6

Die Sonne hatte ihre Reise gen Westen fast beendet, als Rialla erwachte. Sie fühlte sich immer noch zerschlagen, und ihr Bein schmerzte. Mit dem Instinkt der Gejagten wusste sie im gleichen Moment, dass sie von einer Stimme aus ihrem Genesungsschlaf geweckt worden war. Noch einmal schloss sie die Augen und lauschte.

Draußen im Vorraum waren Leute; sie konnte sie reden hören. Als sie sich der Tür zum Schlafzimmer näherte, konnte sie Winterseines Stimme ausmachen. Als Erster betrat Terran den Raum, dicht gefolgt von Winterseine und Tris.

»Darf ich mir die Wunde mal ansehen?«, fragte Winterseine. »Nicht dass ich Eurer Heilkunst misstraue, aber ich möchte mir gern selbst ein Bild machen. Wenn sie sichtbare Narben zurückbehält, ist sie für uns nicht mehr von Nutzen.«

Wortlos schlug Tris die Bettdecke zurück und schnitt den ungebleichten Verbandstoff von Riallas Bein. Die Entzündung war abgeklungen, und die sorgfältig gesetzten Stiche verliefen über die ganze Länge ihres Oberschenkels. Die Wunde war zwar noch nicht vollständig verheilt, ihr Zustand aber auch nicht mehr als ernst zu bezeichnen.

Winterseine wirkte beeindruckt. »Da habt Ihr gute Arbeit geleistet, Heiler. Was habt Ihr unternommen, um das Gift aus dem Körper zu ziehen?«

Tris starrte den Adligen gerade so lange an, dass es an Unehrerbietigkeit grenzte, dann erwiderte er: »Einen Wickel.«

Winterseines Mund verzog sich zu einem Lächeln, aber seine Augen waren nicht daran beteiligt. »Wir haben alle unsere Geschäftsgeheimnisse, nicht wahr?«

»Wann wird sie in der Lage sein zu reisen?«, unterbrach nun Terran die angespannte Atmosphäre im Zimmer. Rialla hatte seine Anwesenheit fast vergessen; er gehörte zu den Menschen, über die man sofort hinwegsah, sobald sie einen Raum betreten hatten.

»Das kommt auf die Art der Reise an«, antwortete Tris so sachlich wie möglich. »Sie könnte in einer Woche schon reiten. Wenn Ihr einen Wagen habt, wäre sie bereits in zwei oder drei Tagen transportfähig, obwohl fünf besser wären. Reist sie erst in einer Woche, ist das Risiko, dass sich die Wunde wieder entzündet, natürlich geringer.«

Lord Winterseine nickte und fuhr mit dem Finger an der Naht entlang, um das frische Narbengewebe auf versteckte Entzündungen hin abzutasten. Rialla, die ihr unbeteiligtes Sklavengesicht aufgesetzt hatte, spürte, wie Tris mit einem Mal unsagbar wütend wurde. Überrascht angesichts der ersten direkten Emotion, die sie von dem Heiler empfing, hob sie kurz den Blick und sah ihn an. Der Ausdruck auf seinem Gesicht hatte sich nicht geändert; wie es schien, war sie nicht die einzige Person, die imstande war, ihre Gefühle von der Außenwelt abzuschotten. Im nächsten Moment schon verebbte die von ihm ausgehende Zorneswelle, und er wirkte so verschlossen wie eh und je.

»Sehr gut«, meinte Lord Winterseine. »Dann kommen wir sie in einer Woche holen. So lange wird es ohnehin dauern, bis alle anderen Angelegenheiten geregelt sein werden.«

»Doch vergiss nicht, Vater«, bemerkte Terran, »dass wir dann auch zügig aufbrechen müssen. Wie du weißt, erwarten wir auf Feste Winterseine in vierzehn Tagen eine Lieferung. Eine Woche können wir noch hier verweilen, aber keinesfalls länger.«

Ihre Rolle vergessend, starrte Rialla Winterseines Sohn an. Glücklicherweise bekam es niemand mit. Mit aller Kraft richtete sie ihre Gabe auf ihn, doch nichts kam zurück. Lord Winterseines Geist war undurchlässig, doch sie konnte seine Aura spüren. Mit Tris, darüber war sie sich im Klaren, verhielt es sich ganz anders, doch Terrans Präsenz war für sie beim besten Willen nicht erfassbar.

»Ja, natürlich.« Lord Winterseine wandte sich an den Heiler und fügte hinzu: »Ich hoffe, es bereitet Euch keine allzu großen Umstände, wenn Ihr sie bis zu unserer Abreise hierbehaltet?«

»Nein«, erwiderte Tris. »Ich werde Euch meine Rechnung beizeiten zukommen lassen. Habt Ihr die beglichen, könnt Ihr Eure Sklavin mitnehmen.«

»Gewiss, gewiss«, meinte Winterseine. »Schickt sie doch bitte zu Händen meines Sohns.« Er verließ das Krankenzimmer. Terran und der Heiler folgten ihm nach draußen.

Nachdenklich streckte sich Rialla auf dem Bett aus. Nie zuvor war sie jemandem begegnet, den sie rein gar nicht zu erfassen imstande gewesen war. Tatsächlich waren in dieser Hinsicht in letzter Zeit einige seltsame Dinge passiert: erst der Heiler und jetzt Terran. Konnte es sein, dass ihre Gabe doch nicht so zuverlässig funktionierte, wie sie gedacht hatte?

Tris wollte den Schlafraum gerade wieder betreten, als ein Klopfen an der Eingangstür ihn innehalten ließ. Er lächelte, hob entschuldigend die Schultern und schloss die Tür zum Hinterzimmer.

Rialla bekam mit, wie er draußen den Hundewelpen eines kleinen Mädchens mit Salbe behandelte, den gebrochenen Arm eines Bauern schiente und auch noch für einen Aushilfsarbeiter sorgte, der dem verletzten Bauern bis zu dessen Genesung zur Hand ging. Dann kam eine besorgte Frau, die irgendwas über ihr Kindchen murmelte – Rialla war nicht sicher, ob es um ihren Sprössling oder eine Ziege ging. Mit ihr zusammen verließ Tris die Hütte.

Rialla schlief so lange wie möglich und spielte dann einige Partien »Drachenraub« gegen sich selbst, bis ihr langweilig wurde. Kurz vor Sonnenuntergang kam Tris zurück nach Hause, wurde dann aber zum Schmied gerufen, dessen Frau Probleme bei der Geburt ihres dritten Kindes hatte.

Angespannt schlug Rialla in der totenstillen Hütte die Bettdecke zurück und humpelte zum Fenster. Die Fensterbank war breit, also kauerte sie sich auf ihr zusammen und starrte in die Nacht hinaus. Das war nur unwesentlich besser, als wieder und wieder die siebenundfünfzig Deckentafeln aus Holz durchzuzählen, die von vierhundertzwölf Nägeln zusammengehalten wurden.

Wieder wurde sie unruhig und ging durchs Zimmer. Sie hatte keine Ahnung, wie sie die Wandlaternen entzünden konnte; irgendwo musste Tris einen Feuerstein haben, aber er schien so gut versteckt, dass sie ihn nicht finden konnte. Zweimal durchsuchte sie beide Räume, mehr aus Langeweile als aus dem Bedürfnis heraus, das Innere der Hütte auszuleuchten. Der Mond schien durch das Fenster und erhellte die Zimmer fast so gut wie jede Laterne.

Schließlich stand sie vor der vertäfelten Wand im Schlafzimmer. Es dauerte eine Weile, bis sie den Hebel für das Geheimversteck fand, doch nicht halb so lange, wie es dauerte, ihre Skrupel zu überwinden. Sie beruhigte ihr schlechtes Gewissen damit, dass Tris ihnen die Geheimtür ja nicht gezeigt hätte, wenn niemand davon hätte erfahren sollen. Schließlich glitt die Tür auf und offenbarte des Heilers Schätze.

Die meisten Waffen, die hier gehortet wurden, hatte Rialla selbst schon benutzt oder in Benutzung gesehen, doch ihr Interesse wurde von einem kurzen, halb ausgehöhlten Stecken geweckt, dessen Spitze sich wie ein Widerhaken dem Betrachter entgegenbog. Sie setzte sich auf den Boden und schaute sich das seltsame Ding genauer an.

