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Rialla erwachte mit einem Lächeln. Während der kurzen Spanne bis zum vollständigen Wiedererlangen des Bewusstseins empfand sie das ungewöhnlich starke Gefühl von Wohlbefinden wie ein die Lippen benetzendes Stück Eis an einem heißen Tag. Widerstrebend schlug sie die Augen auf, bevor sie ganz in die Gegenwart zurückkehrte.

Anstatt der grauen Steinwände, an die sie sich auf Westholdt schon fast gewöhnt hatte, wurde der Raum von Holz dominiert. Die Bodendielen waren versiegelt und liebevoll auf Hochglanz poliert worden. Die Wände waren vertäfelt und schimmerten aufgrund des Leinölfirnisses dunkel. An der gegenüberliegenden Seite des Raums gab es ein großes Fenster mit kostbarem klaren Glas, wodurch das Zimmer von Tageslicht durchflutet wurde.

Die Stube war nur spärlich möbliert mit einem Bett, einem Tischchen in der hinteren Ecke und einem kleinen Webteppich. Ein spartanisches, übersichtliches Interieur, doch die warmen Holztöne und die Bettwäsche in Gelb und Rot verhinderten, dass der Raum unbehaglich wirkte. Es war offensichtlich, dass sie sich nicht mehr auf Westholdt befand, aber sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie stattdessen sein könnte.

Rialla versuchte sich aufzusetzen und zog scharf die Luft ein, als sie einen stechenden Schmerz in ihrem linken Oberschenkel verspürte. Sie erinnerte sich an den Schlag durch den Schwanz der Sumpfkreatur, doch auf der Feste war sie zu sehr mit dem Kampf gegen dieses Geschöpf beschäftigt gewesen, um sich um ihre Verletzung zu sorgen.

Steif richtete sie sich auf dem Bett auf, zog die schwere Steppdecke von ihren Beinen und schwang ihre Füße auf den Boden. Ein dicker Verband aus ungebleichter Baumwolle bedeckte ihre linke Seite von der Hüfte bis zum Knie. Unter der Bandage klopfte es unangenehm in ihrem Bein, etwas, das sie beim Erwachen gar nicht bemerkt hatte. Sie rieb sich den Kopf, der ebenfalls angefangen hatte zu schmerzen, und versuchte zu rekonstruieren, was im Ballsaal geschehen war. Vielleicht konnte sie ja auf diesem Wege herausfinden, wo sie war. Und warum.

Es war nicht leicht, das Durcheinander der Gedanken und Emotionen der anderen zu entwirren, doch nach einigen Sekunden hatte sie wieder ein wenig Klarheit: Sie wusste, dass Lord Karsten tot war. Sie fühlte, wie er starb – ein kurzer brennender Schmerz, als die scharfe Klinge zwischen seinen Rippen hindurch in sein Herz gestoßen wurde.

Jemand sah, wie es geschah, sah wie Laeth das Messer in – Lord Jarroh hatte es gesehen; seine Gedanken waren ihr wohlvertraut. Wohlbekannt war ihr auch seine Wut, seit damals, als sie in Kentar als Tänzerin aufgetreten war.

Rialla schüttelte frustriert den Kopf. Sie wusste, dass Laeth seinen Bruder nicht ermordet hatte, hatte seinen Kummer, seinen Zorn gespürt, als er seinen Bruder zu Boden gehen sah. Warum also hatte Lord Jarroh etwas zu sehen geglaubt, was nie geschehen war? Und wo war Laeth? Warum war sie hier?

Ihr verletztes Bein missachtend, kam Rialla in den Stand, aber zu mehr war sie nicht in der Lage. Deprimiert versuchte sie, Laeth mittels ihrer Empathie zu erreichen, um sicherzustellen, dass es ihm gutging. In diesem Moment erkannte sie auch, dass die Fesseln, die ihre Gabe gebunden hatten, so restlos verschwunden waren, als hätte es sie nie gegeben. Der Kampf mit dem Monster hatte vollendet, was mit dem Tod der Empathin aus dem Osten begonnen hatte.

Ihr Geist berührte eine Maus in der Wand und ein Reh, das im nahegelegenen Wald äste. Aber sie konnte Laeth nicht erreichen – oder irgendeinen anderen Menschen. Versuchsweise errichtete sie den Schild, der sie vor unerwünschter Kontaktaufnahme schützte. Die Anwesenheit des Rehs und auch der Maus verblasste. Sie ließ den Schild wieder sinken, um nach einem anderen Lebewesen zu greifen.

Da berührte sie etwas. Es fühlte sich vertraut an, wie etwas, von dem man schon einmal geträumt hatte. Unwillkürlich breitete sich ein Lächeln auf Riallas Gesicht aus. Es war nicht das, was sie normalerweise empfing, wenn sie ein Lebewesen berührte. Sie nahm keinerlei Gefühle wahr, keinen einzigen Gedanken – nur Schönheit. Wie ein Bildhauer, der gelernt hatte, ein neues Material zu bearbeiten und dabei etwas Außergewöhnliches erschuf. Etwas nur für sie.

Fasziniert näherte sie sich dem Objekt. Sie war so gefangen in ihren Studien, dass sie zusammenschrak, als die Tür sich öffnete und der Heiler eintrat. Instinktiv schottete sie ihr Talent ab und setzte ihre undurchdringliche Sklavenmiene auf.

Doch woher war er gekommen. Mit der fallengelassenen Barriere und der ungezügelten Gabe hätte sie ihn erfassen müssen, noch bevor er ihr derart nahegekommen war. Auch wenn sie Winterseine nicht lesen konnte, ohne ihn zu berühren, war sie doch imstande zu sagen, wo er sich befand. Sie hatte sich wohl ablenken lassen von … was auch immer es gewesen war, das sie erspürt hatte.

Zumindest gab ihr seine Anwesenheit einen Hinweis darauf, wo sie sich befinden mochte. Dazu der Geruch nach Kräutern, der durch die geöffnete Tür ins Zimmer strömte. Ja, sie musste im Haus des Heilers in Tallonwald sein.

»Guten Morgen«, sagte er betont sachlich. »Wie geht es dir?«

Sie kniff die Augen zusammen, versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. »Ging mir schon besser«, sagte sie ebenfalls sehr nüchtern.

Er lächelte. Die Belustigung wärmte den Blick in seinen graugrünen Augen und gelangte dann in seine Stimme. »Das glaub ich gern. Es wird dir besser gehen, wenn du die Beine wieder hochlegst.« Er machte keine Anstalten, ihr dabei zu helfen.

Sie sah ihn zweifelnd an, doch da er sich nicht von der Stelle bewegte, manövrierte sie sich unter Schmerzen wieder auf die Matratze und deckte sich mit dem Quilt zu.

Er wartete, bis sie bequem dalag, bevor er sich ans Ende des Bettes setzte und mit dem Rücken an die Wand lehnte. Er war ein kräftiger Mann, und so sank das letzte Drittel der Matratze unter seinem Gewicht beträchtlich ein.

»Ich weiß nicht, wie viel du noch vom Ende des gestrigen Abends mitgekriegt hast.« Es klang wie eine Frage.

»Ich war recht beschäftigt«, erwiderte Rialla, was durchaus der Wahrheit entsprach.

Der Heiler grunzte auf, dann sagte er: »Lord Karsten wurde ermordet. Jemand hat ihm von hinten ein Messer in den Rücken gejagt, während du mit dem Monster gekämpft hast. Lord Laeth wurde im Wachturm von Westholdt gefangen gesetzt. Der Verdacht gegen ihn wiegt schwer.

Lord Jarroh selbst sah, wie Laeth seinen Bruder in all dem Trubel erstach. Eine Wache berichtete zudem, dass die Dame des Hauses eines Nachts Laeths Gemächer verließ. Auch wurde berichtet, dass er am Abend vor dem Mord eine lautstarke Auseinandersetzung mit seinem Bruder hatte. Die einzige offene Frage ist indes, was mit dem Dolch geschah, mit dem Karsten erstochen wurde.

Einige Leute, mich eingeschlossen, haben ihn gesehen, doch er scheint wie vom Erdboden verschluckt. Er war sehr eindrucksvoll. Der Griff war silbern und wie eine Schlange mit rubinroten Augen geformt. So wie der, den Laeth bei sich trug, als Lord Karsten vergiftet wurde. Vermutlich hast du ihn gesehen.«

»Yawan!«, entfuhr es Rialla wütend und ließ dabei ihre Rolle endgültig fallen. Was für ein riesengroßer Mist!

»Allerdings«, erwiderte Tris. Er ließ sich noch ein bisschen tiefer gegen die Wand sinken. »Es scheint, als hätte jemand überaus gründlich dafür gesorgt, dass Lord Laeth für den Mord an seinem Bruder zur Verantwortung gezogen wird, es sei denn, Laeth war dumm genug, es wirklich getan zu haben.«

»Nein«, sagte Rialla. »Laeth war es nicht.«

Tris nickte. »Lord Winterseine hat Lord Jarroh erzählt, er habe seinen Neffen mal mit Magie herumexperimentieren sehen, als dieser noch ein kleiner Junge war. Und wie es schien, habe der erwachsene Laeth die Magie wohl wieder aufgenommen, als er in Sianim weilte, und das Monster aus dem Großen Sumpf hierhergebracht.

Tatsächlich stellte ich fest, dass Winterseine eine Menge über diese seltsame Kreatur wusste. Er wusste Jarroh gegenüber zu berichten, dass sie sich von den Emotionen anderer ernährt und auch, dass du eine Empathin bist – nicht dass jemand, der gestern Abend im Tanzsaal anwesend war, noch daran gezweifelt hätte.

