran, wie sie den kleinen scharfen Dolch angestarrt hatte, den jemand versehentlich auf der Essbank hatte liegen lassen. Keine sonderlich effektive Waffe, doch sie hatte mit dem Gedanken gespielt, sich damit das Leben zu nehmen. Und es aus Feigheit dann doch nicht getan. Der andere Moment, in dem sie an Selbstmord gedacht hatte, war kurz nach ihrer Flucht gekommen, als ihr klar geworden war, dass sie Freiheit mehr fürchtete als die Versklavung.
»Rialla.« Laeths Stimme war sanft, und sie wusste, er hatte sie nicht zum ersten Mal gerufen. »Wie hieß dein Besitzer?«
»Isslic, aber seinen Familiennamen kenne ich nicht – Sklavenausbilder nennen so gut wie nie ihren vollen Namen.«
Laeth nickte. »Besonders nicht, wenn er zu den höheren Kreisen zählt und jederzeit mit einer Einladung nach Westholdt rechnen muss. Isslic ist ein weitverbreiteter Name; ich kenne allein vier oder fünf Männer, die so heißen.«
»Wenn dies überhaupt sein richtiger Name ist«, meinte Rialla achselzuckend. »Ich glaube, es gibt da etwas, das ich Ren gegenüber erwähnen sollte, auch wenn es nur eine Vermutung ist.«
»Und was?«
»Mein ehemaliger Besitzer ist viel herumgereist auf der Suche nach Sklaven, die er für sich abrichten konnte. Er zog es vor, sie sich selbst zu nehmen, anstatt darauf zu warten, dass ein unausgebildeter Sklave auf einem Markt angeboten wurde. Er war der Meinung, dass die meisten zu diesem Zeitpunkt schon charakterlich verdorben waren.« Rialla spürte, wie sich ihre Züge entspannten, bis diese so ausdruckslos waren wie ihre Stimme. »Wenn er also, sagen wir, eine Sklavin aus Südwald besaß, so hat er sich diese vermutlich direkt in Südwald besorgt.«
»Dreh dich um, damit ich das Bett verlassen kann«, befahl Laeth ihr plötzlich brüsk.
»So sittsam auf einmal?«, neckte sie ihn und fühlte zum ersten Mal, seit sie im Keller die Stimme ihres ehemaligen Meisters vernommen hatte, wie sie ganz und gar ruhig wurde.
»Ich wollte dein Zartgefühl nicht verletzen. Wenn du mich allerdings unbekleidet sehen willst, nur zu«, gab er zurück. »Wie auch immer, ohne meine Stiefel kann ich nicht richtig denken.«
Rialla lachte und drehte sich zur Wand um, während er sich anzog.
»Also, worauf genau willst du hinaus?«, fragte Laeth schließlich. »Wenn also das Mädchen, das du dort unten angetroffen hast, aus dem Osten stammte, muss der Sklavenausbilder es sich demnach im Osten geholt haben?«
Rialla nickte. »Ja.« Sie wandte sich zu Laeth um, der nun vollständig angezogen war. »Hat Ren dir von den Vorgängen im Osten berichtet? Dass er glaubt, der Anführer der Ostleute sei ein Magieanwender, der im Westen ausgebildet wurde?«
Laeth nickte.
»Obwohl mein Meister Darraner war, war er auch ausgebildeter Magier.« Kurz hallten die Schreie ihrer erschlagenen Stammesbrüder und -schwestern in ihrem Kopf wider. »Ich kann nichts weiter dazu sagen, aber man hatte mir erzählt, dass er vom letzten Erzmagier unterwiesen wurde – für mich zumindest ein Hinweis darauf, dass er recht talentiert sein muss. Wie dem auch sei, die Sklavin, die sich selbst getötet hat, stammte aus dem Osten. Und sie dachte, sie würde der Stimme von Altis dienen.«
Rialla stand auf und schritt ruhelos im Gemach auf und ab, während sie fortfuhr, die Geschichte zu erzählen, die sie sich aus den Fetzen des Albtraums im Sklavenquartier zusammengereimt hatte. »Ihr war bewusst, dass der Dienst für Altis auch das Konkubinat mit einschloss, aber ihr war nicht klar gewesen, dass dies gleichbedeutend war mit der Versklavung und Verschleppung in ein fremdes Land.«
Laeth setzte sich auf das Sofa, das Rialla verlassen hatte, und machte es sich so gut es ging auf der hartgepolsterten Fläche bequem. »Wenn ich dich also richtig verstehe, hältst du es für denkbar, dass es sich bei eurem gemeinsamen Meister um die Stimme von Altis handeln könnte?«
Rialla zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich hätte mir jedenfalls nicht vorstellen können, dass er das Charisma besitzt, um eine solche Rolle auszufüllen. Er war nicht gerade ein Mann, der die Massen begeistern konnte. Obwohl seine persönlichen Sklaven ihm sehr ergeben waren, schienen sie mir doch nicht sonderlich loyal.«
»Wie hätte er’s also anstellen sollen? Mittels Magie?«, fragte Laeth.
Wieder hob Rialla die Schultern. »Ich weiß darüber nicht mehr als du. Ich hörte allerdings das Gerücht, dass der letzte ae’Magi über einen solchen Zauber verfügte, aber du kennst das ja: Es kursieren andauernd irgendwelche Gerüchte über Magier und ihre tollen Zaubersprüche. Was ich aber weiß, ist, dass die Sklavin keinen Zweifel hegte, dass ihr Meister die Stimme von Altis war.«
Laeth sah sie lange an, dann sagte er: »Du musst dich ganz schön lange mit dieser Sklavin aus dem Osten unterhalten haben.«
»Tatsächlich«, erwiderte Rialla, »hat sie mir all diese Informationen im Schlaf aufgezwungen. Auch sie war nämlich eine Empathin, weißt du – vielleicht sogar eine noch mächtigere als ich.«
»Und ich dachte, Empathen wären so verdammt selten …«, jammerte Laeth und vollführte in bester höfischer Theatertradition eine exaltierte Geste der Verzweiflung.
Rialla sah ihn schmunzelnd an. »Dem ist auch so. Sie ist die erste, die ich jemals getroffen hab.« Nachdenklich ging sie hinüber zu den geschlossenen Fensterläden. »Was mich am meisten überraschte, war die Tatsache, dass sie selbst im Moment ihres Todes noch davon überzeugt schien, dass ihr Peiniger identisch war mit der Stimme von Altis. Man sollte doch meinen, dass eine so starke Empathin ihm auf die Schliche hätte kommen müssen, wenn dies nicht der Fall gewesen wäre.«
»Ist es nicht bezeichnend, dass sowohl du als auch dieses Mädchen aus dem Osten Empathen waren?«, fragte Laeth ernst.