»Das ist eine Speerschleuder.« Tris klang erschöpft, als er sie unter dem Türdurchgang stehend ansprach und gleichzeitig mit einer Geste für Beleuchtung im Raum sorgte. »Der Mann, der sie für mich hergestellt hat, nannte diese Waffe Atlatl. Wenn du dich in dem Kämmerchen genauer umsiehst, wirst du fünf kleine Speere finden, die genau in die Mulde des Stabs passen. Dann schleudert man den Speer mithilfe des Schafts so auf das Ziel, wie man es mit einem Wurfspieß machen würde. Das Ganze ist natürlich nicht so genau wie Pfeil und Bogen, aber schneller einsatzbereit und besser vor neugierigen Blicken zu verbergen.«

Rialla nickte und versuchte, nicht so schuldbewusst zu wirken, wie sie sich fühlte. Schweigend legte sie die Speerschleuder wieder zurück an ihren Platz. Sie kam wieder auf die Füße, doch verzog schmerzhaft das Gesicht, als sie ihr verletztes Bein belastete.

»Hattet Ihr Gelegenheit zu essen?«, fragte sie Tris und sah ihn nun direkt an. »Ich habe mir erlaubt, Eure Speisekammer zu inspizieren. Am Fuß des Bettes steht ein Teller mit Käse und Schinken.«

»Danke«, sagte er. Er ließ sich auf der Bettkante nieder und starrte den Teller geistesabwesend an. Er musste sich draußen am Bach gewaschen haben, denn sein Leinenhemd war an Ärmeln und Kragen nass.

»Wie ist die Geburt gelaufen?«, fragte sie. Sie setzte sich neben dem Bett auf den Boden, da er nicht gewillt schien, ihr auf der Matratze Platz zu machen.

»Nicht gut.« Er schüttelte den Kopf und betrachtete das Stück Käse in seiner Hand, als hätte es sich gerade in etwas ganz anderes verwandelt. »Es waren Zwillinge, und das erste Kind lag verkehrt. Es starb, noch bevor ich im Haus des Schmieds eintraf. Das zweite ist sehr klein, doch das Heim der Familie ist sauber und warm. Es sollte durchkommen.«

Rialla sah, dass der Tod des ersten Kindes ihn mehr mitnahm als seine Erschöpfung. Sie nahm sich ein Stück Ziegenkäse und knabberte daran, während sie darüber nachdachte, wie sie ihn ein bisschen ablenken konnte.

»Sagt mir, wie seid Ihr hier in Tallonwald zum Heiler geworden?«, fragte sie schließlich. »Es heißt doch, dass Gestaltwandler gern unter sich bleiben.«

Er sah sie an und wirkte leicht belustigt. »Ich bin kein Gestaltwandler. Gestaltwandlern gefällt es, Jungfrauen zu verspeisen, die leichtsinnigerweise allein im Wald umherwandern. Allerdings«, so setzte er hinzu und biss nun genussvoller ein Stück von seinem Käse ab, »heißt das nicht, dass sie dieses Schicksal nicht verdienen. Dumme kleine Mädchen, die allein im dunklen Forst herumspazieren, sind leichte Beute für jeden, der ihren Weg kreuzt – sei es nun ein Raubtier, ein Mensch oder eben ein Gestaltwandler. Und die Moral von der Geschicht’«, er schob sich ein Stück Schinken in den Mund, »sei keine dumme Jungfer nicht.«

Rialla grinste ihn an. »Danke für den Rat, werd’s mir merken. Also, was seid Ihr, und warum seid Ihr hier? Ich meine, wenn man sich schon mit den Menschen verbrüdert, sollte man sich doch vielleicht solche aussuchen, die einen nicht gleich auf den Scheiterhaufen werfen, sobald man Magie wirkt.«

Er verschlang ein weiteres Stück Schinken. »Ich heile die Menschen.«

Sie verdrehte die Augen, schnappte sich den Teller und verbarg ihn hinter ihrem Rücken. »Kein Schinken mehr, bis Ihr mir nicht die Wahrheit erzählt habt.« Eine Sache spielerisch anzugehen, war für Rialla eine lang vergessene Kunst, aber das schelmische Funkeln in seinen Augen machte ihr Mut.

Betrübt starrte er auf den Rest Schinken in seiner Hand und jammerte: »Dann werde ich verhungern …«

Sie ließ sich nicht erweichen, besonders da er inzwischen viel weniger müde aussah als bei seiner Heimkehr und die Sorgenfalten um seinen Mund verblasst waren. »Ihr braucht mir nur zu sagen, was ich wissen will.«

Er lehnte sich zurück an die Wand und verschränkte die Arme vor seiner Brust. »Mit Folter wird man mir meine Geheimnisse nicht entlocken.«

Sie nahm ein Stück Käse und winkte einladend damit. »Und was ist mit Bestechung?«

»Könnte funktionieren«, meinte er. »Warum versuchst du’s nicht mal damit?«

Sie unternahm drei Versuche, bevor das Essen, mit dem sie ihn lockte, es in seinen Mund schaffte.

»Also gut«, kapitulierte er schließlich, »ich bin Sylvaner.«

Rialla wartete, doch da kam nichts mehr. »Was ist ein Sylvaner?«, fragte sie.

»Wo ist mein Lohn?«

Sie fuchtelte mit einem Stück Käse vor seinem Gesicht herum, und er schnappte es sich, bevor es auf der Bettdecke landete, und betrachtete seine Beute zufrieden.

»Sylvaner sind Anwender von Naturmagie. So wie die Gestaltwandler, ja, aber unsere Talente liegen auf anderen Gebieten. Wir stehen den Tieren des Waldes nahe und sind die Hüter all dessen, was der Boden hervorbringt. Wir sind ein einfaches Volk und können uns problemlos unter die Menschen mischen, weshalb unsere Siedlungen nicht so abgeschieden sind wie die der Gestaltwandler.« Er machte eine Pause und schloss die Augen, schnappte sich aber nichtsdestotrotz das Stück Schinken, mit dem Rialla ihm weitere Geständnisse entlocken wollte.

»Unsere Gemeinschaften sind nicht mehr so zahlreich«, fuhr er fort und strich sich über den Bart. »Über die Jahrhunderte hinweg wurden es immer weniger. Die Enklave, zu der ich gehörte, ist die einzig verbliebene in ganz Darran. Wir nannten uns einen religiösen Orden, Anhänger von Naslen, dem Herrn des Waldes – wie dem auch sei, ich denke, diese Geschichte enthält mehr Wahrheit als Dichtung. Es finden sich allerorten auch viele menschliche Gemeinschaften, die an der Vergangenheit festhalten, an den alten Traditionen, der alten Sprache. Die werden toleriert, selbst in Darran, weil es sie schon immer gab. Und viele Sylvaner-Clans sind in diesen Gemeinschaften aufgegangen.

Meine Enklave lebt auf dem kleinen Anwesen eines Adligen – so klein, dass sein Besitzer es seit Generationen nicht mehr besucht hatte. Als der alte Lord starb, beschloss sein Sohn jedoch, jedes seiner Besitztümer aufzusuchen; ich vermute, er hatte Schulden und wollte den Wert seiner Ländereien einschätzen.

Eines Tages streifte ich umher und stolperte fast über ein Kind; ein Menschenkind, das die feinen Freunde dieses Lords wohl an diesem Morgen dort draußen angetroffen hatten und … Nun, man hatte ihm Gewalt angetan.« Tris schaute plötzlich grimmig drein.

