11

»Eine Pferdeausbilderin?«, fragte Winterseine lächelnd. »Nun, wer hätte das gedacht. Da hat Laeth doch tatsächlich eine Spionin aus Sianim in die Burg seines Bruder eingeschleust.«

»Ihr, der Ihr die Ermordung Eures eigenen Sohns geplant habt, besitzt wohl kaum das Recht, Euch in dieser Sache zum Richter aufzuschwingen«, bemerkte Rialla trocken. In diesem Moment begann es zu regnen.

»Ach, meine Liebe«, begann Winterseine. Er hob einen Ast vom Boden auf und schubste mit diesem das Messer wieder aus dem Feuer. »Die Eliminierung von Familienmitgliedern ist eine alte darranische Tradition. Spionage dagegen ist Verrat, und über den sieht man viel weniger gnädig hinweg. Allerdings kommt mir mit deinem Tod der Beweis für Laeths Spionagetätigkeit abhanden – und dein Tod ist für mich unabdingbar.«

Während er sprach, vollführte er mit der freien Hand eine Geste, und der Drang, das Messer an sich zu nehmen, kehrte zurück. Doch mit Tris’ Stärke konnte Rialla widerstehen, und Winterseine presste ungehalten die Lippen aufeinander. »Wann bist du zur Magierin geworden, Sklavin?«

Die Macht, mit der Tris sie erfüllte, um sich Winterseines Zauber zu erwehren, war so wirkungsvoll wie eine Droge – und genauso gefährlich. Und ungeachtet aller Warnungen, die sie sich selbst zukommen ließ, wanderte ein Lächeln über ihr Gesicht, und sie sagte: »Wie bereits erwähnt – doch vielleicht habt Ihr’s nicht ganz verstanden –, bin ich keine Sklavin. Bin es schon eine sehr lange Zeit nicht mehr.«

Sie berührte ihre Wange. Mit ihren magieverstärkten Sinnen konnte sie die Narbe erspüren – trotz Tris’ Blendwerkzauber. Und ohne nachzudenken hob sie den Zauber auf, der sie als Winterseines Eigentum kennzeichnete.

Blitze erhellten den nächtlichen Wald, gefolgt von dem unvermeidlichen Donnergrollen.

In der gleichen Sekunde, da Rialla ihn um Hilfe bat, um Winterseines Zauber zu widerstehen, glitt Tris vom Pferd. Er nahm dem Tier Sattel und Zaumzeug ab und entließ es in die Freiheit, so es ihn denn zu verlassen wünschte.

Ihm war klar, dass er Rialla nicht rechtzeitig finden würde, um ihr direkt beizustehen; das Band zwischen ihnen würde diese Aufgabe erledigen müssen. Allerdings war er nicht sicher, wie effektiv er ihr auf die Entfernung von Nutzen sein konnte, doch es lag Grüne Magie in dem Sturm, der in der Nacht aufgezogen war. Skrupellos lenkte er das Unwetter zu sich und scherte sich nicht um den Regen, der damit einherging.

Alle seine Gedanken hatten sich nur darum gedreht, Rialla aus Winterseines Kontrolle zu befreien; er hatte die Möglichkeit, dass sie die Magie, die er ihr gegeben hatte, benutzen könnte, zunächst gar nicht in Betracht gezogen. Als sie jedoch begann, seinen Illusionszauber aufzuheben, sprang Tris ihr diskret zur Seite, um die Manipulation zu begleiten.

Auf diese Weise, so ließ er sie wissen, kostet es uns nicht so viel Magie.

Rialla nahm seine Hilfe dankbar an. Das verzauberte Ziegenleder fiel in ihre Hand; die Umrisse der Tätowierung verblassten, doch Tris’ Magie unter ihrer Kontrolle hatte beschlossen, noch mehr zu tun. Die Haut unter ihren Fingerspitzen fühlte sich glatt und makellos an. Alle Narben waren verschwunden. Ihr Lächeln wurde breiter, als sie Winterseine nun direkt in die Augen sah.

»Ich bin weder Sklavin noch Magierin.« Sie trat einen Schritt näher und packte fest seine linke Hand. »Habt Ihr vergessen? Ich bin Empathin.«

Ihre Berührung war für ihn so überraschend erfolgt, dass Winterseine einen Moment lang wie erstarrt dastand. Und dann war es auch schon zu spät. Rialla zog ihn hinein in einen Mahlstrom der Emotionen.