Und so heißt es jetzt, Laeth hätte die Kreatur als Ablenkungsmanöver benutzt, um Karsten unbeobachtet zu ermorden. Und dass er dich brauchte, um die Aufmerksamkeit des Biestes auf dich zu lenken, damit sie am Ende nicht noch jemanden anderen tötet. Winterseine hat auch herumerzählt, dass er Laeth aufgefordert hätte, dich an ihn zurückzugeben, doch Laeth hätte sich geweigert. Winterseine sei überrascht und gekränkt deswegen gewesen, bis er Laeths wahre Pläne erkannte.«

»Ihr habt nicht mehr als mein Wort, dass Laeth Karsten nicht getötet hat«, sagte Rialla. »Und doch glaubt Ihr trotz all dieser belastenden Aussagen nicht, dass er der Täter ist? Warum?«

Tris sah sie kurz an, sein Blick war klar und wach, dann schaute er aus dem Fenster, als wüsste er, wie unangenehm es ihr war, jemandem in die Augen zu sehen. »Abgesehen davon, was ich von Winterseine halte?«, fragte er. »Ich habe Lord Laeth beobachtet, als Karsten erstochen wurde. Ich hab zwar nicht gesehen, wer ihn ermordete, aber Laeth war es nicht. Er versuchte nämlich gerade, sich durch die Menge zu drängen, um dir im Kampf gegen das Monster zur Seite zu stehen.«

Nun schaute Rialla ebenfalls aus dem Fenster, behielt Tris jedoch in ihrer peripheren Sicht. Seine umgängliche, fast vertrauliche Art machte sie nervös; er behandelte sie keineswegs wie eine Sklavin. Sie schätzte es, wenn Menschen vorhersehbar waren, daher hätte sie zu gerne gewusst, was diesen Heiler antrieb.

Unwillkürlich sah sie ihn an, wollte sein Gesicht studieren, bis Tris schließlich den Kopf zu ihr drehte. »Warum glaubt Ihr, dass es mich kümmert, was aus Lord Laeth wird«, fragte sie. »Immerhin bin ich nur seine Sklavin.«

Der Heiler lächelte. Sie konnte zwei zarte Grübchen unter seinem kurzgeschorenen Bart erkennen. Belustigung blitzte in seinen Augen. »Ach ja, eine Sklavin.« Er rieb sich das Kinn, tat so, als ob er nachdachte, dann schnippte er mit den Fingern. »Aber ich hab dir ja noch gar nicht den Rest der Geschichte erzählt. Heute in der Früh erschien Lord Winterseine hier. Wie es aussieht, ist er nach Karstens Tod Laeths nächster Verwandter und erhebt als solcher Anspruch auf Laeths Besitztümer, dich eingeschlossen. Ich sagte ihm, dass du derzeit zu krank bist, um zu reisen. Wie dem auch sei, bist du sicher, dass du nicht mehr bist als Laeths Sklavin?«

Unbewusst holte Rialla tief Luft, vergaß für einen Moment das ungute Gefühl, das sie in Anwesenheit dieses Heilers empfand. Sie hatte sich so sehr um Laeth gesorgt, dass sie noch gar nicht darüber nachgedacht hatte, was seine Gefangenschaft für seine Sklavin bedeutete. Ren hatte ihr versprochen, dass sie nach Abschluss der Mission keine Unfreie bleiben würde, egal, wie die Sache ausging, aber sie wollte ein solches Eingreifen lieber nicht riskieren. Wie sie auch nicht wollte, dass Laeth für ein Verbrechen hingerichtet wurde, das er nicht begangen hatte.

Das Problem war, dass sie weder etwas für Laeth noch gegen ihre drohende Versklavung tun konnte. Sie war auf der falschen Seite der darranischen Grenze zur Untätigkeit verdammt und trug zu allem Überfluss eine Tätowierung, die sie als Eigentum von Winterseine kennzeichnete. Des Mannes, dem der Tod ihres besten Freundes mehr als gelegen zu kommen schien.

Sie sah zu Tris, der wieder aus dem Fenster starrte, damit sie Zeit hatte, über seine Worte nachzudenken. Sie wusste nicht, warum er davon ausging, dass sie nicht Laeths Sklavin war, aber das erschien ihr an diesem Punkt auch nicht mehr länger wichtig. Nachdem Karsten nun tot und Laeth gefangen gesetzt war, war es ohnehin nicht mehr zwingend, ihre Mission geheim zu halten – insbesondere da sie so sehr daran gescheitert waren, Karstens Ermordung zu verhindern. Auf der anderen Seite mochte sie mit Tris’ Hilfe Winterseine so lange hinhalten, dass Laeth wieder befreit werden konnte.

»Warum interessiert Euch das so sehr?«, fragte sie. »Ich habe erst einmal mit Euch gesprochen, und bei der einzigen Gelegenheit, bei der Ihr mit Laeth spracht, seid Ihr ihm nicht gerade freundlich begegnet.«

Tris holte tief Luft und sagte langsam: »Ich habe meine Gründe. Ich glaube nicht, dass ich sie dir gegenüber schon offenbaren sollte – aber ich möchte weder dir noch Lord Laeth irgendetwas Schlechtes.«

Rialla sah ihn zweifelnd an, beschloss aber, ihrem Instinkt zu folgen und ihm zu vertrauen. »Einst war ich die Sklavin von Winterseine. Vor Jahren bin ich ihm entflohen und bilde seither Pferde in Sianim aus. Als der Meisterspion jemanden brauchte, der die Sklavin spielt und Laeth nach Westholdt begleitet, hat er eben mich gefragt.«

Als der Heiler sie ansah, senkte sie den Blick, sprach aber weiter: »Der Meisterspion wusste aus sicherer Quelle, dass es eine Verschwörung gegen Karsten gab. Karstens Ermordung lag allerdings nicht in seinem Interesse, also sandte er Laeth und mich auf die Feste, um genau dies zu verhindern. Als Bruder des Lords war Laeth die perfekte Wahl, und ich, als seine Sklavin, sollte Informationen darüber einholen, wer Karsten nach dem Leben trachtete. Und warum.« Sie schaute zu Tris auf und machte ein bekümmertes Gesicht. »Leider sieht es jedoch ganz danach aus, als ob wir es dem Mörder sogar noch leichter gemacht haben, indem wir ihm den perfekten Verdächtigen lieferten. Laeths Reputation war schon immer alles andere als gut.«

Sie sah wieder auf die Bettdecke und fuhr langsam fort: »Ich bin davon überzeugt, dass Karsten von Laeths Onkel, Lord Winterseine, ermordet wurde. Er traf auf Westholdt mit einer empathischen Sklavin ein, die noch am selben Abend von eigener Hand starb. Ich kann nicht mit Gewissheit sagen, ob sie als Ablenkung für die Kreatur im Tanzsaal dienen sollte, so wie es seiner Behauptung nach meine Rolle in Laeths Plan gewesen ist. Ich hätte angenommen, dass sie ihm für solch einen Zweck zu wertvoll war. Und doch hat er sicherlich gewusst, dass das Mädchen auf diese Weise eingesetzt werden konnte.«

Sie zog den Stoff des Überwurfs stramm und ließ ihn wieder los. »Was das Thema Magie betrifft, so weiß ich sicher, dass Winterseine ein Magier ist. Er verdient sein Geld als Sklavenausbilder und -händler, er war derjenige, der mich geraubt und versklavt hat. Wenn die Sklaverei abgeschafft würde, so wie Karsten es anstrebte, würden Winterseines Einnahmen erheblich schrumpfen. Mit Karstens Tod und Laeth als Schuldigem erbt Winterseine sämtliche Besitztümer von Lord Karsten und sichert sich zudem seine Lebensgrundlage.«

»Ich dachte, Winterseine war nicht auf der Feste, als Lord Karsten vergiftet wurde«, sagte Tris.

Rialla hob die Schultern. »Das stimmt, aber sein Diener Tamas war dort. Es wäre für ihn keine große Herausforderung gewesen, Gift in Karstens Essen oder Getränke zu mischen. Ein vertrauensvoller Dienstbote, auch einer aus einem anderen Haushalt, bewegt sich nahezu unsichtbar durch jedes Anwesen.«

Sie rieb sich die Schläfen, um ihre Kopfschmerzen wegzumassieren, dann fuhr sie fort: »Und dann ist da noch die Sache mit dem verschwundenen Dolch. Jeder halbwegs talentierte Magier könnte sagen, wer eine Waffe geführt hat, die zum Mord benutzt worden ist.«

Tris wollte gerade etwas erwidern, als Rialla von irgendwoher ein Klopfen vernahm. Er drückte seine Patientin flach aufs Bett und presste einen Finger auf die Lippen. Dann stand er auf und schloss leise die Tür hinter sich, nachdem er den Raum verlassen hatte.

Sie konnte nicht hören, was im Vorraum gesprochen wurde, aber sie erkannte die Stimme wieder. Als Tris, beladen mit einem Stapel Bandagen und einem Stoffbeutel, Lord Winterseine in das Krankenzimmer führte, lag Rialla schon mit geschlossenen Augen da. Winterseine berührte sie. Sie stöhnte auf und kanalisierte den Schmerz aus ihrem Bein durch seine Berührung in ihn hinein. Rasch zog er seine Hand wieder zurück.

»Er hat recht, Vater«, sagte eine Stimme, die Rialla als die von Terran ausmachte. »Sie scheint immer noch starke Schmerzen zu haben. Die Stacheln am Schwanz der Sumpfkreatur sind giftig. Wir sollten sie bis zu ihrer Heilung hierlassen, andernfalls nützt sie uns nicht mehr viel. Was will man denn mit einer verkrüppelten Tänzerin? Wie ich hörte, zählt dieser Heiler hier zu den besten in ganz Darran. Wenn einer sie wiederherstellen kann, dann er.«

Vergiftet, dachte Rialla. Dieser Heiler musste ein wahrer Künstler sein, wenn er eine schwärige Wunde innerhalb nur weniger Stunden so gut behandeln konnte, wie er es offenbar getan hatte.