»Ich kannte das Mädchen, hatte es aufwachsen sehen, seit es ein Kleinkind war. Seine Mutter war eine ausgezeichnete Weberin, und ich habe mit ihr im Dorf oft Nahrung gegen Kleidung getauscht. Die Familie hatte vier halbwüchsige Söhne und eben dieses kleine Mädchen. Du musst verstehen, Rialla. Der Grund, warum unsere Gemeinschaft so lange überlebt hat, ist der, dass wir es uns verboten hatten, in Gegenwart der Menschen Magie zu wirken. Absolut verboten. Das wusste ich, und ich verstand auch warum.«

Er flüsterte fast, als er fortfuhr. »Aber da war dieses arme Kind. Ein Kind, das ich gut kannte und über die Jahre liebgewonnen hatte. Das Mädchen drohte mir unter den Händen wegzusterben. Also heilte ich seinen Körper, bis nichts mehr auf den Missbrauch hindeutete, der ihm widerfahren war. Eine erlebte Vergewaltigung hinterlässt aber auch Wunden auf der Seele, und so schenkte ich ihr zudem auch noch das Vergessen. Mit ein wenig Glück hätte somit niemand von dem Vorfall erfahren, nicht einmal das Kind.

Als ich die Heilung abgeschlossen hatte, weckte ich das Mädchen auf, zog es ein bisschen auf wegen des Nickerchens im Wald und begleitete es heim. Dort nahm ich seinen Vater beiseite und ließ ihn wissen, dass die Gäste des Lords seine Tochter begehrlich angesehen hatten. Er versicherte mir, dass er das Kind im Haus behalten würde, bis der Lord und sein Gefolge wieder abgereist waren.

Als ich zu meinen Leuten zurückkehrte, erfuhr ich, dass mich jemand dabei beobachtet hatte, wie ich unser Gesetz gebrochen hatte. Ich wurde des Verbrechens für schuldig befunden und verbannt. Man führte mich weit weg von unserer Gemeinschaft und band mich mit Fesseln und mittels Magie. Sofern ich es schaffte, mich selbst zu befreien, könnte ich weiterleben – doch ich würde auch in diesem Fall nie wieder zu meinesgleichen zurückkehren können.«

»Ihr konntet Euch befreien?«

Er schüttelte den Kopf, lächelte bei der Erinnerung. »Nein. Ich hab es eine Weile versucht, aber der Mann, der mir die Fesseln anlegte, wollte mich wohl tot sehen. Also ergab ich mich in das mir vorbestimmte Schicksal, bis mich eine alte Frau fand. Sie stach mir mit dem Finger ins Gesicht und meinte: »Heda, ich hab Euch ein Geschäft vorzuschlagen. Ihr seid Heiler, und wir brauchen einen Heiler. Dafür hab ich ein Messer, für das Ihr vermutlich Verwendung habt.« Er grinste Rialla an. »Sie hatte solche Angst vor mir, dass das Messer in ihrer Hand zitterte, aber das konnte sie nicht davon abhalten, mir diesen Handel vorzuschlagen. Als ich versprach, ihr zu helfen, schnitt sie mich los. Und hier bin ich.«

»Woher wusste sie, dass Ihr ein Heiler seid?«, fragte Rialla.

»Sie besitzt eine Gabe, die es ihr gelegentlich erlaubt, derlei Dinge zu erkennen.«

Rialla nickte, gab sich mit der Antwort zufrieden. »Und? Gefällt es Euch unter den Menschen?«

Langsam nickte er. »Besser als in der Enklave. Sie hatten unrecht dort. Es ist abgrundtief falsch, ja, böse, wenn man die Macht besitzt, anderen zu helfen, und es nicht tut.«

»Habt Ihr deshalb geholfen, Laeth zu befreien?«, wollte Rialla wissen.

Tris sah sie hintergründig an, dann zuckte er die Achseln. »Zum Teil.«

Hastig erhob er sich von der Matratze und reichte Rialla die Hand, um ihr vom Boden aufzuhelfen. Ihr Bein war etwas steif geworden, also geleitete er sie behutsam zum Bett. Danach schloss er die Geheimtür, nahm den nun leeren Teller an sich und löschte mit einer Geste die Lichter.

»Schöne Träume, Heiler«, sagte Rialla.

Er nickte und zog die Tür hinter sich zu.

»Was mag Lord Winterseine wohl mit einer frisch genesenen Ausreißerin vorhaben?« Sie waren in eine Partie »Drachenraub« vertieft, und Rialla war dabei zu gewinnen, als Tris diese Frage in den Raum warf.

In den letzten Tagen hatten sie gespielt, wann immer der Heiler die Zeit dafür erübrigen konnte. Nicht dass es Rialla gestört hätte. Es machte ihr genauso viel Spaß wie ihm, selbst wenn er meistens als Gewinner daraus hervorging.

»Du versuchst nur, mich abzulenken«, beschwerte sie sich. »Es ist das erste Mal seit unserem ersten gemeinsamen Spiel, dass ich den Hauch einer Chance habe zu gewinnen, und selbst die gönnst du mir nicht.«

»Leidest du jetzt schon unter Verfolgungswahn?«, neckte er sie, schaute sie dabei aber warmherzig an.

Rialla machte eine unhöfliche Geste in seine Richtung, bevor sie sich wieder dem Spielbrett zuwandte.

Tris lachte, dann fügte er hinzu: »Im Ernst, Rialla, er wird dir doch nicht die Kniesehnen durchtrennen oder dich gar noch schlimmer misshandeln?«

Rialla bewegte ihren Frosch auf ein leeres Spielfeld und schüttelte den Kopf. »Nein. So was passiert manchmal in Ynstrah oder in den Allianz-Provinzen, wo man für die Landwirtschaft auf Sklavenarbeit angewiesen ist – mehr, um ein Exempel zu statuieren, als den Sklaven, den man verkrüppelt hat, an der Flucht zu hindern. Eine Tänzerin aber ist viel zu wertvoll, um sie derart zu verstümmeln.«

Sie lächelte Tris trocken an. »Was nicht heißt, dass er mich nicht bestrafen wird. Dieser Mann hat ein Faible für fantasievolle … Vergeltungsmaßnahmen.«

Tris starrte auf das Spielbrett, doch Rialla hatte das Gefühl, dass er mit den Gedanken ganz woanders war. Schließlich verschob er einen seiner Steine und sah auf. »Bist du sicher, dass du zurückkehren möchtest? Du zahlst einen schrecklich hohen Preis für die Möglichkeit, dich an ihm zu rächen.«

Rialla nickte, zog wieder mit ihrem Frosch. »Wenn es klappt, ist es die Sache wert. Wenn nicht …« Sie zuckte die Achseln. »Es gibt auch noch andere Gründe. Du hast mir doch erzählt, dass du viel rumgekommen bist. Warst du jemals auf der anderen Seite des Großen Sumpfes?«

Tris schüttelte den Kopf.

Rialla bewegte sich unbehaglich auf dem Bett hin und her, versuchte, eine bequeme Haltung für ihr Bein zu finden. »Hast du dich nie gefragt, warum Sianim so sehr daran gelegen ist, dass der Konflikt zwischen Reth und Darran ein Ende findet?«

Er hob eine Augenbraue, schüttelte erneut den Kopf. »Das hätte ich vielleicht tun sollen, oder? Denn bei Licht betrachtet kann es wohl kaum in Sianims Interesse liegen, Kriege zu verhindern, nicht?«

»Genau. Als der Meisterspion mich zu sich rief, um mich davon zu überzeugen, Laeth hierher zu begleiten, erläuterte er mir seine Gründe dafür. Offenbar besteht die Gefahr, dass aus dem Osten, also von jenseits des Großen Sumpfs, eine Invasion zu erwarten ist.«

»Unter den Menschen gibt es doch ständig Krieg«, meinte Tris. »Ich hätte gedacht, dass gerade Sianim mit seinen Söldnerheeren über einen weiteren nicht böse wäre.«

Manchmal klang das Wort »Menschen« bei Tris wie ein Schimpfwort, mit dem Gossenkinder sich gegenseitig provozierten, um eine Rauferei anzufangen. Da er ihr aber ihre Menschlichkeit nicht vorzuhalten schien, ließ ihm Rialla diese Bemerkung durchgehen.

»Das dachte ich auch«, stimmte sie ihm stattdessen zu. »Aber es ist nicht irgendein Invasionsheer. Wir reden hier von einer Armee, die sämtliche Völker des Ostens in weniger als zehn Jahren erobert und unterworfen hat. Ihr Anführer ist ein Mann, der sich selbst Stimme von Altis nennt, und die Verbreitung seines Glaubens schreitet schneller voran, als seine Soldaten vorrücken können. Der Meisterspion denkt, die einzige Chance, den Einmarsch zu stoppen, bestehe darin, dass sich alle Reiche des Westens gegen die Stimme zusammenschließen. Und Ren hat die hässliche Angewohnheit, bei solchen Dingen meist recht zu behalten.«

»Also unterstützt er das Bündnis zwischen Reth und Darran«, schlussfolgerte Tris.