Diesmal war es kein Saal voller Menschen, aus dem sie schöpfen konnte, nur Winterseine allein. Sie überwand ihre instinktive Abscheu vor dem Mann und suchte in seinem Unterbewusstsein nach den schwachen Spuren destruktiver Gefühle, die er sogar vor sich selbst verbarg. Sie ignorierte die schwelende Wut, die mehr als nur einen Hauch von Wahnsinn verriet – die würde ihn kaum mehr erstarken lassen. Stattdessen konzentrierte sie sich auf seine Ängste, die ständig größer wurden seit dem Tag, da sein Sohn entdeckt hatte, dass der Gott der Nacht in dieser Welt noch existierte.

Sie nahm diese Furcht, unterfütterte sie mit Zweifel und zerrte sie hinauf in sein aktives Bewusstsein …

Winterseine befreite sich aus ihrem Griff. Im Lichtschein des Lagerfeuers konnte sie sehen, dass sein Hemd von Schweiß durchtränkt war.

»Miststück«, stieß er hervor. Sein linker Arm – es war der, den sie berührt hatte – hing schlaff an seinem Körper herab. Nur ein Reflex, denn sie hatte ihm körperlich nichts zuleide getan.

Er vollführte eine schnelle Bewegung mit der rechten Hand. Keine arkane Magiergeste diesmal. Sie sah das Aufblitzen einer Klinge und duckte sich im letzten Moment weg.

Nach der Zeit ihrer Versklavung hatte Rialla in Sianim wie eine Besessene trainiert, um ihr Selbstbewusstsein wieder aufzubauen. Und so ritzte das Messer, das Winterseine aus den Tiefen seines Ärmels hervorgezogen hatte, nur ihren Oberarm, bevor es im Dreck landete.

Sie verlagerte ihr Gewicht auf die Fußballen und beugte leicht die Knie, als sie nach einer Gelegenheit suchte, ihn noch einmal zu berühren. Und es durfte dabei auch keine Stoffschicht zwischen ihnen sein, das würde die Wirkung nur herabsetzen, nein, sie musste den Kontakt direkt über die Haut herstellen.

Schon ließ das Grauen, das sie an Winterseines Oberfläche gezerrt hatte, wieder nach, und der Sklavenmeister ersetzte es durch Wut. Sie konnte die Rage zwar nicht spüren, aber sie zeichnete sich überdeutlich auf seinem Gesicht ab.

Vorsicht, warnte Tris sie, ohne ihre Konzentration zu stören. Er hat irgendwas vor. Spürst du die Magie, die er gerade ansammelt?

Winterseine lächelte und streckte seine rechte Hand nach ihr aus. Dann machte er eine zupackende Bewegung, und Rialla fühlte einen unbeschreiblichen Schmerz in ihrer Brust explodieren. Sie fiel auf die Knie, schnappte nach Luft, die einfach nicht kommen wollte. Langsam breitete sich Tris’ Wärme in ihrem Oberkörper aus und damit einhergehend die Fähigkeit, wieder zu atmen. Doch der alles lähmende Schmerz blieb.

Es begann zu regnen; die schweren Tropfen prasselten auf den Boden der Lichtung. Winterseine trat einen Schritt auf sie zu. Rialla streckte ihren Arm aus, berührte kurz seinen Stiefel, bevor er wieder zurückwich. Doch der Moment genügte, um den Schmerz in ihrer Brust sowie Tris’ empathisch empfangenes Leid auf Winterseine zu werfen. Selbst durch das schwere Leder hindurch wurde seine Konzentration unterbrochen, und Riallas Qual schwand dahin.

Sie kam auf die Füße, keuchte unter dem Dreifacheffekt ihres, Winterseines und Tris’ Schmerzes. Doch auch dieses Gefühl verblasste schnell. Nun, da Winterseines Magie ihn nicht mehr stören konnte, hatte Tris den kleinen Schaden, der angerichtet worden war, im Nu repariert.

»Es ist Magie in dir!«, beschuldigte Winterseine sie nun. »Ich kann sie doch fühlen!«

In den wenigen Momenten, da sie den Mann berührt und sein Innerstes entblößt hatte, hatte sie seine geheimsten Ängste entdeckt. Nun war es an der Zeit, sich dies zunutze zu machen.

