10

»Tris«, sagte Rialla, die ihren Begleiter dabei beobachtete, wie er einmal mehr den Inhalt seines Rucksacks überprüfte. »Ich weiß nicht, ob ich dir je dafür gedankt habe, was du für mich getan hast. Falls wir uns nicht mehr wiedersehen, wollte ich dir sagen«, sie schenkte ihm ein seltsames Lächeln, als sie die ihren Worten innewohnende Wahrheit erkannte, »dass ich deine Gesellschaft sehr genossen habe.«

Er sah mit indifferenter Miene zu ihr auf, dann schlich sich der Schalk in seinen Blick. »Falls ich dich nie mehr wiedersehen sollte, dann …« Für einen so großen Mann bewegte er sich nun mit erstaunlicher Eleganz auf sie zu und umfasste ihr Kinn mit seiner Hand.

Während seine Worte erstarben, fragte sich Rialla, ob sie sich seiner Berührung entziehen sollte. Sie zuckte im Geiste die Achseln und beschloss, seinen Kuss stattdessen zu genießen. Als er sich wieder von ihr zurückzog, ging sein Atem so stoßweise wie der ihre.

Er blickte ihr tief in die Augen und sagte: »Wir sehen uns dann in drei oder vier Tagen.«

Rialla sah ihm nach, bis die Dunkelheit ihn verschluckte, bevor sie sich selbst auf den Weg machte. Falls Terran und sein Vater wirklich schon so nah waren, würde sie die ganze Nacht laufen müssen, um ihren Vorsprung zu halten.

Sie schlug die Richtung ein, in der sie und Tris schon vor ihrer Rast unterwegs gewesen waren, und bewegte sich so in gerader Linie vom Lager ihrer Verfolger fort.

Die Route, die sie wählte, führte durch das dichteste Unterholz, das sie finden konnte. Ohne sich an einem sichtbaren Pfad orientieren zu können, war sie gezwungen, sich durch ein fast undurchdringliches Geflecht aus Gesträuch und Geäst zu schlagen. Zweige verfingen sich in ihrem Haar, und wie aus dem Nichts erscheinende Bodenwurzeln ließen sie stolpern. Und als sie sich zum wiederholten Mal das Schienbein an einem herabgefallenen Ast stieß, musste sie sich grimmig daran erinnern, dass sie diesen Weg gewählt hatte, weil ein Reiter ihr in diesem Dickicht nur schlecht folgen konnte. Sie biss die Zähne zusammen und ging weiter.

Tris hatte ihr gesagt, dass der Untergrund in diesem Gebiet teilweise morastig war, daher war sie einige Male sogar gezwungen, sich einen Weg um sumpfige Moorwiesen herum zu suchen, die auf den ersten Blick überaus harmlos wirkten, für den arglosen Wanderer aber eine nicht zu unterschätzende Gefahr darstellen konnten. Sie überquerte einen flachen, steinigen Bachlauf, dem sie nasse und kalte Füße verdankte. Als das Licht des Morgens durch die Baumkronen fiel, hatte sie schon einige Meilen zurückgelegt. Auch wurde nach und nach die ständige Verbindung zu Tris immer schwächer.

Auf ihrer Flucht nahm sich Rialla die Position der Sterne und später den Stand der Sonne zu Hilfe, damit sie nicht von der gewählten schnurgeraden Route abkam, die Terran zu Pferde nicht abkürzen konnte. Sie lief, bis sie vor Erschöpfung nur noch voranstolperte, kletterte dann am späten Nachmittag einen großen alten Apfelbaum hinauf, um sich auszuruhen.

Als die Sonne unterging, war sie schon wieder unterwegs. Sie versuchte, Kontakt zu Tris aufzunehmen, aber der war dafür offenbar schon zu weit entfernt. Zweimal fand sie Bärenspuren, doch kein Zeichen von den Uriah. In den Wüsten ihrer Kindheit hätte sie sich jetzt wohler gefühlt als im gemäßigten, teils feuchten Klima Süddarrans, aber es hatte auch seine Vorteile. Aufgrund der starken Niederschläge um diese Jahreszeit waren an den Hügelflanken und in den Tälern zahlreiche Bächlein entstanden.

Da sie wusste, dass Terran ihren Weg mithilfe welch göttlicher Gabe auch immer verfolgen konnte, versuchte sie gar nicht erst, ihre Spuren zu verwischen. Stattdessen watete sie durch sumpfige Gebiete und durchquerte Dickichte, die ein Mann zu Pferde in jedem Fall weiträumig umgehen musste.

Am Nachmittag des zweiten Tages fand man sie.

Sie trank gerade aus einem Wasserlauf, als sie hörte, wie sie sich auf ihren Pferden näherten. Sie blieb hocken, wo sie war, und wartete auf das Unvermeidliche.

Winterseine trieb, als er seine Beute entdeckt hatte, sein Pferd zum Galopp an und kam kurz vor Rialla zum Stehen. Mit ausdruckslosem Gesicht starrte sie auf die Beine des Tiers und stellte dabei gedankenverloren fest, dass es dringend neu beschlagen werden musste.

Winterseine sprang aus dem Sattel und zerrte Rialla an den Haaren auf die Beine.

»Miststück!«, schleuderte er ihr entgegen. »Wo ist es? Wo ist das Buch?«

»Wenn du sie so hart angehst, wird sie dir kaum antworten können, Vater«, sagte Terran mit ruhiger Stimme.

Winterseine ließ von ihr ab und schnappte sich etwas, das an seinem Sattel hing. »Antworte, du Aas! Wo ist das Buch, das du gestohlen hast. Wo ist der Dolch?«

Sich ihrer Rolle erinnernd, die sie zu spielen hatte, erwiderte Rialla kleinlaut: »Er hat es.«

Pfeifend sauste die Peitsche auf ihren Rücken nieder. Terran fiel seinem Vater in den Arm, bevor der ein weiteres Mal zuschlagen konnte.

»Sie sagt die Wahrheit, Vater.« Kalte Gewissheit lag in der Stimme des jungen Mannes. »Warum lässt du sie nicht erklären, bevor du ihren Körper unrettbar ruinierst. Deine Unbeherrschtheit wird dich am Ende noch eine wertvolle Tänzerin kosten.«

Ohne die Antwort seines Vaters abzuwarten, wandte sich nun Terran an Rialla: »Wer hat sie genommen?«

Eingeschüchtert sah Rialla zu Winterseine auf. Er kochte vor Wut wegen Terrans Einmischung.

Mit kraftloser Stimme, doch um die Wahrheit bemüht, antwortete sie: »Der Mann, der mit mir reiste. Der, von dem Laeth gesagt hat, er würde mich holen kommen. Er meinte, es wäre an der Zeit, Eure Burg zu verlassen und nach Sianim zu gehen – also haben wir das getan. Nach einem Tag oder so sagte er mir dann, dass Ihr uns verfolgt – also verschwand er mit dem Dolch.«

»Und hat er auch das Buch gestohlen?«, blaffte Winterseine.

Rialla nickte.

»Wie lange ist es her, dass ihr euch getrennt habt?«, hakte der Sklavenausbilder nach.

»Zwei Tage«, sagte Rialla.

»Und dieser Mann«, fragte Terran mit ruhiger Stimme, »ist er ein Magier?«

»Ja.«

»Wie heißt er?«

»Er nannte sich selbst ›Sylvaner‹.«

»Nach diesem Waldvolk?«, fragte Terran erstaunt. »Vater, hast du je von einem solchen Magier gehört?«

»Nein.« Winterseine schüttelte den Kopf. »Und ich glaube auch nicht, dass das sein wahrer Name ist.«

Terran wandte sich wieder an Rialla. »Wie hat er den Dolch gefunden?«

»Er hatte mehrere Tage danach gesucht, bevor ihm zufällig das Buch in die Hände fiel, in dem es versteckt war«, gab Rialla zurück. »Er hatte sich auf Eurer Burg als Schreiner ausgegeben. Dieses Handwerk erlernte er wohl in seiner Jugend.«

»Und warum bist du mit ihm gegangen? Ich nahm an, du hättest deine Lektion gelernt.« Es war Winterseine, der diese Frage stellte.

