9

Sobald sie im Schutz der Wälder untergetaucht waren, ließ Tris den Lederranzen zu Boden fallen und begann, ihn zielstrebig zu sichten, wobei er die meisten Werkzeuge herausnahm und neben der Tasche ablegte.

»Hast du Terrans Tagebuch an dich genommen?«, fragte Rialla ihn.

»Ja, ist auch in der Tasche.« Er löste seinen Gürtel und holte Winterseines Grimoire hervor.

»Warte.« Rialla lockerte eine Kordel an ihrer Tunika und brachte den Dolch zum Vorschein, den sie darunter versteckt hatte. Sie wickelte die Klinge sorgfältig in ein Stück Stoff und verbarg sie wieder an ihrem Körper.

Tris hüllte die verstreuten Werkzeuge in ein Öltuch ein, damit sie vor Regen geschützt waren. Er hoffte, dass irgendjemand sie finden und in Ehren halten würde.

Dann warf er sich den Ranzen wieder über die Schulter, ließ den Trampelpfad hinter sich und schlug sich tiefer in den Wald hinein. Rialla folgte ihm, dankbar dafür, dass das ausgiebige Tanztraining ihr die Ausdauer für den vor ihnen liegenden Marsch beschert hatte.

Tris marschierte mühelos voran und passte sogar sein Tempo an das von Rialla an. Der Weg, den er eingeschlagen hatte, erschien willkürlich gewählt, aber sie vertraute auf seine Waldläuferfähigkeiten. Auch wusste er ihre Belastbarkeit intuitiv einzuschätzen, und als ihr schlimmes Bein zu schmerzen begann, wurde er noch langsamer.

»Kannst du feststellen, ob uns jemand folgt?«

»Lass mich kurz anhalten, dann überprüfe ich es«, erwiderte Rialla und blieb stehen.

Schwer atmend wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Indem sie sich den unmittelbaren Einflussbereich vornahm, griff sie vorsichtig mit ihrer Gabe um sich. Es war schwierig, tierische Emotionen von menschlichen zu unterscheiden, also suchte sie nach einer ganzen Gruppe, konnte aber nichts erspüren.

»Nichts«, sagte sie und hoffte, dass sie recht damit hatte.

Tris griff nach der Borke eines Baums, streichelte ihn, bevor er seinen strammen Marsch fortsetzte. »Ich bin froh, aus dieser verfluchten Burg heraus zu sein. Es geht aufs Gemüt, von nichts außer totem Stein umgeben zu sein.«

Rialla sprach stockend; ein leichter Plauderton fiel ihr nach den Ereignissen der letzten Tage schwer. »Ich verstehe, was du meinst. Ich wuchs in einer Gemeinschaft auf, die sich nie lange an einem Ort aufhielt. Wir schliefen auf unseren Reisen nur dann in Zelten, wenn es regnete. Manchmal möchte ich schreien, wenn ich zu lange von dicken Steinmauern umgeben bin.«

»Und warum lebst du dann in der Stadt?«, fragte er.

»Weil Sianim der erste Ort war, wo eine Frau als Pferdeausbilderin arbeiten konnte.«

»Und warum bist du nach deiner Flucht nicht zu den Händler-Clans zurückgekehrt?«

Rialla zuckte die Achseln. »Aus meiner Sippe war ja niemand mehr am Leben. Ich schätze, eine der anderen hätte mich wohl aufgenommen, aber … ich hätte da nicht reingepasst.« In Wahrheit, dachte sie, fühlte sie sich Tris nach den vergangenen Wochen mehr verbunden als irgendjemandem sonst, einschließlich Laeth. Vielleicht lag es an dem mentalen Band: Ihr Blick wanderte hinüber zu den starken Schultern ihres Gefährten, und sie musste lächeln. Vielleicht war es auch etwas ganz anderes.

»Tris?«, fragte Rialla.

»Hmm?«

»Wohin gehen wir?«

Etwas bei einem mit Rohrkolben bestandenen Streifen am Bachlauf, dem sie folgten, erregte seine Aufmerksamkeit. Er hielt an und strich behutsam die Erde vom Wurzelwerk einer schlanken Pflanze mit kleinen weißen Blüten.

»Das ist die ›Weiße Mönchskutte‹«, erklärte er. Er grub die Pflanze behutsam aus und schüttelte die Erdbrocken aus den Wurzeln. »Gibt ein starkes Schlafmittel ab. Nur wenige Blätter können einen Mann für Stunden in Tiefschlaf versetzen.«

Er zog sich den Ranzen vor den Bauch und legte die Pflanze vorsichtig auf die Bücher.

»Sianim«, sagte er, nachdem sie ihren Weg wieder fortgesetzt hatten.

Rialla hatte keine Ahnung, worauf sich seine Bemerkung bezog. Als sie begriff, dass er ihre Frage beantwortet hatte, sagte sie: »Woher weißt du, wo Sianim liegt? Warst du schon mal dort?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich weiß, wo dieser Wald von einer breiten Straße durchschnitten wird. Und wenn man dem Koch aus der Burg glauben darf, führt die einzige Hauptstraße hier gen Osten nach Sianim und gen Süden ins Territorium der Allianz. Besagte Straße befindet sich zweieinhalb Tagesreisen von hier. Aber ich dachte, wir könnten in den Wäldern erst unsere Verfolger abschütteln, bevor wir darauf zuhalten.« Er schenkte ihr ein breites Grinsen. »Wir Sylvaner haben eine Menge Vorteile gegenüber euch Menschen

Rialla erwiderte sein Lächeln. »Besser ein Mensch sein, als sich im Wald mit der örtlichen Flora verbrüdern zu müssen.«

In gespielter Empörung schüttelte er den Kopf und sagte traurig: »Immer wird das herabgesetzt, von dem sie nichts wissen. Sich in der Natur aufzuhalten kann eine interessante Erfahrung sein, mit der richtigen Person, versteht sich.« Er sah sie vielsagend an, ruinierte aber den Effekt, da ihm in diesem Moment eine weitere Pflanze ins Auge fiel. »Coralis!«, rief er begeistert aus. »Ich dachte nicht, dass sie so weit im Norden noch zu finden ist.«

Rialla war froh deswegen, denn sie hatte gerade begonnen, sich ob seiner subtilen Anbändelei ein wenig unwohl zu fühlen. Sie grinste, als er sich hinabbeugte, um die Rinde eines kleinen Baums zu inspizieren, der bemerkenswert blutrote Blüten hervorgebracht hatte. Andererseits war es nicht gerade schmeichelhaft, für eine Pflanze links liegen gelassen zu werden …

Entschuldige, sagte er und sah zu ihr auf.

Überrascht starrte sie ihn an. »Kannst du die ganze Zeit über meine Gedanken lesen?«, fragte sie. Plötzlich konnte sie Laeth ein wenig verstehen; es war nicht schön, in dem ständigen Gefühl leben zu müssen, dass die eigenen Gedanken nicht länger privat waren.

Er straffte sich und schüttelte den Kopf. »Nein, nur ab und zu. Und dann für gewöhnlich auch nur die oberflächlichsten Gedanken.«

Sie lächelte ihn an, als sie sich wieder auf den Weg machten. »Es ist sehr ungewohnt, dass es jemanden gibt, der mich so lesen kann, wie ich es normalerweise bei allen anderen tue.«

Er zwinkerte ihr zu, wollte etwas sagen, wurde dann aber durch die Sichtung einer anderen Pflanze davon abgehalten.

Sie reisten schnell, trotz der gelegentlichen Pausen, in denen Tris die ihn umgebende Flora inspizierte und Rialla ein wenig verschnaufen konnte. Im Süden und Westen ragten Berge auf, doch ihre Route verlief durch das hügelige Vorgebirge. Nachdem sie einige Meilen ohne erkennbare Verfolgung zurückgelegt hatten, konnte sich Rialla endlich etwas entspannen und darüber freuen, Winterseines Burg hinter sich gelassen zu haben. Tris hatte sogar einige Pflanzen gesammelt, an denen sie auf ihrem Weg knabberten.

Die Abenddämmerung brach herein, und sie schlugen ihr Lager auf einer kleinen Lichtung auf. Rialla hatte ein Plätzchen mit verhältnismäßig wenigen Steinen gefunden und es sich dort bequem gemacht. Erschöpft legte sie ihren Kopf auf die Arme, während Tris neben ihr dasselbe tat.