Darüber dachte Rialla einen Moment lang nach, bevor sie antwortete: »Ich glaube nicht. Denn ich bin mir nicht mal sicher, ob mein ehemaliger Besitzer überhaupt um meine Gabe wusste. Zuerst versuchte ich, sie vor ihm zu verbergen – und dann, nach meiner Verschleppung, habe ich das Talent nach und nach verloren.«
Sie holte tief Luft und kam wieder auf den Punkt zu sprechen, der sie beschäftigte. »Laeth, wenn er wirklich die Stimme von Altis ist, dann hat er allen Grund, die Allianzpläne zwischen Darran und Reth zu hintertreiben. Zum Beispiel, indem er deinen Bruder tötet.«
Laeth nickte. »Aber es scheint, dass er erst letzte Nacht hier eingetroffen ist, also nach dem Anschlag auf Karsten.«
»Wenn er so viel Macht besitzt, um hierher eingeladen zu werden, dann hat er auch die Macht, einen Anschlag auf Karsten zu arrangieren.« Als sie an den Giftanschlag dachte, fiel ihr etwas anderes ein, und sie schnippte mit dem Finger. »Das hatte ich dich letzte Nacht ganz vergessen zu fragen: Was weißt du über diesen Tris, den örtlichen Heiler?«
»Du meinst, abgesehen von der Tatsache, dass er die darranische Aristokratie genauso sehr schätzt wie du?« Laeth grinste ironisch, dann fuhr er ernsthafter fort: »Er traf wohl hier ein, kurz nachdem ich Westholdt den Rücken gekehrt hatte. Gestern Abend bin ich ihm zum ersten Mal persönlich begegnet, hatte bis dahin aber schon eine Menge über ihn gehört. Und wenn man nur die Hälfte dessen, was über ihn geredet wird, glaubt, dann verfügt er über nahezu göttliche Kräfte, um dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Und nachdem ich gestern Zeuge wurde, wie er Karsten das Leben gerettet hat, bin ich fast geneigt, mich dieser Meinung anzuschließen.«
»Er hat mich draußen angesprochen und uns seine Hilfe angeboten«, erzählte Rialla.
»Du hast ihm doch hoffentlich nicht von unserer Mission hier erzählt?«, fragte Laeth entsetzt.
Sie sah ihn gekränkt an. »Natürlich nicht. Er hat mich bei der Treppe abgepasst, um sich anzusehen, wie fest du mich geschlagen hast – zumindest glaubte ich das. Als er feststellte, dass mir kein Schaden zugefügt worden war, wurde er neugierig und stellte Fragen. Ich erzählte ihm, wer du bist, und er bot uns seine Hilfe an, wenn dies einmal nötig werden sollte. Ich nahm daher an, ihr beide hättet euch früher schon einmal getroffen.«
Laeth runzelte die Stirn, schüttelte dann den Kopf. »Nein, er kam mir kein bisschen bekannt vor, als ich ihn gestern im Bankettsaal sah. Und ich habe ein gutes Gedächtnis, was Gesichter angeht … Es heißt, er wäre mit einer der Dorfbewohnerinnen verwandt, aber er sieht überhaupt nicht wie ein Darraner aus.«
Rialla dachte an ihre Begegnung mit dem Mann. »Ich denke, er könnte ebenfalls ein Magier sein. Er hat sich sehr merkwürdig verhalten, fast, als wirke er eine Art Zauberspruch …«
»Erst Empathen, jetzt Magier«, knurrte Laeth, doch er wirkte nicht sonderlich beunruhigt. Nachdenklich strich er sich das Haar aus der Stirn. »Und was für eine Rolle, denkst du, spielt dieser Heiler in der ganzen Geschichte?«
Sie neigte den Kopf. »Keine Ahnung. Wer versteht schon Magier? Oder Heiler? Wie dem auch sei, seine Sorge schien echt zu sein, als er mein Gesicht auf Verletzungen hin untersuchte. Es ergibt für mich wenig Sinn, dass er Lord Karsten erst vergiftet haben soll, um ihm kurz darauf das Leben zu retten. Und wäre er in diesem Fall hier nicht wesentlich artiger, ja, bescheidener aufgetreten?« Sie seufzte. »Nein, ich glaube nicht, dass er gegen uns arbeitet, kann mir aber auch beim besten Willen nicht vorstellen, warum er uns unterstützen sollte – selbst wenn er von unserem Auftrag wüsste.«
»Na ja, Rialla …«, warf Laeth augenzwinkernd ein. »Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel geschaut?«
Rialla schnaubte verächtlich und klang dabei fast wie eines ihrer geliebten Pferde. »Er bot seine Hilfe an, nachdem er erfahren hatte, wer du warst. Das hatte also nichts mit mir zu tun.«
Sie öffnete die Fensterläden und meinte: »Ich gehe jetzt besser runter in die Küche und kümmere mich um das Frühstück, bevor wieder alles weg ist.«
Sie huschte in die kleine Kammer, die als Umkleidezimmer diente, und warf sich eine saubere Tunika über. Gleichzeitig wechselte ihre nachdenkliche Miene zu einem indifferenten Gesichtsausdruck.
Die Flure lagen still und dämmrig da. Die meisten Adligen hatten bis spät in die Nacht hinein getanzt und würden sich erst in einigen Stunden von ihrem Nachtlager erheben. Im Schlaf waren ihre Innenwelten zugänglicher, und Rialla schnappte hier und da ein herumvagabundierendes Gefühl auf, als sie durch die Gänge schritt – tatsächlich waren es mehr Emotionen als je zuvor. Eine unbestimmte Nervosität ergriff von ihr Besitz, und sie blieb stehen. Erst jetzt erkannte sie, dass ihre Gabe seit gestern Abend noch einmal erstarkt war, als hätte die andere Empathin die alten Fesseln nicht nur durchdrungen, sondern gelockert.
Rialla schaffte es, einen Schutzschild um ihren Geist zu errichten – ein ebenfalls fast eingerostetes Talent –, um die ganzen Emotionen, die auf sie einwirkten, abzuschirmen. Sie konnte den Schutzwall jederzeit entfernen, wenn sie wollte, und die Fähigkeit, die ihr zurückgegeben worden war, weiter erforschen, aber sie war sich nicht sicher, ob sie das wollte.
Nie hätte sie gedacht, dass die Rückkehr ihrer Gabe sie ebenso ängstigen würde wie deren Verlust. Sie schluckte hart und setzte sich wieder in Bewegung, wobei sie ihre äußere Gelassenheit nur mit Mühe aufrechtzuerhalten vermochte.
Rialla brachte Laeth sein Frühstück und half ihm dabei, die prunkvolle höfische Kleidung anzulegen. Als er gegangen war, machte sie sich daran, seine Gemächer aufzuräumen. Das hielt sie davon ab, sich mit unschönen Gedanken an ihren ehemaligen Besitzer herumzuquälen. Energisch legte sie Kleidungsstücke zusammen, wischte Staub und mistete dunkle Ecken aus, in denen sich aus unerfindlichen Gründen Schuhe und Kleinteile zu sammeln pflegten, auf dass sie bei ihrer Abreise nicht vergessen wurden.
Nachdem sie damit fertig war, setzte sie sich mit überkreuzten Beinen auf das Bett und ließ die Barriere fallen, die ihren Geist schützte. Dann entspannte sie sich und gab sich ganz den Gefühlen hin, die durch den Stein und das Holz der Feste quollen.
Als sie zum ersten Mal bemerkte hatte, dass die alten Narben, die ihre empathischen Fähigkeiten abschirmten, durchlässig geworden waren, hatte sie sich nackt und verletzlich gefühlt. Ein unhaltbarer Zustand. Wie sie nun auf Laeths Bett saß und feststellte, dass ihre Empathie stärker schien, als sie es seit dem Tag ihrer Versklavung je gewesen war, wartete sie fast darauf, dass auch der Schmerz wieder zurückkehrte, der seinerzeit all dies zerstört hatte. Als sie ihre Übung beendet hatte, war ihr Gewand schweißdurchtränkt, und sie stank nach der altbekannten Furcht.
Angewidert wusch sie sich mit dem Wasser, das im Krug neben dem Bett stand, und schlüpfte in eine frische Sklaventunika. Sie hatte sich das einfache Kleidungsstück gerade über die Hüften gezogen, als Laeth in den Raum platzte, um sich umzuziehen.