»Also gut, Heiler«, vernahm sie Winterseines verhasste Stimme. Sie spürte, wie er den Quilt anhob, sodass er die strammen Verbände um ihr Bein in Augenschein nehmen konnte. Obwohl sie die graue Sklaventunika trug, fühlte sie sich ohne die Bettdecke plötzlich nackt. »Ich komme morgen wieder«, fuhr er fort. »Macht Euch keine Sorgen wegen der Bezahlung. Falls mein Neffe nicht freikommt, werde ich alle Unkosten begleichen. Sie ist eine sehr wertvolle Tänzerin, müsst Ihr wissen, und lohnt diese Ausgabe. Insbesondere wenn Ihr es schafft, ihr Bein narbenfrei zu bekommen.«

»Ich tue mein Bestes, aber um Eure Investition geht’s mir dabei wahrlich nicht.« Tris’ Stimme war kalt und doch voller Abneigung. Rialla erinnerte sich, wie Laeth erwähnt hatte, dass der Heiler den Adel nicht sonderlich schätzte.

»Aber gewiss nicht, guter Mann. Ein Heiler denkt an alles, nur nicht an den schnöden Mammon, wenn er die Kranken kuriert, nicht wahr?« Winterseines Worte klangen verbindlich, konnten aber den leichten Spott, der mitschwang, nicht überdecken. Schließlich wusste jeder hier, dass der Heiler unverschämt hohe Preise für seine Dienste verlangte.

Offensichtlich störte sich Tris kein bisschen an Winterseines Seitenhieb. »Mein Preis steigt mit den Unannehmlichkeiten, die mir der jeweilige Fall bereitet. Und der Eure hat sich soeben verdoppelt. Wie dem auch sei, Ihr habt sie gesehen, Ihr wisst ja, wo die Tür ist.«

Winterseine lachte, doch er ging trotzdem.

Rialla und der Heiler warteten, bis die Eingangstür ins Schloss gefallen war. Tris steckte noch einmal den Kopf in den Vorraum, um zu überprüfen, dass die beiden auch wirklich gegangen waren, dann nahm er wieder seinen Platz am Fuß des Bettes ein.

»Also«, sagte er so freundlich, als ob das Eis in seiner Stimme nie dagewesen wäre. »Was willst du als Nächstes tun?«

»Als Erstes«, sagte Rialla, »muss ich Laeth aus dem Wachturm herausholen. Ich vermute, man wird ihn für den Tod seines Bruder hängen, sofern Winterseine kein Geständnis ablegt.«

»Dabei kann ich dir helfen«, sagte Tris. Er schloss seine Hand und öffnete sie wieder, um ihr die gelbe Rose zu zeigen, die nun darin lag. Er brachte die Blume vor sein Gesicht, roch daran und übergab sie dann an Rialla. »Ich habe Talente, die sich als durchaus nützlich erweisen könnten«, fügte er hinzu.

Sie sah die Rose an, fragte sich, ob er Magie gewirkt hatte oder einfach nur geschickte Hände besaß. Sie kam zu dem Schluss, dass es keine Rolle spielte, und lächelte ihn schwach an. »Danke schön.«

»Und nachdem du Laeth befreit hast?«, fragte Tris nachdenklich.

»Bei den Göttern«, sagte sie. »Fragt mich besser nicht. Ich bin Pferdeausbilderin, keine Spionin. Ich denke, ich werde mit Laeth nach Sianim zurückkehren.« Etwas an der Idee, sich nach Sianim zurückzuziehen, hinterließ einen schlechten Geschmack in ihrem Mund, aber sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte.

Tris erhob sich. »Du bist nicht in der Lage, irgendwas zu unternehmen, bis dein Bein dich nicht wieder tragen kann, also lass mich mal einen Blick unter den Verband werfen.«

Er zog ein Messer aus seinem Stiefel und schob die Bettdecke zur Seite. Mit flinker Präzision, die viel über die Schärfe seiner Klinge aussagte, schnitt Tris die Bandagen von ihrem verletzten Bein.

Nach dem Aussehen der Wunde zu urteilen, hatte einer der Stachel sie direkt über dem Knie erwischt und den Muskel bis fast hoch zur Hüfte aufgeschlitzt. Das Fleisch rund um den Riss war mit kleineren Wunden durchsetzt. Der Kräuterwickel, der über der offenen Stelle lag, war zu einer grünen Masse geworden, wodurch das Ganze noch hässlicher aussah, als es sich ohnehin schon anfühlte, doch was Riallas Aufmerksamkeit erregte, war der üble Geruch.

Rasch hielt sie sich die Nase zu. »Was ist das für ein Gestank?«

Kurz unterbrach Tris die Begutachtung ihrer Verletzung und sah, offenbar unbeeindruckt durch den fauligen Geruch, auf. »Ich bin nicht sicher, welche Art Gift dieser Seelenfresser benutzt. Die Kräuterpackung sollte das meiste davon eigentlich aus der Wunde gezogen haben. Der größte Gestank geht wohl von dem Schadstoff aus, obwohl auch die Blätter einen sehr starken Eigengeruch entwickeln. Ich werde diesen Wickel so lange erneuern, bis der Geruch des Gifts nachlässt, dann kann ich damit beginnen, dich zu kurieren.«

Er nahm eine mit Öl behandelte Bandage von seinem Stapel und breitete sie auf dem Bett aus. Dann holte er eine kleine Pinzette aus seiner Tasche, die auf dem Boden stand, und begann behutsam, die langen grünen Blätter von ihrem Bein zu entfernen. Als die großen Teile fort waren, widmete er sich vorsichtig den kleinen grünen Kräuterhäckseln, die überall auf der Wunde lagen. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, und Rialla biss sich auf die Unterlippe, als die überaus hingebungsvolle Behandlung doch ab und an schmerzhaft geriet.

Tris sammelte alles, was er von der Wunde gezupft hatte, ein und verließ den Raum. Kurz darauf kehrte er mit zwei Schüsseln wieder, in denen sich kochend heißes Wasser befand. Er stellte sie auf dem Boden ab, tauchte die frischen Bandagen ein, wrang sie aus und legte sie Rialla auf das Bein. Die Wundreinigung wurde so lange wiederholt, bis der Stoff sich abgekühlt hatte. Schließlich war die Verletzung vollständig gesäubert, und Rialla zitterte.

Vorsichtig holte der Heiler sodann ein Bündel aus seiner Tasche, das getrocknete Pflanzenblätter enthielt, so lang wie Riallas Unterarm und zweimal so breit. Eine Hand voll davon legte er in die zweite Schüssel mit Wasser, damit sich die Blätter vollsaugen konnten.

»So«, sagte er, und sein normalerweise leichter Akzent wurde vor lauter Mitleid etwas stärker, »ich gebe nun ein bisschen von diesem Pulver auf den Schnitt, das sollte den Schmerz ein wenig lindern.« Während er sprach, verteilte er den gelben Puder in dem Wundriss, den er mit der anderen Hand etwas weitete. »Es ist ein Betäubungsmittel aus einer Pflanze, auf der ich mal einige einheimische Jugendliche herumkauen sah.«

Er begann die eingeweichten Blätter auf ihrem Bein zu verteilen und versuchte dabei, sie mit dieser Geschichte abzulenken. »Einer von ihnen hatte sich ein bisschen zu viel von dem Zeug genehmigt, und ich hatte einige Mühe, ihn davon abzuhalten, sich die Hand abzuhacken. Er dachte, es befände sich ein Wurm darin, der sich nun bis zu seinem Herzen durch seinen Körper fraß.

Ich musste danach dem ganzen Dorf hier einen Vortrag über dieses Kraut halten. Doch zur Sicherheit sorge ich dafür, dass, wann immer ich’s in der freien Natur erblicke, sein Geschmack für alle Zeiten bis zur Ungenießbarkeit verdorben sein wird. Ich hab auf diese Weise fast alle Pflanzen, ähm, behandelt, und die meisten Jugendlichen in der Gegend lassen inzwischen die Finger davon, aber als äußerliches Betäubungsmittel ist es fast unersetzlich.«

»Ihr seid ein Magier?«, fragte Rialla zögernd. Darran war kein Ort, an dem man freiwillig zugab, die Hexenkunst auszuüben, doch Tris’ Worte legten diese Frage nahe.

»Magieanwender«, sagte er, als wolle er sie korrigieren, doch soweit Rialla wusste, gab es da keinen Unterschied. »Hast du ein Problem damit? Immerhin bist du keine Darranerin.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«

Er zog die Reste der alten Bandage unter ihrem Bein fort und umwickelte es mit dem neuen Verband. »Sieh mal, wir sind fast fertig.«

Draußen im Vorraum schrillte eine Glocke, und er rief: »Ich komme ja schon! Kein Grund, meine Trommelfelle zu strapazieren!« Er beendete seine Arbeit, räumte alles wieder zusammen und ging dann in den vorderen Raum. »Versuch, dich ein bisschen auszuruhen«, sagte er zu Rialla. »Ich komme zurück, wenn ich hier draußen fertig bin.«

Rialla schloss die Augen und ertrug das Pochen in ihrem Bein noch einige Minuten, dann ließ der Schmerz allmählich nach. Sobald das Pulver die Wunde ganz betäubt hatte, fiel sie wieder in einen tiefen Schlaf.

Als sie erwachte, hatte Tris den kleinen Tisch neben ihr Bett geschoben. Die Oberfläche der Tischplatte bestand aus Intarsien aus hellen und dunklen Holzquadraten, die ein Spielbrett bildeten. Auf den Quadraten standen kleine hölzerne Spielsteine in Tierform, sowohl echten als auch erdachten Geschöpfen nachempfunden.

Die Spielsteine, die sich auf ihrer Seite des Bretts befanden, waren so lange mit Öl behandelt worden, dass sie fast schwarz schimmerten. Auf der gegenüberliegenden Seite saß Tris auf einem Stuhl, den er aus einem anderen Zimmer herbeigeschafft haben musste, und stellte gerade gewissenhaft ähnliche Spielsteine auf, die jedoch aus einem hellen Holz geschnitzt worden waren.