Die Sommerluft war noch warm, doch Riallas Sklavengewand vermochte sie nur schlecht vor dem drohenden Temperatursturz in der Nacht zu schützen. Aber nach allem, was sie in den letzten Tagen durchgemacht hatte, trug ihre Müdigkeit den Sieg über derlei Unannehmlichkeiten davon. Und so fröstelte sie klaglos ein- oder zweimal, bevor sie einschlief.

Tris bemerkte, wie sie sich zitternd herumwälzte, doch als er sah, wie sie die Beine anzog, um die Wärme besser im Körper zu halten, reichte es ihm. Er rutschte auf sie zu, bis er direkt neben ihr lag, und zog sie dann näher zu sich heran.

Als er dabei ihre Schultern berührte, spürte er … Terrans feingliedrige Hände auf nackter Haut … einen Widerwillen, der fast an Grauen grenzte … Schmach … Hass … und einen Hauch von Todesangst …

Besitzergreifende Wut überwältigte ihn, selbst als er in diesem Moment begriff, dass das Band zwischen ihnen mittlerweile über den Gedankendialog hinausging – zumindest auf seiner Seite. Zum ersten Mal im Leben nahm er Riallas Emotionen wahr, als würde ihre Gabe langsam in ihn hineinsickern. Sorgfältig schwächte er die Ränder seines Zorns ab. Ja, er würde Rialla nach Sianim bringen, und dann würde er diesem Terran vielleicht zeigen, was die Raserei eines Heilers zu bewirken vermochte.

Leise wimmerte Rialla im Schlaf. Tris stieß langsam die Luft aus. Als er sich wieder unter Kontrolle hatte, ließ er seinen Geist erneut in Riallas Träume hinabsinken.

Zärtlich fing er sie ein mit seinen Gedanken, lockte sie fort aus Terrans Schlafzimmer und hinein in die ungleich süßere Erinnerung an einen See im Norden, der silbern und golden glitzerte im Schein der untergehenden Sonne.

Wie gewöhnlich war sie allein, als sie noch vor der Morgendämmerung erwachte. Sie stand auf und schüttelte ihre Kleidung aus, doch die meisten Knitterfalten und Dreckklumpen widerstanden ihren Bemühungen. Sie holte tief Luft und wunderte sich nicht wirklich, als sie den typischen Geruch von Schnee in die Nase bekam. Tris’ Rückkehr ins Lager unterbrach ihre Gedanken, und sie wünschte ihm einen guten Morgen.

Im ersten Licht des jungen Tages brachen sie auf. Nach einer Weile bekam Rialla Hunger, und als sie einen Brombeerstrauch erblickte, hielt sie an und bediente sich. Tris fand einige Knollenwurzeln, die er an seinem Hosenbein sauber rieb. Die schmeckten zwar nach so gut wie nichts, füllten den Magen aber besser als die Beeren.

»Über dem Feuer geröstet sind sie leckerer«, meinte er kauend.

»Wenn du es sagst«, erwiderte Rialla skeptisch, obwohl der Hunger sie herzhaft zubeißen ließ. »Jede Weiterbehandlung, und sei es mit den Ascheresten eines Lagerfeuers, kann eigentlich nur eine Geschmacksverbesserung darstellen.«

Tris wollte schon etwas erwidern, als ein seltsamer Schrei die Luft zerriss. Danach trat eine gespenstische Stille ein, nicht mal ein Vogelruf war in den Wäldern mehr zu hören.

»Weißt du, was das war?«, fragte Tris ruhig.

»Ich bin nicht sicher, aber sind wir nicht in der Nähe der Burg des ae’Magi?«

Tris stutzte, als zöge er eine innere Landkarte zu Rate. »Einen halben Tagesmarsch von hier liegt so etwas wie eine große Burg, Richtung Süden.«

Rialla nickte. »Das müsste sie sein. Und das, was wir gehört haben, war vermutlich ein Uriah. Ich hab zwar noch nie selbst einen zu Gesicht bekommen, aber es heißt, bei der Burg des Erzmagiers sollen noch welche hausen. Als der vorherige ae’Magi starb, gab es dort unzählige Uriah, die dann in den umgebenden Ländereien untergetaucht sind. Söldner aus Sianim hatten sie aus der Burg vertrieben und die meisten von ihnen vernichtet, aber alle konnten sie in den Wäldern nicht aufspüren. Ich hörte, der amtierende ae’Magi kümmert sich nicht mehr groß um sie. Wie man sagt, ist ihnen mit Magie schwer beizukommen, man soll sie nur mit Feuer oder einem Schwert töten können. Und ich hab nicht mal mein Messer …«

Tris nahm Riallas Arm und ging zügig weiter. »Bösartige Dinger, wenn man den Geschichten glauben will. Hab mal einen aus der Entfernung gesehen und konnte von Glück sagen, dass er mich nicht entdeckt hatte. Der Schrei von eben klang nicht sehr nah, aber ich denke, es ist eine gute Idee, wenn wir machen, dass wir weiterkommen.«

Sie schritten kräftig aus, dann verfielen sie in einen Dauerlauf, doch der Uriah schien auf einem parallel zu ihrer Route verlaufenden Pfad mit ihnen mitzuhalten, da von Zeit zu Zeit sein charakteristisches Geschrei zu ihnen drang.

»Glaubst du, er verfolgt uns?« Nervös blickte Rialla in die Richtung, aus welcher das Gebrüll gekommen war, aber die Bäume hier standen zu dicht, um etwas zu erkennen.

Ein neuerlicher Schrei hallte durch den Wald, gefolgt von einem Chor aus weiteren aufgebrachten Rufen. Rialla blieb stehen, griff mit ihrer Gabe hinaus, um zu sehen, was die Aufregung verursacht hatte. Ihr Geist wanderte durch den Wald. Ja, da war etwas. Die Bäume, durch die sie eben noch versucht hatte, etwas zu erkennen, raschelten, als fände zwischen ihnen ein Kampf statt …

Sie schrak zusammen, als Tris sie plötzlich grob am Arm packte und hastig mit sich zog. Rialla protestierte. Jetzt rannte er los, und er lockerte den Griff erst wieder, als sie sich nicht mehr dagegen sträubte. Stolpernd musste sie mit ihm Schritt halten, bis das Geheul so weit entfernt war, dass sie zumindest wieder reden konnten.

Rialla lief noch ein kleines Stück weiter, bevor sie begriff, dass Tris stehengeblieben war. Sie wandte sich um und sah nichts als Verärgerung auf seinem Gesicht.

»Was um alles in der Welt hast du da getan?«, schrie er.

»Ich … hab versucht herauszufinden, was diesem Uriah geschehen ist. Es schien, als wäre er in irgendwen oder irgendwas hineingerannt. In etwas Großes. Schätze, der Uriah ist eine Weile damit beschäftigt, und wir müssen uns keine Sorgen mehr um ihn machen«, erwiderte Rialla, wobei sie einen kleinen Schritt auf ihn zu machte.

Mit undurchdringlicher Miene starrte er sie an, dann ging auch er auf sie zu. »Das war dumm! Uriah sind keine Menschen. Ja, sie sind nicht einmal wie Tiere. Du hättest dabei verletzt werden können, verstehst du das?«

Sie presste die Zähne aufeinander, machte einen weiteren Schritt auf ihn zu, bis sie sich direkt gegenüberstanden. »Ich verstehe, dass das allein meine Sache war!«

»Du hättest dich im Todeskampf des Tieres, das er gerade tötete, emotional verfangen können«, zischte er und starrte böse auf sie herab.

»Sehr unwahrscheinlich. Ich hatte alles unter Kontrolle. Ich war mit der Kreatur im Tanzsaal von Westholdt weitaus stärker verbunden«, erwiderte sie frostig.

Tris wandte sich ab, wohl in dem Versuch, sich wieder zu beruhigen. Im nächsten Moment begriff Rialla, dass er mitnichten versuchte, seinen Zorn niederzukämpfen und tief durchzuatmen – sie sah, dass seine Schultern verräterisch zuckten.

»Du … du machst dich über mich lustig!?« Wenn sie in diesem Moment eine Waffe zur Hand gehabt hätte, sie hätte sie benutzt. »Und spar dir irgendwelche faulen Ausreden, du falsche Schlange, du hast dich über mich lustig gemacht!«

»Teils, teils«, sagte Tris mit gedämpfter Stimme. »Diese Kreatur im Tanzsaal hat dich verletzt, Rialla. Uriah sind nicht wie andere Tiere – sie werden von Hunger und Raserei angetrieben, das weiß jeder. Jeder Empath, der mit einem solchen Ding Kontakt aufnimmt, riskiert leichtsinnigerweise Kopf und Kragen. Die Situation eben hat eine solche Aktion einfach nicht gerechtfertigt.«

Rialla dachte über seine Worte nach. »Du hast recht, ich entschuldige mich dafür, ein unnötiges Risiko eingegangen zu sein. Aber du hast mir immer noch nicht gesagt, warum du gelacht hast.« Ihre Stimme war noch immer kühl.