Rialla schüttelte den Kopf und sah dann zu dem schlafenden Terran hinüber. Dabei sorgte sie dafür, dass dem Sklavenmeister ihr bewundernder Blick nicht entging. Mit sanfter Stimme sagte sie: »Aber nein, er ist es.«

Ein Hauch von Furcht schlich sich zurück in Winterseines Miene. »Du hast doch nur mit ihm geschlafen. Und er hat es mit vielen Frauen getrieben.« Es lag Verunsicherung in seiner Stimme.

Da fiel Rialla ein, dass Winterseine es nicht gern gesehen hatte, dass sein Sohn sich mit einer Empathin einließ. Sie lächelte träge, um ihn noch nervöser zu machen. »Aber die waren nicht wie ich.«

»Wenn du so von ihm begeistert bist, warum hast du ihn dann in Schlaf versetzt?«

Rialla stellte fest, dass er nicht mehr auf das achtete, was sie tat, und so schob sie sich zentimeterweise an ihn heran. Sie schüttelte den Kopf. »Er ist nicht wie Ihr. Euer Tod hätte ihn durchaus bekümmert.« Sie nährte seine Ängste mit Worten statt mit Empathie. »Er sieht durchaus den Vorteil, aber er ist zu ehrenhaft für eine solche Tat. Zu dumm, dass Ihr den Eintopf nicht gegessen habt. Ein Tod durch meine Hand wäre viel weniger schmerzhaft gewesen als der, den Altis für Euch vorsieht, falls meine Mission scheitert.«

Für einen Moment erstarrte Winterseine. Und es war dieser Moment, den Rialla für sich nutzte. Mit einer Bewegung, die sie unzählige Male geübt hatte, griff sie nach seinem Handgelenk und verdrehte es so, dass er seinen Ellbogen nicht mehr einsetzen konnte. Blitzschnell trat sie an seine Seite und platzierte die andere Hand auf seinem Schulterblatt, drückte ihn nach vorn und Richtung Boden. Nachdem sie ihm die Beine weggetreten hatte und er auf dem Bauch gelandet war, setzte sie ihm einen Fuß in den Nacken und drückte so sein Gesicht in den Schlamm. Den Arm hatte sie ihm gleichzeitig schmerzvoll auf den Rücken gebogen.

Sie schaute zur Seite und wischte sich an ihrer Schulter Schweiß und Regen aus dem Gesicht.

Tris, sagte sie. Du musst die Verbindung zwischen uns lösen. Wenn nicht, kann es sein, dass du von der Gegenreaktion mitgerissen wirst. Ich kann nicht uns beide davor schützen.

Rialla!, erwiderte er aufgeregt, doch sie hatte ihn schon ausgesperrt.

Davon ausgehend, dass Tris ihre Warnung beherzigte, wandte sie sich wieder Winterseine zu. Er hatte es aufgegeben sich zu wehren, als ihm klar geworden war, dass er sich dabei am Ende nur die Schulter auskugeln würde. Noch immer umklammerten Riallas Finger sein nacktes Handgelenk.

Zunächst widmete sie sich seinen seelischen Erschütterungen, und zwar denen, die am offensichtlichsten dalagen. Winterseine würde ahnen, was sie vorhatte; sein Geist war geschult und geordnet. Allein sein unterschwelliger Wahnsinn – Wut, die durch die Befürchtung befeuert wurde, dass sein Sohn ihn kontrollieren könnte –, konnte ihr als Waffe dienen, um ihn in die Knie zu zwingen.

Sie versuchte all die verirrten Gedanken zu ignorieren, die sich darunterzumischen drohten. Rialla war allein an Emotionen interessiert. Sie fand seine allerersten Ängste: sein Sohn, der aus seinem Zimmer stürzte, bleich und zitternd, doch glühend vor Macht … das erste Mal, als sich Terran gegen seinen Vater erhob und Winterseine einlenken musste, wohl wissend, dass er in einem Machtkampf mit ihm den Kürzeren ziehen würde … Und eben diese Gefühle warf sie auf Winterseine zurück. Gerade rechtzeitig stimmte sich ihr eigener Herzschlag auf den seinen ein. Nun durchlebte er die Pein, die seine Erinnerungen hervorgebracht hatte, weil Rialla sich seine eigenen Gefühle zunutze machte. Sie konnte sich ihnen allerdings nicht entziehen wie im Fall des empathischen Sumpfwesens in der Nacht, als Karsten starb.