Er sah sie erstaunt an. »Alles in Ordnung mit dir?«
Rialla nickte und segnete Laeth im Stillen dafür, dass er nicht weiter in sie drang.
Sie half ihm, die traditionelle Reitkleidung anzulegen, die er für die bevorstehende Jagd tragen würde. Hochwohlgeborene Darraner pflegten sich fünf- bis sechsmal täglich umzuziehen, und der Reitrock war ein ausnehmend lächerliches Kleidungsstück. Er war so eng geschnitten, dass Laeth ihn kaum allein anziehen konnte und hernach in seiner Beweglichkeit immens eingeschränkt war. Also genau das Richtige, um temperamentvolle Pferde über Stock und Stein und alle möglichen Hindernisse hinweg zu jagen …
Und so war Laeth auch viel zu beschäftigt damit, ihre bissigen Kommentare zu darranischer Mode zu parieren, als dass er, bevor er mit übertriebenem Gestus aus dem Raum stolzierte, an seine Reitpeitsche dachte. Die Peitsche war nicht nötig, so weit es den Ausritt betraf, aber die Etikette verlangte ihr Tragen. Damit er nicht den ganzen Weg in seine Gemächer noch einmal zurücklegen musste, schnappte sich Rialla also die Peitsche und trottete die Stufen hinunter in die Empfangshalle, wo die Jagdgesellschaft zusammentraf.
Unter Mühen hielt sie ihr Sklavengesicht aufrecht, als sie sich diskret unter die versammelten Gäste mischte. Sie hätte Laeth wegen seines Aufzugs nicht verspotten sollen, denn die meisten anderen Männer trugen Reitröcke, die noch viel enger geschnitten waren als seiner.
Zweimal durchschritt sie die überfüllte Halle, bis sie endlich seine Stimme vernahm. Sie trat an ihn heran und schob ihm die Peitsche diskret in die Hand, ohne dass sein Gespräch dadurch unterbrochen wurde.
Sie war so darauf bedacht, den Blick gesenkt zu halten, dass sie nichts um sich herum bemerkte, bis sich plötzlich eine wohlbekannte Hand um ihren Nacken legte. »Wo in aller Welt hast du die denn aufgetan, Laeth?«, fragte die Stimme ihres ehemaligen Besitzers. »Die habe ich seit Jahren gesucht.«
Ein Daumen schob sich unter ihr Kinn, zwang ihren Blick nach oben. Der Mann, dem er gehörte, war größer als Laeth und kräftiger gebaut. Selbst nach sieben Jahren waren es nichts als Muskeln, die sich unter seiner weinroten Jacke abzeichneten. Sein Haar war immer noch dunkelbraun und sorgsam gescheitelt. Allein die silbernen Fäden in seinem schmalen Schnurrbart verrieten, dass er ein bisschen älter geworden war.
»Sie gehörte dir, Onkel?« Laeths Stimme klang betont gleichmütig, obwohl Rialla sein Gesicht nicht sehen konnte.
Onkel! Sie erinnerte sich an die Zuneigung, mit der Laeth von seinem Onkel gesprochen hatte – Lord Winterseine. Wie es aussah, hatte ihr einstiger Meister in der Tat Verbindungen in die allerhöchsten Kreise.
Rialla versuchte, so entspannt wie möglich dazustehen, und fokussierte ihren Blick auf einen Punkt hinter der Gestalt ihres verhassten Peinigers. Sie zog einen gewissen Trost daraus, dass ihr das Entsetzen nicht anzumerken war. Seine Hand berührte fast ihre tätowierte Wange. Der Magier des Meisterspions hatte sie gewarnt, dass das Mal nur eine optische Täuschung sei. Sobald seine Hand es berührte, würde er die Narbe spüren.
Der Sklavenschinder ließ ihren Nacken los, berührte sanft ihre Schulter, und Rialla unterdrückte einen erleichterten Seufzer. »Ja«, sagte er. »Sie war Tänzerin in einem kleinen Etablissement, das ich in Kentar besitze. Ich habe sie selbst ausgebildet. Muss etwa sechs oder sieben Jahre her sein, seit sie entflohen ist.« Er lächelte, dann nahm seine Stimme eine Weichheit an, die sie nur zu gut kannte. »Ich denke, sie hat dafür die Wache getötet. Es wird gut sein, sie wiederzuhaben. Sie ist eine sehr talentierte Tänzerin.«
»Warum, Onkel Iss? Ich wusste nicht, dass du Sklaven ausbildest.« Laeths Tonfall war hart an der Grenze zur Unfreundlichkeit.
»Ich bilde ja auch meine eigenen Pferde aus«, erwiderte der Onkel. »Die von anderen erzogenen Exemplare haben zumeist ein schlechtes Benehmen.« Er blickte zu Rialla. »Sie wieder angemessen abzurichten wird mich viel Zeit kosten.«
Laeth strich mit einer Hand über Riallas Rücken, eine ebenso besitzergreifende Geste wie des Onkels Griff um ihre Schulter. »Hab sie auf Allianzgebiet getroffen, in der Nähe des Meeres, als ich eine Handelskarawane durch die Wüste begleitete.« Es lag genau die richtige Dosis Unbeschwertheit in Laeths Stimme, als er dies berichtete. Der Plauderton sollte den Eindruck erwecken, als wolle er vor allem der Verachtung seines Onkels entgehen, die dieser vielleicht empfinden könnte angesichts der Tatsache, dass ein Familienmitglied Söldnerdienste verrichtete. In Wahrheit versuchte Laeth nur, von jeglichem Anspruch, den sein Onkel auf seine ehemalige Sklavin erheben mochte, abzulenken. So fuhr er betont unbekümmert fort: »Sie war das Geschenk eines Händlers dafür, dass ich seinen Sohn gerettet habe, nachdem dieser von einer Schlange gebissen worden war. Es tut mir leid, aber ich kann sie dir nicht zurückgeben, Onkel Iss – selbst wenn man davon absieht, dass sie nun schon länger als fünf Jahre nicht mehr in deinem Besitz ist.« Laeth machte eine Pause und unterstrich seine Worte mit einem bedeutungsvollen Von-Mann-zu-Mann-Blick. »Denn ich habe mich sehr an sie gewöhnt.« Er legte fast beiläufig seine Hand um Riallas Nacken, gerade so, wie Isslic es eben noch getan hatte. Dann zog er sie fort aus Lord Winterseines Griff, drehte sie zu sich herum und küsste sie.
Rialla tat, was man von ihr erwartete, doch zu seinem Verdruss musste Laeth erkennen, dass sie es aus Furcht vor seinem Onkel tat, der ihr Leid zugefügt hatte, und nicht aus Hingabe. Als der Kuss endete, schaute Rialla unauffällig zu ihrem ehemaligen Besitzer hinüber.
Der Überlebenswille hatte sie gelehrt, in seinem Gesicht zu lesen wie in einem offenen Buch, und was sie nun erblickte, bereitete ihr große Sorge.