Rialla nickte und fuhr fort. »Nichts von alledem hätte viel Bedeutung für meine Mission auf Westholdt – mit Ausnahme einer Sache: Die Menschen des Ostens glaubten bekanntlich längst nicht mehr an Magie. So lange ist es her, dass unter ihnen Zauberer gelebt und ihre Kunst ausgeübt haben, dass sie sämtliche Geschichten rund um Magie als Ammenmärchen abtaten.

Die ›Wunder‹ aber, welche die Stimme als Prophet des alten Gottes Bär vollbringt, zeigen frappierende Ähnlichkeiten zu dem, wozu ein geschulter Magier fähig ist. Der Meisterspion glaubt daher, dass es sich bei der Stimme nur um einen höchst begabten Zauberkundigen von diesseits des Großen Sumpfes handeln kann.« Rialla sah Tris nun direkt in die Augen. »Und ich glaube, ich hab ihn gefunden.«

»Winterseine«, sagte Tris.

Sie nickte. »Und wenn meine Vermutung zutrifft, dann kann man diese unheilvolle Invasion vielleicht gleich mit verhindern. Laeth und ich haben viele Übereinstimmungen zwischen Winterseine und diesem selbsternannten Propheten entdeckt. Und selbst wenn er nicht die Stimme von Altis ist, weiß er höchstwahrscheinlich, um wen es sich dabei handelt.«

»Ich komme mit dir«, sagte Tris ruhig, während er seine Schlange auf das Feld neben ihrem Frosch stellte.

Bei den Göttern, dachte sie, ich wünschte, ich könnte sein Angebot annehmen. Wünschte, ich hätte jemanden an meiner Seite, dem ich vertrauen könnte. Wünschte, ich wäre bei all dem nicht allein …

»Nein«, sagte sie schließlich mit fester Stimme und brachte ihren Vogel in Position zu seiner Schlange, die im Begriff war, ihren Frosch zu fressen.

»Tut mir leid, aber da hast du nichts mitzureden«, sagte er entschieden, als er seine Schlange aus der Gefahrenzone brachte und dabei ihren Hirschbock schlug.

»Und was wird aus dem Handel, den du mit dieser alten Frau geschlossen hast?«, fragte sie.

»Ich praktiziere meine Kunst in Tallonwald nun schon über zwei Jahre«, sagte er. »Ausgemacht war aber nur ein Jahr.«

Sie öffnete den Mund, um etwas einzuwenden, doch dann sah sie die wilde Entschlossenheit in seinen Augen. »Verdammt, Tris, warum tust du das alles?«

Er schenkte ihr ein mysteriöses Lächeln, und ihr wurde einmal mehr klar, dass er kein Mensch war. »Wie ich dir erzählte, hat die Frau, die mich rettete, die Gabe, Dinge zu sehen, die anderen verborgen bleiben. Und sie sagte mir, dass ich dir bei deiner Aufgabe helfen solle.«

»Sie sagte dir, du sollst mir helfen, und so tust du es eben?«, fragte Rialla ungläubig.

»So einfach ist’s nun auch nicht. Die Zukunft ist nicht unabänderlich, Rialla. Trenna offenbarte mir ein Ziel, gewährte mir einen Blick auf das mögliche Ergebnis einer Handlung. Genug, um mich davon zu überzeugen, dass dieses Ziel der Mühe wert ist.«

»Du willst mir also nicht sagen, warum du das alles machst, stimmt’s?« Ihr Blick war ein wenig anklagend, aber ihr Ton milde.

»Gewiss doch«, sagte Tris. »Wie ich Laeth schon sagte, lasse ich die erste Person, die mich nach langer Zeit in ›Drachenraub‹ zu schlagen vermochte, nur ungern wieder ziehen. Du bist dran.«

Überrascht schaute sie hinab auf das Spielbrett. »Ich dachte, ich hätte meinen Zug gerade erst gemacht. Hast wohl nicht aufgepasst, was?«

Er wandte seinen Blick nicht von ihrem Gesicht ab. »Das habe ich durchaus. Du bist dran.«

Sie hob die Schultern und meinte: »Ich verzichte auf meinen Zug.«

Er schüttelte den Kopf. »Das hast du schon vor fünf Zügen getan. Man kann aber nur alle sechs Züge passen. Du bist dran.«

Sie lächelte, bewegte ihren Sperling zwei Felder nach rechts. »Also gut – Drachenraub.«

Tris starrte auf das Brett. Ihr Sperling besetzte das Feld, auf dem sein Drache stand.

Als sie seinen übertrieben fassungslosen Gesichtsausdruck sah, rief sie: »Nun komm, ich hab dir doch gesagt, dass ich nicht am Zug bin, doch du hast darauf bestanden und mich damit förmlich zu diesem Manöver genötigt.«

»Wohin bist du noch mal gezogen, nachdem ich deinen Hirschbock geschlagen habe?«

Sie schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. »Auf das Feld deines Drachen.«

Er lachte und riss kapitulierend die Hände in die Höhe. »Ja, ja, Drachenraub. Schon gut, du hast gewonnen.«

»Wurde auch Zeit«, meinte sie finster und half ihm dabei, die Spielsteine wieder in der Schublade zu verstauen.

»Jetzt schuldest du mir nur noch zwei Königreiche, fünf Pferde und zwölf Schweine.«

»Vier Pferde!«, gab sie hitzig zurück.

»Nein, fünf«, beharrte er. »Du hast fünf Pferde gegen die zwölf Schweine gesetzt, die du in der Partie davor verloren hattest. Eigentlich sollten es sechs Pferde sein, aber wegen deiner Jammerei hab ich mich erweichen und auf fünf runterhandeln lassen.«

»Nun denn«, meinte sie, »immerhin hab ich meine fünfzig Hühner wieder zurück …«

Er wollte gerade etwas darauf erwidern, da vernahmen sie, wie sich die Eingangstür öffnete, bevor das Weinen eines kleinen Kindes den Heiler an seine Pflichten erinnerte.

Allein im Schlafzimmer ihres Gastgebers zupfte Rialla geistesabwesend an der Stickerei der Tagesdecke herum. Die Woche war viel zu schnell vergangen, und ihre Verletzung war fast verheilt. Heute Morgen hatte Tris die Fäden gezogen. Das Bein schmerzte noch immer, wenn sie es zu stark belastete, aber es wurde von Tag zu Tag besser. Morgen früh würde sie mit Lord Winterseine von hier aufbrechen.

Vielleicht, so dachte sie, war es besser, wenn sie so bald wie möglich von hier verschwand. Je mehr Zeit sie mit dem Heiler verbrachte, umso schwerer würde es ihr fallen, in die Unfreiheit zurückzukehren – und zu überleben. Sie musste wieder zur Sklavin werden und die Rolle der Pferdeausbilderin aus Sianim ablegen, die nur eine Sklavin spielte.

Sie hob die Hand an ihr Gesicht, spürte die Narbe unter der optischen Illusion. Die Tätowierung konnte sie nicht ertasten, aber sie wusste, dass sie da war – von der Nase bis zum Ohr, vom Unterkiefer bis zum Wangenknochen. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass auch ihre Seele solchermaßen gezeichnet worden war, dass sie nie wieder etwas anderes würde sein können als eine Sklavin.

Sie wurde aus ihrem Anflug von Selbstmitleid gerissen, als sie eine laute, verärgerte Stimme hörte, gefolgt von den beruhigen Worten des Heilers. Die Eingangstür wurde knallend zugeworfen, dann kam Tris düster dreinblickend ins Schlafzimmer zurück.

»Was ist denn los?«, wollte sie wissen.