Rialla nahm seinen Schmerz, den die zurückliegenden Gedanken auslösten, auf und verstärkte ihn, trieb Winterseine immer weiter in seinen eigenen Albtraum hinein. Sie grub tiefer, fand alte Kränkungen und Verunsicherungen. Sie erreichte den Jungen, der er einst gewesen war, verletzbar gegenüber Spott und Demütigungen, und präsentierte ihm diese Momente noch einmal.

Erst als er gequält aufschrie, fachte sie auch das Feuer seiner Rage an. Es war zuvor nur ein wohlkontrolliertes Flämmchen gewesen, das ihn vor seinen Urängsten behütet hatte. Durch Riallas Eingreifen wurde es nun zu einem lodernden Brand, der jeden klaren Gedanken verzehrte.

Doch das war noch nicht genug.

Sie fügte ihr eigenes Grauen hinzu: die Erinnerung an den Kampf mit der Sumpfkreatur, die Angst davor, wieder versklavt zu werden. Sie wühlte tiefer, stieß auf die Hilflosigkeit im Angesicht ihrer gnadenlosen Entführer, die elendige Furcht davor, geschlagen zu werden, in dem schrecklichen Wissen, wie weh es tat … die tiefe, seelenverschlingende Trauer darüber, unter Fremden leben zu müssen, ohne die vertrauten Familienbande und ohne Hoffnung darauf, je etwas daran ändern zu können … Ein Teil von Rialla realisierte, dass der letzte Gedanke weder von ihr noch von Winterseine stammte, doch sie war zu eingebunden in das, was sie tat, als dass sie nach seinem Ursprung forschen konnte. Selbst als sie ihre Emotionen auf Winterseine projizierte, spürte sie, wie sehr er darum kämpfte, die Kontrolle wiederzuerlangen.

Wenn sie den Mann jetzt nicht erledigte, würde er sie töten. Und damit wäre es noch nicht vorbei. Tris würde Winterseine entgegentreten, und es stand zu befürchten, dass der Heiler der Macht des Magiers nicht das Geringste entgegenzusetzen hatte.

Bebend griff sie nach dem geheimen Ort, den sie aus Angst um ihre geistige Gesundheit tief in sich verborgen gehalten hatte. Hier fanden sich unter anderem die Gefühle und letzten Gedanken ihrer Familie wie auch die Qualen, die den Tod von Jarrohs Kindersklavin begleitet hatten. Sie schob den Schattenvorhang beiseite, zog einen Strang aus dem verschlungenen Knäuel aus purem Grauen und warf ihn gezielt auf Winterseine. Es kostete sie unendliche Kraft, dabei auf Distanz zu bleiben, doch sie wusste, was nun kam, würde es ihr erlauben, schneller mit dem Schmerz und der Furcht ihres Feindes umzugehen.

Nach und nach fütterte sie ihn mit ihrer Pein, und langsam, aber sicher spürte sie, wie Winterseines Widerstand nachgab. Sie musste ihn brechen und aus dem Lager verschwinden, bevor Terran wieder erwachte.

Für einen Moment durch ihre eigenen Ängste abgelenkt, griff sie nach einer letzten, tief vergrabenen Erinnerung.

Dieses Mal entglitt ihr die dünne Rettungsleine der Besonnenheit, die es ihr gestattet hatte, sich auf Abstand von all dem Schmerz zu halten, und sie verfing sich in einem Dickicht aus Emotionen. Erst als sie sich ihren Weg hinauskämpfte, wurde ihr klar, warum es so schwierig gewesen war, die Distanz zu wahren.

Allein, selbst unter seinesgleichen. Ausgeschlossen sowohl durch seine Weigerung, sich in den eigenen Handlungen durch Furcht leiten zu lassen, als auch aufgrund einer Gabe, die schon seit langer Zeit unter seinen Leuten im Aussterben begriffen war. Ein anderer wäre vielleicht nicht dafür verstoßen worden, dass er ein Menschenkind gerettet hatte, aber er war anders. Und deshalb hatte sich für ihn auch kein Fürsprecher gefunden.