Ohne Rialla anzusehen, sagte der Heiler: »Ich habe dieses Spiel von meinem Vater gelernt, und nun lehre ich es dich. Hier würde man es wohl ›Drachenraub‹ nennen«, er hielt eine liebevoll geschnitzte geflügelte Echse hoch, »denn das Ziel des Spiels ist es, dem anderen seinen Drachen zu stehlen.«

Ausführlich erklärte er Rialla, wie man Strategien entwickelte, und auch die Wichtigkeit von List, Täuschung und Rückzug. Er beendete seine erste Stunde mit den Worten: »Natürlich erkennst du jetzt, dass alles, was ich soeben ausgeführt habe, dir kein bisschen helfen wird. Der einzige Weg zu lernen besteht darin, zu spielen.«

Schon seit einer Weile hatte Rialla eingesehen, dass es unmöglich war, dem Heiler gegenüber Zurückhaltung zu üben. Er ließ es einfach nicht zu. Stattdessen überging er ihr Schweigen und behandelte sie, als ob sie sich schon seit Jahren kannten.

Nach den ersten zwanzig Zügen des Spiels schaute Tris in ihre stoische Miene, der Blick unter seinen schweren Augenbrauen war fast stechend, als er mit bedrohlicher Stimme flüsterte: »Frau, wer um alles in der Welt hat dir gezeigt, wie man spielt?«

Rialla konnte es nicht glauben, aber sie musste kichern. Nie zuvor war ein solch lächerliches Geräusch aus ihrer Kehle gedrungen, und sie zog sich rasch die Decke vor den Mund, damit das nicht noch einmal geschah.

Als sie dachte, ihren Heiterkeitsausbruch wieder halbwegs unter Kontrolle zu haben, sagte sie: »Es gab da eine Frau in Sianim, die das Spiel jedem beigebracht hat, den sie zu fassen kriegte. Sie hat sogar einmal pro Woche Turniere veranstaltet. Sie meinte, damit bekäme man das Gesindel von der Straße und lehre es gleichzeitig ein gewisses Maß an Hinterlist – keine unwichtige Eigenschaft für einen Söldner.«

Tris knurrte sie an und machte seinen Zug. Das Spiel schritt fort, das Gesicht des Heilers wirkte von Augenblick zu Augenblick verkniffener, und er brauchte auch immer länger, um seinen Spielstein zu setzen. Rialla vermutete, dass er ihr den Gekränkten nur vorspielte, denn seine Schultern waren nach wie vor entspannt und seine Bewegungen unverkrampft.

Sie nahm ihm einen seiner Spielsteine weg. Er blitzte sie erbost an, überließ sie aber dem Kampf gegen ihren drohenden Lachanfall.

Es begann zu dämmern, und mit einer ungeduldigen Geste brachte Tris die Öllampen an den Wänden zum Brennen. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder ihrer Partie zu und ignorierte Riallas Erstaunen darüber, wie beiläufig er sich der Magie bediente. Alle Magier, die sie bisher kennengelernt hatte, benutzten ihre Kunst eher sparsam.

Während sie den Heiler beobachtete, fragte sich Rialla, warum sein Groll sie nicht im Geringsten verstörte, wie es bei anderen Männern so oft der Fall war. Selbst wenn Laeth so aufbrauste, wie Tris es manchmal tat, dann schüchterte sie das ein, selbst wenn sie wusste, dass er es nur im Spaß tat. Warum also musste sie lachen, wenn dieser völlig fremde Mann sie böse anfunkelte?

Versuchsweise lüftete sie ihren Schild und griff mit den imaginären Fingern ihrer Gabe um sich. Längst hatte sie festgestellt, dass Tris sich nicht so ohne Weiteres lesen ließ, doch vielleicht konnte sie mehr erfahren, wenn sie sich ganz auf ihn konzentrierte. So streckte sie ihre empathischen Fühler nach ihm aus und wich verblüfft zurück.

Tatsächlich hatte sie ihn schon einmal erspürt. Er war die faszinierende Präsenz gewesen, die sie beim Erwachen in diesem Haus wahrgenommen hatte. Eine Präsenz, die ihrem Wesen nach so fremd gewesen war, dass Rialla sie nicht einmal als menschlich ausgemacht hatte.

»Du bist am Zug«, sagte er.

Nur widerstrebend schirmte sie ihre Gabe wieder ab. Abwesend bewegte sie ihren Stein über das Brett und widmete sich dann wieder ihren Überlegungen. Im Fall von Winterseine und den anderen Magiern, die sie bisher versucht hatte zu lesen, hatte sie gerade einmal deren Ausstrahlungskraft wahrgenommen, sofern sie sie nicht direkt berührte. Sie hatte vermutet, dass die Disziplin, die nötig war, um Magie zu kontrollieren, die Anwender auch in die Lage versetzte, sich gegen ihre Empathie abzuschirmen. Und sie fragte sich, warum Tris in dieser Hinsicht anders war.

»Du bist am Zug.« Ein verräterischer Hauch von Befriedigung lag in seiner Stimme, sodass Rialla sich wieder auf das Spiel konzentrierte.

Ihr letzter Zug hatte die Strategie, die sie sich in den letzten Stunden zurechtgelegt hatte, mit einem Schlag zunichtegemacht. Mit jedem weiteren möglichen Spielzug würde sie Tris ihren Drachen ausliefern. Selbst wenn sie beschloss, nicht zu ziehen, was in diesem Spiel durchaus möglich war, würde er ihn trotzdem stehlen können.

»Gibst du auf?«, fragte er erwartungsvoll. Sie stutzte, schloss den Mund und richtete ihre Aufmerksamkeit ganz auf das Spielbrett.

»Noch nicht«, erwiderte sie. Irgendetwas musste sie übersehen haben. Stirnrunzelnd starrte sie das Brett an. Sie konnte nichts unternehmen, um ihren Drachen zu schützen, aber vielleicht gab es eine Möglichkeit, seinen zu stehlen. Mit einem triumphierenden Grinsen nahm sie ihre Ratte und bewegte sie an dieselbe Stelle, auf der sein Drache stand. »Drachenraub!«, jubelte sie.

»Ich gebe mich geschlagen«, kapitulierte er und schaute betrübt auf das Brett. Er sammelte die Spielsteine ein und verstaute sie in der Schublade des kleinen Tisches wie eine Mutter, die ihre Kinder zu Bett brachte. Als er damit fertig war, lag ein breites Lächeln auf seinem Gesicht. »Das war das erste gute Spiel seit meiner Ankunft in Tallonwald. Revanche folgt morgen. Und jetzt solltest du ein bisschen schlafen.«

Sie ließ sich aufs Bett sinken und zog die Decke über sich, während Tris in Richtung der Lampen winkte. Willfährig löschten sich die kleinen Flammen von selbst.

»Wenn du etwas brauchst, ruf mich einfach«, sagte der Heiler. »Ich bin nebenan. Süße Träume.«

»Die wünsche ich Euch auch«, erwiderte Rialla gähnend.

Am nächsten Morgen roch der Wickel um Riallas Bein noch immer nach verfaulten Zwiebeln, also ersetzte Tris die alten Pflanzenblätter durch frische und legte ihr einen neuen Verband an. Danach brachte er zwei Schüsseln mit dickem Haferschleim ans Bett und plauderte mit ihr, während sie gemeinsam ihr Frühstück einnahmen. Schließlich verließ er die Hütte, um ein paar Kräuter zu suchen, die er für seine Heilkunst benötigte.

Rialla wartete, bis er fort war, um mit ihrer neu entdeckten Empathie herumzuexperimentieren. Wenn sie die Gabe dazu benutzen wollte, Laeth zu retten, musste sie herausfinden, wie gut sie funktionierte.

Als sie ihren Schutzschild fallen ließ, fühlte sie sich entblößt. Unruhig rutschte sie auf der Matratze hin und her und zog sich die Decke bis unters Kinn, als ob die Verhüllung ihres Körpers den Verlust ihres mentalen Schutzes irgendwie ausgleichen konnte. So oder so, die Barriere blieb vorerst unten.

Als sie spürte, dass sich der Heiler der Hütte näherte, schwitzte sie und war gänzlich erschöpft. Aber sie wusste in diesem Moment auch, dass sie fast wieder so stark war wie vor dem Tag, an dem Winterseine sie versklavt hatte. Und auch wenn das Ganze noch nicht so mühelos vonstatten ging wie einst, war doch ihr Schutzschild massiver als je zuvor.

Als Tris den Raum betrat, um nach ihr zu sehen, legte er ihr besorgt die Hand auf die Stirn. »Wie fühlst du dich?«

Vorsichtig zuckte Rialla die Achseln; die Übungen hatten ihr hässliche Kopfschmerzen beschert. »Ganz gut.«

Tris grunzte zustimmend, dann sagte er: »Jetzt gibt’s erst mal Mittagessen, und danach machst du ein kleines Nickerchen.«

Doch Rialla war schon eingeschlafen, als er mit dem Tablett ins Zimmer zurückkehrte.

Als Rialla die Augen öffnete, waren die Öllampen entzündet, und Tris grübelte murmelnd über dem Spielbrett – offensichtlich spielte er eine Partie »Drachenraub« gegen sich selbst.

Sie sah ihm eine Weile dabei zu, dann sagte sie: »Schwarz gewinnt. Wenn Ihr den schwarzen Sperling drei Felder nach links bewegt, kann der schwarze Hirsch den weißen Drachen in zwei Zügen schlagen.«

Tris nickte stumm, riss sich von dem Spiel los und stand von seinem Hocker auf. Dann ging er um den Tisch herum, der beim Bett stand, und nahm so Riallas Blickwinkel ein. Nachdenklich rieb er sich über den Bart und warf seiner Patientin einen argwöhnischen Blick zu.

Im nächsten Moment hatte er die Steine für ein neues Spiel aufgestellt. »Bereit für die Revanche?«, fragte er.