Sein Blick verfinsterte sich noch mehr. »Ich hab gerade einen gebrochenen Knochen gerichtet. Für den Sohn eines der Bergbauern.«

»Bergbauern?«

»Die Bergbauern bestellen das Land zwischen den Hügeln und im Vorgebirge. Es ist kein guter Boden, und das Ganze wirft deshalb auch nicht viel ab, aber das ist noch lange kein Grund, seinem Sohn den Arm zu brechen. Es vergeht kein Monat, in dem ich nicht eines seiner Kinder behandeln muss, oder die Prellungen und Knochenbrüche seiner Frau. Zweimal hab ich mit ihm darüber gesprochen und ihm heute gesagt, dass ich mich künftig weigern würde, einen seiner Familienangehörigen zu behandeln. Und ich sagte ihm auch, dass ich das nächste Mal, wenn er sich an jemandem vergreift, der schwächer ist als er, dafür sorgen werde, dass er dergleichen nie wieder tun kann.

»Und? Wird er sich das zu Herzen nehmen?«, fragte Rialla, während der Heiler aufgebracht auf und ab lief.

»Nein, er wird ihnen beim nächsten Mal wohl einfach verbieten, mich aufzusuchen. Verdammt, es war dumm von mir, die Beherrschung zu verlieren. Und es tut mir auch leid, dass ich’s vor seinem Sohn getan hab. Der Junge erfährt schon genug Gewalt in seinem Leben, da sollte er nicht auch noch meine Wutausbrüche miterleben.«

»Du wirst hier gebraucht«, sagte Rialla mit weicher Stimme. »Wer wird ihre Brüche schienen und ihre Tiere kurieren, wenn du nicht mehr da bist?«

Er streckte sich, schien seinen Ärger abzustreifen wie einen Umhang, denn als er sie anblickte, war ihm nichts mehr davon anzumerken. »Diese Menschen sind den größten Teil ihres Lebens auch ohne mich zurechtgekommen. Die Mutter des Dorfältesten ist eine passable Heilerin, wie auch ihre neue Schwiegertochter. Ich habe sie bereits wissen lassen, dass ich sie in Kürze verlassen werde.«

Rialla öffnete den Mund, doch er hob eine Hand. »Rialla, wenn ich länger als nötig hier verweile, wird am Ende irgendjemand bemerken, dass ich Magie wirke, und das könnte dem Dorf mehr schaden als das Fehlen eines Heilers. Ich hatte mich ohnehin schon darauf eingestellt, bald zu gehen.«

Tris setzte sich zu ihr auf die Bettkante. »Morgen, wenn Lord Winterseine dich mitnimmt, werde ich euch nachfolgen. Es dürfte ein Kinderspiel sein, einer Gruppe von Menschen, die sich durch die Wälder schlägt, auf den Fersen zu bleiben.«

Rialla begann zu kichern, und Tris schaute sie fragend an.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Aber ich hab noch nie jemanden ›Menschen‹ sagen hören, wo er doch eigentlich ›hirnloser, stinkender und unverdaulicher Haufen Abfall aus einem Schweinekoben‹ meint. Das kannst du wirklich gut, weißt du?«

Er verbeugte sich leicht und schenkte ihr das liebenswürdige Lächeln, das er immer aufsetzte, wenn er sie auf besonders hinterhältige Weise in »Drachenraub« ausgetrickst hatte.

»Eine Sache ist noch zu tun, bevor du gehst.« Er griff nach ihrem Ohrring. »Deine Tätowierung ist nicht gut genug geschützt. Wenn Winterseine dir beispielsweise den Ohrring abnimmt, dabei mit der Tätowierung in Berührung kommt und sie versehentlich entfernt, wird er sich sehr wundern.«

Er holte ein kleines, sehr dünnes Stück Ziegenleder aus seiner Gürteltasche. »Das hab ich heute Morgen vom Gerber bekommen.«

Dann schloss er die Augen, summte leise, schlug den Ohrring in das Ziegenleder ein und ließ das kleine Bündel in seiner Faust verschwinden. Nach einer Weile öffnete er die Augen wieder, schüttelte das weiche Lederstück und zeigte es Rialla. Der Ohrring war verschwunden, und die Tätowierung, die ihre Wange bedeckt hatte, bildete sich nun auf dem Lederstück ab.

Er rückte ein bisschen näher an sie heran, presste das Ziegenleder gegen ihr Gesicht. Riallas Wange wurde ganz kalt. Als er die Hände wieder fortnahm, berührte sie die Stelle und ertastete weiche, glatte Haut, wo eigentlich die Narben hätten sein sollen. Die Wange indes fühlte sich immer noch ein bisschen taub an.

»Die Tätowierung?«, fragte sie.

»Ist immer noch auf deinem Gesicht. Ich werde des Nachts, wenn die anderen schlafen, Kontakt zu dir aufnehmen. Du bist zwar eine Empathin, aber du sagtest auch, dass du überdies imstande bist, anderer Menschen Gedanken zu lesen, nicht nur ihre Gefühle zu empfangen. Könntest du auf diese Weise auch Verbindung zu mir aufnehmen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Bei den meisten Leuten klappt es, aber ich kann deine Gefühle nicht mal erfassen, geschweige denn dir auf diesem Wege eine Botschaft zukommen lassen.«

Er hob eine Augenbraue, dann lächelte er auf seltsame Weise. »Nein, natürlich kannst du das nicht.« Er zögerte kurz, dann setzte er hinzu: »Aber ich weiß, wie man dem abhelfen kann.«

Er holte sein Stiefelmesser hervor und betrachtete es eine Weile, bevor er mit dem Daumen über die scharfe Klinge fuhr. Rialla begriff nicht, dass er Magie wirkte, bis er etwas in einer fremden Sprache sagte und ihren Mund mit der kleinen frischen Wunde an seinem Daumen berührte. Unwillkürlich leckte sie die Blutstropfen von ihren Lippen. Es war, als nippte sie an besonders starkem Alkohol; sein Lebenssaft brannte sich förmlich einen Weg in ihren Körper hinein, hinterließ ein Kribbeln in ihren Zehen und Fingerspitzen, verschleierte ihre Sicht.

Bevor sie reagieren konnte, fuhr er mit der Klinge seitlich an ihrem Hals entlang und beugte den Kopf vor. Sie spürte die weiche, schnelle Berührung seiner Lippen und das sanfte Kratzen seines Bartes auf ihrer Haut, bevor er sich wieder zurückzog. Noch einmal berührte er ihren Hals, diesmal mit den Fingern, und schloss den kleinen Schnitt. Sie starrte ihn wortlos an, fasste sich an die Stelle, wo er und sein Messer sie berührt hatten. Die Wunde war vollständig verschwunden.

»So, jetzt versuch es noch einmal«, sagte er, und plötzlich hatte seine Stimme für Rialla einen gänzlich anderen Klang. Sie war irgendwie erfüllt von Magie und Mondlicht, obwohl draußen noch immer die Sonne durch die Bäume schien.

Sie griff mit ihrer Gabe nach ihm, zögernd zunächst, weil unsicher, was seine Magie verändert haben mochte. Anfangs schien es, als wäre alles beim Alten. Wie zuvor konnte sie ihn geistberühren, doch es war, als griffe man mit den Gedanken nach einem festen, unverrückbaren Ding. Sie konnte ihn sehen und doch nicht sehen, was er wirklich war. Behutsam übte sie etwas Druck auf ihn aus, aber er blieb undurchdringlich. Rialla wollte sich gerade wieder von ihm zurückziehen, als sie praktisch aufgesogen wurde.

Es war zu fremd, und es ging zu schnell. Ihr wurde schwindelig. Hin und her gerissen wurde sie zwischen Erinnerungen und Gefühlen, die sie nicht mehr zu unterscheiden vermochte. Sie war es gewohnt, die Emotionen der Menschen aufzugreifen, doch von Tris erreichten sie darüber hinaus auch Erinnerungen, Gedanken und Träume …

Rialla. Seine Stimme hallte allzu mächtig in ihrem Kopf wider, und doch gab sie ihr auch Halt.

Rialla zog sich ein Stück zurück, bis der Kontakt nicht mehr ganz so eng war, bis seine Wärme etwas Wohliges und nichts Verzehrendes mehr hatte. Seine Gedankenstimme kam wohl kontrolliert zum Einsatz, was den Schluss nahelegte, dass er schon früher auf diese Weise kommuniziert hatte.