Denn Laeths Onkel lächelte und sagte leichthin: »Nun gut, mein Junge, so sollst du denn auch mit den Konsequenzen leben. Vergiss nicht, dass sie bei ihrer Flucht eine Wache getötet hat. Es könnte gefährlich für dich sein, sie zu behalten.«
Laeth erwiderte das Lächeln seines Onkels. »Sie wird mir nichts zuleide tun, Onkel Iss. Ihr ist durchaus bewusst, dass es weitaus schlechtere Meister gibt als mich.« Er machte eine kurze Pause. Das, was er eben gesagt hatte, mochte mit Absicht so formuliert worden sein oder auch nicht. Daher fuhr er fort. »Der Händler, dem sie gehörte, war schnell mit der Peitsche zur Hand, weißt du. Wenn sie also nicht folgsam ist, schicke ich sie zu ihm zurück, und das weiß sie auch.«
Winterseine wollte gerade etwas erwidern, als das Gespräch von einem Mann unterbrochen wurde, der einige Jahre jünger sein mochte als Laeth. Er sah besser aus und war größer als die meisten Anwesenden, und doch fehlte ihm ihre Ausstrahlung. Er wandte sich mit wohlklingender Stimme an Winterseine: »Tamas sagt, dass der Rest unserer Gesellschaft endlich eingetroffen ist.«
Winterseine knurrte, doch Laeth trat vor und ergriff herzlich die Hand des jungen Mannes. »Terran, wie schön, dich wiederzusehen. Wie ich sehe, lässt Onkel Iss dich immer noch seine Reisen planen und durchführen.«
Der junge Mann lächelte verlegen und nickte unmerklich. »Ich wüsste nicht, was ich tun sollte, sollten wir mal mehr als eine Woche in einer Residenz weilen – vielleicht zur Abwechslung mal eine ganze Nacht durchschlafen, ohne mir darüber Sorgen zu machen, dass vielleicht einige Gepäckstücke an unserem letzten Aufenthaltsort zurückgeblieben sind?« Er senkte den Blick und fügte hinzu: »Nein, so schlimm ist es nun wirklich nicht. Vater und ich besuchen ja im Wesentlichen die immer gleichen Orte. Insofern ist es eher so, als hätte man viele Domizile und nicht nur eins.«
Da niemand sie beachtete, studierte Rialla ausgiebig Terrans Gesicht. Sie hatte Winterseines Sohn gänzlich aus ihrem Denken verdrängt. Schon während ihrer Gefangenschaft war er so unauffällig aufgetreten wie heute.
Winterseine lachte, wenngleich nicht ganz so unbeschwert, wie es wirken sollte, und klopfte seinem Sohn jovial auf die Schulter. »Ich wüsste nicht, was ich ohne ihn machen sollte. Terran organisiert wirklich alle Exkursionen, und ich muss ihm nur noch folgen und die Reise genießen. Ah, es sieht so aus, als ob sich die Jagdgesellschaft zu den Ställen aufmacht. Wollen wir uns nicht den anderen anschließen?«
Laeth drehte Rialla zu sich herum, als wäre sie ein kleines Mädchen, und tätschelte dabei vertraulich ihr Hinterteil. »Geh und mach das Zimmer sauber. Und sieh zu, dass du den anderen grünen Pantoffel findest, der zu deinem Tanzkostüm gehört. Ich möchte, dass du es zu deiner abendlichen Darbietung trägst. Sieh unter dem Bett nach; vielleicht hab ich ihn gestern dort hingeworfen. Ach ja, und ich möchte, dass du beim Nachtmahl an meiner Seite bist.« Rialla entfernte sich gesenkten Hauptes und musste sich sehr zusammenreißen, um nicht davonzurennen.
In Laeths Gemächern streckte sie sich auf dem Bett aus und dachte über Winterseine nach. Es hatte sie verblüfft, wie verärgert Laeth gewesen war. Sie wäre nicht überrascht gewesen, wenn er sich nur zaghaft gesträubt hätte, sie an den Onkel zurückzugeben. Obwohl sie seinen leidenschaftlichen Einsatz herzerwärmend fand. Sie schloss die Augen und schlief ein.
Der Lärm der zurückkehrenden Jagdgesellschaft weckte sie auf. Hastig sprang sie vom Bett und legte das smaragdfarbene Tanzkostüm an, das sie vor ihrer Abreise aus Sianim bei Midge erstanden hatte. Dafür, dass sie es in einem Freudenhaus gekauft hatte, war das grüne Kostüm erstaunlich schlicht. Die Schleier bedeckten den Körper von der Hüfte zu den Zehen und vom Nacken bis zu den Handgelenken, kaschierten das hautenge Ober- und Mittelteil und gewährten zwischen all den hauchdünnen Stoffbahnen somit nur dann vage Blicke auf nackte Haut, wenn Rialla sich im Tanz bewegte.
Sie flocht sich das Haar zu einem hübschen Kranz, an dem sie noch mehr Schleier befestigte, die ihr Gesicht und ihren Nacken bedeckten, bis nur noch ihre exotisch blasse Taille zu sehen war. Die winzigen Goldglöckchen, mit denen das Kostüm benäht war, waren noch das ungewöhnlichste Detail an ihrer Aufmachung. Rialla hatte sie glücklicherweise auf einem Markt in Sianim gefunden.
Sie durchsuchte ihr Gepäck, bis sie das Ledersäckchen fand, in dem sich der Schmuck einer Tänzerin befand. Ihre Finger berührten gefährlich lange, scharfe Goldnägel, die an zierlichen goldenen Kettchen hängend mit schwarzen Armfesseln verbunden waren. Ähnliche Goldketten baumelten von den schwarzen Lederfußfesseln. Eine deutlich schwerere Kette umschlang ihre Taille und rutschte unter dem Eigengewicht bis hinab auf die Hüften.
Sie legte die seidenen Slipper an, die farblich auf das Kostüm abgestimmt waren. Normalerweise wurde der Tanz barfuß dargeboten; doch nackte Füße wurden als erotisch und somit als unpassend für eine Vorführung erachtet, an der auch weibliche Adelige teilnahmen. Zuletzt legte sie das schwere schwarze Cape an, dass den Großteil ihrer Aufmachung verhüllte.
Fertig zurechtgemacht für ihren Auftritt stieg Rialla die Stufen hinab und ging Richtung Bankettsaal, wo sie auf Laeth warten sollte. Schweigend und mit gesenktem Kopf stand sie da und versuchte die Blicke der Bediensteten zu ignorieren. Vermutlich war dies das erste Tanzkostüm, das sie je gesehen hatten. Sklaven waren kostspielig – nur die Allerreichsten konnten sie sich leisten –, und Tänzerinnen waren die teuersten von allen. Die meisten Tänzerinnen gehörten Geschäftsleuten, die sie benutzten, um neue Kunden in ihre Tavernen und Privatlokale zu locken. Dass Tänzerinnen nur zum privaten Vergnügen gehalten wurden, kam dagegen so gut wie nie vor.
Als Laeth den Speisesaal betrat, in ein lautes, erregtes und offenbar leicht angetrunkenes Gespräch mit seinem Cousin Terran vertief, der peinlich berührt versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen, bewegte sich Rialla auf leisen Sohlen zum Tisch und rückte Laeth den Stuhl zurecht. Als er Platz genommen hatte, zog sie sich wieder bis an die Wand zurück, damit sie den Dienern nicht im Wege stand. Die anwesenden Adligen schienen ob ihres Anblicks nicht minder fasziniert als das Personal, wenn sie auch wesentlich diskreter in ihre Richtung starrten.
Wenn sie darüber nachdachte, wie sie all diese Menschen narrte, machte Rialla das Spiel fast Spaß, besonders seit Laeth ihren ehemaligen Meister ausmanövriert hatte. Schon merkwürdig, dachte sie, dass ich mich nie weniger als Sklavin gefühlt habe als jetzt, wo ich versuche, eine zu sein.
Sie bemerkte Lord Winterseine erst, als er in ihr Ohr flüsterte: »Du hättest nicht weglaufen sollen, meine Kleine … Glaube ja nicht, dass der junge Welpe dich vor meinem Zorn wird schützen können. Mit ihm habe ich bereits anderes vor …«
Seine aufgestaute Wut schwappte ihr entgegen wie geschmolzene Lava, als er ihren Arm ergriff. Diese Einfaltspinsel! Glauben, sie könnten mich zum Narren halten, was? In diesem Moment wurde sie seinem körperlichen wie mentalen Griff entzogen, denn sie wurde mit Nachdruck am Handgelenk gepackt.