Rialla senkte den Kopf und erwiderte im Ton einer Person, die das Offensichtliche aussprach: »Er sagte, es wäre Zeit zu gehen. Dass Laeth mich in Sianim erwarten würde …«

»Verstehst du denn nicht, Vater? Sie ist nicht wirklich geflohen. Streng genommen ist Laeth noch immer ihr Besitzer. Er hat ihr befohlen, diesem Sylvaner zu folgen. Es war nicht an ihr, Laeths Befehl in Frage zu stellen.« Terran tätschelte Rialla die Wange, wie ein Mann seinen Hund streichelte. »Sie ist nämlich ein braves Mädchen, nicht wahr?«

Rialla blieb passiv, wiewohl angsterfüllt. War das Sarkasmus gewesen, der in Terrans Stimme mitgeschwungen hatte? Es war schwer, dies allein an seinem Tonfall festzumachen, und ihn direkt anzuschauen, das wagte sie nicht.

»Nur weil du mit ihr im Bett warst, heißt das nicht, dass sie die Wahrheit sagt«, schnappte Winterseine.

»Vater«, sagte Terran, nun kein bisschen unterwürfig, »nur weil meine Magie auf andere Art funktioniert als deine, ist sie noch lange nicht weniger mächtig. Lass dir gesagt sein: Ich vermag Wahrheit von Lüge zu unterscheiden.« Seine Stimme nahm einen fast drohenden Unterton an. »Wenn du es allerdings weiterhin vorziehst, meine Fähigkeiten zu unterschätzen, wird es allein dir zum Schaden gereichen.«

»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte Winterseine. Es klang gekränkt und gleichzeitig so falsch wie ein Glasrubin.

»Natürlich tust du das nicht. Vergiss einfach niemals, dass ohne mich deine Chancen, König von Darran zu werden, denkbar gering wären. Besonders wenn dieser Dolch nach Sianim gelangen sollte.« Terrans Stimme war so kalt wie Eis. Rialla hielt den Kopf gesenkt.

»Ich glaube, es ist alles gesagt«, erwiderte Winterseine rasch. Dann legte er Rialla das schwere Lederhalsband um und zog sie auf die Füße. Als er sie berührte, konnte Rialla seine Furcht spüren … und seinen Hass. »Wollen wir nun zurückreiten?«

Es gab für Rialla kein Pferd für die Rückreise; das Packpferd war schwer mit Ausrüstung und Proviant beladen. Stattdessen musste sie neben Winterseines Wallach herlaufen. Der Untergrund in dieser Gegend war schwierig, weshalb das Pferd auch nicht wesentlich schneller vorankam als sie. Dennoch nahm es stets den einfachsten Weg durchs Gelände, weswegen Rialla sich ein ums andere Mal abmühen musste, Schritt zu halten.

Am Abend rasteten sie neben einem Bachlauf und aßen das, was das Lasttier an Vorräten noch mit sich führte. Der Eintopf war ungewürzt und hätte Rialla sicherlich besser geschmeckt, wenn die Ungewissheit ihr nicht den Magen zugeschnürt hätte.

Nach dem frugalen Mahl füllte Terran ein kleines Tongefäß mit Wasser aus dem Bach. Er kniete sich hin, stach sich mit seinem Messer in den Daumen und ließ einige Blutstropfen in das Gefäß fallen. Die Schale in Händen saß er sodann mit gekreuzten Beinen und geschlossenen Augen da.

Während er meditierte oder betete, wusch Rialla das Geschirr ab und verstaute es wieder auf dem Packpferd. Danach fesselte Winterseine ihr die Arme hinter dem Rücken und machte die Leine an einem Baum fest. Schließlich entrollte er seinen Schlafsack und schloss die Augen.

Rialla ging es zu schlecht, als dass sie hätte schlafen können, also lehnte sie ihre Wange gegen die raue Rinde und sah Terran teilnahmslos zu. Die untergehende Sonne spendete noch genügend Licht, um alles klar erkennen zu können.

Sie rutschte ein wenig hin und her, versuchte trotz der gefesselten Arme eine halbwegs bequeme Haltung zu finden, und wünschte sich, Tris wäre hier, um sie zu befreien. Sie kannte sich mit Peitschen gut genug aus, um zu wissen, dass Winterseines Schlag nur einen Striemen auf ihrem Rücken hinterlassen hatte, aber die Stelle rieb schmerzhaft gegen den Stamm des Baumes.

Plötzlich zerriss ein schrecklicher Schrei die Stille, der unmittelbar darauf von irgendwo jenseits ihres Lagers eine Antwort erhielt. Reflexartig zerrte Rialla an ihren Fesseln, als der Ruf eines dritten Uriah hinter ihr laut wurde.

Sie erstarrte und verfolgte einen sich bewegenden Schatten bei den nahegelegenen Büschen, bis sie nach und nach auch anderer Schemen gewahr wurde, die das Lager einkreisten. Erst jetzt wurde Rialla bewusst, dass sie die Kreaturen schon eine ganze Weile gerochen hatte, jedoch zu müde gewesen war, um in irgendeiner Form darauf zu reagieren. Tris hatte recht: Sie rochen wie verwesende Leichen.

Und sie bewegten sich weiter auf das Lager zu. Schweigend nun und lautlos. Es musste sich um eine weitaus größere Gruppe handeln als die, welche Tris aufgestöbert hatte. Rialla konnte mühelos zwanzig von ihnen ausmachen und vermutete, dass noch weitere in den Schatten lauerten.

Winterseine war beim ersten Schrei auf die Füße gesprungen. Jetzt stand er zwischen Rialla und dem kleinen Lagerfeuer, sodass sie nur seine umschattete Gestalt sah, die sich nach allen Richtungen umschaute.

Terran stellte das Tongefäß beiseite und erhob sich. Er wirkte seltsam entspannt. »Keine Sorge«, sagte er. »Sie sind gekommen, weil sie wissen, wer ich bin.«

Als er sprach, hielten die Kreaturen inne. Wäre Riallas Aufmerksamkeit nicht schon vorher auf sie gerichtet gewesen, sie hätte nicht sagen können, wo genau sich die Uriah im Dunkeln befanden.

»Arme Dinger«, meinte Terran im Plauderton. »Der erste Uriah wurde noch vor den Magierkriegen erschaffen, und das schwarze Geheimnis ihrer Schöpfung hätte eigentlich mit dem letzten der Großmächtigen sterben sollen. Aber nein, Geoffrey ae’Magi musste ja auch weiterhin mit den verdorbenen Künsten herumexperimentieren. Und so hat seine Pervertierung der Magie letztlich die alten Götter wiedererweckt.« Terran schüttelte den Kopf. »Und dabei bestand der Sinn, einen Erzmagier zu berufen, doch eigentlich darin, das Wirken verbotener Magie zu unterbinden. Hat offensichtlich nicht funktioniert.«

Terran deutete in Richtung der Uriah. »Und das ist der Grund, Vater, warum Altis den Westen unterwerfen muss. Für die Menschen stellt die Magie eine viel zu mächtige Waffe dar, um sie unkontrolliert zum Einsatz zu bringen.«

Rialla hatte den Eindruck, dass sich Winterseines Silhouette versteifte.

Die Uriah setzten sich wieder in Bewegung, näherten sich unaufhaltsam ihrem kleinen Lager. Die Pferde wurden unruhig und begannen, an ihren Zügeln zu zerren – Rialla tat es ihnen gleich.

»Arme Dinger«, sagte Terran noch einmal und hob mit nach außen weisenden Handflächen seine Arme über den Kopf. »Hört!« Seine Stimme war zu der des Propheten von Altis geworden und hallte bedrohlich in den Wäldern wider. Die Uriah unterbrachen erneut ihr langsames Vorrücken. Wären ihre Hände frei gewesen, Rialla hätte den ersten bereits berühren können, so nah war er ihnen gekommen – nicht dass sie das Bedürfnis dazu hatte.

»Erhöre mich, Altis, Herr der Nacht. Erlöse diese Kinder. Erlöse sie, Altis, denn sie leiden für die Sünden eines anderen.«

Durch die Reihen der Uriah ging eine Art Flüstern. Rialla stellten sich die Nackenhaare auf, als sie der Kreatur lauschte, die direkt neben ihr war.

Denn die Kreatur sprach, allerdings nicht auf Darranisch, sondern in der Gemeinsprache. »Bitte«, sagte sie, und immer wieder: »Bitte, bitte …« Rialla sah sich den Uriah näher an und bemerkte, dass er die Überreste einer Uniform trug, die zu den Wachen von Sianim gehörte. Sie erstarrte vor Entsetzen, als ihr klar wurde, dass dieser Untote einst ein Mensch gewesen war.