Rialla schenkte ihm ein träges Lächeln und setzte sich auf. »Bereit, noch einmal zu verlieren?«

Er hob eine Augenbraue, fletschte mit einem Augenzwinkern die Zähne und machte seinen ersten Zug. »Genieße nur deine Freude, Liebes, denn später wirst du dazu keinen Grund mehr haben.«

Still lag der Raum da, doch er summte förmlich vor gespannter Konzentration – Tris war beim Spiel ebenso ehrgeizig wie Rialla. Nach zwölf Zügen hatte er die Partie so gut wie gewonnen. Entspannt lehnte er sich zurück, während Rialla verdrießlich auf das Brett starrte und nach einem Ausweg suchte.

»Erzähl mir von Laeth«, sagte er, während er auf Riallas Zug wartete.

Misstrauisch sah sie ihn an. Doch nach einem erneuten Blick aufs Spielfeld kam sie zu dem Schluss, dass er kein Ablenkungsmanöver versuchte. Achselzuckend zog sie mit einem ihrer Pilze und schlug seine Ratte, wobei sie den Stein keck vom Brett schubste. »Was wollt Ihr denn wissen?«

Tris bewegte einen Frosch übers Spielfeld. »Nun, es braucht einen ungewöhnlichen Darraner, um aus ihm einen erfolgreichen Söldner zu machen.«

Rialla blickte stirnrunzelnd auf das Spiel, noch immer nicht bereit, sich zu ergeben. Sie schlug seinen Frosch mit ihrem anderen Pilz, bevor sie antwortete: »Laeth ist … nun, ich denke, ›ungewöhnlich‹ trifft es wohl am besten. Er ist ein wirklich liebenswerter Kerl, dem es großen Spaß macht, andere Menschen zu schockieren, insbesondere Menschen, die er nicht mag.

Dazu ist er im Training ein passabler Kämpfer, und ich denke, ein noch viel besserer, wenn es wirklich um was geht. Ich für meinen Teil halte mich von echten Kämpfen lieber fern, ich bin Pferdeausbilderin.« Sie dachte einen Augenblick lang nach, dann lächelte sie. »Außerdem ist er wirklich rasend komisch.« Sie zuckte die Achseln, wusste nicht, was sie noch sagen sollte.

Tris nickte und erledigte mit seiner Eule den Pilz, der seinen Frosch geschlagen hatte. Er nahm ihren Spielstein vom Feld und sagte, ohne aufzusehen: »Dann seid ihr also sowohl Freunde als auch Verbündete.«

Rialla sah ihn scharf an. »Warum seid Ihr so interessiert an Laeth?«

Wieder hob sich eine schwere Augenbraue in Tris’ Gesicht. »Nun, ich hab ihn nur zweimal getroffen. Und beide Male fanden unter wenig glücklichen Umständen statt. Wenn ich dir dabei helfe, ihn aus Westholdt rauszuholen – und es sieht fast danach aus, als müssten wir das tun –, dann wüsste ich gern, für wen ich meinen Hals riskiere. Für den arroganten Edelmann, den ich an dem Tag kennenlernte, als Karsten vergiftet wurde, oder für einen Menschen, der es absolut wert ist. Also, wie gut kennst du ihn wirklich? Ist er dein Liebhaber, dein Freund oder nur ein Bekannter …«

»Er ist ein Freund, ein sehr guter Freund«, erwiderte Rialla. Sie fixierte wieder das Spielbrett und bekam so nicht mit, wie sich der Heiler sichtlich entspannte, da ihre Antwort ihm offenbar wichtiger war, als sie auch nur ahnte. »Er wäre im Übrigen kein guter Liebhaber, schätze ich. Dafür ist er viel zu vernarrt in Marri.«

»In Karstens Frau?«

Rialla schob ihren Wolf ein Feld weiter als zulässig, da Tris gerade nicht auf das Brett achtete. Sie nickte und erklärte dann: »Nicht dass er in dieser Sache irgendwas unternähme. Er war in Marri verliebt, bevor man sie mit Karsten verlobte. Als Laeth herausfand, dass sie seinen Bruder heiraten würde, verließ er Darran und tauchte in Sianim auf. Wie auch immer, Marri kam während unseres Aufenthaltes auf der Feste in Laeths Gemächer, um ihm mitzuteilen, dass man ihm den Giftanschlag auf seinen Bruder in die Schuhe schieben wolle.«

Tris nickte, entfernte Riallas Wolf vom Brett und ersetzte ihn durch seinen Fuchs. Rialla protestierte heftig gegen die damit einhergehende unterstellte Beschuldigung, sie hätte sich die Unaufmerksamkeit ihres Gegners zunutze gemacht und einfach ein paar Felder übersprungen – eine Praxis, die darüber hinaus ausdrücklich erlaubt war, sofern der andere nicht aufpasste.

Tris verschränkte die Arme vor der Brust und reagierte nicht darauf. Schmollend erledigte Rialla seinen Fuchs mit ihrem verbliebenen Pilz. Der Rest des Spiels war dankenswerterweise kurz, und Rialla verlor. Spaß machte ihr das nicht.

Irgendwann mitten in der Nacht erwachte Rialla, weil es heftig an der Tür der Hütte klopfte. Sie setzte sich im Bett auf und wartete, unfähig sich zu erheben.

Von draußen war die Stimme einer Frau zu hören. Was sie sagte, war durch die Tür nicht zu verstehen, aber sie klang erregt. Der Tirade wurde mit einem tiefen Grollen geantwortet, das, wie sie vermutete, von Tris kam. Kurz darauf trat der Heiler in den Raum, knapp gefolgt von der in einen Umhang gehüllten Herrin von Westholdt.

Dieses Mal erhellte Tris das Zimmer auf herkömmliche Art, indem er bei den Lampen einen Zündstein benutzte.

Marri nahm ihren Umhang ab und sah sich suchend nach einem Ort um, an dem sie ihn ablegen konnte. Schließlich ließ sie ihn einfach zu Boden fallen. Sie wirkte, als hätte sie in den letzten Tagen kaum geschlafen; die Haut war fahl, und dunkle Schatten lagen unter ihren Augen.

»Rialla«, sagte Marri mit eindringlicher Stimme. »Laeth hat mir gesagt, ich soll zu dir kommen, wenn ich Hilfe brauche. Ich weiß zwar nicht, wer du wirklich bist und was du mit Laeth zu schaffen hast, aber ich brauche …« Sie stockte. »Er braucht Hilfe, und ich habe sonst niemanden, an den ich mich wenden kann. Lord Jarroh sinnt auf Rache, und er ist davon überzeugt, dass Laeth meinen Ehemann ermordet hat.«

Rialla nickte und zeigte neben sich auf die Matratze. »Setzt Euch doch«, sagte sie knapp. Marri hockte sich auf die Bettkante, wobei sie so viel Abstand zwischen sich und Rialla hielt, wie nur irgend möglich.

Tris zog sich einen Stuhl heran, nahm ebenfalls Platz und bemühte sich um einen gutmütigen Gesichtsausdruck.

»Mir scheint, Laeth hatte wenig Gelegenheit, Euch alles zu erzählen«, meinte Rialla. »Laeth ist ein guter Freund von mir«, sie schaute vielsagend auf den großen Abstand zwischen sich und Marri, »nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wir wurden von Sianim entsandt, um den Mord an seinem Bruder zu verhindern. Nun, was unseren Erfolg in dieser Sache betrifft, könnt Ihr Euch wohl selbst ein Urteil bilden.« Rialla zuckte mit den Achseln und fuhr sich durchs Haar. »Ich hoffe, ich bin erfolgreicher, wenn es darum geht, Laeth vor dem Strang zu bewahren.«

»Sie werden ihn nicht hängen. Man wird ihn vierteilen«, sagte Marri mit leiser, bebender Stimme. »Morgen früh.«

»Was?«, rief Rialla aus, bevor sie die Bettdecke von sich warf und auf die Füße sprang. Tris’ Hand war da, um sie aufzufangen, als das verletzte Bein unter ihrem Gewicht nachgab. »Was ist denn aus dem in Darran so viel gerühmten ›gerechten Prozess‹ geworden?«

»Lord Jarroh hat verlauten lassen, dass es wohl keinen Zweifel an seiner Schuld gäbe. Und Lord Winterseine würde beschwören, dass er sah, wie Laeth meinen Mann von hinten erstach.« Marri hob hoffnungslos die Schultern. »Deshalb kam ich zu dir.«

»Verdammt«, sagte Rialla frustriert. »Wie in Temris’ Namen soll ich ihm denn mit diesem schlimmen Bein helfen können?«

Tris ließ seine Zurückhaltung fallen und schob Rialla resolut aufs Bett zurück. »Bleib da sitzen«, sagte er, und an Marri gewandt: »Kann ich auf Eure Verschwiegenheit zählen.«

Marri nickte schweigend.

»Also gut«, meinte Tris und wandte sich zu Rialla um. Er zog sein Messer hervor und schnitt ihr die frische Bandage vom Bein. Die eingeweichten Blätter rochen nach wie vor schlimm. Mit grimmiger Miene entfernte der Heiler den Kräuterwickel.

»Ich vermag dein Bein so weit wiederherzustellen, dass du damit laufen kannst«, sagte Tris, »aber es ist eine riskante Sache. Wenn das Gift noch nicht aus deinem Körper heraus ist, kann es dich noch immer töten.«

»Wenn meine Zeit gekommen ist, dann soll es so sein«, erwiderte Rialla leidenschaftlich. »Allemal besser als tatenlos zuzusehen, wie Laeth getötet wird!«

»Deine Entscheidung, junge Dame«, sagte der Heiler förmlich, als handele es sich hier um irgendein feierliches Ritual.

Dann legte er seine Hände auf ihr Bein und schloss die Augen. Es kribbelte, dann wurde das Bein taub, und sie konnte seine Berührung nicht mehr auf ihrer Haut spüren. Ihr Herzschlag wurde schneller, bis ihr Puls raste, als würde sie um ihr Leben rennen, und ihr Atem stoßweise ging.