Rialla war imstande gewesen, ihren Vater auf diese Art zu kontaktieren, aber eine in beide Richtungen verlaufende Verständigung, das war neu für sie. Tris , sagte sie, was hast du getan, dass ich dich nun auf diesem Wege erreichen kann?

Sie empfing einen schwachen Strom diverser Emotionen, die allesamt rasch wieder zurückgezogen wurden, doch zuvor erhaschte sie einen Hauch von Schuld und Aufgeregtheit.

Irgendwann werde ich’s dir erzählen. Kannst du nun Verbindung zu mir aufnehmen?

Zögernd griff sie mit ihrem Talent nach ihm. Jederzeit. Aber ich weiß nicht, wie nah ich dir dafür sein muss. Dennoch scheint es mir leichter zu fallen als bei jedem anderen Gedankendialog, den ich jemals versucht habe.

Wir Sylvaner sprechen auf diese Weise miteinander, erwiderte er.

So?, fragte Rialla überrascht. Sie sandte ihm ein Abbild der Intimität zurück, die mit dieser Form der Verständigung einhergegangen war – all die komplexen Emotionen und Gedanken, die sie aufgriff, während er mit ihr sprach.

Nein, sagte er überrascht, so nicht. Kannst du wirklich all das von mir empfangen?

Sie spürte sein Unbehagen und zog sich noch ein wenig mehr zurück. Die Erinnerung an Laeths Wutausbruch angesichts ihrer empathischen Fähigkeiten war noch frisch. Für gewöhnlich war es kein Problem, dem Ziel ihrer Geistberührung seine Privatsphäre zu lassen, doch Tris’ frei mäandernde Gedanken trafen sie allzu oft unvorbereitet. Schließlich zog sie sich ganz zurück und errichtete ihre Barrieren, bis sein Geist wieder undurchdringlich für sie war.

Tris schenkte ihr einen ganz besonders geheimnisvollen Blick und sagte: »Nun kannst du mich erreichen, wann immer du Hilfe brauchst.«

Sie konnte nicht mehr als schwach nicken, um ihm ihr Einverständnis zu signalisieren. In diesem Moment durchbrach der Ruf einer Frau im Vorraum diesen außergewöhnlich intimen Augenblick, und Rialla war dankbar dafür. Sie brauchte dringend etwas Zeit, um sich darüber klar zu werden, was Tris gerade getan hatte.

Der Morgen dämmerte klar und warm. Rialla saß ruhig wartend da, als Lord Winterseine ihr Refugium betrat. Ihr Gesichtsausdruck war ausdruckslos und änderte sich auch nicht, als der Meister ihr das Ausbildungshalsband anlegte.

Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper, als sich die durch Ketten verbundenen Lederfesseln hinter ihrem Rücken um ihre Unterarme schlossen. Eine weitere Kette verband die Fesseln mit ihrem Halsband, was ihre Beweglichkeit zusätzlich einschränkte. Winterseine befestigte eine Lederleine an dem Halsband und führte sie hinaus.

Auf diese Art der Fesselung nicht zu reagieren, fiel ihr leicht. Sie hatte sie schon zuvor erlebt und damit gerechnet, dass Winterseine auf sie zurückgreifen würde. Womit sie nicht gerechnet hatte, waren die heißen Wellen der Wut, die von dem Heiler ausgingen, obwohl er nach außen hin ruhig und beherrscht wirkte. Also so, wie er sich im Umgang mit darranischen Adligen immer verhielt. Sie versuchte, seinen erregten Gemütszustand aus ihrem Geist zu verbannen, damit dieser sie am Ende nicht beeinflusste, aber so leicht war das nicht mehr.

Offensichtlich war der Kanal, den Tris zwischen ihnen gegraben hatte, nicht mehr so ohne Weiteres zuzuschütten. Sie schickte ihm einen Strom beruhigender Gedanken und versuchte dann, ihre emotionale Abgeschiedenheit wiederherzustellen.

Terran half ihr beim Aufsitzen. Selbst unter besten Voraussetzungen war es schwierig, ohne Einsatz der Hände ein Pferd zu besteigen. Und weil Rialla noch immer damit beschäftigt war, sich vor der andauernden Verbindung zu Tris abzuschirmen, war sie für Terrans Hilfe dankbar.

Als sie davonritten, konnte sie spüren, wie der Blick des Heilers sie bis in den Wald hinein verfolgte.

Viele Darraner hatten in den Kriegen mit Reth alles verloren. Sie führten ein Leben als Diebe und Wegelagerer in den Wäldern und raubten die aus, die dumm genug waren, ohne schlagkräftigen Begleitschutz durch die Lande zu reisen. Winterseines Entourage indes war groß genug, um die meisten Banditen abzuschrecken. Außer dem Adligen und seinem Sohn reisten auch eine Hand voll Kämpfer und zwei Diener mit ihnen – darunter derjenige, von dem Rialla annahm, dass er Karsten vergiftet hatte. Tamas war sein Name, wenn sie sich recht erinnerte. Offensichtlich war das dunkelhäutige Mädchen die einzige Sklavin gewesen, welche die Adligen nach Westholdt begleitet hatte, weil es außer Rialla nun keine weiteren Unfreien mehr in Winterseines Gefolge gab.

Vier Mann ritten voraus, gefolgt von Winterseine und seinem Sohn Terran. Dahinter trabten Rialla und die Dienerschaft. Der Rest der Reisegruppe bildete die Nachhut.

Rialla wusste, dass Winterseine ein exzellenter Kämpfer war; nicht zuletzt mit ein Grund für seinen Erfolg als Sklavenhalter. Und wenn sie seinen Sohn so betrachtete, kam sie zu dem Schluss, dass er seinem Vater ebenbürtig war. Zum einen ritt er sein Schlachtross mit einer Leichtigkeit, die viel Erfahrung voraussetzte. Und die Mühelosigkeit, mit der er ihr aufs Pferd geholfen hatte, bewies zum anderen, dass er ziemlich athletisch und kräftig war.

Winterseines Lakai hielt die Führungsleine des Pferdes, auf dem Rialla ritt. Wie auch sie, saß Tamas auf einem einfachen Reitpferd. Er trug keine nennenswerte Waffe bei sich außer einer schweren Peitsche, die an seinem Sattel befestigt war. Doch in Sianim hatte Rialla solche Peitschen im Einsatz gesehen und unterschätzte somit nicht den Schaden, den sie verursachen konnten.

Sie reisten durch den hügeligen Süden Darrans. Allerorten waren die Spuren des letzten Krieges noch zu sehen. Viele der Höfe hatte man erst kürzlich auf den Trümmern ihrer Vorgängergebäude wiedererrichtet, doch es gab auch noch zahlreiche niedergebrannte Gebäude, die nicht wieder aufgebaut worden waren – vermutlich, weil einfach niemand mehr da war, dies zu tun.

Kurz vor Sonnenuntergang machten sie neben einem der im Krieg zerstörten Häuser Rast. Ohne viel Aufhebens wurde ein Nachtlager errichtet. Mithilfe der Leine, die noch immer mit dem Ausbildungshalsband verbunden war, pflockte Winterseine Rialla auf dem Boden nahe des Lagerfeuers an, wo man sie die ganze Nacht über im Auge behalten konnte. Auch löste er die Fesseln an ihren Armen nicht.

Keine dieser Bindungen saß übermäßig fest, doch waren ihre Arme fast den ganzen Tag über in dieser unnatürlichen Position gewesen, sodass ihre Schultern allmählich zu schmerzen begannen. Angesichts dessen und aufgrund ihres immer noch pochenden verletzten Beins bezweifelte Rialla, dass sie eine erholsame Nacht haben würde. Sie hatte also die Wahl, sich entweder in noch würdeloserer Weise mit dem Gesicht nach unten in den Dreck zu rollen, oder ihr ganzes Gewicht auf die hinter ihrem Rücken gefesselten schmerzenden Arme zu legen.

Rialla.

Sie war sich sicher, zusammengezuckt zu sein, doch falls dem so war, so hatte es niemand bemerkt. Sie war einfach nicht an Stimmen in ihrem Kopf gewöhnt … Tris?

Ja, wie geht’s deinem Bein?