Rialla war keine Magierin, doch selbst sie spürte die Macht in Terrans Stimme, als er rief: »Erlöse sie, jetzt!«

Langsam erst, doch dann immer schneller, sanken die Uriah zu Boden. Wieder blickte sie zu der Kreatur, die direkt neben ihr gestanden hatte. Der Körper des Dings zuckte und warf sich herum, bis er sich in die Leiche eines Menschen zurückverwandelt hatte – einer Leiche im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung.

Still lag er da und atmete nicht.

Winterseine blickte auf all die Toten um sich herum und meinte: »Wir müssen das Lager woanders aufschlagen. Ich weiß nicht, wie du darüber denkst, aber ich werde bei dem Gestank kein Auge zumachen können.«

Rialla starrte auf den Toten neben sich. Uriah, so hieß es, waren so gut wie immun gegen Magie, doch Terran hatte gerade drei Dutzend von diesen dreimal verfluchten Gestalten hinweggerafft.

Sie wusste nicht, wie stark Tris war, aber sie bezweifelte, dass es auf dieser Welt irgendeine Magie gab – sei sie nun menschlich oder nicht –, die imstande war, Winterseines Sohn zu bezwingen. Wenn sie es nicht schaffte zu fliehen, bevor Tris zurückkehrte, würde es zu einer Konfrontation kommen, bei der sie und der Heiler nur verlieren konnten.

Tris konnte den Sylvanischen Pfad nicht für seine ganze Reise nutzen; diese Art der Magie kostete Kraft und wurde ineffektiver, als die Waldgebiete aus Eiben und Eichen allmählich in eine Region übergingen, in der hauptsächlich Weiden und Birken wuchsen. Und doch erreichte er Sianim in weniger als zwei Tagen; deutlich schneller, als jeder Mensch dies geschafft hätte.

In der Mitte eines riesigen Tals erhob sich ein steilwandiges Plateau. Zu der Stadt, die auf der Hochfläche errichtet worden war, führte nur ein einziger schmaler, von begrenzenden Mauern gesicherter Weg hinauf. Der Pfad war um diese Tageszeit recht bevölkert, und so war Tris gezwungen, den Aufstieg hinter einer Eselskarawane hinter sich zu bringen.

Nach der Ruhe im Wald erschienen ihm die Geräusche der Stadt ohrenbetäubend. Tris folgte den Eseln ins Zentrum von Sianim, wo sich die Märkte befanden. Dort versuchte er jemanden zu finden, mit dem er sich verständigen konnte. Er hatte fast sein ganzes Leben in Darran zugebracht und beherrschte Sylvanisch, Darranisch und nur ein paar wenige Brocken Gemeinsprache: eher ein Mischmasch aus Gesten und dem Dialekt der fahrenden Händler, doch die Kaufleute von Sianim sprachen ihre ganz eigene Mundart. So hoffte er, hier jemanden aufzutreiben, der Darranisch sprach, musste sich jedoch am Ende mit seinen schlechten Gemeinsprachekenntnissen durchschlagen.

Er gab es auf, Laeths Unterkunft zu finden, und konzentrierte sich stattdessen auf das »Verirrte Schwein«. Als drei von vier Leuten, die er fragte, in Richtung der gleichen verschlungenen Gasse deuteten, machte er sich auf den Weg.

Nach einem kurzen Fußmarsch stand Tris vor einem Gebäude, das an allen vier Ecken mit schweren, rostigen Eisenketten am Boden befestigt worden war. Über dem Eingang hing ein Schild, auf dem ein orangefarbenes Schwein lauernd mit den Augen rollte. Hier musste es sein.

Er betrat die Schänke und wich fast zurück vor dem irren Geräuschpegel, der ihm entgegenschlug. Am anderen Ende des Gastraums erschien in einem Durchgang gerade eine dralle Kellnerin mit einem Tablett überschäumender Bierkrüge. In der Annahme, dass sich auch der Wirt irgendwo da hinten befinden musste, begann Tris, sich einen Weg durch den Raum zu bahnen.

Auf halber Strecke wurde er plötzlich am Ärmel festgehalten. Er fuhr herum und fand sich einem Mann in einer Lederrüstung gegenüber, der schweigend auf einen der langen Tische deutete.

Tris’ Augen folgten der Geste, und da entdeckte er Laeth und Marri, die gerade ihrerseits versuchten, sich einen Weg durch den überfüllten Schankraum zu kämpfen. Laeth versuchte ihm etwas zu sagen, doch selbst auf diese kurze Entfernung war er in dem Lärm nicht zu verstehen.

Als das Paar Tris erreicht hatte, setzten sie sich wortlos wieder Richtung Eingangstür in Bewegung. Endlich standen die drei draußen.

»Tris, was macht Ihr hier«, fragte Laeth. »Und wo ist Rialla.«

»Irgendwo im Darranischen Wald, hoffe ich«, erwiderte Tris erschöpft und massierte sich den Nacken. »Ich muss das hier ausliefern.« Er holte die Bücher unter seinem Wams hervor und zog den Dolch aus dem Futteral, in dem normalerweise sein eigenes Messer steckte. »Und zwar an den Meisterspion Ren. Dann kehre ich zu Rialla zurück. Könnt ihr mir sagen, wo ich den Mann finde?«

»Warum habt Ihr Rialla nicht mit hierhergebracht?«, fragte Marri besorgt.

»Winterseine und sein Sohn sind uns gefolgt. Rialla hoffte ihnen entkommen zu können, bis ich meinen Auftrag in Sianim erledigt habe. Nach allem, was wir durchgemacht haben, wäre es eine Schande gewesen, wenn Winterseine die Beweismittel wieder in die Hände gefallen wären.«

»Ich könnte Ren die Sachen bringen«, bot sich Laeth an. »Dann könntet Ihr umgehend zurückkehren. Wenn Ihr uns außerdem beschreiben könntet, wo wir euch finden, könnte ich ein paar Freunde zusammentrommeln und sie euch zur Verstärkung schicken.«

Tris dachte darüber nach, schüttelte dann aber den Kopf. »Nein«, meinte er, »das Tagebuch, das ich bei mir trage, bedarf der Erläuterung. Wenn ich Euch erst alles, was damit zusammenhängt, darlegen muss, kann ich es dem Meisterspion genauso gut selbst erklären – und zudem dafür sorgen, dass er mir die Geschichte auch abkauft. Wenn Ihr mich also zu Ren bringen könntet, wäre ich Euch sehr dankbar.«

»Da habt Ihr recht«, sagte Laeth. »Folgt mir.

Er und Marri führten Tris durch die Straßen zu einem großen Gebäude, das vermutlich genauso alt war wie die Stadt selbst. Über die Jahrhunderte war immer wieder etwas angebaut oder umgeändert worden, sodass der Bau irgendwie schief und ungeordnet auf den Betrachter wirkte. Die Steinstufen im Innern waren ausgetreten unter dem Gewicht von Generationen.

Oben angekommen klopfte Laeth kurz an eine zerkratzte Holztür.

»Geht weg!«, rief von drinnen eine Stimme. »Ich hab den Bericht gestern abgegeben!«

Laeth sah zu Tris, zuckte die Achseln und öffnete die Tür. »Ich bin’s nur«, sagte er, während er in den Raum hineinlugte.

Tris folgte Marri und Laeth in das Zimmer. Es roch muffig, als wäre hier schon länger nicht mehr gelüftet worden. Hinter einem Schreibtisch, der für den Raum viel zu groß bemessen war, saß ein gebrechlich wirkender Mann, der sich das schüttere Haar raufte.

Davor hatte es sich ein weiterer Mann in einem gepolsterten Stuhl gemütlich gemacht, doch als er die Frau hereinkommen sah, sprang er auf flink auf. Tris war bewusst, dass er ein wenig fassungslos dreinschaute, aber er hatte noch nie jemanden in einem so bizarren Aufzug gesehen, nicht einmal unter den geckenhaftesten Darranern. Die teuren Lederstiefel des Mannes waren in einem abscheulichen Orangeton gefärbt. Damit standen sie in einem auffälligen Kontrast zu den smaragdgrünen Samthosen, die allerdings mit orangefarbener Spitze besetzt waren. Das Übergewand war ebenfalls smaragdgrün, mit Ausnahme der langen, wallenden Ärmel – die leuchteten wiederum Orange. Das Haar des Mannes war in Locken gelegt und wallte hinab bis zu den Schultern; eine Pracht, um die ihn so manche Frau beneidet hätte.