»Sklavenmädchen«, sagte Laeth in leicht angetrunkenem Ton. »Hol mir den Branntwein, den ich aus Sianim mitgebracht habe. Terran hier meint, er hätte noch nie rethischen Schnaps getrunken, obwohl er schon zu vielen Gelegenheiten in Reth gewesen ist.« Tadelnd sah er seinen Cousin an und schüttelte den Kopf, bevor er Rialla Richtung Tür schob.
Dankbar entfloh sie dem Bankettsaal und eilte die Stufen hinauf. Atemlos erreichte sie Laeths Gemächer und schloss die Tür hinter sich. Als sie sich auf die Suche nach dem Branntwein machte, den sie eingepackt hatten, versuchte sie herauszufinden, was an Lord Winterseine sie am meisten beunruhigte.
Sie hatte damit gerechnet, dass er wütend war, doch seine Wut hatte jedes Maß verloren. Sicher, sie war wertvoll gewesen, aber doch nicht unersetzlich. Seinem Groll haftete etwas Wahnhaftes, nein, Wahnsinniges an. Das wenige, das sie damals über seinen Charakter erfahren hatte, ließ darauf schließen, dass er ein von Natur aus wütender Zeitgenosse war … wütend und vielleicht auch angsterfüllt.
Als sie darüber spekuliert hatte, ob ihr ehemaliger Besitzer die Stimme von Altis sein könnte, hatte sie nie wirklich daran geglaubt. Das war jetzt anders. Es hatte sich mehr an ihm geändert als nur die Farbe seines Bartes. Ein gewisses Maß an Überheblichkeit war unbestreitbar die Voraussetzung dafür, dass man andere Menschen zu Sklaven machte, doch Lord Winterseines Überheblichkeit schien zu einem gemeingefährlichen Größenwahn angewachsen zu sein.
Nachdem sie endlich die Schnapsflasche gefunden hatte, machte sich Rialla wieder auf den Weg in den Speisesaal. Vor der Tür angekommen hielt sie inne, um durchzuatmen. Dann betrat sie gewohnt anmutig den Saal.
Winterseine saß an der entgegengesetzten Seite der Tafel und damit weit entfernt von Laeth, der sich wieder mal alle Mühe gab, die Anwesenden zu brüskieren. Anstatt seinen Redefluss zu unterbrechen, setzte Rialla die Flasche kurzerhand so auf dem Tisch ab, dass Laeth sie ob seines exaltierten Gefuchtels nicht zu Boden reißen konnte. Dann trat sie zurück an die Wand und amüsierte sich im Stillen über seine Mätzchen.
Als die heiße Kirschtorte serviert wurde, sprang Laeth, der sich von Terran hatte überzeugen lassen, während der vorangegangenen vier Gänge zu schweigen, plötzlich von seinem Stuhl auf.
»Es ist mir scheißegal, wen die Prinzessin ehelicht. Von mir aus kann sie einen Esel heiraten, aber ich kann’s nun mal nicht ertragen, dass eine darranische Prinzessin sich mit einem rethischen Ochsen vermählt! Das einzig Gute, was die Rether in den letzten hundert Jahren zustande gebracht haben, ist dieser Branntwein.« Er langte nach der Flasche, die Rialla herbeigebracht hatte, und verfehlte sie. Verwirrt blinzelte er in die Runde, sprang sodann auf den Tisch und suchte die Flasche so lange, bis er sie neben seinen Füßen liegend wiederfand.
Er schwang die Flasche mit solchem Schwung in Richtung seines Bruders, dass selbst Rialla, die wusste, dass er in etwa so stocknüchtern war wie sie, sich innerlich krümmte. Doch irgendwie schaffte er es, sie gleichzeitig am Hals festzuhalten und nicht vom Tisch zu fallen.
»Du, Karsten, bist der Grund dafür, dass unsere bedauernswerte Prinzessin diesen hirnlosen Bärenköderhaufen heiraten muss.« Seine Stimme bebte so sehr vor Melodramatik, dass Rialla sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Immerhin wusste sie nun, warum Laeth so ein Theater aufführte.
Nach diesem Auftritt würde allen klar sein, dass Laeth die Allianz zwischen Reth und Darran missbilligte; insofern mochte er in der Folge vielleicht von denen ins Vertrauen gezogen werden, die das Bündnis mit allen Mitteln zu verhindern suchten. Möglicherweise wurde er sogar von jemandem angesprochen, der ihm gegenüber etwas über etwaige Attentatspläne verriet – von jemandem, der nicht sein Onkel war. Rialla indes bezweifelte dies.
Bleich, wenngleich gelassen, saß Lord Karsten am Kopf der Tafel, und Rialla nahm an, dass seine Blässe eher von der kürzlich überstandenen Vergiftung als von den Eskapaden seines vorlauten Bruders herrührte. Es war Marri, die sich nun erhob und vorschlug, dass sich alle ins Musikzimmer begeben sollten, um der Abendvorstellung beizuwohnen. Terran und Lord Karsten schafften es, Laeth dazu zu überreden, wieder vom Tisch herunterzukommen. Karsten befüllte einige Krüge mit einem Gebräu, von dem ein eilig herbeigerufener Diener annehmen musste, dass es Laeth wieder nüchtern machen sollte.
Laeth seinerseits gestattete sich und den anderen eine Skandalpause und erschien, nachdem er auch den letzten Krug mit dem Trunk geleert hatte, fast schon wieder normal, wenn auch schläfrig. Behutsam führte man ihn ins Musikzimmer und setzte ihn irgendwo im Hintergrund auf einen Stuhl. Terran blieb an seiner Seite, um sicherzustellen, dass er nicht wieder aus der Rolle fiel.
Das Musikzimmer war eigentlich ein kleines Auditorium, und Rialla fühlte ein wenig Panik in sich aufsteigen, als sie sich fragte, wie dreihundert Leute hier Platz finden sollten. Doch dann begriff sie, dass die Amateurdarbietungen des heutigen Abends wohl nicht als Höhepunkt der Feierlichkeiten angesehen wurden, denn obwohl der Saal nicht sonderlich groß war, gab es immer noch viele freie Sitze.
Und als der erste Künstler die Bühne betreten hatte, wusste sie auch, warum.
Zwei Stunden später döste Rialla behaglich vor sich hin. Wodurch ihre gemarterten Sinne für eine Weile dem Anfängertroubadour entfliehen konnten, der auf einer schlecht gestimmten Lyra vor sich hin klimperte. Keine der bisherigen Darbietungen war auch nur ansatzweise herausragend gewesen. Marri besaß eine akzeptable Altstimme, doch Riallas Lieblingskünstlerin war eine Frau mittleren Alters, deren dramatische Wiedergabe eines klassischen Monologs dadurch gekrönt wurde, dass mit einem Mal ihr viel zu enges Kleid aufplatzte.
Laeth, der bis zu diesem Moment sehr überzeugend seinen Rausch auszuschlafen schien, setzte sich abrupt auf, rieb sich die Augen und starrte mit trübem Blick auf die Bühne. Als ihm klar wurde, dass niemand mehr darauf stand, erhob er sich und bedeutete Rialla, ihm zu folgen.
Rialla konnte ihr Blut in den Ohren rauschen hören, und das Adrenalin straffte ihre Muskeln. Sie hatte fast vergessen, wie sehr sie es liebte, aufzutreten. Bevor ihr der Sklavenstatus alle Freude daran genommen hatte. Doch nun präsentierte sie ihre Kunst, weil sie es so wollte.