Rialla hatte sich in Tris’ Erinnerungen verfangen!

Panisch versuchte sie sich daraus zu befreien. Und musste sich gleichzeitig all dessen erwehren, das sich nun anschickte, durch die Lücke in ihrer Verteidigung zu stoßen. Sie musste sich unbedingt von ihm lösen, oder sie würde von dem Mahlstrom verschlungen werden, den sie in Winterseines Geist heraufbeschworen hatte. Doch dazu musste sie Tris erst einmal finden …

Und dann, als die einzig verbliebene Bastion gegen Furcht und Schmerz schon zu fallen drohte, verlor Winterseine seinen Kampf. Das wachsende Miasma des Grauens, dem sie sich entgegengestellt hatte, warf Rialla mit unvorstellbarer Kraft zurück.

Ohne zu überlegen gab sie den Versuch auf, ihren Schutzschild wieder zu errichten, und versuchte Tris so lange zu beschirmen, bis er sie verlassen konnte. Offensichtlich wusste er, was sie tat, denn kurz bevor sie sich im Sturm der Emotionen verlor, hallten in ihr seine Worte wider:

Es tut mir leid, Geliebte. Seine Gedankenstimme war durch denselben Schmerz zerrissen, der sie durchzuckte. Ich hatte versucht, es dir zu sagen, aber … ich kann dich nicht mehr verlassen.

Am Rand des Waldes sank der Heiler lautlos auf ein Bett aus Laub aus längst vergangenen Jahren. Der Wallach, zu wohlerzogen, um seinen Reiter im Stich zu lassen, knabberte eine Weile zärtlich, wenngleich erfolglos an Tris’ Wange und begann dann zu grasen, während um sie herum der Regen fiel und Blitze den Himmel über ihnen durchzuckten.

Rialla schrie auf, als sie sich im Sturm der Emotionen verlor. Etwas schlug hart gegen ihre Schulter, warf sie zurück und fort von Winterseines zuckendem Körper. Sie fiel zu Boden, rollte sich zusammen wie ein Fötus und wimmerte ob der Schmerzen in ihrem Kopf. So nah war sie einer Ohnmacht, dass sie keinen Unterschied mehr machen konnte zwischen den schlimmen Kopfschmerzen und der weitaus gefährlicheren Tortur, die sie schier zerrissen hatte.

Auf dem Boden liegend hörte Rialla das heisere Keuchen Winterseines und begann zu zittern, als ihr Körper nun auf die Belastung des Kampfes reagierte. Ein Teil von ihr begriff, was geschehen sein musste: Terran hatte sie von Winterseine fortgerissen in dem Moment, da sie kurz davor war, ihm in den unendlichen Wahnsinn zu folgen.

Die emotionale Pein, die sie durchlitten hatte, schloss jedes andere Gefühl aus. Sie konnte sich nicht einmal um Tris sorgen. Doch dafür würde noch genug Zeit sein, nahm sie an. Sofern Terran sie lange genug am Leben ließ.

Sie hörte Terran über dem Körper seines Vaters murmeln, doch sie bezweifelte, dass selbst die Götter Winterseines Verstand wiederherstellen konnten. Es wäre gnädiger gewesen, ihn zu töten, doch das war ihr nicht geglückt.

Winterseines Stöhnen verstummte, und Rialla hörte, wie Terran sich erhob und zu den Vorräten ging. Er kam zurück und hob sie mit einem Grunzen vom Boden auf. Jeder andere, der sie auch nur berührt hätte, wäre schreiend zu Boden gegangen. Sie hatte nicht einmal damit begonnen, die Barriere wieder zu errichten, um ihre Emotionen vor anderen abzuschirmen. Doch immer noch konnte sie Terran mental nicht erfassen.

Unwillkürlich zog sie ob der wieder stärker werdenden hämmernden Kopfschmerzen scharf die Luft ein. Terran legte sie auf eine der Decken, wickelte sie darin ein und setzte sie dann behutsam auf. Einen Arm um ihren Oberkörper gelegt, brachte er eine Tasse an ihre Lippen und flößte ihr ein paar Schlucke eines alkoholhaltigen Kräutertrunks ein.

Sie würgte und keuchte, aber das Gebräu zeigte Wirkung, und ihr Zittern ließ langsam nach.