»Welch Freude, von einer solch liebreizenden Besucherin bei der Arbeit unterbrochen zu werden«, flötete er. Er trat vor und gab Marri einen Handkuss. »Erlaubt mir, mich Euch vorzustellen. Ich bin Lord Kisrah.«

Bevor irgendjemand antworten konnte, sprang der Mann hinter dem Schreibtisch, von dem Tris annahm, dass dies der Meisterspion war, ebenfalls auf und ergriff das Wort: »Laeth, ich sagte Euch doch, dass ich jemanden da draußen habe, der bei Winterseines Besitzungen nach Rialla Ausschau hält. Ich werde Euch wissen lassen, wenn es in dieser Hinsicht Neuigkeiten gibt.«

»Ich habe Neuigkeiten für Euch, mein Herr«, sagte Laeth und ignorierte Rens offensichtliche Verstimmung, während er Marri entschieden von Lord Kisrah fort und hinter seinen Rücken zog.

Tris kniff die Augen zusammen, als er sich an den menschgewordenen Pfau wandte: »Lord Kisrah«, sagte er langsam, »der Erzmagier.«

Kisrah verbeugte sich formvollendet. »Ebendieser.«

Ren räusperte sich, um sich Gehör zu verschaffen. »Ich bin Ren«, verkündete er mit fester Stimme. »Und dieser junge Narr dort ist Laeth, einst ein kleiner darranischer Lord und derzeit Söldner von Sianim.« Irgendwie gelang es Ren, die zweite Bezeichnung weitaus eindrucksvoller klingen zu lassen.

Seine Stimme wurde sanfter, als er fortfuhr: »In seiner Begleitung befindet sich Lady Marri, die Witwe von Lord Karsten zu Darran und schon bald Laeths Verlobte. Lord Kisrah war so höflich, sich selbst vorzustellen, aber ich bin mir nicht sicher, wer Ihr seid, mein Herr.« Die letzten Worte waren an Tris gerichtet.

»Ich bin Tris«, erwiderte der. »Für eine Weile Heiler von Tallonwald, momentan Bote für eine gewisse Rialla, einer Sklavin, die zur Pferdeausbilderin wurde, bevor man sie zur Kundschafterin machte. Ich habe einige Dinge bei mir, die ich dem Meisterspion von Sianim übergeben muss.«

Tris händigte Ren die Bücher aus, zog dann Laeths Dolch aus seinem Stiefelschaft. »Mit dieser Waffe wurde Lord Karsten ermordet. Rialla und ich fanden sie auf Winterseines Burg.«

Lord Kisrah machte eine Geste, und Ren reichte ihm den Dolch. Der Erzmagier schloss seine Hand um den Griff und murmelte dann etwas. »Unzweifelhaft hat Winterseine den Knauf gehalten, als die Waffe das letzte Mal tötete – aber ich kannte Lord Karsten nicht persönlich. Ich brauche etwas aus seinem Besitz, um zu bestätigen, dass er das Opfer war. Allerdings muss ich gestehen, dass ich neugierig bin, ob ein darranisches Gericht dem Wort eines Magiers Glauben schenken wird.«

»Rialla war davon überzeugt, dass Ren eine solche Meisterleistung zu vollbringen imstande wäre«, erwiderte Tris knapp, »aber wir haben noch etwas anderes gefunden, das vielleicht dabei helfen könnte. Das dickere der beiden Bücher ist Winterseines Grimoire, praktischerweise trägt der Einband eine Prägung mit seinem persönlichen Siegel. Es ist vollständig bis auf einige lose Pergamentseiten, die verlorengingen, als wir flohen.«

Kisrah nahm das Zauberbuch vom Schreibtisch. Sobald er es berührte, wurde sichtlich sein Interesse geweckt. Einen Moment lang hielt er das Buch in den Händen, dann legte er es wieder beiseite. »Was habt Ihr mit diesen Seiten gemacht?« Seine gelangweilte Art war von ihm abgefallen. An ihre Stelle war die Macht und Präsenz getreten, die einem ae’Magi zu eigen war.

»Sie waren so sehr mit Magie erfüllt worden, dass ich mir nicht sicher war, ob man sie gefahrlos berühren konnte. Als sie herausfielen, habe ich sie zerstört, damit sie Winterseine nicht wieder in die Hände fielen.«

»Zerstört? Wie?«, fragte Lord Kisrah. Er war leichenblass, und seine Stimme zitterte.

»Mit Magie, Lord Kisrah, wie auch sonst?« Tris hob die Augenbrauen.

»Gut, gut«, meinte Ren. »Zumindest sind sie nicht wieder in Winterseines Besitz gelangt. Und was hat es mit diesem schmalen Buch auf sich?«

»Das«, erwiderte Tris, »ist das interessanteste Ding, das wir beschaffen konnten. Rialla erwähnte, dass Ihr Euch wegen eines Propheten Sorgen macht, der sich unserer Länder bemächtigen könnte.«

»Und das Buch verrät, dass es sich dabei um meinen Onkel handelt, hab ich recht?«, fragte Laeth ohne große Überraschung.

Tris schüttelte den Kopf. »Es ist das persönliche Tagebuch der Stimme von Altis. Ihr werdet sie wohl eher unter dem Namen Terran kennen.«

Erstaunt sahen Laeth und Marri den Heiler an; die anderen beiden hatten offenbar keine Ahnung, wer dieser Terran überhaupt war.

»Mein Cousin Terran«, fragte Laeth schließlich ungläubig.

»Winterseines Sohn«, bestätigte Ren.

Lord Kisrah versteifte sich. »Winterseines Sohn ist aber kein Magier. Ich war bei seiner Eignungsprüfung zugegen.«

»Nein«, stimmte Tris ihm zu. »Terran ist kein Magier, er ist ein Prophet.«

»Winterseine missbrauchte seine Magie, auf dass sein Sohn sich zu einem Propheten erklären konnte?«, fragte Ren skeptisch.

»Nein«, sagte Tris abermals. »Terran ist ein Prophet Altis’ – zumindest denken das Rialla und ich.«

»Götter …«, schimpfte Laeth leise.

»Ja«, stimmte Tris zu. »Ich denke, Ihr werdet Terrans Tagebuch sehr –« Er brach ab und zuckte zusammen, als er einen bohrenden Schmerz im Rücken verspürte.

Laeth berührte seine Schulter. »Was ist mit Euch?«

Grimmig schüttelte Tris den Kopf, als er einmal mehr vergeblich versuchte, durch das Band, das zwischen ihnen bestand, Rialla zu erreichen. Doch alles, was über die große Entfernung zu ihm durchgedrungen war, war das kurze Aufflammen ihres Schmerzes.

»Ich muss gehen«, sagte er. »Lest das Tagebuch … und tut es möglichst unvoreingenommen.«

Tris hatte für sich ein Pferd verlangt, weil er wusste, dass er so schneller vorankommen würde, bis er wieder die Wälder erreicht hatte. Laeth begleitete ihn zu den Ställen und besorgte ihm einen rassigen grauen Wallach.

In der ersten Stunde seines Ritts verdrängte die Sorge um Rialla jede Müdigkeit. Der Wallach lief geschmeidig in einem raumgreifenden Trab. Hinter ihm wurde Sianim immer kleiner, während nach und nach das Ackerland, das den gesamten Stadtstaat umgab, die Oberherrschaft gewann und schließlich in die sanfte Hügellandschaft im Norden überging. Sobald die letzte Feldbegrenzung hinter ihm lag, verließ Tris die Überlandstraße.

Obwohl die Entfernung noch immer zu groß war, um Rialla mental klar zu erfassen, wies ihm das Band zwischen ihnen die ungefähre Richtung. Wenn der Schmerz, den er empfangen hatte, bedeutete, dass sie sich wieder in Winterseines Händen befand, dann musste er sich beeilen, um sie noch vor Erreichen der Burg abzufangen.

Tris hoffte, die Gruppe noch im Wald einzuholen, wo seine Kräfte am stärksten waren, anstatt Rialla aus dem kalten Steingebäude befreien zu müssen, das zu allem Überfluss auch noch Terrans Altis-Schrein beherbergte. Er nahm an, dass seine Weggefährtin recht hatte: Terran und Winterseine waren zu mächtig, um sie direkt anzugreifen. Doch wie dem auch sei, der Wald war seine Domäne, und in ihr galten andere Kampfgesetze.