Tris’ Hände begannen in dem spärlich beleuchteten Zimmer orange aufzuglühen, als würden sie von einem inneren Feuer erleuchtet. Rialla hörte, wie Marri aufkeuchte, doch sie war zu gefesselt von dem, was geschah, um sich darum zu kümmern. Wenn er sie auf diese Weise heilen konnte, dann war Tris keinesfalls ein gewöhnlicher Magier, denn jedes Kind wusste, dass das Heilen nicht zu den Stärken eines Zauberers gehörte.

Tris zog seine Hände fort, und auf Riallas Bein war nicht mehr zu sehen als eine halbverheilte Narbe. »Mehr kann ich nicht tun, und ich habe dir genug Energie gelassen, damit du dich aus dem Bett erheben kannst.«

Versuchsweise stand Rialla auf und beugte das Knie, um die Muskeln des Oberschenkels ein wenig zu beanspruchen. Das Bein schmerzte, doch es trug ihr Gewicht. Sie schenkte Tris ein schnelles Lächeln, dann wandte sie sich zu Marri um: »Was wisst Ihr über den Turm? Wie ist er im Innern konstruiert? Wie viele Wachen gibt es dort? Und wo genau halten sie sich auf?«

Einen Moment lang starrte Marri auf Riallas Bein; die böse rote Narbe war unter der Tunika, die bis über die Schenkel reichte, verschwunden. »Laeth wird auf dem Gipfel des Turms gefangen gehalten«, sagte sie schließlich. Sie schloss die Augen, wie um sich das Innere des Bauwerks in Erinnerung zu rufen. »Der Turm hat insgesamt vier Ebenen. Die erste Etage liegt unterirdisch und diente ursprünglich als Waffen-und Vorratslager, das aber niemand mehr benutzt. An der Treppe, die dort hinunterführt, steht normalerweise eine Wache. Außer diesem Wachmann halten sich im Erdgeschoss noch zwei oder drei weitere auf. In der Etage darüber sind die normalen Gefangenen untergebracht. Hier wird nicht immer eine Wache abgestellt, doch mit einem Häftling oben im Turm sind es derzeit wohl einige.«

Tris knurrte und sagte zu Rialla: »Wenn ich Laeth aus dem Turm heraushole und hierherbringe, kannst du dann zwei Pferde besorgen? Ihr werdet sie für die Flucht brauchen.«

»Was meint Ihr damit, dass Ihr Laeth aus dem Turm herausholt? Wollt Ihr das etwa ganz allein machen? Ich hoffe, ich kann für Laeth und mich hier in Tallonwald oder im nächsten Dorf Pferde beschaffen. Wie auch immer, ich komme mit Euch.«

Doch der Heiler schüttelte den Kopf. »Es wird einfacher sein, wenn ich das selbst erledige. Die Heilung hat dich mehr erschöpft, als es dir im Moment scheinen mag. Falls Laeth und ich vor unseren Verfolgern fliehen müssen, wirst du nicht die Ausdauer haben, ihnen zu entkommen.«

»Und die Pferde sind wichtig«, fuhr er fort. »Hier im Dorf wird man keines entbehren können. Und selbst wenn: Lord Jarroh ist alles andere als ein vernünftiger Mann und würde die Besitzer wohl als Fluchthelfer bestrafen, selbst wenn ihr ihnen die Pferde stehlen würdet. Wenn ihr versucht, es zu Fuß nach Wildbach zu schaffen, dann werden die Wachen euch schon auf halber Strecke eingeholt haben. Ich schätze also, die Sache mit den Pferden wird schwieriger werden als Laeths Befreiung – er kann wenigstens über eine Mauer klettern.«

Rialla sah den Mann stirnrunzelnd an. »Warum tut Ihr das alles?«

Der Heiler schenkte ihr ein rätselhaftes Lächeln und sagte: »Schreib es meiner tiefempfundenen Abneigung gegen sowohl Lord Jarroh als auch Lord Winterseine zu, wenn du willst. Für die Gelegenheit, dem einen oder dem anderen ein wenig Ungemach zu bereiten, nehme ich ein bisschen Gefahr gern in Kauf.«

Rialla hatte den dumpfen Verdacht, dass sie sich mit dieser Antwort würde begnügen müssen.

»Und was kann ich tun?«, ließ sich nun Marri vernehmen.

»Ihr habt schon genug getan«, erwiderte Tris. »Wenn Euch hier draußen jemand sieht, wird man Euch für Laeths Ausbruch zur Verantwortung ziehen, dessen bin ich mir sicher. Ein Delikt, das die Todesstrafe nach sich ziehen wird, auch für Angehörige des Adelsstandes. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr hier auf seine Rückkehr warten, bevor ich Euch unbemerkt zurückbringe.«

Sie wirkte enttäuscht, doch schließlich nickte sie. Rialla vermutete, dass sie nur zustimmte, weil sie wusste, dass sie im Zuge von Laeths Befreiung mehr Belastung als Nutzen darstellen würde, und nicht, weil sie um ihre eigene Sicherheit fürchtete.

»Habt Ihr irgendwelche Waffen hier?«, fragte Rialla. »Das Einzige, was ich aus Sianim mitgebracht habe, war ein Messer, und das liegt noch in Laeths Gemächern auf Westholdt.«

»Alles, was meine Dame wünscht«, erwiderte der Heiler galant, während er auf die vertäfelte Wand zuging.

Nur leicht berührte er das Holz; schon bewegte sich eines der Paneele so weit nach vorn, dass Tris es auf verborgenen Schienen ganz hinter die Verkleidung gleiten lassen konnte. Dahinter erschien eine große Reisetruhe, die fast den ganzen Boden des Geheimraums einnahm, doch ringsum hingen und standen Waffen, die meisten davon Fernwaffen.

Rialla sah Tris zweifelnd an. »Sieht aus wie der wahrgewordene Traum eines Wilderers. Und ich dachte immer, Heiler wären dem Gesetz verpflichtete Bürger …«

Er hob die Schultern. »Nun ja, ich war nicht immer Heiler. Und die Wilderei hab ich erst in letzter Zeit für mich entdeckt. Wie dem auch sei: Das meiste hier ist für den Kampf ungeeignet, aber da sollte auch das eine oder andere Messer dabei sein, vielleicht sogar ein Schwert.«

Und tatsächlich, im Geheimraum fand sich ein Schwert, allerdings schwerer als alles, was Rialla jemals in Händen gehalten hatte, aber es würde gehen. Auch musste sie sich einen von Tris’ Gürteln ausleihen, damit sie sich überhaupt mit der Waffe ausrüsten konnte. Eine Weile kämpfte sie mit dem geflochtenen Leder, bis sie sich den Gurt schließlich zweimal um die Hüfte schlang. Das ganze Schwertgehänge saß nun eigentlich zu hoch, um die Waffe schnell ziehen zu können, aber sie konnte es sich nicht leisten, hier kleinlich zu sein.

Sie borgte sich auch eine dunkle Tunika und ein Paar unauffällige Hosen aus, denn ihre Sklavenkleidung war zu hell für die anstehende Aufgabe. Und obwohl alles viel zu groß war und sie den Stoff hier und da mit Schnüren sowie Tris’ Gürtel an Ort und Stelle halten musste, mochte diese Aufmachung ihren Ansprüchen genügen.

Tris nahm aus dem Geheimraum einen knorrigen Stab für sich, der an beiden Enden mit Metall verstärkt war, und verschloss dann wieder die Öffnung in der Holzwand. Und obwohl sie wusste, dass da einmal eine Tür gewesen war, konnte Rialla deren Umrisse in der Vertäfelung nirgends mehr entdecken.

Zusammen mit Tris verließ sie die Hütte, während Marri allein im Schlafraum zurückblieb.

Der Vorraum der Hütte, der gleichzeitig als des Heilers Arbeitszimmer diente, war so prächtig, wie das Schlafzimmer spartanisch war. In die drei Außenwände waren große Fenster eingelassen worden, die das gedämpfte Mondlicht hereinließen. An jedem freien Stellplatz standen Regale unterschiedlichster Größe, in denen sorgfältig beschriftete Ton- und Holzbehälter untergebracht waren. Bündelweise hingen so viele Pflanzen und Kräuter von der Decke, dass man sich fast wie im Dschungel fühlte, und Tris musste den Kopf einziehen, als er durch den Raum ging.

Vor der Tür geleitete Tris Rialla hinter die Hütte in den angrenzenden Wald. »Hier gibt es einen Pfad, der bis zur Feste reicht«, erklärte er knapp.

Rialla konzentrierte sich auf den Weg, bis der Untergrund weniger holprig wurde. »Wie wollt Ihr Laeth da herausbekommen?«, fragte sie.

»Mit Raffinesse und einem Hauch von Magie«, erwiderte er. »Hast du dir was zu den Pferden überlegt?«

Rialla nickte. »Ich werde sie durch das Tor des Herolds herausbringen.«

»Ohne die Wachen aufzuschrecken?«, hakte er nach.

Sie lächelte ihn an. »Ihr erledigt Euren Part, ich kümmere mich um meinen.«

Von da an sprachen sie nicht mehr. Rialla wünschte, sie hätte bei ihrem Besuch auf der Feste überprüft, wo genau in den Stallungen ihre Pferde standen, doch sie war zu sehr damit beschäftigt gewesen, die Sklavin zu spielen.

Sie erreichten die Mauer der Feste, bevor sie bereit war. Hoch ragte sie über ihren Köpfen auf; wieder eine von Karstens Verbesserungsmaßnahmen. Rialla berührte die frisch geschnittenen, blassen Steinblöcke, ertastete die Ecken. Die Mauer war dazu gedacht, einer ganzen Armee standzuhalten, doch sie war noch nicht ganz fertiggestellt. Mithilfe der kleinen Fugen zwischen den Blöcken konnte man sie mühelos auch ohne Leiter erklimmen. Rialla hob die Arme, umklammerte fest die Oberkante eines der Steinquader.

»Warte«, sagte Tris so leise, dass man ihn jenseits der Mauer nicht würde hören können. Dann berührte er sacht ihr Haar und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er sie aufmerksam an, dann nickte er. Rialla zog sich eine ihrer Haarsträhnen vors Gesicht, um sie in Augenschein zu nehmen, dann ließ sie die nun pechschwarze Mähne wieder über die Schultern fallen.