Tris drehte sich um und sah sie an. »Vermutlich zunächst vor Erleichterung. Ich war besorgt, dass …« Der Schalk aus seinen Augen verschwand, und Rialla konnte wieder die dunkle Wut in ihm spüren, die nie wirklich verraucht war. »Ich war besorgt, dass die letzten Wochen dich mehr beeinflusst haben könnten, als sie tatsächlich haben. Ich musste an die kleine Rede denken, die du Laeth in meinem Haus hieltest – die, wo du meintest: einmal Sklave, immer Sklave –, während du mich angeschrien hast. Ich fand das irgendwie lustig.«

»Lach mich noch mal aus, wenn ich wütend bin, und ich werde dafür sorgen, dass das kein weiteres Mal passieren wird«, sagte Rialla feierlich.

»Ich freue mich drauf«, erwiderte Tris höflich. Er trat auf sie zu und bot ihr seinen Arm an.

Nach einem kurzen Zögern legte Rialla ihre Hand in die Beuge seines Ellbogens. Gemeinsam gingen sie auf dem Pfad weiter, den Tris ausgewählt hatte.

»Wie sehen Uriah eigentlich aus?«, fragte Rialla neugierig. »Ich hab noch nie einen gesehen.«

Sie hatten ihren Verfolger schon eine Weile hinter sich gelassen. Die Bäume warfen lange Schatten über den Boden, und der Osthimmel verdunkelte sich in einem Farbenspiel aus Rot und Gold.

Tris zuckte die Achseln. »Wie Menschen, die schon monatelang tot sind, dann aber beschlossen haben, sich Reißzähne wachsen zu lassen, um auf die Jagd zu gehen. Und sie riechen auch so …«

»Also nichts, dem man mitten in der Nacht begegnen möchte«, bemerkte Rialla.

»Eigentlich möchte ich sie zu keiner Tageszeit treffen, um ehrlich zu sein«, erwiderte Tris abwesend, während er einen in der Nähe stehenden Busch prüfte.

»Wonach suchst du?«, wollte Rialla wissen.

»Ich rieche hier irgendwo Dornbeeren … Zu dieser Jahreszeit verströmen die Sträucher einen starken Duft. Man könnte mit seiner Hilfe dafür sorgen, dass die Uriah nicht wieder unsere Witterung aufnehmen, falls sie doch noch hier vorbeikommen sollten.« Er kniff die Augen zusammen und zeigte nach links. »Dort drüben, neben der Eiche! Komm, wir machen jetzt Rast und warten, bis die Uriah diese Gegend wieder verlassen haben, bevor wir weiterziehen.«

Tris führte sie zu einer Gruppe von dichtem Gestrüpp, das nur wenige Schritte neben einem riesigen Eichenbaum stand. Die Spitzen der Büsche waren mit dicken gelben Blüten besetzt, die stanken wie ein trockengefallener Burggraben im Hochsommer. Fingerlange scharfe Dornen bewehrten die Sträucher von unten bis oben.

»Wenn du unter den Zweigen herkriechst, kannst du dich an den Dornen nicht verletzen«, riet ihr Tris, der den empörten Gesichtsausdruck Riallas, die sich die Nase zuhielt, ignorierte. »Sie zeigen alle nach oben, also halte dich dran.«

Er ließ sich auf den Rücken fallen und rutschte vorsichtig unter den Strauch, bis er nicht mehr zu sehen war. Rialla betrachtet argwöhnisch die Dornen, doch dann tat sie es ihm gleich.

Zu ihrer Überraschung mündete der enge Tunnel, den Tris geschaffen hatte, in einen großen Hohlraum im Zentrum der Strauchgruppe, in der gut und gern zwei oder drei Leute hätten Platz finden können. Die Buschkronen bildeten ein natürliches Dach über ihren Köpfen, aber es war zu niedrig, um sich bequem aufzurichten. Der Boden war weich von alten Laubschichten.

Tris musste grinsen, als er Riallas Miene sah. »Es kann wirklich sehr gemütlich sein, wenn man sich erst mal an den Geruch gewöhnt hat. Das Blätterdach ist sogar so dicht, dass nur wenig Regen durchdringen kann.«

Er öffnete seinen Rucksack und sichtete einmal mehr seine Pflanzensammlung. Mit bedauerndem Gesichtsausdruck sortierte er die Exemplare aus, die die Reise nicht so gut überstanden hatten.

Rialla sah ihm eine Weile dabei zu, dann kramte sie aus seinem Ranzen die Bücher hervor, die sie Winterseine gestohlen hatten. Sie schüttelte sie, um sie von zerdrückten Blättern und welken Kräutern zu befreien. Als sie das Grimoire beiseitelegte, bemerkte sie, dass einige Seiten halb herausgerutscht waren, und dies trotz der Schließe, die den weißen Ledereinband zusammenhielt.

»Tris«, sagte sie.

»Hmm?« Er schaute von seiner Pflanzenkollektion auf.

Sie hielt ihm das Buch vor die Nase, und die Seiten schoben sich noch ein Stück weiter heraus. Rasch drehte Rialla den Folianten nach oben, damit die Blätter nicht ganz herausfielen.

»Nicht die Seiten berühren!«, warnte Tris und legte das Grünzeug beiseite. »Es gibt eine Menge ungesunder Überraschungen, die ein Menschenmagier in seinem Zauberbuch für Unbefugte bereithalten kann.«

Er nahm ihr das Grimoire aus der Hand und klopfte mit dem Buchrücken gegen sein Bein, doch die Seiten weigerten sich standhaft, wieder an ihren Platz zurückzurutschen. Er neigte es vorsichtig, bis ein dünner Lichtstrahl von oben auf die cremefarbene Oberfläche der störrischen Seiten fiel.

»Hmm«, machte Tris, bevor er seine Hand ausstreckte und kurz über den Folianten hinwegstrich. »Diese Seiten waren nie Teil des Grimoires – dafür sind sie zu alt.«

Rialla betrachtete die sorgfältig gefalteten Blätter genauer. »Aber sie sehen gar nicht alt aus.«

»Magie«, erklärte Tris. »Diese Seiten bergen mehr Magie in sich, als ein Zauberer allein anhäufen könnte, menschlich oder nicht. Man bräuchte zwanzig oder mehr der stärksten aus meinem Volk, um so viel Magie zu beschwören. Und ich schätze, mindestens ebenso viele Menschenmagier.«

»Aber es sind doch nur leere Pergamentseiten«, sagte Rialla überrascht.

Tris hob die Augenbrauen und schaute wieder auf die gelblichen Blätter. »Kannst du denn nicht die Symbole darauf erkennen?«

Sie schüttelte den Kopf, lehnte sich noch ein wenig weiter vor, um besser sehen zu können, wobei sie sich mit einer Hand an Tris’ Schulter abstützte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sobald sie ihn berührte, erschienen auf der ihr zugewandten leeren Seite Markierungen, die seltsam verschwommen wirkten.

Rialla blinzelte, stieß einen leisen Fluch aus und nahm ihre Hand von Tris’ Arm. Sobald der Kontakt zu ihm unterbrochen war, waren die Seiten wieder leer. »Kannst du sagen, wozu diese Zaubersprüche gut sind?« Ihre Stimme klang unsicher.

Tris schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Anwender von Menschenmagie und würde niemals Sprüche einsetzen, die man auf eine solche Weise niederschreiben könnte.«

Rialla musste ob seiner unverhohlenen Verachtung lächeln. »Und was sollen wir jetzt damit anstellen?«

»Wir nehmen alles mit nach Sianim. Sollen sich doch die Menschenmagier darüber den Kopf zerbrechen.« Tris verstaute das Buch in der dunkelsten Ecke seines Ranzens, wo die halb herausgerutschten Seiten nicht weiter störten.

Als Tris sich herumdrehte, um eine bequemere Position zu finden, berührte er zufällig Terrans Tagebuch mit der Hand. Er nahm es an sich.

Macht es dir was aus, wenn ich das mal durchblättere?, fragte er.

Rialla zuckte die Achseln. Ich tue mich selbst bei Festbeleuchtung schwer mit geschriebenem Darranisch. Wenn du es hier entziffern willst, nur zu. Ich denke, ich werde mich jetzt ein wenig ausruhen …

Sie spürte, wie er seine Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Dein Bein macht dir Probleme, stellte er fest. Soll ich mal schauen, ob ich was für dich tun kann?