Er ritt weiter, bis der Hengst vor Erschöpfung den Kopf hängen ließ, und auch er war in kaum besserer Verfassung. Seine Verbindung zu Rialla mochte ihm erlauben, sie zu lokalisieren, doch das erforderte Konzentration; schon zwei Mal hatte er die Richtung korrigieren müssen, als die Müdigkeit ihn abgelenkt hatte.

Widerstrebend kam Tris zu dem Schluss, dass er entweder eine Pause einlegte oder riskierte, sowohl das Pferd als auch die Spur zu verlieren. Die Entscheidung fiel, als ihm klar wurde, dass es niemandem etwas nutzte, wenn er die Gruppe am Ende sterbensmüde erreichte und er sich Winterseine und seinem Sohn allein deshalb geschlagen geben musste.

Steif bewegte sich Rialla hin und her, nachdem Terran ihre Hände losgemacht hatte. Die unbequemen Fesseln hatten sie fast die ganze Nacht wachgehalten. Ihre Finger waren taub, und ihre Arme schmerzten, trotz Terrans sanfter Massage.

Als sie ihre Hände wieder gebrauchen konnte, reichte ihr Terran eine Tasse mit einem heißen Gebräu, das nach Kräutern roch, die sie nicht kannte. Vermutlich hatten sie einen medizinischen Nutzen, denn sie fühlte sich danach beträchtlich besser.

Als das Lager abgebrochen und die Pferde gesattelt und bepackt waren, löste Winterseine ihre Leine von dem Baum und befestigte sie an seinem Sattelring.

Rialla brauchte eine Weile, bis sie sich von der Strapaze, die ganze Nacht über gefesselt gewesen zu sein, erholte. Auch die lange Verfolgungsjagd und der Schlafmangel forderten ihren Tribut. Ihr schlimmes Bein protestierte unter der Belastung, die sie ihm zumutete, und gegen Mittag begann die Narbe zu brennen.

Endlich hatten sie sich durch das dichte Unterholz gekämpft und erreichten eine Lichtung, die von einem flachen Wasserlauf durchschnitten wurde. Winterseine trieb sein Pferd in den Trab. Rialla schaffte es, ihm einige Schritte zu folgen, dann verkrampften sich die Muskeln in ihrem verletzten Bein. Als sie versuchte, das Gleichgewicht zu halten, zerrte die Leine an ihrem Halsband, wodurch sie ungebremst zu Boden fiel.

Winterseine zog sie noch einige Meter hinter sich her, bevor er sein Pferd anhielt, und fügte ihren ohnehin schon zahlreichen Prellungen und Schürfwunden noch einige hinzu. Rialla setzte sich auf, würgte und hustete und versuchte verbissen, ihr krampfhaft angewinkeltes Bein durchzustrecken, doch der große Muskel in ihrem Oberschenkel wollte sich einfach nicht entspannen.

Terran stieg vom Pferd, platzierte ein Knie auf Riallas Schulter sowie beide Hände auf der Kniescheibe ihres verletzten Beins. Mittels dieses Hebels war er imstande, ihr Bein so weit zu strecken, dass der Muskel sich wieder dehnte. Während sich ihr Bein allmählich wieder beruhigte, rutschte sein Knie bis hinunter auf ihre Hüfte, und er begann, den störrischen Muskel zu kneten.

Rialla starrte auf die langen Finger seiner Hände, die das nackte Fleisch ihres Oberschenkels bearbeiteten, und musste an jenen schrecklichen Moment denken, wo sie beinahe dasselbe getan hatten. Sie erschauderte vor Ekel. Müde und schmerzgeschüttelt, wie sie war, besaß sie nicht mehr die Kraft, ihre Gedanken zu kontrollieren. Und so traf in dem gleichen Augenblick, in dem sie sich mit einem Ruck von Terran abwandte, ihre Abscheu ihn mit der Wucht eines Schlags.

Terran wich instinktiv zurück, verlor sowohl den Halt an ihrer Hüfte als auch den an ihrem Bein. Rialla krümmte sich vor Schmerz, als der Muskel sich wieder zusammenzog und ihr Bein sich unter dem Krampf erneut anwinkelte. Sie kämpfte dagegen an und versuchte alles, konnte jedoch das Bein nicht wieder durchstrecken und gleichzeitig verhindern, dass das Halsband ihr die Luft abschnitt.

Winterseines Pferd mochte zwar daran gewöhnt sein, störrische Sklaven zu führen, doch das Ding, das sich gerade wie verrückt am Boden herumwälzte, war etwas anderes. Der Hengst schnaubte unruhig, dann bäumte er sich auf. Doch er wurde erst so richtig wild, als Riallas Schutzwall zusammenbrach und er mit ihrer ungehemmten Raserei konfrontiert wurde.

Terran zog sein Messer hervor und versuchte das zähe Leder der Leine durchzuschneiden. Winterseine schaffte es irgendwie zu verhindern, dass das Pferd mit ihm durchging, doch sowohl Rialla als auch Terran drohten von den stampfenden Hufen erwischt zu werden.

Terran hatte die Leine fast durchtrennt, als ein besonders harter Ruck – niemand konnte sagen, ob von Rialla oder dem Pferd – das Leder gänzlich durchreißen ließ. Vernünftigerweise gab Winterseine seinem Tier Gelegenheit, sich einige Meter von Terran und Rialla zu entfernen, bevor er daran dachte, es zu beruhigen.

Halb stranguliert sowie blind vor Panik und wegen des zerzausten Haars in ihrem Gesicht, kämpfte Rialla gegen jeden Versuch Terrans an, sich ihr auch nur zu nähern. Hustend schlug sie am Boden liegend um sich und konnte noch immer nicht aufstehen, weil das Bein nach wie vor nicht mitspielte.

In dem Moment drang ein lautes Geräusch an ihr Ohr, als wenn jemand in die Hände klatschte, und dann hörte sie gar nichts mehr.

Eine Welle aus Panik und Schmerz holte Tris aus seinem erholsamen Schlaf, und noch bevor er völlig wach war, stand er schon auf den Beinen. Als ihm klar wurde, dass es Riallas Emotionen waren, die er spürte, versuchte er sie zu rufen, verlangte nach Antworten, doch es war vergebens.

Er fluchte, dann riss er sich zusammen. Er war noch immer zu weit vom Herzen des Waldes entfernt; der Sylvanische Pfad würde länger dauern als das Reiten.

Grimmig zurrte er den Sattelgurt fest und bestieg sein Pferd. Egal, was eben geschehen war, er würde sie niemals rechtzeitig erreichen. Er war noch mindestens einen halben Tagesritt von ihr entfernt – sofern sie dort blieb, wo sie gerade war. Tris presste dem Grauen seine Waden gegen die Seiten, und der Wallach wechselte fast spielerisch in einen starken Galopp.

Von irgendwoher wurde ihr Name gerufen. Etwas an der Stimme sorgte dafür, dass Rialla sich aus der Dunkelheit herauskämpfte, die sie umgeben hatte. Doch gerade, als sie die Benommenheit abgeschüttelt hatte, gab Tris seine Kontaktaufnahmeversuche auf.

In ihrem treulosen Bein brummte ein dumpfer Schmerz, der zu dem in ihrem Kiefer passte. Sie nahm an, dass Terran sie geschlagen hatte, um sie ruhigzustellen. Die Haut an Kehle und Nacken brannte unter dem Sklavenhalsband, und ihr Rachen tat beim Schlucken mörderisch weh. Ihre Wange, eine Schulter und das heile Bein zeigten Abschürfungen, da Winterseine sie ein Stück mit seinem Pferd hinter sich hergeschleift hatte. Doch trotz all dieser Blessuren war sie in besserer Verfassung, als es eine verdiente, die sich wie eine Idiotin benommen hatte.

Langsam öffnete sie die Augen, setzte sich auf und rieb sich das schmerzende Kinn. Sie konnte nicht lange bewusstlos gewesen sein, weil Terran und sein Vater noch immer versuchten, Winterseines Wallach zu beruhigen. Terrans Pferd und das Packtier waren nicht auf der Lichtung zu sehen.