Sie drehte und streckte es vorsichtig. Es tut noch weh, aber es ist auch nicht schlimmer geworden.

Gut.

Sie wartete, doch es kam nichts mehr. Mit einem resignierten Seufzer rollte sie sich auf den Bauch. Zu ihrer Überraschung fiel sie sofort in einen befreienden Dämmerschlaf, der die ganze Nacht über andauerte.

Am nächsten Morgen war Terran anderweitig beschäftigt, also wurde Rialla für die Weiterreise von Tamas aufs Pferd gehievt. Sie hatte ihm seit dem Tag ihres Aufbruchs nicht allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt, doch dieser unfreiwillige Körperkontakt zwang ihr seine Emotionen und einige seiner Gedanken auf, sodass sie sich danach geradezu beschmutzt vorkam. Es war nicht nur Lust, die er empfand, sondern etwas viel … Gewalttätigeres. Sie begriff, dass sich seine Begierde aus dem Zufügen von Demütigungen und Schmerz nährte. Und selbst, als sie schon längst im Sattel saß, suchte er immer wieder unzählige Vorwände, sie zu berühren.

Am späten Nachmittag zog sich der Himmel zu, und Winterseine beschleunigte das Reisetempo von dem gemächlichen Schritt zu einer zügigeren Gangart, um dem drohenden Unwetter zu entgehen.

Das Pferd, auf dem Rialla saß, verfiel in einen so unruhigen Trab, dass sie um den festen Sitz ihrer Zähne fürchtete und hässliche Kopfschmerzen bekam. Andererseits hatte die schnelle Gangart den Vorteil, dass Tamas’ Aufmerksamkeiten sich fortan auf ein Mindestmaß beschränkten, weshalb Rialla den Höllenritt letzten Endes als Verbesserung ihrer Lage ansah.

Sie beschlossen, die Nacht in einem Kloster zu verbringen, das, Ironie des Schicksals, einst dem Sturmgott geweiht worden war. Die Anhänger der alten Götter mussten sich inzwischen mit den wenigen verbliebenen Tempeln des Reiches, zu denen auch dieser zählte, zufriedengeben. Es war eine wenig kunstvolle Anlage, erbaut aus dem dunklen Stein der Gegend, die aufgrund des Zwielichts und des Unwetters noch trostloser wirkte.

Einige Mönche kamen herbei, um ihre Tiere zu versorgen. Entschlossen schwang Rialla ein Bein über ihren Sattel und rutschte seitlich neben ihrem Pferd zu Boden. Es galt, um jeden Preis Tamas’ »helfenden« Händen zu entgehen.

Der Sturmgott schätzte keine Frauen in seinen heiligen Hallen, doch die Mönche hatten als Zugeständnis an die weltlichen Besucher ein kleines Nebengebäude errichtet, das diesen als Zuflucht dienen konnte und für das sich die Ordensbrüder fürstlich entlohnen ließen. Die Steinhütte wurde stets von außen verriegelt, damit kein weibliches Wesen im Hauptgebäude herumwandern und den Tempel damit entweihen konnte.

Die Unterkunft, so stellte Rialla fest, war kärglich und fensterlos. Wäre sie eine Adlige, so vermutete sie, hätte man ihr wahrscheinlich von irgendwoher eine Pritsche besorgt und diese nach ihrer Abreise verbrannt. Wie die Dinge jedoch standen, musste sie sich mit dem nackten Steinfußboden bescheiden. Viel Zeit blieb nicht, sich in dem Raum umzuschauen, bevor die Tür hinter ihr geschlossen wurde und sie in totaler Finsternis zurückließ. Gleich darauf war das unverwechselbare Geräusch eines Holzbalkens zu hören, der von außen vorgeschoben wurde.

Rialla setzte sich auf den rauen Steinboden und schloss seufzend die Augen. Endlich war sie allein. Fast hatte sie befürchtet, dass man ihr Tamas als Bewacher zur Seite stellen würde, womit sie die ganze Nacht damit beschäftigt gewesen wäre, sich ihn vom Hals zu halten.

Plötzlich spürte sie, dass sie dennoch nicht allein im Raum war. Doch bevor sie in Panik verfallen konnte, begriff sie, um wen es sich handelte.

»Tris?«

»Mmmm?«, erwiderte er fast geistesabwesend, als er an dem Verschluss ihres Halsriemens herumfummelte, um ihn abzuschnallen.

»Wie lange bist du schon hier?«

»Noch nicht allzu lang. Du riechst nach nassem Pferd.« Er löste die Fesseln um ihre Arme, und Rialla streckte und reckte sich dankbar, ächzte fast vor Erleichterung, als sie ihre Gliedmaßen wieder frei bewegen konnte.

»Mein Lieblingsduft«, gab sie zurück.

Tris erschuf ein Magierlicht und erhellte so die karge kleine Kammer.

»Nicht gerade ein Palast«, bemerkte er.

»Aber sauber, was mehr ist, als man wohl von den Männerunterkünften im Tempel erwarten darf.« Mit einer einladenden Geste zeigte sie auf den Platz neben sich.

Stattdessen setzte sich Tris ihr gegenüber auf den Boden und nahm seinen Rucksack ab. Er wühlte eine Weile darin herum, bis er ein kleines gekästeltes Spielbrett in Händen hielt, das er nun zwischen ihnen abstellte.

Es war nicht so kunstvoll gefertigt wie das Exemplar in seinem Häuschen, aber es erfüllte seinen Zweck, und so brachten sie den ganzen Nachmittag damit zu, »Drachenraub« zu spielen. Der Heiler gewann alle Partien, aber leicht machte Rialla es ihm nicht.

Nach dem dritten Spiel schob er widerstrebend das Spielbrett beiseite. »Ich muss nun das Licht löschen«, sagte er. »Das Gebäude wirkt zwar massiv, aber ich schätze, es sind doch einige Spalten oder Risse in den Wänden, durch die Licht nach außen fallen könnte. Ich möchte nicht, dass du diesen Leuten erklären musst, wie es dazu kam.« Er machte eine wedelnde Handbewegung, und das Magierlicht erlosch.

»Wie ich bemerkte, hatte Winterseines rattengesichtiger Diener erhebliche Schwierigkeiten damit, seine Hände von dir zu lassen«, meinte Tris. »Hast du mal darüber nachgedacht, diesem kleinen Lustmolch, der dein Pferd führt, zu zeigen, was du davon hältst? Schätze, ein bisschen Empathie würde sich wundervoll dazu eigenen.«

Rialla lachte, dankbar dafür, dass Tris mit seiner Bemerkung Tamas’ Zudringlichkeiten von etwas Bedrohlichem zu etwas Groteskem gemacht hatte. »Bedaure, aber jede Gemeinheit, die ich mir für ihn ausdenken könnte, würde ihn nur noch mehr anheizen.«

»Ja, das wäre möglich …«, erwiderte er betont nachdenklich.

Rialla musste wieder lachen. Sie suchte sich eine bequemere Position, und eine behagliche Stille breitete sich zwischen ihnen aus, bis ihr fast die Augen zufielen.

»Wie willst du beweisen, dass Winterseine Karsten auf dem Gewissen hat?«, fragte Tris plötzlich.

Sie erhob sich leicht vom Boden. »Du hattest erwähnt, dass der Dolch, mit dem Karsten ermordet wurde, einfach verschwand. Wenn ich ihn finde, kann jeder Zauberkundige, der was auf sich hält, sagen, wer ihn benutzt hat.«

»Und wen willst du damit überzeugen?«

»Was meinst du?«, fragte Rialla, und dann: »Bei den Göttern, daran hab ich ja überhaupt nicht gedacht! Welcher Darraner würde überhaupt glauben, was ein Zauberer zu sagen hat?«

Sie dachte einen Moment über das Problem nach und fügte hinzu: »Was, wenn ich die Sache anders anginge? Was würde der Große Rat wohl dazu sagen, wenn ich beweisen könnte, dass Winterseine ein Magier ist? Damit würde ich Laeth zwar nicht entlasten, aber Winterseine würde sich so auch nicht der Ländereien Karstens bemächtigen können. Damit bliebe Lord Jarroh als mächtigstes Mitglied im Rat.«

»Und wie willst du beweisen, dass Winterseine ein Magier ist?«

Sie schüttelte den Kopf, obwohl er es im Dunkeln gar nicht sehen konnte. »Weiß nicht, aber ich werde einen Weg finden.«

Früh am Morgen wurde sie von Tris geweckt, damit er ihr die Fesseln wieder anlegen konnte, bevor irgendwer hereinkam. Gerade als die letzte Schnalle geschlossen war, hörten sie, wie jemand den Riegel von der Tür entfernte.