Sie zögerte, schüttelte dann jedoch den Kopf. Sie war noch nicht dazu bereit, sich unter den Händen eines Mannes zu entspannen.

Also gut, meinte Tris. Das Angebot steht, falls du es dir doch noch anders überlegen solltest.

Erst nachdem sich Rialla auf dem Laubbett zusammengerollt und die Augen geschlossen hatte, stellte sie fest, dass der Wechsel vom gesprochenen Wort zum Gedankendialog ganz unbewusst erfolgt war. Sie fragte sich, ab welchem Moment es zu einer solchen Leichtigkeit geworden war, sich auf diese Weise mit Tris zu verständigen. Sie hörte, wie Tris in dem dünnen Diarium leise die Seiten umblätterte, und das Geräusch verschmolz mit dem Rascheln der Blätter, auf denen sie lag. Ohne einen weiteren Gedanken glitt sie hinüber in einen erholsamen Schlaf.

Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, als sie wieder erwachte, doch in ihrem Unterschlupf war es immer noch düster.

»Rialla?«

»Hmmm?«, antwortete sie schläfrig.

»Ich denke, das dürfte dich interessieren.«

»So?« Rialla versuchte klar zu werden und setzte sich auf, während sie sich Blattstücke und Schmutz von der Kleidung fegte. »Um was geht’s denn?«

Tris zeigte mit dem Finger auf die Seite im Tagebuch, die er gerade aufgeschlagen hatte. Dann legte er seine Lektüre beiseite, zog die Knie an und sagte: »Lass mich dir eine Geschichte erzählen:

Es war einmal ein Junge, gerade an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Sein Vater war sowohl ein Magier als auch ein Athlet. Als klar wurde, dass der Junge nichts von beidem werden würde, fühlte er sich als Versager. Eine Einschätzung, die sein Vater teilte.

Wie vielen Kindern seines Alters fiel es dem Jungen schwer, sich vorzustellen, was für ein Mann einst aus ihm werden konnte. Er war ungeschickt und gehemmt und neigte dazu zu stottern, wenn er nervös wurde.

Neben seiner Profession als Magier war der Vater auch Sklavenhändler. Ab und an überquerte er den Großen Sumpf und besuchte die geheimnisvollen Reiche im Osten, weil Sklaven aus diesem Teil der Welt besonders wertvoll waren. Das nicht zuletzt deshalb, weil es aufgrund der großen Entfernung nicht so leicht war, ihrer habhaft zu werden. Das einzige Talent des Jungen bestand in einer gewissen Sprachbegabung, sodass sein Vater ihn auf seine Reisen mitnahm.

Eines Tages durchquerten sie ein kleines, vom Krieg zerrissenes Land im Osten. Sie übernachteten in einer Unterkunft, die vor langer, langer Zeit ein Schrein zu Ehren des Gottes Altis gewesen war. Obwohl vieles vom ursprünglichen Gebäude umgebaut oder den Jahren zum Opfer gefallen war, betrachtete sein Besitzer, ein reicher Händler, den ursprünglichen Zweck des Gebäudes mit einigem Stolz.

An diesem Abend machte sich der Junge beim Abendessen einmal mehr zum Narren. Eine der Töchter ihres Gastgebers sprach ihn an, und er wurde so fahrig, dass er sein Weinglas umstieß, dessen Inhalt sich über seinen Schoß ergoss. Das Lachen seines Vaters und ihres Gastgebers im Ohr, stürmte der Junge aus dem Speisesaal und begab sich auf das Zimmer, das ihm und seinem Vater zugewiesen worden war.

Der Raum selbst war ungewöhnlich. Anders als die übrigen Zimmer, die der Junge in diesem Haus gesehen hatte, bestanden hier Boden und Wände aus Stein und nicht aus Holz. Die Pritsche, die man ihm zugeteilt hatte, drängte sich in eine Ecke, sein Vater schlief in dem pompösen, mit seidenen Laken bezogenen Bett. Der lange, niedrige Marmortisch, der fest mit dem Boden verbunden war, ließ die übrigen Möbel im Zimmer winzig erscheinen.

Der Junge, der nichts als Ruhe und Zuflucht suchte, betrat das Zimmer mit einer Öllampe, die er aus dem Flur vor dem Speisesaal mitgenommen hatte. Ungeschickt wie eh und je und noch immer verwirrt durch die erlittene Schmach, stolperte er über einen kleinen Läufer und stürzte. Dabei streifte seine Stirn eine Ecke des schweren Tisches. Obwohl es kein harter Aufprall war, blutete er heftig, wie es bei Platzwunden am Kopf ja häufig der Fall ist.

Froh, dem Gespött der anderen entkommen zu sein, rappelte sich der Junge wieder auf. Irgendwie hatte er beim Sturz die Lampe fallen lassen, deren Öl dabei durch den halben Raum gespritzt war. Er stellte sie auf dem weißen Marmortisch ab und schenkte Blut und Öl, das über die Oberfläche verteilt war, keine Beachtung.

Er wusste, er würde jemanden bitten müssen, seine Kopfwunde zu versorgen, aber er wollte sich auch nicht der Untersuchung durch einen völlig Fremden aussetzen. Und schon gar nicht wollte er sich von seinem Vater verbinden lassen, der ihn sicherlich wegen seiner Ungeschicklichkeit verhöhnt hätte.

Ihm wurde schwindlig, und da er vor dem Tisch kniete, legte er erst die Arme und dann den Kopf auf die kühle Oberfläche. Nach und nach glitt er hinüber in einen leichten Dämmerzustand.«

Tris machte eine Pause, dann fuhr er fort: »Was als Nächstes geschah, mag vom jeweiligen Blickwinkel desjenigen abhängen, der die Ereignisse zu bewerten hat. Ich berichte die nachfolgenden Geschehnisse aus der Sicht des Jungen, und du musst dir angesichts deiner eigenen Erfahrungen und Beobachtungen selbst ein Bild machen, Rialla.

Der Knabe träumte. Und in diesem Traum ging er einen weißen Gang entlang, in dem sich Türen zu beiden Seiten befanden. Er öffnete die erste und erblickte eine verhüllte Gestalt, die auf einem Tisch lag, der dem in seinem Zimmer ähnlich war. Er konnte nicht sagen, ob die Person lebte oder tot war, und etwas hielt ihn davon ab, das Zimmer zu betreten und sich die Sache genauer anzuschauen. Auf einem riesigen Relief an der Wand über dem Tisch waren zwei rote, ineinander verschlungene Drachen zu erkennen.

Nun war unser Held ein belesenes Kind – die Welt der Bücher war ihm von jeher eine Zuflucht vor seines Vaters Missachtung gewesen –, und so erkannte er wieder, was nur wenigen aufgefallen wäre: Die Drachen stellten das uralte Symbol von Temris dar, dem Gott des Krieges.

In dem Glauben zu träumen, kämpfte der Junge nicht gegen den eigentümlichen Drang an, dem langen Gang zu folgen. Je weiter er vordrang, umso mehr Altarzimmer mit verhüllten Gestalten entdeckte er. Und über einer jeden prangte das Symbol eines längst vergessenen Gottes an der Wand. Die meisten kannte der Junge, doch von anderen hatte er noch nie gehört.

Immer weiter ging er den Gang entlang, bis er schließlich zu einer ganz bestimmten Tür hingelenkt wurde. Er öffnete sie und trat ein.

Er bemerkte, dass überall in dem Raum eine dicke Staubschicht lag. An der Wand entdeckte er ein Symbol, das er nicht nur von seinen eigenen Studien her kannte, sondern auch im Hause seines Gastgebers schon gesehen hatte: die Katze von Altis.

Vorsichtig näherte er sich der eingehüllten Gestalt auf dem Altar. Dabei fiel ihm auf, dass der Staub ringsum aufgewirbelt worden war, wie auch die Seidentücher, in die man den Körper eingeschlagen hatte, nicht mehr so ordentlich drapiert waren wie bei den anderen. Kurz: Es schien, als habe sich die darunter liegende Person erst kürzlich bewegt.

Mit dem Mut des Träumenden berührte der Junge den feinen blauen Stoff, um ihn fortzuziehen. Im gleichen Moment griffen seine Finger ins Leere – die Gestalt war verschwunden, zurück blieb nur ein leerer Marmortisch.