»Besser?«, fragte Terran ruhig und drückte ihr die halbvolle Tasse in die Hand.

Rialla nickte zögernd, und er zog seinen Arm zurück, bis sie eigenständig sitzen konnte. Dann stand er auf, schürte das ersterbende Lagerfeuer, bis die Flammen hell aufloderten. Auf seinem Gesicht war nichts zu lesen.

Von irgendwo aus der Dunkelheit drang aus Winterseines Richtung ein erstickter Schrei an ihre Ohren, und sie bemerkte, wie Terran einen Moment lang innehielt, doch er sah nicht zu seinem Vater hin. Stattdessen wandte er sich um und blickte Rialla direkt an. Mit dem Feuer in seinem Rücken lag sein Gesicht im Schatten, während er selbst sie klar und deutlich sehen konnte. Sie wusste nicht, ob sich auf ihrer Miene irgendein anderes Gefühl widerspiegelte als die Abgestumpftheit, die sie schützte.

»Der Schaden, den er erlitten hat, ist von Dauer?« Wieder klang seine Stimme seltsam abgeklärt.

Rialla nickte. Dann sagte sie in ebenfalls möglichst sachlichem Ton: »Er war schon seit geraumer Zeit nicht mehr ganz … gesund. Früher oder später hätte sein Geist ohnehin dieses Stadium erreicht.«

Terran nickte. »Ich weiß.« Er betrachtete seinen Fuß, als wäre ihm daran gerade etwas ganz Besonderes aufgefallen. »Allein wegen dir bin ich noch am Leben, Rialla. Ich danke dir.«

Dankbarkeit war das Letzte, was Rialla erwartet hatte. Sie legte den Kopf schief, sah ihn misstrauisch an.

Terran seufzte. »Er hätte mich getötet. Tamas warnte mich, nachdem mein Vater sich deswegen an ihn gewandt hatte. Ich nahm Vater beiseite und erklärte ihm, was einem passiert, der es auch nur wagt, mir etwas zuleide zu tun. Ich hatte eigentlich gedacht, dass ihn das aufhalten würde.

Es fing an, als ich ihn dabei erwischte, wie er sich in Altis’ Namen willfährige Sklaven beschaffte. Altis ist nicht gegen die natürliche Ordnung, aber er hat nun mal keine Verwendung für Sklaven, und er schätzt es nicht, wenn sein Name dazu missbraucht wird, sich persönlich zu bereichern. Als ich Vater das auseinandersetzte, wurde er wütend.

Ich denke, er hat beschlossen, mich aus dem Weg zu räumen, nachdem ich versucht hatte, Karsten zu retten. Ich mochte Karsten, und sein Tod war nicht erforderlich für Altis’ Zwecke. Nein, er lag einzig und allein in meines Vaters Interesse. Ich dachte, ich könnte den Seelenfresser im Zaum halten – das Sumpfbiest, mit dem Vater Karsten beseitigen wollte. Er dachte, dass eine solche Kreatur die darranische Furcht vor Magiern neu entfachen und so die Allianz mit Reth verhindern könne. Doch nachdem die Kreatur dich berührte, hätte ich sie nicht mehr vernichten können, ohne dich im gleichen Augenblick ebenfalls zu töten. Daher gab ich dir die Chance, sie selbst zur Strecke zu bringen. Vater hatte recht: Es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, dass er an jenem Abend so weit gehen könnte, Karsten eigenhändig umzubringen.«

Schweigend lauschte Rialla seinen Worten, trank den Rest des Gebräus und erholte sich allmählich von den Strapazen, während auch ihre Kopfschmerzen nachließen. Als Terran innehielt, stellte sie ihm die Frage, die ihr schon eine Weile unter den Nägeln brannte: »Wie kommt es, dass Ihr Euch so schnell von dem Schlaftrunk erholt habt?«

Terran zuckte die Achseln. »Gift und Drogen beeinträchtigen mich nur insoweit, als Altis dies für nützlich erachtet. Ich habe nicht wirklich geschlafen, konnte mich nur nicht bewegen. Altis wollte, dass Vater kaltgestellt wird, und er hat dich dafür ausgewählt. Weil er wusste, dass ich es nicht tun würde.«

Rialla hob empört den Kopf, und ihre Verärgerung war stärker als ihre Erschöpfung. »Nein!«, rief sie entschieden. »Ich habe Winterseine aus eigenem Antrieb heraus angegriffen. Altis mag Euer Leben lenken, aber meines lenkt er nicht.«

Er lächelte, und es war ein müdes, trauriges Lächeln. »Wirklich nicht?«

Rialla schlug die Decke zurück, erhob sich und entfernte sich vom Feuer.