Im Privatetablissement in Kentar hatte es immer einen Trommler gegeben, der ihre Darbietung begleitete, doch hier musste sie zu ihrer eigenen Musik tanzen. Laeth blieb mit ihr am Fuß der Treppe stehen und bedeutete ihr, sich auf die Bühne zu begeben. Sie legte ihr schwarzes Cape ab und nahm eine betont passive Haltung an, bis das Publikum verstummte. Es brauchte einige Zeit, bis die Menschen im Auditorium verstanden, worauf Rialla wartete. Endlich ebbten auch die letzten Gespräche ab.
Mit einer dezenten Fußbewegung prüfte sie die Akustik im Raum, und tatsächlich hallte das Klingeln der Glöckchen klar und lieblich wider. Sie hatte die heutige Präsentation mit Bedacht ausgewählt, da die meisten Tänze, die sie einstudiert hatte, für eine öffentlichen Darbietung ungeeignet waren. Es war ein Tanz mit unbestimmter Botschaft, den sie von einer der älteren Tänzerinnen in Kentar gelernt hatte; die Geschichte eines jungen Mädchens, das sich in der Nacht im Wald verirrt hatte und schließlich von einem Gestaltwandler getötet wurde.
Rialla wurde auf der Bühne zu diesem Mädchen, konzentrierte sich ganz auf den süßen Refrain der Glöckchen. Ihre Gesten waren nur angedeutet, wirkten verstohlen, als sie sich aus dem elterlichen Haus schlich, dann anmutig und beschwingt, als sie durch den Wald lief, um ihren Liebsten zu treffen.
Er war nicht am gewohnten Treffpunkt, doch das beunruhigte sie nicht, und sie tanzte für die Nacht und den Mond, nur begleitet vom rhythmischen Klang der Glöckchen, die sie trug.
Inmitten eines kraftvollen Sprungs vernahm sie ein Geräusch. Nach der Landung blieb sie am Boden, schaute sich angstvoll um. Sollte ihr Liebster nicht jeden Moment hier eintreffen? Ihre Furcht wechselte zu freudiger Erregung, als sie eifrig nach ihm suchte. Doch er war nicht da.
Achselzuckend gab sie sich wieder ihrem Tanz hin. Ihre Bewegungen waren geschmeidig, ihr Körper biegsam wie eine Gerte. Sie wirkte schon ein wenig erschöpft, als sie ein weiteres Geräusch vernahm. Dieses Mal war es ihr Liebhaber, dessen Erscheinen sie mithilfe eines geschickt herumgewirbelten schwarzen Umhangs darstellte. Sie tanzten gemeinsam – ausgelassen und leidenschaftlich, bis sie etwas auf seiner Kleidung bemerkte: einen klebrigen Fleck, der sich auf ihre Hand abfärbte.
Sie sah zu ihm auf, fragend, und plötzlich stand an der Stelle ihres Geliebten eine riesige wilde Bestie. Sie wirbelte herum, rannte, aber die Kreatur holte sie ein, riss sie zu Boden und schlug sie nieder. Es folgte ein verzweifelter, doch aussichtsloser Kampf, und dann trat Stille ein.
Rialla lag mit dem Gesicht nach unten auf dem kalten Holzboden und keuchte, lauschte auf die atemlose Stille im Saal, die ein ebensolcher Triumph war wie der nachfolgende Applaus.
Laeth stolperte die Stufen zur Bühne hinauf und half ihr mit übertriebener Fürsorge vom Boden auf. Er grinste und winkte den Zuschauern zu, schaffte eine akzeptable Verbeugung, und Rialla musste sich sehr zusammenreißen, um nicht in Lachen auszubrechen. Dann zog er sie von der Bühne und durch einen Seitenausgang aus dem Auditorium heraus.
In der Sicherheit ihrer Gemächer entledigte sich Laeth seines alkoholgetränkten Hemdes, während sich Rialla am Wasserkrug das Gesicht erfrischte.
»Wie hast du das mit dem Umhang hingekriegt? Ich meine die Szene, in welcher er hoch in die Luft flog und dann zu Boden schwebte.« Laeths Stimme war gedämpft, weil er sich gerade ein sauberes Hemd über den Kopf zog. »Hattest du Gewichte daran befestigt?«
»Ja, aber man braucht trotzdem eine Menge Übung, damit er genau in die gewünschte Richtung flattert.« Rialla durchwühlte ihre Tasche und zog eine frische Tunika hervor. Damit verzog sie sich ins Umkleidezimmer, um endlich das Tanzkostüm abzulegen. Die Baumwolltunika fühlte sich federleicht an auf ihrem Körper; sie war länger als die üblichen Sklavengewänder, reichte bis weiter über das Knie.
Barfuß kehrte sie ins Schlafgemach zurück und warf das Kostüm neben ihre Reisetasche. Die Glöckchen bimmelten protestierend angesichts der unsanften Behandlung, doch sie ignorierte es und fummelte stattdessen an den Riemen ihrer Tasche herum. »Hättest du mit deiner Trunkenbold-Nummer nicht ein bisschen früher anfangen können? Wir haben nur noch einen Tag, bis wir wieder nach Sianim aufbrechen.« Nachdem das Reisegepäck wieder ordentlich verschlossen war, setzte sich Rialla mit überkreuzten Beinen auf den dicken Teppich, der den Boden bedeckte.
Laeth warf sich rückwärts aufs Bett und sagte: »Nachdem wir festgestellt haben, dass der Hauptverdächtige mein Onkel ist, war es besser, es heute zu machen als nie, oder? Aber wer weiß«, fügte er bitter hinzu, »am Ende kommt gar ein weiterer Sklavenschinder aus seinem Versteck gekrochen und präsentiert sich uns als neuer Verdächtiger im Fall des missglückten Anschlags auf meinen Bruder.«
Von ihrem Platz am Boden aus hatte Rialla nur Laeths Füße im Blick, aber mehr musste sie auch nicht sehen, um zu verstehen, wie er sich fühlte. »Tut mir leid, Laeth. Vielleicht war er es ja gar nicht. Das Sklavenmädchen könnte auch jemand anderem gehört haben.«
»Nein«, gab er zurück. »Ich hab Terran erzählt, dass ich eine Sklavin mit ungewöhnlich dunkler Haut hier eintreffen sah, und er sagte mir, dass sie Onkel gehörte. Und dass sie letzte Nacht … gestorben sei.«
»Sie könnte aus einer Gegend stammen, in der ich noch nie gewesen bin. Es gibt viele Völker im fernen Süden, bei den Salzseen oder hinter dem Meer, die ich noch nie gesehen habe. So unfehlbar ist meine Empathie nun auch nicht, dass ich ihre Herkunft aus dem Osten beschwören könnte.« Rialla versuchte mit ihren Einwänden vor allem seinen Kummer zu lindern, überzeugt war sie von ihren vorgebrachten Argumenten jedoch nicht.