Wie er auf die polierte Platte hinabschaute, fiel darauf ein Tropfen Blut aus seiner Wunde, gefolgt von einem Tropfen Öl aus der Lampe in seiner zitternden Hand. Die Tropfen liefen zusammen, wie sie es in der realen Welt niemals tun würden. Er konnte den Blick nicht davon abwenden, nicht einmal, als eine tiefe Stimme zu ihm sprach:

›Wer stört den Schlaf der Uralten, Knabe? Wer bedient sich der Kräfte, die jenseits jeden menschlichen Vermögens liegen? Auf Erden ist erneut große Magie am Werke, und die Schläfer werden in ihrer Ruhe gestört. Am Himmel reisen wieder Drachen mit dem Wind. Höre, dies ist nicht die rechte Zeit, um durch die Hallen der Götter zu wandeln und sie aufzuwecken.‹

Der Junge konnte die Stimme gleichermaßen spüren wie hören. Er wusste, dass er zitterte, aber er fühlte keine Furcht. Langsam antwortete er: ›Ich weiß nichts von Drachen oder großer Magie. Aber ich habe das Tuch berührt. Ich bin Terran.‹

Er hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, da fand er sich in dem Gästezimmer auf dem Altar liegend wieder. Was wohl sein Vater zu der ganzen Sauerei sagen würde, die er hier angerichtet hatte? Er zog sein Gewand aus und wischte die Marmoroberfläche so gut es ging damit sauber.

Nahe der Tür stand ein Wasserkübel, daneben lag ein frisches zusammengefaltetes Handtuch. Er schrubbte sich das Blut von den Händen und aus dem Gesicht, bevor er feststellte, dass sein Kopf völlig unverletzt war. Der alleinige Hinweis darauf, dass er geblutet hatte, fand sich auf seiner beschmierten Tunika, dem befleckten Handtuch und in dem hellroten Wasser.

Terran schüttete den Inhalt des Wasserkübels aus dem Fenster, versteckte sein Gewand und verstaute das Handtuch in seiner Reisetasche.«

Tris holte tief Luft. »Das war Terrans erste Begegnung mit Altis. In späteren Traumgesprächen mit dem Gott der Nacht wurde der Junge dann mit immenser Macht ausgestattet, neben der Winterseines Magie geradezu unbedeutend wirkte.

Einige Monate später begründete Terran, der sich nun die Stimme von Altis nannte, mithilfe seines Vaters eine neue Religion zu Ehren von Altis.«

»Verdammt«, fluchte Rialla. »Dann war Winterseine gar nicht derjenige, den wir suchten.« Sie musste daran denken, wie er der Forderung seines Sohnes nachgegeben hatte, als es Terran nach ihr verlangt hatte.

Tris schien laut zu überlegen: »Der einzige Beweis für die Echtheit des Traums wäre, dass Terrans Wunde kurz darauf verschwunden war. Ein kleiner Schnitt am Kopf blutet heftig, schließt sich andererseits aber auch recht schnell. Man hätte ihn leicht übersehen können. Mehr noch, ein Schlag auf den Kopf führt oft zu seltsamen, von der Realität kaum zu unterscheidenden Träumen.«

Rialla führte seinen Gedanken fort: »Und natürlich würde er in einer solchen Umgebung von alten Göttern träumen, zumal er ja eine Schwäche für Mythen und Legenden hat. Jedes Kind weiß, dass Öl und Blut verbreitete Komponenten für das Herstellen von Zaubern sind, ganz sicher jedoch weiß dies der Sohn eines Magiers.«

Tris nickte. »Wie ich erfahren habe, erlangen Menschenmagier ihre volle Macht erst mit Eintritt ins Erwachsenenalter. Wenn diese Kräfte just nach jenem Traum in ihm erwacht sind, würde er natürlich die alten Götter für das Phänomen verantwortlich machen und nicht seine persönliche Entwicklung. Besonders jemand wie Terran, dem man jahrelang eingebläut hat, dass er ein Nichtsnutz sei.«

Rialla legte das Kinn in die Hand und lächelte Tris schwach an, obwohl es zu dunkel in ihrem Versteck war, als dass er es sehen konnte. »Nun gut … All diese Punkte sprächen dafür, dass Terrans Macht das Produkt seiner ohnehin latent vorhandenen Magie ist – etwas, das uns wohlvertraut ist. Aber …«

»Aber«, setzte Tris ihren Gedanken fort, »da wäre noch die wundersame Heilung von Tamas’ Arm auf dem Weg zu Winterseines Burg. Bekanntlich konnte ich damals keinerlei Magie in der Umgebung ausmachen. Und so dachte ich, dass ein geübter Menschenmagier seine Kunst vielleicht in einer Art und Weise auszuüben vermag, die sich nicht feststellen lässt. Doch dann wiederum spürte ich die Magie, die Winterseines Grimoire innewohnte, schon in dem Moment, da wir sein Arbeitszimmer betraten.«

»Ich kann Terran empathisch nicht erfassen«, fügte Rialla hinzu. Und nach einer kurzen Pause: »Ich denke, dass Winterseine seinen Sohn für einen Götterpropheten hält. Wenn Winterseine mich berührt, kann ich ihn lesen, und derzeit ist eine unterschwellige Furcht in ihm, die nicht da war, als ich noch seine Sklavin gewesen bin. Ich schätze … er hat Angst vor Terran.«

»Und was meinst du? Glaubst du, Terran ist wirklich ein Prophet?«, fragte Tris.

»Ja.«

»Das denke ich ebenso.«

Rialla schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Wenn Terran tatsächlich die Stimme von Altis ist, wird die Invasion, der wir entgegensehen, von einem Gott gelenkt. Was mich zu der Frage bringt: Wie mächtig sind diese Götter überhaupt?« Sie war froh, dass ihre Stimme noch immer ruhig klang.

Tris zuckte die Achseln. »Hab mich nie mit einem unterhalten. Wir können hier warten, dann kannst du Terran persönlich danach fragen, wenn du willst. Ich jedenfalls halte nicht viel von davon. So viel ich weiß, waren diese Götter nicht mal mächtig genug, um den Magierkriegen Einhalt zu gebieten.«

»Vielleicht wollten sie es ja nicht«, meinte Rialla.

»Ja, eine drollige Vorstellung«, erwiderte Tris spöttisch.

Rialla lachte verhalten. »Wir werden Ren über alles informieren, dann soll er entscheiden, was zu tun ist.«

»Aber wird er uns die Geschichte auch glauben?«

Rialla lehnte sich seufzend zurück. »Keine Ahnung. Schätze, ich bin nicht wirklich zur Kundschafterin geeignet. Wenn wir in Sianim sind, erinnere mich bitte daran, dem Meisterspion mitzuteilen, dass er sich in Zukunft an die Experten wenden soll. Was mich betrifft, so habe ich es während einer einfachen Mission zur Informationsbeschaffung geschafft, niemand Geringeres als die Götter herauszufordern. Und das an der Seite eines Mannes, der behauptet, von einem obskuren, fast vergessenen Waldvolk abzustammen. Ich könnte sicherlich erklären, wie es dazu kommen konnte, wenn ich länger darüber nachdenke, aber im Moment ist mir gerade nicht danach …«

Tris’ Zähne blitzten in der Dunkelheit auf, als er lächelte. »Draußen scheint alles ruhig zu sein, also schaue ich mich mal ein bisschen in der Umgebung um. Wenn dir in der Zwischenzeit eine gute Idee kommen sollte, lass es mich wissen.« Er nahm zwei Hand voll grasartige Stängel aus seinem Ranzen, rollte sich auf den Rücken und schlüpfte aus der Dornbeerenhöhle.

Als Tris weg war, atmete Rialla auf. Es war gut, dass sie nun ein bisschen Zeit für sich hatte; sie war es nicht gewohnt, ständig unter Leuten zu sein. In Sianim war sie manchmal tagelang unterwegs gewesen, ohne mit jemandem zu sprechen, mit Ausnahme der Pferde, versteht sich. In den letzten Monaten hatte sie kaum Gelegenheit gehabt, einmal ganz für sich zu sein, und dieser Zustand begann allmählich, sie zu erdrücken.

Tris erforschte den dunklen Wald, als wäre es helllichter Tag. Seine Sicht war perfekt an das Dämmerlicht angepasst, das der Mond in dieser Nacht schuf. Er beschloss, den Abschnitt des Weges zu überprüfen, den sie bei ihrer Weiterreise nehmen würden, suchte gewissenhaft nach einem Zeichen, das darauf hindeutete, dass sie verfolgt wurden. Nach einer ganzen Weile zerbrach er die mitgebrachten Grashalme in kleine Stücke und verteilte sie auf dem Pfad. Schnaufkraut war noch viel effektiver als Pfeffer, wenn es darum ging, tierische Spürnasen dabei zu behindern, Witterung aufzunehmen. Als die letzten Schnipsel zerstreut waren, rieb er sich die Hände sauber und schaute sich um.