»Wohin gehst du?« Es lag nichts Bedrohliches in Terrans Stimme, aber Rialla blieb trotzdem stehen und drehte sich zu ihm um. »Dahin, wo ich hingehöre«, erwiderte sie.

»Nach Sianim?«, fragte er. »Du könntest doch bei mir bleiben. Altis weiß schöne Dinge sehr zu schätzen. Und ich auch. Er wird schon bald auch über diese Welt herrschen, weißt du. Und sie wird zu einem eindrucksvollen Ort werden. Er wird keine Gewalt dulden, keine Kriege, keinen Hass. Die Leute werden ihn verehren und kein Bedürfnis mehr verspüren nach Macht oder Gold. Sie werden sich an Altis’ Gesetze halten und in Frieden leben.«

Rialla hielt seinem Blick stand. »Euer Utopia kann nicht funktionieren, solange den Menschen das Recht gegeben ist, eigene Entscheidungen zu fällen. Die Leute werden immer etwas finden, mit dem sie nicht einverstanden sind.«

Terran schüttelte den Kopf. »In Altis’ Königreich erlangen die Menschen Weisheit durch Altis selbst, um immer die richtige Entscheidung zu treffen.«

»Jetzt verstehe ich, warum Altis die Sklaverei nicht ablehnt«, erwiderte Rialla leise. »Weil sie das ist, was ihm im Grunde für jeden einzelnen von uns vorschwebt. Aber ein Sklave ist immer noch ein Sklave, selbst wenn man ihn gut behandelt. Niemals wieder werde ich mich freiwillig in die Unfreiheit begeben, Terran. Eher würde ich sterben.« Es lag Friede in dieser Erkenntnis, ein Friede, den sie nie zuvor verspürt hatte.

»Dann soll es so sein.« Terran nickte und stocherte mit einem Ast im Feuer herum.

Rialla wartete. Nach einer Weile sah Terran auf und lächelte. »Geh zurück nach Sianim. Du hast Altis heute Nacht genug gedient.«

Rialla verlor keine Zeit, die Lichtung zu verlassen, auf der Terran mit seinem wahnsinnigen Vater zurückblieb. Als sie den Schein des Lagerfeuers nicht mehr sehen konnte, hielt sie an und suchte mit ihrer überstrapazierten empathischen Gabe nach einem Zeichen von Tris.

Rialla?

Sie spürte, dass er erschöpft war und Schmerzen litt, aber sie war einfach zu glücklich, dass er noch lebte, um sich darüber große Sorgen zu machen.

Ich komme, sagte sie. Bleib, wo du bist.

Nein, kam es sofort zurück. Mir geht’s gut, und ich bin schneller bei dir als du bei mir.

Rialla suchte sich ein gemütliches Plätzchen im Schutz eines riesigen Baums, wo der Regen sie nicht erreichte. Und wartete.

In weniger als einem Drittel der Zeit, die ein Mensch gebraucht hätte, fand Tris die auf dem feuchten Waldboden schlafende Rialla.

Sie versteifte sich kurz, als er sie in die Satteldecke wickelte, aber sie öffnete nicht einmal die Augen, bis ihr der Geruch von über einem Feuer zubereitetem Essen in die Nase stieg.

»Ich musste das Pferd auf dem Weg hierher zurücklassen«, sagte Tris, während er in dem kleinen Topf herumrührte. »Aber ich habe die Satteltaschen bei mir.« Ohne seinen Blick vom Feuer abzuwenden, fuhr er fort: »Ich denke, ich schulde dir eine Erklärung.«

Rialla setzte sich auf und rieb sich die Augen. Es hatte zwar aufgehört zu regnen, aber es war immer noch dunkel; lange konnte sie nicht geschlafen haben. Aber sie fühlte sich überraschend gut – einer der Vorteile, wenn man mit einem Heiler reiste.