Falls sie auf ihr Bein vertrauen konnte, könnte sie sich jetzt in den Wald davonstehlen und Terrans Stute zu sich rufen. Zu Pferde war es ihr dann vielleicht möglich, den beiden zu entkommen. Als sie sich aufrichtete, machte der Muskel in ihrem Oberschenkel erneut Anstalten, sich zu verkrampfen, also verwarf sie den Fluchtplan wieder. Ihre Zeit würde schon noch kommen.

Als Winterseines Pferd endlich stillstand, waren die Flanken und die Schulter mit Schaum bedeckt – die Spuren seines heftigen Kampfes. Der Wallach hielt den Kopf gesenkt, während sich sein Brustkorb unter schwerem Atmen hob und senkte.

Winterseine untersuchte das Tier flüchtig auf Verletzungen, dann saß er auf. »Ich gehe deine Stute und das Packpferd suchen. Du wartest hier bei der Sklavin und sorgst dafür, dass sie bleibt, wo sie ist.«

Terran nickte und sah seinem Vater nach, bis er im Wald verschwunden war. Rialla hätte ihnen sagen können, dass er in der falschen Richtung suchte, aber ihre Zuvorkommenheit hielt sich momentan in Grenzen.

Als Winterseine außer Sicht war, ging Terran zu Rialla hinüber. »Geht’s dir gut?«, fragte er, nachdem er sich neben ihr hingekniet hatte.

Er war zu nahe, und Rialla versteifte sich leicht, doch sie nickte. Terran wollte gerade wieder das Wort ergreifen, als er innehielt. Er drehte ihre abgeschürfte Wange ins Sonnenlicht, um sie sich genauer anzuschauen.

Rialla fiel auf, dass die Kratzer nun nicht mehr schmerzten, stattdessen verspürte sie nur ein warmes Kribbeln unter der Haut. Sie entzog sich seinem Griff und schaute hinab auf ihren Arm, der eigentlich von der Schulter bis zum Handgelenk mit Schürfwunden bedeckt sein sollte. Die Wunden waren noch da, doch sie verblassten zusehends, bis alles, was ihre Haut noch verunzierte, ein bisschen Schmutz war.

Verwirrt starrte sie auf ihren Arm, versuchte, ihre konfusen Gedanken zu ordnen.

»Wie machst du das?«, fragte in diesem Moment Terran, und es lag ein Hauch von Faszination in seiner Stimme.

Verständnislos blinzelte ihn Rialla an. »Was?«

»Das da!« Terran packte ihr Handgelenk und schüttelte es vor ihrer Nase. »Wie heilst du dich selbst?«

»Aber das tue ich nicht.« Sie schüttelte den Kopf und entzog sich abermals seinem Griff. Das würde sich eine Sklavin zwar nie herausnehmen, aber sie konnte seine Berührung einfach nicht mehr ertragen. »Ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht.«

»Vater sagt, du bist Empathin. Was bist du außerdem?«, hakte Terran nach und beugte sich zu ihr vor. »Da ist eindeutig Magie mit im Spiel, aber nichts, von dem ich je gehört hätte. Also, was genau bist du?«

Rialla wich vor ihm zurück und flüsterte: »Ich weiß nicht, wovon Ihr redet.« Sie beschloss, in die Offensive zu gehen. Nach der Sache mit dem Muskelkrampf musste Terran sie für ein bisschen hysterisch halten. Daher setzte sie mit leicht schriller Stimme hinzu: »Und ich weiß auch nicht, was Ihr da mit mir macht …«

Sie musste ihn unbedingt von sich ablenken, also benutzte sie ihre Gabe, um sein Pferd ausfindig zu machen. Die Stute weidete bei einem nahegelegenen Flecken mit Weizengras. Rialla musste nicht viel tun, um sie dazu zu bewegen, auf die Lichtung zurückzukehren, weil das kleine Tier seinen Reiter liebte. Fast widerstandslos ließ es von seinem Mahl ab und machte sich auf den Rückweg; das Lasttier folgte ihm auf dem Fuße.

»Ich mache gar nichts. Das bist du. Ich kann doch die Heilmagie spüren, die in dir ist.« Es lag Überzeugung in seiner Stimme, aber auch ein Hauch von Verwunderung. »Ich hörte von Wesen, die in den Wäldern des Nordens leben und über dieselben Heilfähigkeiten verfügen. Sag, bist du eine Gestaltwandlerin?«

Rialla schaute ihn entgeistert an. Sie wusste doch selbst am besten, dass sie über keine magischen Fähigkeiten gebot. Und doch merkte sie, dass sich Terran seiner Einschätzung sehr sicher zu sein schien. Nein, er wusste, dass sie sich selbst geheilt hatte. Und sie wusste, dass das eigentlich nicht sein konnte.

Tris indes beherrschte diese Kunst, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass er so dumm war, sie aus der Ferne zu heilen, wo er doch nie wissen konnte, wer dabei alles zugegen war. Er hätte kaum so lange in Darran überlebt, wenn er so leichtsinnig wäre.

Völlig entspannt trottete die graue Stute auf die Lichtung, gefolgt vom treuen Packpferd. Sie wieherte leise, als sie Terran entdeckte, und rieb voller Freude ihre Nase an ihm.

Ohne seinen Blick von Rialla abzuwenden, griff Terran hinauf und streichelte den Kopf der Stute. »Gutes Mädchen«, flüsterte er ihr zu.

Rialla zog die Beine an und schlang die Arme darum. Dann legte sie das Gesicht auf ihre Knie, schloss die Augen und versuchte Terran auszusperren. Nach einer Weile spürte sie, wie seine Präsenz verblasste. Er schlug nun ohnehin die Zeit bis zum Eintreffen seines Vaters tot, und sie war dankbar dafür.

Tris?, rief sie.

Seine Antwort erfolgte schwach, doch der Gedankenstrom riss nicht ab. Sie konnte seine Erleichterung spüren. Geht es dir gut? Was ist geschehen?

Ja, ich bin in Ordnung. Glaube ich wenigstens. Tris, hast du mich gerade eben geheilt?

Was?, kam es zurück. Bevor Rialla ihm erklären konnte, was passiert war, erreichte sie von seiner Seite ein Moment plötzlichen Begreifens, gefolgt von einem kurzen Aufflackern von Schuld.

Es ist alles gut, sagte Tris. Du musst dir keine Sorgen machen. Erinnerst du dich an das Band, das ich zwischen uns geknüpft habe, damit wir uns über die Entfernung hinweg austauschen können?

Ja, erwiderte sie.

Die Heilung ist ein Resultat dieser Verbindung.

Was? Sie ließ ihn an ihrer Ratlosigkeit angesichts dieser mageren Erklärung teilhaben.

Die Magie, die ich benutze, ist nicht wie die, welche Menschen zum Einsatz bringen, erklärte er. Sie erfordert manchmal wenige bis gar keine Maßnahmen, um zu funktionieren.

Sie versuchte sich klar zu machen, was das bedeutete. Willst du damit sagen, ein Teil deiner Magie hätte eigenmächtig beschlossen, einige meiner Kratzer und Beulen direkt vor Terrans Nase zu heilen, ohne dass du irgendwas dazu getan hättest? Und dass es wieder und wieder geschehen mag, ohne dass wir etwas dagegen unternehmen könnten?

Einige ihrer Emotionen mussten bis zu Tris durchgedrungen sein, denn als er ihr antwortete, war er spürbar darum bemüht, sie zu beschwichtigen. Ich hätte dich davor warnen müssen, aber ich hatte nicht erwartet, dass es schon so bald geschieht. Ich kann die Heilung natürlich kontrollieren, aber ich war mir nicht darüber im Klaren, dass ich es überhaupt tun muss.

Du wusstest, dass das passieren würde? Was soll das heißen? Und was kommt da noch auf mich zu? Rialla wusste kaum zu sagen, wie sie sich angesichts dieser Entwicklung fühlte; es war eine Mischung aus Verärgerung und Bestürzung.

Wieder erreichte sie ein Gefühl von Schuld seitens Tris. Ich hätte es dir vorher sagen müssen. Es tut mir leid. Ich schätze, es ist gerade ein schlechter Zeitpunkt, die Sache näher zu erörtern, aber wenn wir dies hier hinter uns haben, werde ich dir alles ganz genau erklären.

Rialla schlug die Augen auf, sah, dass Terran in ihre Richtung starrte. Sie vergrub ihr Gesicht wieder in ihren Armen und sagte: Das muss mir einstweilen wohl als Erklärung reichen.