»Ich bezweifle nicht, dass das Mädchen aus dem Osten stammte. Ist schon in Ordnung, Ria, du musst Onkel nicht entschuldigen. Selbst wenn er nicht vorhat, Karsten zu töten, ist er nicht der Mann, den ich zu kennen glaubte. Er ist nicht nur ein Sklavenschinder, er ist auch Sklavenhändler.« Er lachte trocken auf. »Und weißt du was? Wäre ich dir nie begegnet, hätte es mich wohl nicht mal gestört.«
Laeth setzte sich auf der Matratze auf, schlug die Beine unter und kümmerte sich nicht weiter darum, was seine Stiefel mit der Tagesdecke anstellten. »Ich hab mich zwar immer gefragt, woher sein Reichtum stammt, war aber nie sonderlich an einer Antwort darauf interessiert. Bevor er das Winterseine-Anwesen von einem Cousin erbte, besaß er nur ein bisschen Grund und Boden im Süden, auf dem man allenfalls Landwirtschaft betreiben konnte, aber mehr auch nicht. Alles, was Großvater besaß, ging an Vater und danach an Karsten. Wenn Onkel sein Geld tatsächlich mit Sklavenhandel verdient, hat er definitiv einen Grund, meinen Bruder zu töten.«
Rialla griff nach oben, berührte flüchtig sein Knie – eine selten Geste von ihrer Seite. »Lady Marri hat vielleicht nicht sehr danebengelegen, als sie behauptete, jemand versuche, dir die Anschläge auf Karsten anzuhängen. Falls Winterseine es irgendwie gelungen ist, den Verdacht auf dich zu lenken, erlangt er im Erfolgsfall die totale Kontrolle über alles, was Karsten besitzt, wie auch einen Großteil seiner Macht.«
Laeth seufzte und lächelte sie müde an. »Ich denke, wir müssen einfach dafür Sorge tragen, dass mein Bruder nicht ermordet wird. Dann muss ich mir auch keine Gedanken mehr machen.«
Westholdts großer Ballsaal war für das anstehende Ereignis auf Hochglanz gebracht worden. Trotz seiner beachtlichen Größe war er kaum imstande, alle Gäste aufzunehmen, die heute hier erschienen waren, um den Geburtstag des mächtigsten Lords des Reiches zu feiern. Man fand kaum einen Platz zum Stehen, geschweige denn zum Tanzen.
Die Angehörigen der Oberschicht und die wohlhabenderen Händler und Grundbesitzer der Umgebung waren geladen worden, um sich unter die einflussreiche Aristokratie zu mischen. Vermutlich, so dachte Rialla, als sie sich mit einem kühlen Krug Bier aus der Küche durch die Menge schob, hatte Karsten den Landadel vor allem deshalb eingeladen, damit dieser einige seiner Übernachtungsgäste bei sich unterbringen konnte und man sie nicht in der Feste beherbergen musste.
Sie hatte an diesem Abend schon viele Besorgungen und Botengänge gemacht, sodass sie sich trotz ihres Sklavenstatus immer wieder unter die Gäste mischen konnte. Trotzdem hatte sie nichts Bedeutsameres aufgeschnappt als Getuschel über den Schwarzhandel. Bisher war es ihr geglückt, Lord Winterseine aus dem Weg zu gehen, was allerdings daran lag, dass er nicht nach ihr Ausschau hielt, doch sie war sich seiner Anwesenheit sehr wohl bewusst.
Als sie sich Laeth näherte, bemerkte sie, dass auch Lord Karsten und Lady Marri zu seiner kleinen Gruppe gestoßen waren. Laeths Bruder sah blass aus und hatte die meiste Zeit auf den Sofas sitzend zugebracht, die hier und da in den Ecken des Saals standen. Marri hatte ihre Hand auf seinen Arm gelegt und hielt den Blick gesenkt, wie es sich für eine sittsame darranische Ehefrau schickte. Laeths Cousin Terran hielt sich schweigend mit einigen anderen jungen Männern im Hintergrund.
»… von Glück sagen, dass der Heiler so gut ist«, hörte Rialla Laeth sagen, als sie näherkam. Sie reichte ihm den Bierkrug.
»Allerdings«, stimmte Karsten zu. »Deshalb hab ich ihm heute Morgen eine Einladung für das Fest geschickt, damit ich ihn angemessen entlohnen kann.«
»Hoffentlich hast du ihm genug Schmiergeld bezahlt, dass er überhaupt hier auftaucht. Wenn du ihm nämlich nicht in aller Öffentlichkeit deinen Dank zollst, könnten die Leute denken, du hättest keine Manieren.« Angesichts dieses frechen Kommentars von Laeth zog jemand scharf die Luft ein, doch sein Bruder lachte nur.
»Tatsächlich hab ich ihm in Aussicht gestellt, dass ich die Abgaben, die das Dorf mir schuldet, dauerhaft senken werde«, meinte Karsten und grinste seinen Bruder schelmisch an. »Wenn ihn das nicht herlockt, dann weiß ich auch nicht mehr weiter.«
»Lady Marri sieht durstig aus«, bemerkte Laeth lakonisch. »Hättet Ihr gern etwas aus der Küche. Einen Krug Bier vielleicht?«
»Ja, bitte«, erwiderte sie. Mit einer knappen Geste schickte Laeth Rialla zurück in die Küche.
Sie war schon fast bei der Tür, als ein unbestimmter Impuls sie herumfahren und nach oben sehen ließ. In einer Ecke der gewölbten Decke fügte sich nach und nach ein Schattengebilde zusammen, bis es eine monströse, sich windende Gestalt angenommen hatte, die sich nun schlängelnd durch die Lüfte bewegte.
Auch jemand anderes bemerkte das Ding und schrie entsetzt auf. Die Kreatur, nun vollständig materialisiert, bewegte sich wie eine riesige fliegende Schlange mit Tentakeln auf Lord Karsten zu. Dann zögerte sie, als ob etwas ihre Aufmerksamkeit erregt hätte. Gleichzeitig spürte Rialla, wie ihr Geist berührt wurde, zögernd zwar und sacht, doch es ließ sie auf der Stelle erstarren.
Das Geschöpf wechselte die Richtung in einer Geschwindigkeit, die man etwas von dieser Größe eigentlich nicht zugetraut hätte. Hörbar peitschte sein Schwanz durch die Luft. Dabei fielen grünlich-braune Fetzen rauen, unkrautartigen Gewebes von seinem Körper ab, als leide es an Aussatz. Das Ende seines Schwanzes war mit scharfen schwarzen Stacheln bewehrt, die feucht im vom Kerzenlicht illuminierten Tanzsaal schimmerten. Das einzig Farbenfrohe an der Kreatur waren ihre leuchtend roten Augen. Alle sechs glitzerten und funkelten wie unschätzbar wertvolle Rubine, als sich der Blick des Ungeheuers nun auf seine Beute richtete – Rialla.
Wie gebannt machte Rialla einen Schritt auf die Kreatur zu, die vor ihr in der Luft auf und ab schwebte. Während sie so dastand, rannte ein Großteil der Gäste panisch aus dem Tanzsaal, sodass um sie herum eine Menge Raum entstand. Allein eine Gruppe Menschen um Lord Karsten, die am hinteren Ende des Saals stand, war nicht geflohen.
Langsam bewegte die Kreatur einen ihrer seilartigen Tentakel auf sie zu und zerzauste Riallas Haar. Älter als alle Kreaturen, die sie auf diese Weise berührt hatten, war auch dieses Geschöpf ein Empath. Es nährte sich von den Emotionen der anderen, bis nichts mehr übrig war, und verspeiste schließlich auch die Körper seiner Opfer – Rialla konnte seine Vorfreude förmlich spüren.
Das Ungeheuer war für Rialla zu fremdartig, als dass sie nicht mehr als einige wenige fundamentale Gedanken aufschnappen konnte. Doch sie wusste, was es im Schilde führte. Dass es auf einen anderen Empathen getroffen war, verhieß ihm einen unerwarteten Leckerbissen – an dergleichen hatte es sich noch nie gütlich getan.