»Ja, das glaube ich auch.«

Er legte den langen Kochlöffel auf einen Stein und wandte sich von dem Feuer ab. Dann hockte er sich vor sie hin und beschwor ein Magierlicht, sodass Rialla sein Gesicht erkennen konnte. »Unter uns Sylvanern ist es so, dass die Bindung, die ich zwischen uns erschaffen habe, ein Paar für immer zusammenschmiedet«, sagte er geradeheraus.

Sie starrte ihn an. »Soll das heißen, wir sind … verheiratet, und du hast mir nichts davon gesagt?«

Das machte ihn lachen. »Ja, ich denke, so kann man es auch formulieren.«

»Und warum hast du das getan?«, fragte sie.

»Bevor ich dich traf, teilte die Frau, die mich nach Tallonwald holte, eine Vision mit mir. Naturgemäß sind solche Bilder immer etwas diffus, aber aus dem, was sie sagte, wurde klar, dass ich die Eine treffen würde, mit der ich mich verbinden könnte.«

»Soll das bedeuten, du kannst dich nicht verbinden, mit wem du willst?«

»Nein, ich habe nur nie jemanden getroffen, mit dem ein solches Bündnis geglückt wäre. Es gibt dieser Tage nur noch so wenige Sylvaner, und noch weniger passende Partner für ein ganzes Leben.«

Rialla dachte über seine Worte nach. »Du hast die Verbindung zwischen uns hergestellt, weil eine Seherin dir gesagt hat, dass es klappen könnte?«

»Nein«, sagte er. »Ich hab es getan, weil ich endlich jemanden gefunden hatte, mit dem ich ein Leben lang zusammenbleiben wollte.« Er stand auf, ging zurück zum Feuer, aber er nahm den Rührlöffel nicht wieder zur Hand. »Es tut mir leid.«

Tief in ihre eigenen Gedanken versunken, nahm Rialla seine Stimme nur mehr wie ein gedämpftes Hintergrundmurmeln wahr, als er fortfuhr: »Zuerst dachte ich, dass ich die Bande wieder lösen könnte, wenn du es nicht willst. Normalerweise sollte das Bündnis nicht so stark werden wie das unsrige … In vergangenen Zeiten, als mein Volk noch zahlreich war, dauerte die Probezeit drei Monate. Wenn das Paar danach nicht mehr zusammenbleiben wollte, wurde das Band wieder durchtrennt. Trenna sagte mir, dass wir uns miteinander verbinden könnten. Sie sagte allerdings nicht, dass du damit einverstanden wärst.«

Rialla erinnerte sich an die Dinge, die sie in der letzten Nacht über ihn erfahren hatte. Erinnerte sich an die tiefe, seelenverschlingende Trauer und fand ihr Echo in sich selbst. Hätte sie von einem solchen Band gewusst, sie hätte alles darum gegeben, ein Teil davon zu werden. Und wenn sie es recht bedachte, so ängstigte sie der Gedanke daran nicht im Geringsten. Sie dachte eine Weile über eine Antwort nach, dann sagte sie leise: »Sehr bedauerlich.«

»Ich weiß«, seufzte Tris. »Aber ich kann nun nichts mehr daran ändern. Es war in dem Moment zu spät, da Winterseine dich an das Wasserrad hat binden lassen.«

»Nein«, sagte Rialla und hob den Kopf, damit er ihr Lächeln sehen konnte. »Ich meinte, es ist bedauerlich, dass es dir leid tut. Mir tut es nämlich kein bisschen leid.«

Tris wirbelte zu ihr herum und warf ihr einen bitterbösen Blick zu. Rialla biss sich auf die Lippen, wusste, dass er gekränkt sein würde, wenn sie jetzt auch noch lachte. Sie wusste auch, ein Teil ihrer Aufgekratztheit war ihrer Müdigkeit geschuldet, also riss sie sich so gut es ging zusammen.

»Du hast mich um Gnade winseln lassen«, knurrte er.

Rialla senkte den Kopf auf die Knie und vergrub das Gesicht in ihrer Armbeuge. Dann verlor sie den Kampf und brach in haltloses Gekicher aus.

In der Dunkelheit des Waldes erstarb Tris’ Magierlicht.

»Drachenraub«, gurrte Tris ihr später zärtlich ins Ohr.

»Ich gebe mich geschlagen«, erwiderte Rialla lachend.

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