Ohne noch einmal zu Terran zu schauen, begann sie ihr lädiertes Bein zu bearbeiten. Tris’ Magie hatte sich zwar des verkrampften Muskels angenommen, aber sie musste sich unter Terrans ständiger Beobachtung normal verhalten. Ob er wohl ahnte, dass sie mit jemandem Kontakt aufgenommen hatte?

Endlich kehrte Winterseine von seiner Suche zurück; er wirkte nicht sonderlich amüsiert. Und als er sah, dass die Pferde von selbst wiedergekommen waren, trug das nicht eben zur Hebung seiner Stimmung bei.

»Diese blöden Biester«, schimpfte er, als er sich mit einiger Eleganz von seinem Pferd schwang. »Jetzt können wir die Nacht genauso gut hier verbringen. Es zieht ein Sturm auf, und wir würden es vor Einbruch der Dunkelheit ohnehin nicht zur Burg schaffen.«

Rialla war nicht bewusst gewesen, wie nah sie Winterseines Feste bereits waren.

Während Terran sich um das Lagerfeuer kümmerte und einen weiteren Wanderereintopf aus Dörrfleisch zubereitete, lud sein Vater die Pferde ab und pflockte sie in der Nähe an.

Da sich niemand mehr um sie scherte, beschloss Rialla, die Zeit zu nutzen und ein Bad im Bach zu nehmen. Sie entledigte sich ihrer Schuhe, bevor sie, ansonsten voll bekleidet, ins kühle Nass watete.

Zitternd vor Kälte setzte sie sich ins knietiefe Wasser und schrubbte sich die Dreck- und Schweißschicht ab, die sich in den Tagen ihrer wahnsinnigen Verfolgungsjagd durch die Wälder auf ihrer Haut gebildet hatte. Als sie sich wieder sauber fühlte, war ihr ganzer Körper taub vor Kälte, aber das war es wert gewesen. Es war noch immer warm genug, dass ihre Kleidung an der Luft trocknen konnte und sie nicht in feuchten Sachen schlafen musste. Andererseits würde es, wenn sie die schwarzen Wolken am Himmel so betrachtete, heute Nacht wohl regnen.

Sie trat ans Ufer des Bachs und wrang das Wasser aus dem Saum ihrer Tunika. Sie nahm an, dass der Stoff nach dem Trocknen fleckig bleiben würde, aber wenigstens roch er nicht mehr so streng.

»Rialla.«

Zögernd drehte sie sich zu Terran um, der neben dem kleinen Lagerfeuer mit den Kochutensilien hantierte. Winterseine war noch immer mit den Pferden beschäftigt.

»Links von dir stehen ein paar wilde Zwiebeln. Könntest du sie mir pflücken? Und wenn du noch was findest, mit dem wir den Geschmack des Eintopfs verbessern könnten, nur zu.«

Erleichtert ging Rialla auf die Knie und tat, wie ihr geheißen. Einmal auf die Zwiebeln aufmerksam gemacht, waren sie leicht zu finden. Sie mochte sie zwar nicht in ihrem Essen, aber sie erntete trotzdem zwei Hand voll. Danach schaute sie sich um und entdeckte im Schatten eines kleinen Strauchs eine ihr bekannte Pflanze.

Sie ging hinüber und untersuchte die Stelle. Das Kraut sah aus wie das, welches Tris »Weiße Mönchskutte« genannt hatte. Die Weiße Mönchskutte war, wie der Heiler ihr verraten hatte, auch ein äußerst wirksames Schlafmittel. Sie haderte mit sich, doch die Aussicht darauf, schon morgen wieder bei Winterseines Burg einzutreffen, verlieh ihr Mut.

Da Rialla nicht wusste, wie viel Mönchskutte es brauchte, um einen Menschen in Tiefschlaf zu versetzen, sammelte sie kurzerhand alle Blätter ein, die sie finden konnte. Neben den Zwiebelknollen würde das Kraut vielleicht Verdacht erregen, doch sie fand auch etwas Löwenzahn in der Nähe, dessen lanzenförmige Blätter denen der Mönchskutte ein wenig ähnlich sahen.

Sie ging wieder zum Bach und wusch Zwiebeln und Blätter, bevor sie ihre Ausbeute in den Eisenkessel über dem Lagerfeuer warf. Terran dankte ihr mit einem Nicken und rührte weiter in dem Eintopf herum.

Rialla zog sich so weit zurück, wie sie sich traute, und setzte sich auf einen Baumstumpf. Dort fuhr sie sich mit den Fingern durch das feuchte Haar, bis sie es sich aus dem Gesicht flechten konnte. Leider hatte sie nichts, um die Zöpfe abzubinden, aber für eine Weile würde ihre Frisur vielleicht trotzdem halten.

Durch die klammen Kleider auf ihrer Haut fühlte sich die Luft kälter an, als sie tatsächlich war. Zudem frischte der Wind aufgrund des heraufziehenden Sturms spürbar auf. Und doch war es nicht die Kälte, sondern die Sorge, die sie zittern und die Arme um sich schlingen ließ. Sie konnte nur hoffen, dass die Mönchskutte während des Kochvorgangs nicht anfing, verdächtig zu riechen oder sich ungewöhnlich zu verfärben.

Je näher der Abend rückte, umso mehr zog sich der Himmel im Zeichen des nahenden Sommersturms zu. Als Terran sie zum Essen rief, war es schon fast dunkel, und der Wind blies nun stärker.

Nach dem Abendessen schnappte sich Rialla die Schalen und den Topf und brachte sie zum Spülen an den Bach. Sie ließ sich mit dem Säubern ausgiebig Zeit; vielleicht würden die beiden Männer ja einschlafen, bevor Winterseine sie wieder fesselte.

Als sie ans Lagerfeuer zurückkehrte, löste sich der Funken Hoffnung, den sie gehabt hatte, in Nichts auf. Klar umrissen vor dem Schein der Flammen saß Winterseine gemütlich auf einem großen Felsen und warf spielerisch sein Messer in die Luft. In der Ferne wurde Donnergrollen laut.

Langsam ging Rialla zu dem Gepäck hinüber, das Winterseine am Boden aufgestapelt hatte, und verstaute das Geschirr. Mit möglichst ausdruckslosem Gesicht trottete sie alsdann zur Feuerstelle zurück.

»Sklavenmädchen«, gurrte Winterseine mit sanfter Stimme.

Fragend sah sie ihn an, misstraute zutiefst der Zufriedenheit in seiner Stimme.

»Magier gebrauchen eine Menge Kräuter für ihre Sprüche, wusstest du das?« Er lächelte sie an.

Riallas Herz sank, aber sie zeigte keine Regung und schüttelte den Kopf.

»Die Weiße Mönchskutte besitzt einen unverwechselbaren Geschmack, fast ein wenig minzig. Die Zwiebeln hatten das Aroma zunächst überdeckt, sodass ich das Kraut fast nicht herausgeschmeckt hätte. So wie Terran dort drüben.« Winterseine nickte in Richtung des Feuers.

Rialla wandte sich um und sah, dass Terran eingerollt am Boden lag – tief und fest schlafend.

»Andererseits ist er aber auch kein Magier. Ich muss dir danken, Sklavenmädchen.« Winterseines Stimme ließ Rialla wieder herumfahren. »Schon geraume Zeit versuche ich, Terran in genau solch eine Lage zu bringen. Mein armer Tamas ist ganz eingenommen von diesem Altis-Kult, den mein Sohn ins Leben gerufen hat. Insofern wäre es sinnlos gewesen, ihn zu bitten, Terran zu vergiften, so wie er es schon bei meinem Neffen Karsten versucht hat.«

Wieder wurde das Messer in die Luft geworfen, wo es sich mehrmals drehte, um von der geschickten Hand des Magiers wieder aufgeschnappt zu werden. Ein Blitz durchzuckte den Abendhimmel, während der Sturm sich unaufhaltsam näherte.

»Es tut mir leid, aber Terran scheint vergessen zu haben, dass auch andere bestimmte Ziele verfolgen«, fuhr Winterseine fort. »Er ist so in seinem eigenen Mythos gefangen, dass er darüber die eher weltlichen Probleme vergisst.« Traurig schüttelte er den Kopf. »Er war mir böse, weil ich Karsten ermordete, hoffte, ich würde aufgeben, als die Sache mit dem Sumpfbiest fehlschlug.«

»Aber die Ablenkung erfüllte ihren Zweck, und Karsten starb«, setzte Rialla hinzu.