Er hatte an diesem Nachmittag völlig impulsiv reagiert, als er mitbekam, wie Rialla sich bei der Kontaktaufnahme mit dem Uriah in große Gefahr begeben hatte. Und während sie vor seinem Zorn zurückgewichen war, hatte ihre Furcht mit einem Mal an dem Band gezerrt, das zwischen ihnen bestand, und eine noch viel größere, fast atavistische Wut in ihm ausgelöst, auf die er nicht vorbereitet gewesen war. Man hatte ihn zwar gewarnt, dass jegliche Bedrohung für die Verbindung eine solche Reaktion hervorrufen könne, doch er hatte die Mahnung ignoriert, da die Vergewaltigung durch Terran nichts in dieser Richtung ausgelöst hatte. Offensichtlich war der Missbrauch nicht dazu angetan gewesen, ihre besondere Beziehung zu stören. Es war ihm indes möglich gewesen, seine Wut so weit zu kontrollieren, dass er sie weiter durch Worte angreifen konnte in der Hoffnung, dass sie sich dagegen verwehrte. Wäre sie ihm stattdessen fortgelaufen … Er wollte lieber nicht darüber nachdenken, was dann hätte passieren können. Sein Gelächter war aus Erleichterung wie aus Belustigung erfolgt. Und jetzt brauchte er erst einmal ein bisschen Abstand von Rialla, um sich wieder zu sammeln.

Nachdem er ihren Rückzug gesichert hatte, beschloss er, den Uriah aufzuspüren. Es wäre hilfreich, seinen Aufenthaltsort zu kennen, damit sie bei ihrer Weiterreise keine Zeit damit verschwendeten, ihm unnötigerweise aus dem Weg zu gehen. Ohne Rialla an seiner Seite konnte er sich dazu den Sylvanischen Pfad zunutze machen. Auf diese Weise konnte er nicht nur den Uriah finden, sondern wäre auch wieder zurück bei Rialla, bevor die sich Sorgen machte.

Er begann leise zu summen, rief die allgegenwärtige Magie herbei und versetzte sie in einen Wirbel, um einen Tunnel zu erschaffen. Er betrat den beschatteten Reisepfad, der ihn geradewegs durch die vor ihm liegenden Hügel und Täler führte. Die Fülle an Eiben und Eichen in diesem Wald intensivierte die Macht seiner Magie noch, sodass er in wenigen Minuten eine Strecke zurücklegen konnte, für die man ansonsten einen halben Tag unterwegs gewesen wäre.

Als er den Ort erreichte, an dem sie den Uriah zum letzten Mal wahrgenommen hatten, schloss er den Tunnel und kam neben dem Trampelpfad, dem sie gefolgt waren, wieder zum Vorschein. Durch die Baumkronen sank er auf den Boden herab. Er brauchte nicht lange, um die Beute ihres Verfolgers zu finden – es war ein Elch. Seine abgenagten Knochen lagen rund um den Pfad verstreut, und es schien, als hätte hier mehr als nur ein Uriah gewütet.

Fast stolperte er über einen schweren Beinknochen, der fein säuberlich in der Mitte durchgebrochen worden war. Kurz wunderte sich Tris über die Kraft, die dazu nötig gewesen sein musste. Sie konnten von Glück sagen, so dachte er, dass der Elch offenbar zur rechten Zeit am rechten Ort aufgetaucht war. Es war leicht, der Fährte der Uriah zu folgen, selbst im Dunkeln. Zerbrochene Zweige und aufgewühltes Erdreich überall dort, wo sie entlanggeschlurft waren, wiesen ihm so klar den Weg wie mit Kreide markierte Baumstämme.

Er erklomm eine Anhöhe und entdeckte auf einer Lichtung ein flackerndes Lagerfeuer. Er ließ von der Verfolgung der Uriah-Spuren ab, um sich die Sache genauer anzusehen.

Als er sich dem Feuerschein näherte, stieg Tris der salzig-süßliche Geruch von Pferden in die Nase. Er bewegte sich gegen den Wind auf das Lager zu. Die Tiere wurden unruhig, als er einen Baum bestieg, beruhigten sich aber rasch wieder, da er beim Klettern hektische Bewegungen vermied.

Von seinem Aussichtspunkt aus konnte er sehen, dass sich niemand auf der kleinen Lichtung unter ihm aufhielt, doch die Holzscheite im Feuer brannten noch nicht allzu lange. Wer auch immer das Lager errichtet hatte, richtete sich auf einen längeren Aufenthalt ein und würde bald zurückkehren.

Als Erstes drang Winterseines Stimme an sein Ohr.

»… verstehe nicht, warum du darauf bestanden hast, die Wachen zurückzulassen. Das ist ein verdammt gefährlicher Ort hier.«

»Eben deshalb, Vater. Je mehr Leute hier herumrennen, umso wahrscheinlicher ist es, dass wir die Aufmerksamkeit von Banditen oder Uriah auf uns ziehen. Mit denen käme ich schon zurecht, aber ich kann nicht auch noch eine ganze Truppe von Männern vor ihnen beschützen.« Terrans Stimme klang entschlossener, als Tris sie in Erinnerung hatte.

Tris kauerte sich in der Baumkrone zusammen, als Terran und sein Vater mit einer Reihe ausgenommener Fische an das Feuer traten.

»Wir können sie nicht mit diesem Dolch nach Sianim zurückkehren lassen. Wenn ich mit Karstens Tod in Zusammenhang gebracht werde, werde ich nie die Kontrolle über Darran erlangen. Bist du sicher, dass du weißt, wo sie ist. Mehr als ein paar Fußabdrücke haben wir ja bisher nicht gefunden.« Die Art, wie Winterseine sprach, weckte in Tris den Verdacht, dass der Vater nicht zum ersten Mal die Richtung in Frage stellte, die er und sein Sohn bei ihrer Verfolgung eingeschlagen hatten.

»Wenn ich’s dir doch sage«, erwiderte Terran bissig. »Sie hat ein oder zwei Wegstunden von hier Rast gemacht. Irgendwann morgen werden wir sie eingeholt haben. Du hast ihre Spuren nicht gesehen, weil wir nicht ihrer beider Fährte folgen. Diese Strecke verläuft direkter als die, welche sie nehmen.«

Winterseine stellte die Frage, die auch Tris umtrieb. »Was meinst du mit ›ihrer beider‹ Fährte? Ich dachte, sie ist allein unterwegs.«

Terran grunzte, dann sagte er langsam: »Nein, sie reist mit einer anderen Person. Ich kann nicht genau erkennen, um wen es sich dabei handelt, aber es könnte eine Art Magier sein.« Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: »Im Moment ist er nicht bei ihr, aber er war es den ganzen Tag über. Ich vermute, dass er ihr auch bei der Flucht aus der Burg geholfen hat.«

»Du meinst, sie reist … mit einem Magier?«, hakte Winterseine stockend nach.

Terran nickte und bereitete den Fisch für das Feuer zu.

Winterseine stand von Tris abgewandt, sodass er das Gesicht des Mannes nicht sehen konnte, aber seine Haltung verriet große Anspannung. »Sie hat mein Grimoire gestohlen. Wir müssen sie so schnell wie möglich finden, bevor dieser Magier erkennt, was er da hat.«

Terran unterbrach seine Tätigkeit und schaute seinen Vater eindringlich an. »Und was genau hat er da? Dein Zauberbuch? Das, was sie gestohlen haben, wurde verfasst, als du noch Lehrling warst. Sicherlich steht nichts darin, was ein halbwegs geschulter Magier nicht ohnehin schon weiß.«

Tris musste an die Pergamentseiten denken, die aus Winterseines Grimoire herausgerutscht waren, und begann zu grübeln.

Winterseine zögerte. »Nun, es gibt da einige alte Zaubersprüche, die mir mein alter Lehrer gegeben hat und die ich lieber nicht in den falschen Händen sehen möchte … Davon abgesehen behagt es mir nicht, dass ein anderer Zauberer mein Buch durchblättert.«

Diese Pergamentseiten mussten wichtig sein, dachte Tris hochzufrieden.

Terran wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Abendessen zu, und Tris nahm dies zum Anlass, vom Baum herabzusteigen. Leise zog er sich wieder in den Wald zurück und begab sich in den Schutz der Schatten.