Fast bedächtig und doch ohne Vorwarnung schickte es einen einzelnen Gedankenstrahl hinaus. Angsterfüllt schrie Rialla auf, und die Furcht riss sie aus ihrer Trance. Wie von Sinnen und doch mit der Beweglichkeit einer Tänzerin entzog sie sich der Berührung des Tentakels und rannte. Noch im Laufen riss sie eins der soliden Schwerter, die überall im Saal an den Wänden hingen, aus seiner Verankerung und hielt es in geübter Haltung vor sich. Sie schmeckte das Blut, wo sie sich auf die Lippe gebissen hatte.
Ein weiterer schwarzer Tentakel folgte und griff nach ihr. Als sie danach schlug, wickelte er sich einfach um die Klinge und zog behutsam daran. Scheppernd landete das Schwert auf dem Boden, weit entfernt von Rialla.
Fluchend schnappte sie sich einen schmiedeeisernen Kandelaber und riss die Kerze von dem spitzen Dorn, auf dem sie aufgesteckt war. Die Kerze erlosch, als sie achtlos über den Fußboden rollte.
Auf den ersten Blick schien der Leuchter eine fast so gute Waffe zu sein wie das Schwert. Die Spitze war scharf genug, um so ziemlich alles aufzuspießen, was sich ihr in den Weg stellte. Aber er war nur zwei Handspannen hoch. Wenn sie von der Größe der Kreatur ausging, war das lang genug, um sie allenfalls zu erzürnen. Auch war der Leuchter schwer und damit unhandlich. War die Kreatur also nicht so dumm wie ein aufgebrachter Keiler, würde Rialla der Kerzenhalter herzlich wenig nützen. Und das, was sie von ihrem Gegner erspürt hatte, ließ darauf schließen, dass er klüger war als sie selbst. Mehr noch, obwohl sie ihre mentale Barriere so gut es ging verstärkte, konnte sie spüren, wie ihr Gegenüber sie ob dieses Versuchs verspottete.
Rialla ließ den nutzlosen Kerzenhalter fallen und trat zurück. Dann wartete sie in aller Ruhe darauf, dass die Kreatur sie erneut berührte. Es gab da eine Waffe, derer sie sich noch nie bedient hatte. Sie hatte gehört, dass es möglich war, den Angriff eines Gegners gegen ihn selbst zu richten. Rialla hoffte, dass sie stark genug dafür war.
Ein lockerer Tentakel legte sich so zart um ihren Hals, dass es fast kitzelte. Der Schweiß rann ihr den Nacken herunter, als sie darauf wartete, dass das Wesen nach ihrem Geist griff. Und als dies geschah, hieß Rialla das Geschöpf willkommen, lockte es tiefer und tiefer in ihr Bewusstsein hinein. Dann, in einer wilden, verzweifelten Anstrengung, riss sie die Barriere nieder, verbannte die Emotionen aller noch Anwesenden aus ihrem Kopf und kanalisierte sie in den Geist ihres Widersachers. Wenn sie sich schnell genug von all dem befreien konnte, würde sie nur ein Bruchteil des erzielten Effekts selbst treffen. Theoretisch.
In diesem Moment schnappte sie etwas aus der Menge der noch im Ballsaal Versammelten auf – eine Stimme in ihrem Kopf. Es waren die Gemütsbewegungen von Lord Karsten – eine Mischung aus empfundenem Verrat und grenzenloser Überraschung –, dann heißer Schmerz, der zu einem Nichts wurde, das Rialla als den Tod erkannte. Ein Wirbel aus unterschiedlichsten Gefühlen entströmte den Menschen, die neben Karstens Körper standen oder knieten. Indem sie die Tragweite von Karstens Ermordung ignorierte, lenkte sie seine Sinnesreize wie sein Sterben in den Geist der Kreatur, gegen die sie kämpfte.
Das Ding schlug mit seinem Schwanz nach ihr, versuchte, ihre Konzentration zu stören, und hinterließ eine so klaffende Wunde in Riallas Oberschenkel, dass der große Muskel freilag. Sie kanalisierte den höllischen Schmerz zurück in ihren Angreifer. Die Kreatur zuckte, kämpfte wie von Sinnen dagegen an, als widersetze sie sich einer körperlichen Attacke, dann verlor sie die Kontrolle über ihre Gedanken und floh. Rialla erkannte ihre Chance und schickte die Panik des Geschöpfs sogleich zurück an ihren Ursprung. Als das Herz der Kreatur unter dem gewaltigen Adrenalinschub explodierte, versuchte Rialla hastig, ihren Geist abzuschirmen. Mit einem ohrenbetäubenden Jaulen fiel die Kreatur schwer zu Boden und blieb reglos liegen.
Erst jetzt wurde Rialla bewusst, dass sie auf Händen und Füßen kniete und dass der Boden vor ihr nass war. Der Geruch von verrottenden Pflanzen hing in der Luft. Während die Minuten verstrichen, wurde ihr klar, dass sie all ihre Kraft zusammennehmen musste, um sicherzustellen, dass niemand sie berührte. Sie spürte, wie sich ihr Menschen näherten, nachdem von dem Ungeheuer keine Gefahr mehr auszugehen schien.
Falls jedoch jemand auf die Idee kam, ihr aufzuhelfen, würde ihn dasselbe Schicksal ereilen wie die Kreatur, die sie soeben vernichtet hatte. Sie vermochte ihre Empathie gegen einen solchen Zugriff im Moment nicht mehr abzuschirmen.
Viele Leute waren nicht mehr im Ballsaal, was ihre desolate Verfassung ein wenig erträglicher machte. Durch ihre brüchige Barriere konnte sie Laeth und seinen unsagbaren Kummer spüren, den er wegen des Todes seine Bruders litt. Rialla empfing auch Lord Jarrohs Wut und Marris Überraschung angesichts der tiefen Trauer, die sie beim Anblick ihres toten Mannes empfand.
Der Heiler indes musste Karstens Angebot gefolgt sein, denn jetzt vernahm Rialla seine Stimme klar und deutlich in dem halbleeren Raum – ein ruhender Fels inmitten des im Ballsaal wogenden Chaos. »Lord Karsten ist tot. Das Messer hat sein Herz und den linken Lungenflügel durchstoßen; er starb fast augenblicklich. Es tut mir leid, aber ich kann nichts mehr für ihn tun.«
Jemand kam ihr zu nahe. Heiser presste Rialla ein »Bleib weg« hervor. Doch der Jemand hörte nicht auf sie, also fügte sie hinzu: »Es ist vielleicht noch nicht ganz tot …« Daraufhin zog die Person sich zurück.
Zu viele auf sie einströmende Gedanken wirbelten in ihrem Kopf. Sie musste ruhen, bevor sie jeden von ihnen abschirmen konnte. Der Stein war kühl an ihrer Wange, kalt und nass.
»Nein, bleibt zurück, Lord Laeth. Es sei denn, Ihr wollt so enden wie das Ding da hinten. Gebt ihr ein bisschen Zeit.« Das war wieder die Stimme des Heilers. Tris. Er würde die Leute von ihr fernhalten, bis sie die Barriere wieder errichtet hatte.
Sie entspannte und konzentrierte sich auf ihren Schutzschirm, doch zu schnell verlor sie die Kontrolle wieder. Sie hätte wissen müssen, dass Laeth sich nie an irgendwelche Anweisungen hielt. Stattdessen erspürte sie seine Absicht einen Augenblick zu spät. Als er sie berührte, schrie sie gellend auf, um ihn vor dem ganzen Gefühlschaos zu schützen, dem ihren und dem seinen. Gnädigerweise verlor Rialla kurz nach Laeth das Bewusstsein.