»Eine Illusion«, sagte er. »Einfach, aber so effektiv, dass sie die ganze Nacht lang halten wird.«

Rialla nickte und begann zu klettern. Tris wählte einen anderen Abschnitt an der Mauer und tat es ihr gleich. Oben angekommen bemerkte Rialla, dass die Wehrgänge, auf denen man an der gesamten Befestigung entlanglaufen konnte, noch nicht angebracht worden waren. So war der Abstieg auf die andere Seite ein Kinderspiel.

Als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten, waren sie gleich viel sicherer. Obwohl es noch früh am Morgen war, konnte man hier viel leichter eine plausible Erklärung dafür liefern, warum man in der Dunkelheit umherwanderte, falls man auf einen Bewohner der Feste traf.

»Ich hole die Pferde und treffe Euch dann bei der Hütte«, schlug Rialla mit gedämpfter Stimme vor.

Tris nickte und erwiderte ebenso leise: »Ein Treffpunkt, der so gut ist wie jeder andere auch. Wenn ich vor Morgengrauen nicht zurück bin, nimm die Frau mit dir nach Sianim. Viel Glück auf deinem Weg, Tänzerin.« Er wandte sich dem Turm zu und ging.

»Euch ebenso«, sie war sich nicht sicher, warum, als sie hinzufügte: »Gestaltwandler.«

Er hielt abrupt inne, fuhr herum und sah sie an. Einen Moment lang sah sie so etwas wie … Wildheit in seinem Gesicht. Aber dann war der Eindruck auch schon wieder verflogen, und er knurrte sie mit einem Lachen in den Augen an. »Weißt du so viel über Gestaltwandler, dass du mich schon nach unserer kurzen Begegnung so zu nennen wagst?«

Rialla zuckte die Achseln und meinte leichthin: »Die Frau, die mich ›Drachenraub‹ lehrte, soll Gerüchten zufolge auch eine Gestaltwandlerin sein. Sie nannte das Spiel Taefil Ma Deogh.« Rialla wusste, dass sie kaum imstande war, die Worte korrekt auszusprechen, aber sie war sich sicher, dass Tris sie verstand. »Sie hat zwar nie gesagt, dass sie eine Gestaltwandlerin ist, es aber auch nie abgestritten. Davon abgesehen hatte ich lange genug mit menschlichen Magiern zu tun, um zu wissen, dass die Humanmagie sich nicht allzu gut für das Heilen eignet.«

»Ich bin kein menschlicher Zauberer«, gab Tris zu. »Aber auch kein Gestaltwandler, wiewohl meine Leute zu einer weit entfernten Sippe gehören. Taefil Ma Deogh ist ein sehr altes Spiel und unter meinesgleichen gut bekannt.«

»Was seid Ihr dann?«

Wieder schüttelte er den Kopf. »Nichts, von dem du Kenntnis hast. Wir waren eine zu lange Zeit zu wenige. Falls wir diese Nacht hier überleben, erzähle ich dir vielleicht von meinem Volk.«

Rialla drehte sich auf dem Absatz herum, machte sich auf den Weg in Richtung Ställe und murmelte dabei vor sich hin: »Wenn dieser Mann noch eine kryptische Bemerkung macht, ist es gut möglich, dass er diese Nacht nicht überlebt …«

Sie fand, dass es verdächtiger aussah, wenn sie hier herumschlich, also ging sie selbstbewusst an den zusammengezimmerten Gehegen vorbei, die für die Tiere des niederen Adels errichtet worden waren. Es klappte, zwei Wachmänner, die ihre Runden zogen, nahmen keine Notiz von ihr.

Als sie den Hauptstall erreichte, schwitzte sie vor Angst und schwor sich, wenn das alles vorbei war, nur noch Pferde auszubilden. Bevor sie eintrat, hielt sie inne.

Pferde waren von Natur aus empathische Geschöpfe. Wenn sie die Verschläge voller Furcht betrat, würden die Tiere, mehrheitlich Kriegsrösser, mehr als unruhig werden. Sie schloss die Augen, beruhigte ihre Atmung, sog tief die nach Pferd und Heu duftende Luft ein und versuchte sich vorzustellen, dass sie sich in den wohlvertrauten Ställen von Sianim befand.

Von ihrem ersten Besuch her war Rialla die Aufteilung der Stallungen noch bekannt. Es gab je eine Reihe Verschläge an den beiden äußeren Wänden und im großzügigen Zentrum des Gebäudes Futterstände und Raufen. Das Sattel- und Zaumzeug wurde im Gang zwischen Boxen und Futterständen aufbewahrt und damit weit genug von den untergestellten Pferden entfernt, dass sie nicht am salzigen, schweißdurchtränkten Leder knabbern konnten. Rialla vermutete, dass sie ihre eigenen Pferde an den Futterständen finden würde, da die Boxen normalerweise den Tieren der Burgbewohner vorbehalten waren.

Im Stallgebäude war es dunkel, und Rialla blieb ein Weilchen hinter der Tür stehen, damit sich ihre Augen an die spärlichen Lichtverhältnisse gewöhnen konnten. Ein paar in der Nähe stehende Pferde bewegten sich nervös in ihren Verschlägen in Anbetracht der ihnen unbekannten Präsenz. Behutsam griff sie mit ihrer Gabe nach den Tieren, versicherte ihnen, dass von ihr keine Gefahr ausging.

Vorsichtig ging sie weiter in den Stall hinein, bis ihre Hand den ersten Pflock der Futterstände im Zentrum des Gebäudes berührte. Jetzt, kurz vor der Morgendämmerung, waren die Pferde in ihren Boxen nicht mehr als dunkle Schatten, und Rialla musste sich ganz auf ihre Empathie verlassen, um die richtigen Tiere ausfindig zu machen. Sie selbst hatte Laeths Wallach, Eisenherz, ausgebildet, nicht aber die Stute, auf der sie hergeritten war. Natürlich hätte sie auch die beiden erstbesten Tiere nehmen können, die hier herumstanden, aber Sianims Pferde waren nun einmal am ausdauerndsten und am besten ausgebildet.

Die meisten Tiere ignorierten ihre Anwesenheit, schliefen tief und fest auf ihrem Bett aus sauberem Stroh. Am Futterstand ging eine ältere graue Stute ein paar Schritte mit Rialla, wohl auf einen Apfel hoffend. Rialla kraulte das Tier am Kieferknochen, genau dort, wo es juckte, und entschuldigte sich im Stillen bei ihm dafür, dass sie ohne Leckerbissen gekommen war.

Ihre Pferde standen in einem Verschlag am Ende des Stallgebäudes. Die Stute döste vor sich hin, doch Eisenherz nickte ihr ruhig zu, um sie zu begrüßen. Rialla tastete nach Sätteln und Zaumzeug und sattelte die beiden noch in ihren Boxen.

Als sie die Tiere so leise wie möglich herausführte, murmelte Rialla in einem fort Worte der Beruhigung in Richtung der anderen Pferde. Sie seufzte vor Erleichterung, als sie das Stallgebäude ohne Vorkommnisse verlassen hatte.

Es gab nur einen Weg, um die beiden Pferde aus der Feste zu schmuggeln. Das Haupttor war des Nachts stets verschlossen und abgeriegelt, aber an der anderen Seite des Wachhauses lag das Tor des Herolds. Das Tor war eigentlich ein enger Tunnel, der durch die Mauer hindurchführte, dazu gedacht, Boten durchzulassen, falls das Haupttor nicht geöffnet war. An jedem Ende des Tunnels befand sich eine schwere Metalltür, die sowohl verschlossen als auch verriegelt war.

Es gelang Rialla, die Pferde ungesehen an der Mauer entlangzuführen, was allerdings eher Glückssache als Können war. Als sie sich dem Wachhaus näherte, griff sie mit ihrer Gabe hinaus und stellte fest, dass jeder der Männer entweder drinnen beschäftigt oder sich irgendwo an der Mauer die Beine in den Bauch stand. Wenn auch nur einer von ihnen Verdacht schöpfte, musste sie sich einen anderen Weg suchen; doch alle Wachhabenden wirkten gelangweilt und träge. Und so brauchte es nicht viel, um sie in Schlaf zu versetzen.

Sie musste selbst gähnen, dann ließ sie die Pferde einen Moment lang los und durchsuchte die Wachen. Endlich hatte sie den großen Eisenring mit den Schlüsseln gefunden.

Rialla öffnete die ersten Eisentür und durchquerte den Tunnel, um die zweite Tür, die nach draußen führte, ebenfalls aufzuschließen. Es war wohl einfacher, die Pferde dazu zu bewegen, den Tunnel zu betreten, wenn am Ende ein wenig Licht zu sehen war. In dem Moment erkannte sie, dass der Boden im Tunnel mit einem Gitterrost bedeckt war, das von einem Paar Holzpflöcken an Ort und Stelle gehalten wurde. Die Pferde darüber zu führen, würde eine ziemliche Herausforderung darstellen, vom Krach, den das alles verursachte, ganz zu schweigen.

Die Stute machte einen ersten Schritt in den Tunnel hinein, wich aber sofort zurück, als ihr Hufeisen geräuschvoll das Metall berührte. Das Weiße im Auge des Tiers blitzte im Dunkeln gefährlich auf, die Ohren zuckten angespannt hin und her. Selbst, als Rialla ihre Gabe zu Hilfe nahm, ließ sich die Stute nicht zum Weitergehen bewegen.

Sie schickte beruhigende Gedanken an das Tier, zog es ein wenig zurück und legte ihm die Zügel eng um den Hals, sodass es nicht darauftreten konnte. Obwohl die Stute, im Gegensatz zu dem Wallach, nicht dazu ausgebildet worden war, auf verbale Kommandos zu hören, hielt sie sich instinktiv nah an das andere Pferd.