Nachdenklich machte er sich wieder an die Suche nach dem Uriah. Das hatte nun Vorrang, da es so aussah, als müssten er und Rialla noch heute Nacht aufbrechen. Auf keinen Fall wollte er im Dunkeln in eine Horde dieser Scheusale hineinlaufen.

Er roch sie lange, bevor er sie sah. Er erinnerte sich daran, dass diese Kreaturen besonders geschärfte Sinne besaßen, und zog mithilfe seiner Magie die Dunkelheit noch enger um sich herum. Gleichzeitig dämpfte er damit jedes Geräusch, während er sich der Gruppe näherte.

Es waren sechs, und sie schliefen. Tris war erstaunt darüber, wie menschlich sie wirkten, während sie so dalagen. Bei seinen früheren Begegnungen mit ihnen war ihm die Ähnlichkeit gar nicht aufgefallen; sie bewegten sich nicht wie Menschen, genauso wenig wie sich ein Hund nicht mehr wie ein Wolf gebärdete. Hier, während ihrer nächtlichen Rast, sahen sie kaum anders aus als eine Gruppe verwahrloster Herumtreiber.

Tris erklomm einen weiteren Baum, von dem aus er die Uriah besser beobachten konnte. Alle waren männlich, und Tris hatte auch nichts anderes erwartet. Von weiblichen Uriah hatte er noch nie gehört.

Einer der Schlafenden benutzte die Wurzel einer Eiche als Kopfstütze. Darüber hing ein schwerer Ast, der ziemlich stabil wirkte. Tris schloss die Augen, tastete nach der Magie, die alle Bäume des Waldes miteinander verband, und suchte dann den Baum, um den es ihm ging. Als er ihn gefunden hatte, reiste er auf dem beständigen Magiefluss durch die Lüfte, bis er auf dem Ast stand, unter dem der Uriah schlief.

Als er hinabschaute, wurde ihm klar, dass er diesen Kreaturen nun näher war als je zuvor. Ihm lief es kalt über den Rücken. Irritiert über diese für ihn untypische Furcht, reckte er den Hals, bis zwischen ihm und dem Schlafenden kein Blatt mehr war. Das war der Moment, da er etwas an der Taille des Uriah bemerkte; um seine Hüften war locker ein stabiler Ledergürtel geschlungen. Die zerbrochene Schnalle einer Schwert- oder Messerscheide hing noch immer daran, wenngleich das Futteral selbst fehlte.

Das Ding dort unten war einst ein Mensch gewesen, egal, was man Tris über die Uriah erzählt hatte. Der Heiler in ihm erwachte. Wenn das so eine Art Seuche war, von der sie befallen worden waren, konnte er ihnen womöglich helfen.

Er konnte vielleicht einen Uriah mithilfe seiner Magie festsetzen, um ihn zu untersuchen, aber hier gab es eindeutig zu viele von ihnen, als dass es ihm möglich gewesen wäre, sich ihnen gefahrlos zu nähern. Derjenige, der direkt unter ihm lag, berührte mit seinem Kopf die Eichenwurzel. Tris hockte sich hin. Was er vorhatte, würde nicht so effektiv sein wie eine direkte Berührung, aber der Baum konnte ihm als Kanal für seine Magie dienen.

Tris klammerte sich noch fester an den Ast und suchte dann nach dem Magiefluidum, das allen lebenden Dingen innewohnte. Er folgte dem Magiestrom des Baumes bis hinab zu seinen Wurzeln, griff dann nach der Kreatur, die daneben schlief. Und berührte sie …

Zur gleichen Zeit erhob sich Rialla in ihrem Dornbeerenversteck auf Knie und Hände, als sie Tris’ unermessliche Qualen wahrnahm. Völlig unvorbereitet schrie sie auf. Sie suchte ihn, riss vor lauter Sorge all ihre Blockaden nieder.

Rialla. Sie drang nur schwach zu ihr durch, aber es war ganz eindeutig seine Stimme, die ihrem erschreckten Ruf antwortete.

Geht es dir gut?, fragte sie angstvoll, obwohl sie spürte, dass er keine körperlichen Schmerzen litt. Die ihn erfüllende Abscheu und der Schock, den er erlitten hatte, waren aber immer noch stark und erschwerten es ihr, seine Gedanken zu lesen.

Ja … reden später … wenn ich wieder da bin, kam es zurück.

Sie ließ ihn wissen, dass sie verstanden hatte, und zog sich wieder von ihm zurück. Einsam und besorgt erwartete sie seine Rückkehr.

Auch Tris hatte unbeabsichtigt aufgeschrien, woraufhin die Uriah erwacht waren. Alle. Erkennend, dass direkt über seinem Kopf lohnende Beute auf ihn wartete, machte sich der, der direkt unter Tris geschlafen hatte, daran, den Baum zu erklimmen. Dabei gab er ein seltsames Wimmern von sich.

Tris presste sein Gesicht gegen die raue Rinde der Eiche. Mehr als nach einem anderen Baum Ausschau zu halten, der für seine Zwecke nah genug stand, war ihm auf die Schnelle nicht möglich. Er fand eine weitere Eiche auf der entgegengesetzten Seite der Lichtung und benutzte seine Magie, um sich in ihre Baumkrone zu retten. Es waren insgesamt vier solcher Sprünge vonnöten, bis er die Uriah zu guter Letzt nicht mehr roch.

Baumrinde schrammte über seine Handinnenflächen, bevor er hart auf die Knie sackte und unkontrolliert würgte.

Der Uriah, den er berührt hatte, war ein Toter gewesen. Doch der Leichnam war mithilfe von Menschenmagie zu einem Wiedergänger gemacht worden – einer Magie jedoch, die so falsch, so verdorben gewesen war, dass es sich bei dem Versuch, sie zu erfassen und seinem Willen zu unterwerfen, angefühlt hatte, als berühre er geschmolzenen Stein.

Tris holte zitternd Luft und kam auf die Beine. Er suchte den nahen Bach auf und klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Der Temperaturschock half, seine Übelkeit zu lindern. Die Reise durch die Bäume war schwer und eine auszehrende Sache. Es kostete ihn zwei Versuche, den Tunnel zu formen, der ihn zurück zu Rialla bringen würde.

Unruhig ging Rialla vor der Dornbeerenhöhle auf und ab, als Tris mit seinem Ranzen zurückkehrte. Auf einem gegabelten Stock neben ihr steckten zwei prächtige Forellen.

»Bist du verletzt?« Sofort machte sie einen Schritt auf ihn zu.

»Nein, aber hungrig.«

Sie kniff die Augen zusammen, doch die Verbindung zwischen ihnen sagte ihr, dass er nicht log. Nachdem sie die Fische gefangen hatte, hatte sie außerdem genügend Holz für ein kleines Feuer zusammengeklaubt, auf das sie nun deutete. »Ist es sicher, hier ein Feuer zu machen? Ich weiß nicht, wie es bei dir ist, aber ich mag mein Essen gern gekocht.«

»Die Uriah sind zu weit entfernt, um den Bratenduft wahrzunehmen. Und unsere anderen Verfolger werden wohl schon schlafen.« Er entzündete das Feuer mit ein wenig Magie und setzte sich daneben.

»Unsere anderen Verfolger?«, fragte Rialla und schnappte sich das Messer, das Tris im Stiefel bei sich trug.

»Winterseine und Sohn kampieren einen strammen Morgenspaziergang von hier entfernt. Und ganz offensichtlich fällt es Terran nicht schwer, aus der Entfernung unsere Bewegungen zu verfolgen.« Er erzählte Rialla in wenigen Worten, was er mit angehört hatte.

»Und dabei hast du dich verletzt?«, fragte Rialla besorgt, während sie die Fische ausnahm. Sie entsorgte die Innereien hinter einem nahegelegenen Busch.