Winterseine lachte auf. »Das Ding sollte Karsten erledigen, nicht als Ablenkung fungieren. Ich hatte es mit einem Fluchgelübde belegt, doch es konnte das Biest leider nicht davon abhalten, sich der Empathin zuzuwenden. Irgendwie hat Terran von meinen Plänen erfahren. Ich habe nicht verstanden, warum er wollte, dass wir eine halb ausgebildete Sklavin zu Karstens Feier mitbringen – nicht, bis die Kreatur in jener Nacht dich angriff. Auch dieses Mädchen war eine Empathin gewesen. Nachdem sie sich das Leben genommen hatte, muss Terran sich daran erinnert haben, dass du ebenfalls eine Empathin bist. Und so beschloss er, statt ihrer dich zu benutzen, um das Fluchgelübde zu brechen.« Je wütender Winterseine wurde, umso ruhiger wirkte er nach außen. »Er dachte wohl, ich würde nicht töten, wenn ich es eigenhändig tun müsste. Wie dumm von ihm. Was glaubt er denn, wie mein Vater zu Tode kam. Durch einen Jagdunfall?«

Winterseine sprach nun mehr zu sich selbst als zu Rialla. Sie hoffte, er würde irgendwann einen Grad an Unaufmerksamkeit erreichen, der es ihr erlaubte, sich davonzustehlen. In der Dunkelheit des Waldes vermochte sie sich eine ganze Weile vor ihm zu verstecken.

»Wenn Terran tot ist«, sinnierte Winterseine weiter, »werde ich wohl Tamas nach Sianim entsenden, um meinen Neffen Laeth zu vergiften. Auch Lord Jarroh könnte sich als Problem erweisen, aber einer seiner Diener hat bereits gewisse Aufgaben für mich erledigt, da kommt es auf eine mehr oder weniger auch nicht mehr an.« Winterseine grinste zufrieden, und Rialla lief es eiskalt über den Rücken. Sie war zu weit entfernt, um den Wahnsinn, der unter seiner Oberfläche lauerte, empathisch zu berühren, aber sie konnte ihn in den Augen des Mannes glitzern sehen – des Mannes, der so beiläufig davon sprach, sein eigen Fleisch und Blut zu ermorden.

»Cerric, unser kleiner Kronprinz, hat keine legitimen männlichen Erben. Nach zehn Jahren oder so, in denen ich als sein Reichsvikar die laufenden Geschäfte fortgeführt haben werde, wird Darran schon ganz nach meinen Vorstellungen umgestaltet worden sein. Und wenn Cerric dann unerwartet stirbt, ist es nur folgerichtig, dass ich ihm als König auf den Thron nachfolgen werde. Immerhin ist die Blutlinie meiner Familie mit der des königlichen Hauses verknüpft. Vielleicht wäre es aber auch besser, wenn Cerric einfach nur verrückt würde, sodass man ihn lebenslang wegsperren müsste. Nun ja, ich werde die Dinge einfach auf mich zukommen lassen …«

Winterseine schwieg, hielt das Messer einen Moment lang in seiner Hand, bevor er es in Richtung seines Sohnes warf. Es bohrte sich in den Boden, direkt neben Terrans Kopf. Er blickte wieder zu Rialla. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück, und Winterseine grinste wieder. Dann griff er nach einem Beutel, den er am Gürtel trug.

»Die Vorstellung, Terran zu töten, hat mir schon ein wenig Kopfzerbrechen bereitet. Gewiss hast du schon die Geschichten gehört, in denen es um die Wiederkunft der alten Götter geht?« Offenbar erwartete er eine Antwort von Rialla, grämte sich aber nicht weiter deswegen, als die nicht erfolgte.

»Unglücklicherweise sind diese Geschichten wahr«, plauderte Winterseine weiter. »Terran scheint tatsächlich eine Art Verbindung zum Gott Altis zu unterhalten. Zunächst dachte ich, es könnte mir nur zum Vorteil gereichen, einen so machtvollen Sohn zu haben.« Winterseine schüttelte den Kopf. »Aber ich kann ihm nicht einfach die Führung überlassen. Meine produktivsten Jahre habe ich damit zugebracht, mich dem ae’Magi zu beugen. Als der starb, stahl ich die Schlüssel zu den Meisterzaubern, damit ich nicht noch einmal in so eine Lage kommen würde. Und jetzt soll ich mich Terrans Kontrolle unterwerfen? Terrans?« Wütend spie er den Namen seines Sohnes aus, bekam sich aber rasch wieder in den Griff und setzte leise hinzu: »Ich entdeckte, dass Altis meinem Sohn zwar Macht verleiht, er aber nicht die ganze Zeit über ihn wacht. Der hier …« Winterseine zeigte Rialla einen Silberring, den er am Finger trug. Es war derselbe, den Tris und sie in dem ausgehöhlten Buch in seinem Arbeitszimmer entdeckt hatten. »Der hier lässt mich wissen, wann mein Sohn unter dem Schutz seines Gottes steht und wann nicht. Im Moment zum Beispiel ist er gänzlich wehrlos.

Würde ich Terran allerdings selbst töten, so wie im Fall von Karsten, würde Altis mich vernichten – herauszufinden, wer ein Messer geführt oder einen Trank verabreicht hat, ist doch ein Kinderspiel, selbst für eine Dorfhexe. Aber es gibt andere Mittel und Wege.« Während er sprach, hatte Winterseine den Beutel geöffnet und vier sorgfältig zusammengelegte Stoffbündel herausgeholt. Diese entfaltete er nun, doch es war zu dunkel für Rialla, um zu sehen, was für Ingredienzien sich darin verbargen. Nun schüttete Winterseine die Substanzen auf einem der Tücher zusammen.

»Natürlich werde ich wegen des Todes meines Sohnes am Boden zerstört sein. Man wird sich erzählen, er wurde von einer geflohenen und wieder eingefangenen Sklavin im Schlaf erstochen, nachdem er und sein Vater in der Wildnis ihr Lager aufgeschlagen hatten. Nun, es ist ja nicht so, als hätte ich ihn nicht vor so etwas gewarnt. Ich, der trauernde Vater, habe die Sklavin daraufhin selbstverständlich getötet. Aber Rache ist kein Ersatz für einen verlorenen Sohn.« Sein breites Grinsen strafte seinen kummervollen Ton Lügen. Dann sagte er etwas in einer Sprache, die Rialla nicht verstand, und blies die Substanzen, die sich auf dem Tuch befanden, in ihre Richtung.

»Nimm das Messer und töte ihn damit«, befahl Winterseine mit eiskalter Stimme.

Rialla machte einen Schritt auf Terran zu, dann hielt sie inne. Sie biss sich auf die Lippe in dem Versuch, sich gegen Winterseines Befehl aufzulehnen.

»Nimm das Messer und töte Terran«, wiederholte Winterseine und gestikulierte dazu.

Zwei weitere Schritte, dann umfasste ihre Hand den Griff des Messers. Es fühlte sich schwer an, schwerer als eine Waffe dieser Größe eigentlich wiegen sollte. Sie versuchte sie fallen zu lassen, doch ihre Finger klebten förmlich an dem Heft.

»Töte ihn.« Sie konnte Winterseine von ihrer Position aus nicht mehr sehen; ihr Blick war ganz auf Terrans Gesicht fixiert, doch von einem unheimlichen Zwang getrieben erhob sie das Messer. Sie hoffte, dass Tris nah genug war, um sie zu hören, also rief sie wortlos nach ihm.

Rialla? In den Sekunden, die sie brauchte, um neben Terran niederzuknien, war es Tris gelungen, die ganze Situation zu erfassen und … Rialla fühlte, wie sie von Stärke erfüllt wurde.

Schwankend richtete sie sich wieder auf und wich einen Schritt von dem schlafenden Propheten zurück. Dann warf sie das Messer ins Feuer. Sie fuhr herum und sah, wie Winterseine mit wutverzerrtem Gesicht auf die Füße sprang.

»Wer bist du, Sklavenmädchen?«, verlangte er zu erfahren, ohne zu wissen, dass er ihr mit ähnlichen Worten die gleiche Frage stellte wie schon vorher sein Sohn.

Sie lächelte ihn an. »Ich bin Rialla, Pferdeausbilderin aus Sianim.«

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