Rialla hatte es mit der Stute zuerst versucht, weil diese zierlicher gebaut war. Selbst als sie Eisenherz die Steigbügel über den Sattel legte, um die Breite des Tiers einzuschränken, fürchtete sie, dass sein Rumpf an den Seitenwänden des Durchgangs entlangschleifen könnte.

Als sie Eisenherz zum Eingang des Tunnels führte, ließ er den Kopf hängen und schnaubte in Richtung des seltsamen Bodens vor sich. Unter Zuhilfenahme ihrer Empathie und schmeichelnder Worte trat Rialla einen Schritt zurück, zog einmal am Zügel und ließ ihn dann wieder locker.

Vorsichtig setzte der Wallach einen Huf auf das Eisengitter und legte bei dem fremden Geräusch, das dabei entstand, sofort die Ohren an. Wenig hilfreich war dabei auch, dass das Gitter leicht nachgab, doch Rialla hatte ihn gut genug trainiert, und so konnte er darauf vertrauen, dass sie ihm nicht wehtun würde. Eisenherz kam zu dem Schluss, dass der Boden ihn tragen würde, und folgte ihr widerstandslos. Als er aus dem zweiten Durchlass trat, fand er einen Streifen Gras und begann zu fressen.

Rialla befahl ihm, auf sie zu warten, und machte sich wieder auf den Weg durch den Tunnel. Doch noch bevor sie die erste Tür erreicht hatte, schoss die Stute schnaubend und mit klirrenden Hufen an ihr vorbei, um ihren Begleiter auf der anderen Seite zu erreichen.

Eine offenstehende Tür würde sofort Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wenn die Wachen wieder zu sich kamen. Wenn sie sie wieder verschloss, konnte es noch bis zum Morgengrauen dauern, bis jemand überhaupt bemerkte, dass Laeth geflohen war. Da traf es sich gut, dass auch an diesem Teil der Mauer noch Arbeiten im Gange waren, sodass das Gerüst an der Außenseite als Fluchthelfer für Rialla dienen konnte.

Also verschloss sie die zweite und auch die erste Eisentür hinter sich, schmuggelte den Schlüsselring wieder in die Tasche der schlafenden Wache und machte sich daran, die Mauer zu überwinden.

Im Gegensatz zu dem Abschnitt, den sie beim Eindringen auf das Burggelände genommen hatte, gab es hier einen frisch errichteten Wehrgang. Der Wachmann, der auf dem neu hochgezogenen Treppenaufgang schlief, bewegte sich unruhig, als Rialla sich ihm näherte. Er war ein Veteran, der während der Pflichtausübung niemals schlief, egal wie ereignislos die Schicht verlief. Sie verstärkte ihre Beeinflussung auf den Mann, um sich mehr Zeit zu verschaffen.

Gerade als sie ihren Schutzschild herunterließ, um den Schlaf noch einmal auf alle anderen Wachen zu projizieren, starb in ihrer Nähe jemand auf eine unerfreuliche, nein, grausame Art und Weise. Rialla versuchte das Ereignis auszublenden, doch es gelang ihr nicht rechtzeitig. Und so vernahm sie noch das Schreien der Wachen im Angesicht des Todeskampfes ihres Kameraden. So viel zur unbemerkten Flucht …

Sie hätte geflucht, wenn sie nur die Zeit dazu gehabt hätte.

Die erste Wache, die aus ihrem Schlummer erwachte und sie angriff, war unerfahren und hielt sie nur kurz auf, während sie auf die Stufen zurannte. Schon sank der junge Mann erneut hin und würde wohl erst morgen mit schlimmen Kopfschmerzen wieder erwachen. Sie hatte die Treppe noch nicht ganz erreicht, da stürmten zwei weitere Männer aus dem Wachhaus. Sie trennten sich, um sie in die Zange zu nehmen – der eine erklomm flink die ersten Stufen zum Wehrgang, um sich aufgrund der Höhe einen Vorteil zu verschaffen. Rialla rannte schnurstracks auf ihn zu, schlug dann unvermittelt einen Haken und duckte sich unter dem Schlag hinweg, den ihr der Mann hinter ihr versetzen wollte.

Nachdem sein Hieb ins Leere gegangen war, geriet der Wachmann ins Straucheln und stolperte unkontrolliert vorwärts. Mit einer anmutigen Rückhand versetzte ihm Rialla mit ihrem Schwertknauf einen Schlag auf den Kopf und drehte sich mit einem strahlenden Lächeln zu dem zweiten Wachmann um, der noch immer auf den ersten Stufen der Treppe stand.

Er hatte offenbar mit einem schnellen Sieg gerechnet und starrte nun einigermaßen fassungslos auf den am Boden liegenden Schemen seines Kameraden. Rasch wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Rialla zu und machte Anstalten, die Treppe wieder hinabzusteigen. Im nächsten Moment lag er am Boden, nachdem sie ihn mit der flachen Seite ihres Schwerts von den Füßen geholt hatte. Ihn musste sie nicht bewusstlos schlagen, das hatte er schon selbst erledigt. Keuchend rannte Rialla die Stufen bis zum Wehrgang hinauf, nur um dort auf den Krieger zu treffen, der sie schon erwartete.

Die ersten drei Männer waren kampfunerfahren und sich nicht bewusst gewesen, gegen wen sie angetreten waren. Dieser Mann jedoch hatte zugesehen, wie sie seine Kameraden erledigt hatte, und erkannt, dass sie eine Sianim-Ausbildung genossen haben musste. Und Rialla brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass das auch auf ihn zutraf.

Er war gut, aber sie war besser, doch nicht so viel besser, um hinter ihn zu gelangen und ihn außer Gefecht zu setzen. Etliche Male hätte sie ihn tödlich verwunden können, aber sie konnte sich nicht dazu überwinden, den finalen Schlag auszuführen. Nicht weil sie zimperlich war, sondern weil sie sich noch gut daran erinnern konnte, wie es sich angefühlt hatte, einen Mann zu töten, als ihre Gabe kaum funktionstüchtig war. Bei förmlich heruntergelassenem Empathie-Visier zu morden war daher etwas, das sie lieber nicht ausprobieren wollte.

Wenn sie den hier tötete, bestand die reelle Möglichkeit, dass sie sich dabei gleich mittötete. Schon jetzt hatte sie dank der drei übereifrigen Wachmänner, die hinter ihr im Staub lagen, mörderische Kopfschmerzen.

Der Mann, der jetzt gegen sie kämpfte, wusste genauso gut wie sie, dass sie die bessere Schwertkämpferin war, und sie konnte spüren, wie er darüber nachdachte, was wohl aus seiner Familie wurde, wenn er starb. Seine junge Frau hatte gerade ihr erstes Kind zur Welt gebracht. Um die Witwe eines Wachmanns kümmerte sich kein Mensch, und das bereitete ihm Sorgen.

Sie mochte vielleicht die bessere Schwertkämpferin sein, aber er war der Stärkere, und allmählich machte sich eine tiefe Erschöpfung in ihr breit – vielleicht ein Effekt von Tris’ Heilung, wie er es ja schon vorausgesagt hatte. Wenn sie den Kampf also nicht bald beendete, würde sie ihn am Ende noch verlieren.

Ihre Züge verzerrten sich vor Anspannung, und sie begann, den Wachmann die Stufen hinaufzuzwingen. Während sie kämpfte, griff sie sacht mit ihrer Gabe um sich und erreichte eine Präsenz, von der sie wusste, dass es sich um Tris handelte. Erst später würde sie sich darüber wundern, warum sie ihn einfacher hatte erreichen können als Laeth.

Schweiß rann ihr in den Nacken, und sie befürchtete, nicht genug Ausdauer für das zu haben, was sie nun versuchen wollte. Der Wachmann erreichte den oberen Treppenabsatz, stolperte, als er auf die nächste Stufe treten wollte, die es indes gar nicht gab. Rasch fing er sich, doch sein Straucheln gab Rialla den erwarteten Vorteil, sodass nun beide auf der Festungsmauer standen. Die hölzernen Planken des Wehrgangs knarzten unter ihren Füßen. Wenn sie noch lange gegeneinander kämpften, würde irgendjemand nach oben sehen und sie entdecken.

Ängstlich wartete sie darauf, dass Tris die Feste verließ, und bemerkte gleichzeitig, dass ihr verwundetes Bein allmählich erste Ausfallerscheinungen zeigte. Ihr Schwertarm schmerzte unter den angeblockten Schlägen des Wachmanns. Er schien Hoffnung zu schöpfen, den anbrechenden Tag doch noch zu erleben, obwohl er sich fragte, warum sie ihn nicht erledigt hatte, als er auf der Treppe ins Straucheln geraten war. Die Brustwehr war mit Zinnen versehen, damit Bogenschützen durch die Scharten schießen und sich danach hinter den gemauerten Aufsätzen verstecken konnten. Und obwohl die Mauerbrüstung ein gutes Stück über Riallas Kopf hinausreichte, waren die Scharten nur hüfthoch. Als sie wusste, dass Tris sicher aus der Burg heraus war – mit hoffentlich Laeth an seiner Seite –, täuschte Rialla ihren Gegner. Die Wache machte einen Rückzieher und verschaffte ihr so den Platz, den sie brauchte, um in das Zinnenfenster zu springen und sich auf der anderen Seite herabfallen zu lassen. Sie landete auf der abschüssigen Wehrplattform.

Sie rutschte abwärts bis zum Boden, rief Eisenherz mithilfe ihrer Gabe zu sich. Erst als sie aufgesessen hatte und in den Schutz der Wälder ritt, erlaubte sie es sich, zurückzusehen, um zu überprüfen, ob der Wachmann ihr gefolgt war. Als sie niemanden entdecken konnte, nahm sie an, dass er mit dem schweren Kettenhemd keinen Sprung von der Zinne hatte wagen wollen und stattdessen lieber Alarm geschlagen hatte.

Das weithin hörbare Bimmeln von Westholdts Sturmglocken verfolgte sie bis in die Wälder.

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