»Tris!«, zischte Rialla ihm erschrocken zu.

Er lächelte sie nur an, trat einige Schritte zurück, bis er mit dem Rücken an der Wand stand, und machte dann eine seltsame Geste. Im selben Moment verschwamm seine Gestalt und verschmolz mit der Dunkelheit. Fasziniert beobachtete Rialla, wie der Heiler eins wurde mit der Wand und sich Schritt für Schritt der Farbe des Steins anglich, bis die Schatten im Raum jedes Zeichen seiner Anwesenheit verschluckt hatten.

Tamas kam herein, zog Rialla am Arm vom Boden hoch und geleitete sie hinaus, ohne dass er den heimlichen Beobachter in der Steinhütte wahrnahm.

Es war ein kalter und ungemütlicher Tag, und die Pferde wirkten unruhig, weil ein scharfer Wind unangenehme Gerüche zu ihnen herantrug. Rialla zog unter ihrem Umhang den Kopf ein und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Tamas heute nicht ihre Stute führen möge.

Die Sonne ging auf – eine trübe Scheibe an einem grauen Himmel, und nachdem sie die Hälfte ihres Weges zurückgelegt hatte, war sie fast völlig von Wolken verhangen. Als es zu regnen begann, hielt die Gruppe an, während Terran und Winterseine sich kurz berieten.

Tamas nahm den unvorhergesehenen Stopp zum Anlass, sein Pferd direkt neben Riallas zu lenken.

»Ich mag die Hübschen und Sanften, so wie du«, sagte er. »Lord Winterseine sagt, wenn du fürs Tanzen nicht mehr gut genug bist, kann ich dich haben, bevor er dich an sein Bordell schickt. Es würde dir dort nicht gefallen, aber wenn du mich zufriedenstellst, behalte ich dich vielleicht.«

Während er sprach, legte er seine Hand auf ihr lädiertes Bein. Riallas Pferd wurde unruhig, versuchte sich dem Zugriff auf seine Reiterin, deren Widerwillen es bemerkte, instinktiv zu entziehen. Tamas, der noch immer die Führungsleine hielt, grinste, wendete sein Pferd und folgte ihr.

»Warum so ungehalten?« Wieder presste er seine Handfläche auf ihre Wunde, fester diesmal.

Es tat weh, doch Rialla wusste, dass man ihr den Schmerz nicht ansah. Und sie wusste, dass ihre zur Schau gestellte Emotionslosigkeit ihn sehr enttäuschte. Vor allem aber wusste sie, dass irgendwo in der Nähe Tris gerade ziemlich wütend wurde.

Ein Blitz durchzuckte die Luft, Sekunden später folgte ein Donnergrollen. Ihre beiden Pferde reagierten ähnlich heftig auf das Geräusch – begleitet von einem Aufwallen empathisch verströmter Furcht. Die anderen Pferde begannen zu tänzeln und zu bocken; der Herdentrieb überwältigte jegliche genossene Erziehung.

Mit einem Ruck riss Riallas Pferd Tamas die Führungsleine aus der Hand, senkte den Kopf zwischen die Vorderbeine und schlug aus. Rialla lehnte sich zurück, stemmte sich, die Füße voran, in den Sattel. Als der Hinterleib des Pferdes sich wieder absenkte und das Tier sich dadurch zur Seite drehte, verlagerte Rialla ihr Gewicht entsprechend und hielt die Balance. Aufgrund ihrer Gabe wusste sie stets, was die Stute als Nächstes tun würde.

Einer der Wachmänner bekam die Führungsleine zu packen, und sein fester Griff entmutigte Riallas Pferd. Nach einigen halbherzigen Hüpfern beruhigte es sich wieder.

Der Renner, den Tamas ritt, war indes erfolgreicher bei dem Versuch, seinen Herrn abzuwerfen. Winterseines Diener landete unsanft in einem Stechapfelstrauch. Als man ihn wieder aus dem Gestrüpp mit den langen Dornen gezogen hatte, bestanden seine Verletzungen nicht nur aus Stichen und Kratzern – sein Arm hing schlaff zur Seite und war bei dem Sturz offensichtlich gebrochen. Einer der Wachleute hatte Tamas’ Pferd wieder eingefangen; es tänzelte nervös herum und verteilte dabei jede Menge Matsch über jeden, der sich in seiner Nähe befand.

Gut gemacht, bemerkte Tris. Das Pferd einzusetzen, daran hatte ich gar nicht gedacht.

Danke, erwiderte sie schwach, während ihre Stute sich von Tamas’ Pferd entfernte und dabei den Mann, der die Leine hielt, mit sich zog. Ich

Während ihr Pferd einen weiteren Kreis beschrieb, erhielt Rialla einen guten Blick auf Tamas, der nun den Arm streckte und beugte, den er sich gerade erst gebrochen hatte. Sie überwand ihren Ekel vor dem Mann, griff kurz mit ihrer Gabe nach ihm und stellte fest, dass der einzige Schmerz, den Tamas spürte, von den Verletzungen ausging, die ihm die Dornen zugefügt hatten.

Tris?, fragte sie. Warst du das?

Was meinst du?, fragte er zurück.

Als Tamas abgeworfen wurde, hat er sich den Arm gebrochen. Sie übermittelte Tris ein Bild davon, wie Tamas’ Arm kurz nach dem Sturz ausgesehen hatte. Jemand hat ihn geheilt. Gerade eben. Warst du das?

Nein. Es folgte eine Pause, und dann: Ich bezweifle, dass irgendjemand hier Grüne Magie wirken kann. Wir können einander für gewöhnlich auf Anhieb erkennen. Auch kann ich normalerweise immer feststellen, ob jemand kürzlich Grüne Magie zur Anwendung gebracht hat, aber dergleichen sehe ich hier nicht. Menschenmagier können einen Knochen behandeln, indem sie Magie als eine Art Schiene einsetzen, aber das erfordert sehr viel Macht. Schwache Menschenmagier … Er brach ab und fügte nach einer Weile hinzu. Sag mir, wie stark ist dieser Magier, den du suchst, wirklich?

Er war Schüler des ehemaligen ae’Magi, erwiderte Rialla langsam. Kannst du feststellen, ob ein Menschenmagier Tamas’ Arm geheilt hat?

Ein Menschenmagier kann den Arm nicht heilen, erklärte Tris, er kann ihn, wie ich schon sagte, nur richten. Und er müsste den Zauber auch beständig erneuern. Wenn also der Magier einschliefe, würde der Zauber an Wirkung verlieren. Es sei denn, er hat Runen benutzt, aber das würde ich wissen. Tatsächlich kann ich keine wie auch immer geartete Magie erspüren. Andererseits war der einzige Menschenmagier, mit dem ich je zu tun hatte, Trenna, die alte Frau, die mich in Tallonwald als Heiler angeworben hat. Und sie war nur unzureichend ausgebildet; insofern muss ich sagen: Nein, ich kann nicht sagen, ob ich zweifelsfrei feststellen könnte, dass ein Mensch Magie gewirkt hat.

Rialla grübelte über das eben Gehörte nach. Sie fragte sich, warum Tamas’ gebrochener Arm Winterseine so sehr am Herzen liegen sollte, dass er eine Unmenge an Magie darauf verwendet haben musste, um ihn wiederherzustellen. Und das, wo doch die Einzigen, die er damit beeindrucken konnte, seine eigenen Bediensteten waren. Nein, das alles passte ganz und gar nicht zu ihrem ehemaligen Meister.

Rialla zitterte und zermarterte sich mit wachsendem Unbehagen das Hirn über das Wesen der Magie – menschliche wie Grüne. Über welche Macht mochte da erst der Prophet eines Gottes verfügen?

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