Tris schüttelte den Kopf. »Nein, das waren der Uriah und meine eigene Blödheit. Nachdem ich Winterseine und Terran entdeckt hatte, machte ich mich auf die Suche nach den Uriah. Es war eine Gruppe von sechs, und ich wollte sichergehen, dass wir ihnen auf unserer Flucht vor Winterseine nicht in die Arme laufen. Als ich sie aufspürte, dachte ich, ihnen mit einer Heilberührung helfen zu können. Und dabei habe ich mich verletzt.«

»Blödheit trifft es recht gut.« Rialla grinste zögernd. »Den ganzen Tag hast du mir Vorträge über die Uriah gehalten. Darf ich mich erkenntlich zeigen?«

»Nein«, sagte er. »Schätze, ich hab meine Lektion auf die denkbar schmerzhafteste Weise gelernt.«

Sie lachte, reichte ihm einen der Fische und eine Hand voll Weidenzweige. Ihren eigenen Fisch spießte sie auf einen langen Ast und flocht aus den Weidenzweigen einen behelfsmäßigen Korb um die Mahlzeit herum. »Und jetzt sag mir, wie du die Strecke eines ›strammen Morgenspaziergangs‹ und zurück in so kurzer Zeit zurückgelegt hast.«

»Mit Magie«, erklärte er leichthin, während er seinen Fisch mit den Zweigen umwickelte.

Schweigend brutzelten sie ihren Fisch über dem Feuer, nur das Knacken des Holzes unterbrach ab und an die Stille. Während sie in die Flammen starrte, wälzte Rialla im Geiste alle nur denkbaren Möglichkeiten hin und her, bis nur noch eine übrig blieb.

»Wie lange würdest du brauchen, um allein nach Sianim zu reisen?«, fragte sie.

Tris schaute von seiner Mahlzeit auf; nach einer Weile zuckte er die Achseln. »Den schnellen Weg kann ich nur nehmen, bis ich die Überlandstraße erreicht habe – also würde es wohl zwei Tage dauern, vielleicht drei. Vorausgesetzt der Koch aus Winterseines Burg lag richtig, als er mir erklärte, wie lang eine Reise von der Wegkreuzung nach Sianim dauern würde.«

Er wandte seinen Blick wieder dem Feuer zu. »Aber ich werde dich nicht zurücklassen. Nur um den Dolch und die Bücher nach Sianim zu schaffen, werden wir dein Leben nicht aufs Spiel setzen.«

»Und deines auch nicht«, sagte sie. »Ich stimme dir zu, aber ich denke nicht, dass sie mich töten werden. Ich bin eine wertvolle Sklavin, schon vergessen? Ich bin inzwischen fest davon überzeugt, dass Terran die Stimme von Altis ist, und es ist ungemein wichtig, dass Sianim davon erfährt. Du sagtest, Terran kann meinen Weg verfolgen? Soll er nur! Ich werde dir die Zeit verschaffen, das Tagebuch in Sicherheit zu bringen. Wenn wir aber darauf warten, dass sie uns schnappen, kriegen sie womöglich alles wieder, was wir ihnen genommen haben. Es wäre dumm, zu glauben, deine Magie könnte es mit einem Zauberer und mit einem Propheten gleichzeitig aufnehmen. Tatsächlich könnte es mich in noch größere Gefahr bringen, wenn du bei mir bleibst. Die beiden denken ja immer noch, ich sei eine Sklavin. Sie wollen die Dinge, die wir ihnen gestohlen haben, unbedingt, und sie werden mich wenigstens so lange am Leben lassen, bis sie wissen, wo sie sind.«

Tris antwortete nicht, also fuhr Rialla fort: »Ich könnte ihnen immer wieder entwischen, während du die Bücher zum Meisterspion schaffst, und das so lange, bis du zurückkehrst, um mir zur Seite zu stehen. Wenn ich nicht mehr gezwungen bin, Richtung Sianim zu reisen, kann ich Wege nehmen, auf denen ich gegenüber einem berittenen Verfolger im Vorteil bin.« Sie wusste, dass man sie früher oder später kriegen würde, wenn Terran imstande war, sie mit seinen gottgegebenen Talenten aufzustöbern. Mit ein wenig Vorsicht war sie aber vielleicht in der Lage, die beiden so lange an der Nase herumzuführen, bis Tris es wieder zu ihr zurückgeschafft hatte und ihr bei der Flucht helfen konnte.

»Dein Fisch verbrennt«, war alles, was Tris darauf erwiderte. Er zog sein eigenes Abendessen aus der Glut.

Rialla drang nicht weiter in ihn. Auch sie holte ihren Fisch aus dem Feuer und begann zu essen.

Schließlich warf Tris seine Gräten mit einem schweren Seufzer in die züngelnden Flammen. »Ich werde in vier, fünf Tagen wieder zurück sein. Mach dir keine Sorgen, ich werde dich aufspüren. Und jetzt sag mir, wo genau ich diesen Ren finde.«

Rialla zögerte. Wie sollte sie das uralte Labyrinth beschreiben, in dem der Meisterspion sein Arbeitszimmer unterhielt? Schließlich sagte sie: »Ich glaube, es wäre einfacher, wenn ich dir den Weg zu Laeth erkläre. Er sollte inzwischen wieder zurück sein. Ren wird ihm wohl eher zuhören als einem ihm völlig Fremden.« Sie beschrieb Tris den Weg zu Laeths Zimmer in Sianim. »Wenn du das Haus nicht finden kannst, frag einfach jemanden auf der Straße nach der Schänke ›Zum Verirrten Schwein‹. Der Wirt ist ein Freund, er wird wissen, wo du Laeth erwischt.«

»Ich werde ihn finden«, sagte er knapp.

Dann kroch er in die Dornbeerenhöhle und kehrte mit dem Grimoire wieder zurück. Das Tagebuch steckte in seinem Hosenbund. Er ging zu seinem Ranzen, um den Dolch hervorzuholen. Als er sich dazu vorbeugte, erlangten die losen Pergamentseiten in Winterseines Zauberbuch vollends ihre Freiheit und flatterten zu Boden.

»Ich will sie auf keinen Fall Winterseine überlassen«, Tris schaute die Seiten grimmig an, »aber ich werde sie auch um keinen Preis anfassen.«

»Was ist mit dem Feuer«, fragte Rialla.

»Wäre einen Versuch wert«, meinte Tris.

Mithilfe der Bratspieße hob er die Seiten auf und manövrierte sie in das kleine Lagerfeuer.

Einen Moment lang geschah gar nichts, dann hallte ein dumpfer Knall durch die Wälder, und die Flammen neigten sich den Pergamentseiten entgegen, verzehrten das Holz, bis nur noch Kohlestückchen übrig waren. Nach und nach erstarben die Flammen und ließen die Seiten glühend und doch unversehrt zurück.

»Das könnte schwierig werden«, meinte Tris trocken.

»Sozusagen verflucht schwierig«, gab Rialla zurück.

Tris grinste sie an und deklamierte mit einigem Pathos: »Aber ich verfüge über die wohl zerstörerischste Naturgewalt aller Zeiten. Siehe zu und staune, werte Dame.«

Er huschte unter einen nahegelegenen Baum und erschuf ein Magierlicht zur Unterstützung. Plötzlich hielt er einen verschrumpelten sackartigen Ball hoch, den er zwischen zwei Fingern vorsichtig zum sterbenden Feuer trug. Er setzte das Ding behutsam auf die noch immer glühenden Seiten. In dem rötlich schwelenden Licht, das die Pergamente verströmten, sah der Ball für Rialla nicht sonderlich beeindruckend aus.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Ein Sporensack.«

Mit seinem Bratspieß stupste Tris das ledrige Etwas leicht an. Rialla hielt sich die Ohren zu, als der Ball explodierte … mit einem lautlosen Knall. Ein seltsamer Rauch stieg von dem Ding auf, der sich in Form eines ascheartigen Nebels auf die Seiten legte.

Rialla begann zu kichern.

Tris schenkte ihr keine Beachtung, starrte unverwandt auf die sporenbedeckten Pergamentseiten. Das Glühen wurde etwas schwächer, dann breitete es sich in alle Richtungen aus. Rialla sah, wie das Gras vor ihren Augen zu wachsen und die Blumen zu blühen begannen ob der Magie, die an diesem Ort freigesetzt worden war. Sie konnte gar ein ganz leises Seufzen vernehmen, als die Blätter der nahegelegenen Büsche aneinander rieben, während sie mithilfe der Magie wuchsen, mit der der Menschenzauberer zwei hauchdünne Seiten aus Lammhaut getränkt hatten.

Nach und nach kehrte die Dunkelheit zurück, und das Licht erstarb. Tris stand über den fast erkalteten Kohlen des Feuers und erschuf ein Magierlicht.

In diesem Moment verspürten sie eine leichte Brise auf ihrer Haut, welche die gelblichen Seiten in kleine Stücke blies, die sich im Winde verloren. Zurück blieb ein Ring aus wilden Pilzen inmitten der Asche des Feuers.

Rialla lachte. »Die wohl zerstörerischste Naturgewalt aller Zeiten, was? Wahnsinn!«

Tris grinste. »Du sagst es.«

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